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Beschreibung

Dieser Almanach stellt das vielfältige Programm des Carcosa Verlages vor und präsentiert unsere Autor:innen in ihrer ganzen Einzigartigkeit. Unter anderen schreiben begeistert: Helmut W. Pesch über Leigh Brackett, Julie Phillips über Ursula K. Le Guin, Christopher Ecker über Gene Wolfe, Clemens J. Setz über Samuel R. Delany und Dietmar Dath über Alan Moore. Drei neu übersetzte Erzählungen von Ursula K. Le Guin bieten einen fulminanten Einstieg in das Werk einer der bedeutendsten Autorinnen unserer Zeit. Der Kurzroman "Imperiumsstern" von Samuel R. Delany erzählt von einer abenteuerlichen Reise durch die Tiefen des Weltraums – und knüpft gleichzeitig eine metafiktionale Verbindung zu seinem preisgekrönten Roman "Babel-17". Und natürlich erfahren wir, in einer neu übersetzten Kurzgeschichte von Ambrose Bierce, was es mit dem rätselhaften Namen "Carcosa" auf sich hat …

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Seitenzahl: 354

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Impressum

Originalausgabe

© der einzelnen Beiträge 2023 bei den Autor:innen

© der einzelnen Übersetzungen 2023 bei den Übersetzer:innen

Wir verweisen auf das Quellenverzeichnis am Ende des Bandes

© dieser Zusammenstellung 2023 by Carcosa Verlag, Wittenberge

Alle Rechte vorbehalten

Carcosa Verlag ist ein verschwistertes Imprint von

Memoranda Verlag | Hardy Kettlitz | Ilsenhof 12 | 12553 Berlin

www.carcosa-verlag.de | www.memoranda.eu

Lektorat: siehe das Quellenverzeichnis am Ende des Bandes

Korrektorat: Robert Schekulin

Umschlaggestaltung: s.BENeš [www.benswerk.com]

E-Book-Erstellung: Hardy Kettlitz

ISBN: 978-3-910914-08-7 (Buchausgabe)

ISBN: 978-3-910914-09-4 (E-Book)

DieserAlmanach ist allen gewidmet, die Carcosa möglich gemacht haben. Ihrwisst, wer Ihr seid!

Inhalt

Hannes Riffel · Vorrede

Ambrose Bierce · Ein Einwohner von Carcosa

Helmut W. Pesch ·Leigh Brackett – Die Königin der Space Opera

Julie Phillips · Über die Grenzen hinaus – Die phantastische Ursula K. Le Guin

Ursula K. Le Guin · Die Verfasserin der Akaziensamen und weitere Auszüge aus der Zeitschrift der Gesellschaft für Therolinguistik

Ursula K. Le Guin · Der Tag vor der Revolution

Ursula K. Le Guin · Sie entnamt sie

Christopher Ecker · Die Verwandtschaft von Klonen und Kolonisieren – Ein Blick in den Rätselspiegel von Gene Wolfes Der fünfte Kopf des Zerberus

Alec Pollak · Zorn lesen – das Vermächtnis von Joanna Russ

Clemens J. Setz · Pestilenz und Karneval – Bemerkungen über Samuel R. Delany

Samuel R. Delany · Imperiumsstern

Karlheinz Steinmüller · Über Erik Simon

Dietmar Dath · Arbeit in und an der Ewigkeit – Über Alan Moore und seinen Roman Jerusalem

Verzeichnis der Quellen und Copyrights

Hannes Riffel

Vorrede

Mir scheint, solange jemand all die alten Bücher nicht gelesen hat, hat er keinen Grund, zu den neuen zu greifen.

Montesquieu

Die Freiheit der Phantasie ist keine Flucht in das Unwirkliche, sie ist Kühnheit und Erfindung. Denn sich etwas vorstellen heißt eine Welt bauen, eine Welt erschaffen.

Eugene Ionesco

Der vorliegende Almanach ist ein Begleitband zu den ersten Programmen, zu den ersten Büchern des neu gegründeten Verlages Carcosa. Carcosa hat sein Zuhause in Wittenberge an der Elbe und arbeitet eng mit dem Berliner Verlag Memoranda zusammen. Während sich Memoranda vor allem auf deutschsprachige Science Fiction und Sekundärliteratur zur Science Fiction spezialisiert, legt Carcosa seinen Schwerpunkt auf Übersetzungen und nimmt den ganzen Bereich der phantastischen Weltliteratur in den Blick.

Wir sind der festen Überzeugung, dass es zahlreiche Leser:innen gibt, die neugierig auf anspruchsvolle, progressive Literatur mit phantastischem Einschlag sind. Wir nehmen diese Leser:innen ernst und verwenden auf unsere Bücher die allergrößte Sorgfalt – hinsichtlich Auswahl, Textarbeit und Präsentation. Für den Anfang sind halbjährlich vier bis fünf Neuerscheinungen geplant, je nach Inhalt und Umfang als gebundene Ausgaben oder schöne Klappenbroschuren. Dabei beschränken wir uns vorerst auf den angloamerikanischen Sprachraum, hoffen aber, bald weiter ausholen zu können.

Das Fundament unserer Programmarbeit bilden – das Montesquieu-Zitat nimmt es ironisch vorweg, das Ionesco-Zitat bringt es auf den Punkt – Neuausgaben klassischer Werke phantastischer Literatur. Genreliteratur hat oft eine ganz eigene Veröffentlichungsgeschichte, und nicht immer wurden bedeutende, einflussreiche Texte mit dem Respekt behandelt, der ihnen zusteht. Bei manchen Werken kann man, obwohl sie bereits auf Deutsch vorlagen, aus Anlass einer Neuübersetzung beinahe davon sprechen, dass sie dem Publikum eigentlich erst jetzt in der ihnen angemessenen Gestalt zugänglich sind.

Dieser Almanach mit dem durchaus programmatischen Titel Vor der Revolution möchte zeigen, worauf es uns ankommt: Alle unsere Bücher sind auf unterschiedliche Weise politisch, unzeitgemäß und stellen eine Herausforderung dar. Andererseits wohnt ihnen eine dauerhafte Aktualität inne, die fortwährende Fähigkeit, auf ihre Leser:innen zu wirken, sie ebenso zu unterhalten wie zu verstören.

Die Auswahl unserer Bücher geschieht in stetigem Wechselgespräch mit befreundeten Expert:innen, die oft selbst hochkarätige, der Phantastik nahestehende Werke verfassen, und so schätzen wir uns glücklich, einen Großteil unserer Autor:innen (chronologisch nach ihrem Geburtsjahr) hier in Form leidenschaftlicher, fundierter Essays vorzustellen. Als Bonustrack ist ein Text über den von uns hoch geschätzten Dresdener Autor Erik Simon enthalten – die Ausgabe seiner Werke erscheint im verschwisterten Memoranda Verlag und wird vom Carcosa-Verleger herausgegeben.

Besonders hervorheben möchten wir gleich zu Beginn eine Autorin und einen Autor, die auf sehr unterschiedliche Weise für das stehen, was uns wichtig ist: Ursula K. Le Guin und Samuel R. Delany. Beide werden hoffentlich dauerhaft in unserem Programm vertreten sein, und beide sind hier mit kürzeren wie längeren Erzählungen vertreten. Wie wir überhaupt betonen möchten, dass wir (um, leicht abgewandelt, einen großen Schweizer Verleger zu zitieren) nicht einfach nur Bücher verlegen, sondern Autor:innen. Von Samuel R. Delany haben wir die Lizenz an drei Romanen eingekauft, von Leigh Brackett und Gene Wolfe die deutschsprachigen Rechte an jeweils zwei Büchern, und von Joanna Russ starten wir eine dreibändige Edition ihrer ›Ausgewählten Werke‹.

Dabei konzentrieren wir uns keineswegs nur auf Klassisches, Kanonisches, auf Neuausgaben bereits bekannter, bedeutender Werke. Mit Immer nach Hause von Ursula K. Le Guin legen wir den »Werkgipfel«, »wohl das reifste Buch der Verfasserin« (Dietmar Dath) ebenso als deutsche Erstausgabe vor wie das literarische Hauptwerk Mutter London von Michael Moorcock, dem Schöpfer des Elric von Melniboné. Jerusalem von Alan Moore, das Hauptwerk des Autors der Welterfolge Watchmen und V for Vendetta, erscheint im Jahr 2024 erstmals auf Deutsch, außerdem zwei Kurzromane der vielfach preisgekrönten Becky Chambers und der erste Erzählungsband der schwedischen Phantastin Karen Tidbeck. Hierzu dann Weiteres in der für 2025 geplanten zweiten Folge unseres Phantastik-Almanachs, der auch einen Schwerpunkt zu Joanna Russ enthalten wird.

Sollten Sie sich im Übrigen gefragt haben, was es denn mit unserem geheimnisvollen Verlagsnamen auf sich hat: Dieses Rätsel lösen wir mit einer Neuübersetzung einer eindrucksvollen Kurzgeschichte von Ambrose Bierce, die gleich auf diese einleitenden Worte folgt. Viel Vergnügen – und hoffentlich gelingt es uns, Sie auf unsere Bücher neugierig zu machen.

Hannes Riffel

Wittenberge im Juli 2023

Ambrose Bierce

Ein Einwohner von Carcosa

Aus dem amerikanischen Englisch von Hannes Riffel

Jedes neue Projekt, das mit dem Wagemut unseres kleinen Verlages – dem Wagemut jedes unabhängigen Verlages – in die Welt tritt, bedarf einer schirmenden Gestalt, die ihre schützende Hand über das Werken und Wirken hält. Wir haben uns dazu jene geheimnisvolle Erscheinung auserkoren, die in Ambrose Bierce’ verblüffender kleiner Geschichte aus den Schatten tritt, um dem Ich-Erzähler die Sinne zu verwirren …

Denn es gibt unterschiedliche Spielarten des Todes – bei manchen bleibt der Leib erhalten, bei anderen entschwindet er zusammen mit dem Geist. Dies geschieht für gewöhnlich nur in Abgeschiedenheit (so ist der Wille Gottes), und da niemand das Ende miterlebt, sprechen wir davon, jener habe sich verirrt oder sei auf eine lange Reise gegangen – was durchaus zutrifft; aber manchmal geschieht es vor aller Augen, wie mehr als genug Zeugnisse belegen. Bei einer Todesart stirbt auch der Geist, und das geschieht, wie wir wissen, bisweilen sogar dann, wenn der Leib noch viele Jahre bei Kräften ist. Mitunter stirbt er, wie fürwahr bezeugt ist, mit dem Leib, wird dann aber, nach Ablauf einer Jahreszeit, an dem Ort wiedererweckt, wo der Leib verweste.

Während ich über diese Worte Halis nachgrübelte (möge Gott ihm Frieden schenken) und mich mühte, ihre Bedeutung zu ergründen, wie jemand, der eine Vermutung hegt, sich jedoch fragt, ob nicht doch etwas anderes dahintersteckt als das, was er herauslas, bemerkte ich nicht, wohin es mich verschlagen hatte, bis mich eine plötzliche kalte Bö im Gesicht traf und in mir wieder den Sinn für meine Umgebung weckte. Voller Erstaunen stellte ich fest, dass diese mir vollkommen fremd war. Überall um mich her erstreckte sich eine ebenso einsame wie trostlose Ebene, die mit hohem, vertrocknetem Gras bedeckt war, das im Herbstwind raschelte und pfiff und dabei weiß der Himmel was für geheimnisvolle und beunruhigende Andeutungen machte. In größeren Abständen ragten seltsam geformte und düster gefärbte Felsen auf, zwischen denen ein Einverständnis zu bestehen schien, denn sie wechselten bedeutungsvolle Blicke, als hätten sie die Köpfe gehoben, um einem Ereignis beizuwohnen, das sie vorhergesehen hatten. Einige verdorrte Bäume führten hier und da, erwartungsvoll schweigend, diese arglistige Verschwörung an.

Der Tag war offenbar schon weit fortgeschritten, wenngleich sich die Sonne nicht zeigte; und obschon ich die raue und kalte Luft durchaus spürte, war mir diese Tatsache eher geistig denn körperlich bewusst – ich empfand kein Missbehagen. Über der ganzen trostlosen Landschaft hing, gleich einem sichtbaren Fluch, eine niedrige bleierne Wolkendecke. Alldem wohnte eine Bedrohung inne, eine dunkle Vorahnung – eine Andeutung des Bösen, ein finsteres Verhängnis. Vögel, Tiere oder Insekten gab es keine. Der Wind seufzte in den nackten Zweigen der toten Bäume, und das graue Gras bog sich, um sein schreckliches Geheimnis der Erde zuzuflüstern. Kein anderes Geräusch, keine andere Regung durchbrach die entsetzliche Ruhe dieses trostlosen Ortes.

Im Gras entdeckte ich eine Reihe verwitterter Steine, die offenbar von Hand bearbeitet worden waren. Sie waren geborsten, mit Moos bedeckt und halb in der Erde versunken. Manche waren umgestürzt, andere standen in unterschiedlich schiefen Winkeln da, keiner ganz aufrecht. Augenscheinlich waren das Grabsteine gewesen, wenngleich die Gräber selbst nicht mehr existierten, weder Hügel noch Mulden; die Jahre hatten alles eingeebnet. Einzelne größere Blöcke zeigten hier und dort, wo einst eine prunkvolle Gruft oder ein ehrgeiziges Denkmal dem Vergessen seinen dürftigen Trotz entgegengeschleudert hatte. So alt schienen diese Relikte zu sein, diese Überbleibsel der Eitelkeit und Mahnmale der Zuneigung und Frömmigkeit, so zerschmettert, abgenutzt und befleckt – so verwahrlost, verödet, vergessen der ganze Ort, dass ich unwillkürlich meinte, die Begräbnisstätte eines prähistorischen Menschenvolkes entdeckt zu haben, dessen Name längst untergegangen war.

Mit derartigen Betrachtungen beschäftigt, achtete ich eine ganze Weile nicht auf die Abfolge dessen, was mir widerfuhr, doch bald fragte ich mich: »Wie bin ich bloß hierhergekommen?« Nach kurzem Nachdenken wurde ich mir darüber klar und fand gleichzeitig eine Erklärung, wenn auch auf beunruhigende Weise, für das eigenartige Gepräge, das meine Einbildungskraft allem, was ich sah oder hörte, verliehen hatte. Ich war krank. Jetzt fiel mir ein, dass ein plötzliches Fieber mich niedergestreckt und meine Familie mir erklärt hatte, ich hätte im Wahn fortwährend nach Freiheit gerufen und nach frischer Luft, sodass ich, damit ich nicht die Flucht ergriff, im Bett festgehalten werden musste. Inzwischen hatte ich mich der Wachsamkeit meiner Aufseher entzogen und war hierher gewandert, nach – wohin? Das konnte ich nicht einmal mutmaßen. Offenbar war ich weit weg von der Stadt, in der ich wohnte – der uralten und berühmten Stadt Carcosa.

Nirgendwo sah oder hörte ich irgendwelche Anzeichen dafür, dass hier Menschen lebten, kein Rauch stieg auf, kein Wachhund bellte, kein Vieh blökte, keine spielenden Kinder schrien – nichts außer dieser trostlosen Begräbnisstätte, wo eine geheimnisvolle Atmosphäre des Schreckens herrschte, die wohl meinem eigenen zerrütteten Geist geschuldet war. Fiel ich wieder dem Fieberwahn anheim, hier, weit entfernt von jedem menschlichen Beistand? War nicht sogar alles eine Illusion, die mein kranker Geist heraufbeschwor? Laut rief ich die Namen meiner Frauen und Söhne, streckte die Hände auf der Suche nach ihnen aus, noch während ich zwischen den bröckelnden Steinen und dem verdorrten Gras einherschritt.

Ein Geräusch ließ mich herumfahren. Ein wildes Tier – ein Luchs – näherte sich mir. Da kam mir der Gedanke: Wenn ich hier in der Einöde zusammenbreche – wenn das Fieber zurückkehrt und ich ohnmächtig werde –, geht mir diese Bestie an die Gurgel. Schreiend stürzte ich auf den Luchs zu. In aller Gelassenheit trottete er eine Handbreit an mir vorbei und verschwand hinter einem Fels.

Kurz darauf schien, nicht weit entfernt, der Kopf eines Mannes aus der Erde emporzusteigen. Er kam den Hang auf der anderen Seite eines Hügels herauf, dessen Kamm sich kaum von der umliegenden Ebene abhob. Bald war, vor dem Hintergrund grauer Wolken, seine ganze Gestalt zu sehen. Er war halb nackt, halb in Felle gehüllt. Sein Haar war zerzaust, sein Bart lang und struppig. In einer Hand hielt er Pfeil und Bogen, in der anderen eine lodernde Fackel, von der schwarzer Rauch aufstieg. Langsam und vorsichtig setzte er einen Fuß vor den anderen, als befürchtete er, in ein offenes Grab zu stürzen, das sich unter dem hohen Gras verbarg. Diese seltsame Erscheinung versetzte mich in Erstaunen, aber sie machte mir keine Angst, und so folgte ich einem Pfad, auf dem ich ihren Weg kreuzen musste. Alsbald stand ich ihr von Angesicht zu Angesicht gegenüber und begrüßte sie auf die geläufige Weise: »Gott mit Euch.«

Sie beachtete mich nicht und hielt auch nicht inne.

»Werter Fremdling«, fuhr ich fort, »ich bin krank und habe mich verirrt. Weist mir, ich flehe Euch an, den Weg nach Carcosa.«

Der Mann stimmte in einer unbekannten Sprache einen barbarischen Gesang an, ging weiter und davon.

Eine Eule, die auf einem abgestorbenen Ast saß, schrie kläglich, und aus weiter Ferne erklang eine Antwort. Ich blickte hoch und sah in einer Lücke, die sich plötzlich in der Wolkendecke auftat, Aldebaran und die Hyaden! All das wies darauf hin, dass es Nacht war – der Luchs, der Mann mit der Fackel, die Eule. Und doch … und doch sah ich sogar die Sterne in Abwesenheit jeglicher Finsternis. Ich sah, wurde aber selbst offenbar weder gesehen noch gehört. Was für ein entsetzlicher Zauber lag auf meinem Dasein?

Ich setzte mich bei dem Stamm eines gewaltigen Baumes nieder und überlegte ernstlich, was am besten zu tun sei. Ich zweifelte nicht mehr, dass ich wahnsinnig war, erkannte in dieser Überzeugung jedoch auch einen Grund zu zweifeln. Von Fieber keine Spur. Obendrein war ich von einem geistigen wie körperlichen Hochgefühl durchdrungen, von einer Lebenskraft, die mir völlig fremd war. Meine Sinne schienen aufs Äußerste angespannt; ich konnte die Luft als gewichtige Substanz spüren; ich konnte die Stille hören.

Eine der großen Wurzeln des riesigen Baumes, an dessen Stamm gelehnt ich dasaß, hatte sich um eine Steinplatte geschlungen, die zum Teil in eine Vertiefung hineinragte, welche von einer anderen Wurzel gebildet wurde. Somit war der Stein teilweise vor der Witterung geschützt, wenngleich in hohem Maße brüchig. Seine Kanten waren von der Zeit abgeschliffen, die Ecken weggefressen, die Oberfläche zerfurcht und geriffelt. In der Erde darum herum funkelte Katzensilber – abgebröckelte mineralische Überreste. Offenbar hatte dieser Stein das Grab bezeichnet, aus dem vor langer Zeit der Baum emporgewachsen war. Die gierigen Wurzeln des Baumes hatten das Grab ausgeraubt und den Stein gefangengesetzt.

Ein plötzlich aufkommender Wind wehte einige trockene Blätter und Zweige von der Oberfläche des Steins; ich sah die eingemeißelten Buchstaben einer Inschrift und beugte mich darüber. Gütiger Himmel! Mein vollständiger Name – mein Geburtsdatum – mein Todesdatum!

Ein waagrechter Lichtstrahl fiel auf den Baumstamm, und ich sprang voller Entsetzen auf. Die Sonne zeigte sich im rosigen Osten. Ich stand zwischen dem Baum und der riesigen roten Scheibe – und kein Schatten verdunkelte den Stamm!

Ein Chor heulender Wölfe begrüßte den Tagesanbruch. Ich sah sie, einzeln und in Gruppen, hier und dort auf Hügelgräbern kauern, welche die Hälfte meines Blickfelds einnahmen und sich über die Einöde bis zum Horizont erstreckten. Und da wusste ich: Das waren die Ruinen der uralten und berühmten Stadt Carcosa.

Soweit die Tatsachen, welche dem Medium Bayrolles von dem Geist Hoseib Alar Robardin übermittelt wurden.

AmbroseBierce (1842–1914 [vermisst]) war ein US-amerikanischer Schriftsteller, Journalist und Dichter. Seine realistischen Bürgerkriegserzählungen beeinflussten Stephen Crane ebenso wie Ernest Hemingway, und mit seinen meisterhaften phantastischen Geschichten steht er an der Seite von Edgar Allan Poe und H. P. Lovecraft. Im Alter von 71 Jahren besuchte er die früheren Schlachtfelder des Sezessionskrieges – und verschwand spurlos.

Helmut W. Pesch

Leigh Brackett – Die Königin der Space Opera

Leigh Brackett (1915–1978) zählt zu den Vorreiterinnen anspruchsvoller wie abenteuerlicher Science Fiction im angloamerikanischen Raum. Mit ihren phantastischen Abenteuergeschichten hat sie ganze Generationen von Schriftsteller:innen maßgeblich beeinflusst. Darüber hinaus war sie eine der erfolgreichsten Drehbuchautor:innen ihrer Zeit: Ihr haben wir Filme wie Der große Schlaf, Rio Bravo und Das Imperium schlägt zurück zu verdanken. Helmut W. Pesch, Phantastikexperte und bekennender Brackett-Fan, würdigt die Autorin eingehend.

GEORGE LUCAS: Haben Sie schon mal Drehbücher verfasst?

LEIGH BRACKETT: Ja, das habe ich. RioBravo, El Dorado, The Big Sleep, The Long Goodbye …

[Pause]

LUCAS: Sie sind die Leigh Brackett?

BRACKETT: Ja. Ist das nicht der Grund, warum Sie mich angerufen haben?

LUCAS: Nein, ich habe Sie angerufen, weil Sie früher Pulp-Science-Fiction geschrieben haben!

So oder so ähnlich soll sich ein Telefongespräch im Jahre 1977 zugetragen haben [Anders, Web]. Das Ergebnis war, dass Leigh Brackett den ersten Drehbuchentwurf für The EmpireStrikes Back, den zweiten Teil der ursprünglichen Star-Wars-Trilogie, verfasste. Sie starb im März 1978, bevor der Film gedreht wurde. So schloss sich am Ende ihres Lebens der Kreis, indem sie zu ihrer alten Liebe, der Space Opera, zurückkehrte, mit der alles begonnen hatte, und ihr damit zugleich neues Leben einhauchte.

Geboren wurde Leigh Brackett 1915 in Los Angeles. Ihr Vater starb, als sie drei Jahre alt war, an der Spanischen Grippe. Leigh wuchs, behütet von Mutter und Tante, im Haus ihres Großvaters in der Nähe von Santa Monica auf und muss in ihrer Jugend ein ziemlicher Wildfang gewesen sein. Mit acht Jahren las sie The Gods of Mars (1918) von Edgar Rice Burroughs und entdeckte ihre Liebe zur Science Fiction. Mit dreizehn schrieb sie ihre erste Geschichte. Ab 1939 arbeitete Leigh Brackett als freie Schriftstellerin und veröffentlichte 1940 ihre erste Kurzgeschichte, »Martian Quest«, in ASTOUNDING. Zwischenzeitlich hatte sie über ein Schreibseminar den Autor Henry Kuttner kennengelernt, der später mit seiner Frau C. L. Moore eine ähnliche literarische Partnerschaft eingehen sollte wie Brackett mit ihrem Ehemann Edmond Hamilton. Er verhalf ihr nicht nur zu einem literarischen Agenten, sondern machte sie auch mit anderen Autoren bekannt, darunter neben Hamilton künftige Science-Fiction-Größen wie Robert A. Heinlein, Jack Williamson und Ray Bradbury, mit denen Brackett eine lebenslange Freundschaft verband. Bradbury, der seine frühen Geschichten, die später zu The Martian Chronicles (1950) zusammengefasst wurden, ebenfalls wie Brackett in den 1940er-Jahren in dem Pulp-Magazin PLANET STORIES veröffentlichte, sollte sogar eine ihrer Erzählungen, »Lorelei of the Red Mist« (1946), zu Ende schreiben, als Brackett wegen anderer Verpflichtungen die Zeit dafür fehlte.

Brackett merkte bald, dass sie von der schlechten Bezahlung der Science-Fiction-Magazine nicht leben konnte. Ihr erster Roman, No GoodFrom a Corpse (1944), ist eine »hartgesottene« Detektivgeschichte im Stil von Raymond Chandler und Dashiell Hammett. Der Produzent und Regisseur Howard Hawks wurde auf den Roman aufmerksam und fand Gefallen an den Dialogen. Er beauftragte seinen Agenten, »diesen Brackett-Typen« zu kontaktieren, und war höchst überrascht zu erfahren, dass es sich dabei um eine junge Frau handelte.

Auf dieser Grundlage wurde Brackett 1944 von Hawks engagiert, um zusammen mit William Faulkner am Drehbuch zu Raymond Chandlers The Big Sleep zu arbeiten. Die Dreharbeiten gestalteten sich ziemlich chaotisch, auch weil die Zusammenarbeit mit Hawks am Set nicht einfach war. Das Ergebnis, ein Klassiker des Film noir, steckt voller Continuity-Fehler, aber er wird zum einen getragen von einem charismatischen Humphrey Bogart in der Rolle des Philip Marlowe, der, hochkonzentriert, jede Szene bei der ersten Aufnahme beherrschte, und seiner schönen Partnerin Lauren Bacall, zum anderen von einer Story, die keinen Moment lang an Spannung nachlässt. Auch wenn nicht einmal der Regisseur später sagen konnte, wer denn nun den Chauffeur des Wagens ermordet hatte.

Brackett unterhielt für den Rest ihres Lebens eine immer wiederkehrende Beziehung zu Hollywood. Hawks holte sie 1958 zurück für das Drehbuch zu Rio Bravo, dem ersten von mehreren Filmen mit John Wayne. Brackett hatte zuvor selbst noch nie einen Western geschrieben. Das holte sie 1963 mit Followthe Free Wind nach, einem Roman über James Beckwourth, einen historisch verbürgten Afroamerikaner, der im frühen 19. Jahrhundert als Abenteurer und »Mountain Man« bekannt war und schließlich Kriegshäuptling der Crow-Indianer wurde, als der er über hundert Skalps erbeutete. In Bracketts eigenen Worten:

Es gibt viele Zeugnisse über die Dinge, die James Beckwourth getan hat, aber, soweit ich weiß, kein einziges darüber, warum er sie tat oder was er dabei dachte und fühlte. Das gilt sogar für Jims eigene Autobiographie, die am aussagekräftigsten in dem ist, was er nie sagt. [7]

In dieser Welt, die feindseliger und fremder nicht sein könnte als irgendeiner von Bracketts Science-Fiction-Planeten, ist allein schon die Vorstellung des immerwährenden Krieges erschreckend:

In der Welt des weißen Mannes ging es beim Krieg immer um etwas. Jemand gewann, jemand verlor, etwas wurde entschieden, und der Krieg war vorbei. Hier trug der Krieg seinen Grund in sich, und die Idee des Sieges, wie ein weißer Mann ihn verstand, war unvorstellbar. Krieg wurde geführt, weil ein Mann ohne ihn nichts zu tun hätte. [169]

Der Roman wurde mit dem Spur Award als bester Wildwest-Roman des Jahres ausgezeichnet.

Aber wir greifen vor. Am Silvesterabend 1946 heiratete Brackett ihren Schriftstellerkollegen Edmond Hamilton, bekannt als Schöpfer des Weltraum-Superhelden Captain Future, und das Paar lebte von da an auf der kargen kalifornischen Hochebene und ab 1950 zeitweise auf einer Farm in Ohio. Dort kam Brackett erstmals in Kontakt mit den Amischen, Nachfahren deutscher Protestanten, die sich im 17. Jahrhundert von den Mennoniten abgespalten hatten und in mehreren Auswanderungswellen nach Amerika gekommen waren. Sie führen ein Leben, das stark in der Landwirtschaft verwurzelt ist, und sind dafür bekannt, dass sie bestimmte technische Errungenschaften ablehnen und Neuerungen nur nach sorgfältiger Abwägung ihrer Auswirkungen übernehmen. Brackett sagte sich, dass im Falle eines Untergangs der modernen Zivilisation, welche auf dem Zusammenwirken einer Vielzahl von Arbeitsbereichen basiert, die Amischen mit ihrer weitgehenden Autarkie die besten Voraussetzungen zum Überleben hätten. Diese Idee nahm sie als Grundlage für ihren Roman The Long Tomorrow (1955; dt. Daslange Morgen), der von vielen als ihr wichtigstes literarisches Werk angesehen wird.

The Long Tomorrow folgt über weite Strecken dem Muster eines klassischen Bildungsromans. Darüber hinaus hat er einen durchgehenden religiösen Subtext. Er beginnt mit der Absicht des Protagonisten, des jungen Len Colter, eine Sünde zu begehen und gegen das Verbot seines Vaters an der Versammlung eines Wanderpredigers teilzunehmen. Bei dieser Zusammenkunft wird ein Mann namens Soames gesteinigt, der für das alte System vor der großen Katastrophe steht. Der Lohn der Sünde ist eine Prügelstrafe, aber das einmal aufgeworfene Problem bleibt ungelöst: Ist es statthaft, der Wissbegierde zum Erhalt des Friedens und um den Preis der Selbstbescheidung eine Grenze zu setzen, ein »Bis hierher und nicht weiter«, oder ist das Lernen ein Wert an sich? Brackett gibt keine eindeutige Antwort; sie betrachtet beide Haltungen als unterschiedliche Formen der menschlichen Befindlichkeit.

Auch die Utopie von Bartorstown, dem letzten Technikrefugium der Menschheit in einem versteckten Canyon, wo die Erben der Zivilisation mit einem Supercomputer die Antwort auf die Frage suchen, wie eine Wiederkehr der Katastrophe verhindert werden kann, erweist sich als ambivalent. Denn ob es diese Antwort wirklich gibt, bleibt ungewiss. Zudem bedarf es dazu eines Systems, das ebenso rigide und freiheitsberaubend ist wie das, welches es bekämpft. Wie Hostetter, Lens Mentor, es an einer Stelle sagt:

»Auch wir sind Fanatiker, genau wie der Mob, der Soames gesteinigt hat … Uns bleibt keine andere Wahl! Wir dürfen uns nicht treiben lassen, wir dürfen nicht so leben wie alle anderen, denn sonst besteht die Gefahr, dass uns Bartorstown irgendwann gleichgültig wird.« [231/232]

Obwohl die Geschichte manche Züge einer klassischen Queste aufweist – der Aufbruch, die Begegnungen mit Helfern und Widersachern, die letzte Prüfung, das Ziel –, fehlt ihr doch das wichtigste Element einer Heldenreise: die Heimkehr als gereifte Persönlichkeit. Darüber hinaus ist Len eher ein »Drifter«, ein Getriebener, ein Unangepasster, der nirgendwo wirklich hingehört, und das hat er nicht nur mit den gebrochenen Heldenfiguren der Schwarzen Serie gemeinsam.

Diese Charaktereigenschaft ist auch den Helden in Bracketts Science-Fiction-Erzählungen eigen, ob sie nun Rick Urquhart, Matt Carse oder Eric John Stark heißen. Sie alle sind Einzelgänger, vom Typ her vergleichbar mit hartgesottenen Detektiven oder Westernhelden. Am deutlichsten wird dies in der Kurzgeschichte »Shambleau« (1933) von Bracketts Autorenkollegin C. L. Moore, in der der Held Northwest Smith heißt und die »Lederkleidung des Raumfahrers« [532] trägt. Doch die Space Opera jener Zeit ist mehr als nur Wildwest im All. Mars und Venus, auf denen Bracketts Geschichten hauptsächlich spielen, waren, wie Den Valdron in einem Artikel über Brackett und Burroughs schreibt, »nicht nur Planeten, für die es eine begrenzte Anzahl astronomischer Beobachtungen gab, sondern psychische Landschaften in der Kultur, aufgeladen mit Ideen und Erzählungen, die in die Kultur eingebettet waren. Es waren Landschaften, die so real und lebendig oder so unwirklich und archetypisch waren wie der Wilde Westen, der geheimnisvolle Orient und das dunkelste Afrika« [Web].

Die Vorstellung vom Mars als einem alten Planeten, einer sterbenden Wüstenwelt mit einer versunkenen oder dekadenten Kultur, die weiter zurückreicht als die irdische, hatte ihre Wurzeln in der Wissenschaft des 19. und 20. Jahrhunderts, basierend auf Beobachtungen von Astronomen wie Giovanni Schiaparelli – von dem der Begriff »canali« stammt, der als »Kanäle« missverstanden wurde – und Percival Lowell und literarisch überformt von Autoren wie H. G. Wells und Edgar Rice Burroughs. Parallel dazu entwickelte sich ein zweites Narrativ von der Venus, durch deren Wolkendecke man nicht hindurchsehen konnte, als einem jungen Planeten mit dampfenden Dschungeln. Räumlich wie zeitlich lag die Erde als gemäßigte Welt zwischen diesen beiden Extremen. Wissenschaftlich war in den 1940er-Jahren längst klar, dass Mars und Venus eine lebensfeindliche Atmosphäre boten, aber gerade in dieser Ambivalenz zwischen literarischer und faktischer Realität liegt der eigentliche Reiz der Geschichten.

In ihrer Konzeption des Sonnensystems treibt Brackett die Analogie noch einen Schritt weiter. Merkur, der innerste Planet, ist die Welt des Anfangs. In dieser lebensfeindlichen Welt wächst Eric John Stark auf, der als einziger Überlebender einer Menschenkolonie von den Aborigines – ein Begriff, der bewusst an die Ureinwohner Australiens erinnert – aufgenommen wird, die an der Schwelle zwischen Mensch und Tier stehen. In einem Traum erinnert er sich daran:

Er war wieder ein Junge auf dem Merkur, der einen Pfad hinabstieg, der von einem Höhleneingang zum Grund eines Tales führte. Über ihm ragten die Berge in den Himmel und verloren sich in der flachen Atmosphäre. Die Felsen tanzten in der schrecklichen Hitze, aber seine Fußsohlen waren wie Eisen, und er spürte es kaum. Er war völlig nackt. [Queen 15]

In dieser Welt geht es im wahrsten Sinne des Wortes ums nackte Überleben. Als die Menschen den wilden Jungen schließlich einfangen, sperren sie ihn zunächst wie ein Tier in einen Käfig. Erst Starks Mentor Simon Ashton gelingt es mit Mühe, ihn einigermaßen zu zivilisieren, doch in Situationen, in denen es ums Überleben geht, verwandelt er sich wieder in sein altes Ich als N’Chaka, der »Mann ohne Stamm«.

Während bei Bracketts früh verstorbenem älterem Zeitgenossen Robert E. Howard (1906–1936) der Grundkonflikt zwischen Barbarei und Zivilisation besteht, die archetypisch durch das Römische Reich verkörpert wird, das jeden Widerstand unter genagelten Stiefeln zertrampelt – wobei die Barbarei, wie Howard seinen Protagonisten Conan sagen lässt, als »der natürliche Zustand der Menschheit« am Ende immer obsiegen wird [Howard 754] –, ist er bei Brackett anders gelagert. Zwar tritt auch hier die Erde als Kolonialmacht auf, vergleichbar den Briten in Indien oder den Franzosen in Indochina, aber der soziokulturelle Aspekt ist nur ein nachgeordnetes Thema. Stark und die anderen einsamen Helden sind keine Kulturbringer wie David Innes in Pellucidar bei Edgar Rice Burroughs, und sie assimilieren sich auch nicht wie John Carter auf Barsoom, Burroughs’ Version des alten Mars [Valdron, Web], oder wie James Fenimore Coopers Lederstrumpf und andere historisch verbürgte Renegaten, die sich den Indianern anschließen. Sie bringen auch keine Lösungen, sondern wirken allenfalls als Katalysatoren, die den Niedergang eher beschleunigen als aufhalten. Die Sympathie der Erzählerin gilt zwar den Eingeborenen, aber sie ergreift nicht offen Partei für sie. Ihr Grundthema ist ein existentielles, für das die Konstellation der Planeten eine Metapher ist: das Tier im Menschen.

In den Marsgeschichten wird dies durch Shanga bildlich dargestellt, was mit »Zurückgehen« übersetzt wird. Ein anderer Name dafür ist »das Tierlicht«. Dabei handelt es sich um eine künstlich erzeugte Strahlung, das Opfer »rückwärts auf dem Pfad der Evolution fliehen« [Beast-Jewel 11] lässt und die wie eine Droge wirkt, wobei gesagt wird, dass Erdenmenschen als jüngere »Rasse« dagegen eine größere Widerstandskraft haben als die Marsianer [24]. Brackett verwendet dafür den Begriff »Atavismus« [Queen 17], der in der Biologie eigentlich das zufällige Auftreten früherer evolutionärer Merkmale, wie z. B. der Vollbehaarung beim Menschen, bezeichnet. Bei Brackett geht es aber vielmehr um die Idee, dass Evolution auch umkehrbar ist, ein Phänomen, das sowohl biologische als auch kulturelle und psychologische Aspekte aufweist.

Dieser Gedanke zieht sich durch alle Werke Bracketts, von den Detektivgeschichten, in denen im Grunde jeder, so zivilisiert er auch erscheinen mag, zu einem Mord fähig ist, über TheLong Tomorrow, in dem die Welt in einen früheren Kulturzustand zurückfällt und sich stets bewusst ist, dass die Katastrophe auf Dauer nicht verhindert werden kann, und Follow the Free Wind, in dem sich der zivilisierte ehemalige Sklave dem Indianerstamm anschließt, bis hin zu den Mars- und Venusgeschichten. Eric John Stark ist in gewisser Weise die Verkörperung dieser Idee. Er ist im wahrsten Sinne des Wortes der dunkle Mann, dessen Haut von der unbarmherzigen Sonne des Merkur schwarz gebrannt ist.[1] Das Tier im Menschen ist bei ihm immer präsent, als ständige Gefahr, aber auch als Urkraft, die erwacht, wenn es um existenzielle Fragen wie Leben und Tod geht, für die der Verstand keine Lösung bietet.

Deutlich wird dies in einer Szene aus einem späteren Roman Bracketts, in dem sie nach langer Pause wieder zu ihrer Figur Eric John Stark zurückkehrt. In The Ginger Star (1974) muss sich Stark einem Rudel riesiger telepathischer Hunde stellen, welche die Zitadelle der Lords Protector bewachen und ihre Opfer erst mit Angst lähmen, bevor sie sie zerfleischen:

Angst.

Angst war eine Krankheit.

Angst war eine dunkle Welle, die ihn überrollte, ihm Sehen und Hören nahm, Geist und Willen zermalmte.

(…)

Weit unten in der dunklen Masse der Angst, die jeden menschlichen Mut zerstörte, sprach ein anderer Geist. Ein kalter Tier-Geist, der weder denkt noch schlussfolgert, ein lebendiger Geist, der verzweifelt zu leben versucht, ein Geist, der sich selbst als Knochen und Muskeln fühlt, als Kälte und Schmerz, als Hunger, der gestillt, als Angst, die ertragen werden muss. Angst ist Leben, Angst ist Überleben. Das Ende der Angst ist der Tod.

Der kalte Tier-Geist sagte: »Ich bin N’Chaka.«

Das Blut pulsiert, heiß vor Leben, heiß vor Hass. Hass ist ein Feuer im Blut, ein Geschmack im Mund von bitterem Salz.

Ich bin N’Chaka

Ich sterbe nicht.

Ich töte. [147]

Die SKAITH-Trilogie, deren erster Band mit den Romanen The Hounds of Skaith (1974) und The Reavers of Skaith (1976) fortgesetzt wird, gehört sicherlich zu Bracketts schwächeren Werken. Auch wenn sie erzählerisch immer noch auf der Höhe ist, hat die ursprüngliche Inspiration an Kraft verloren. Stark, der sich hier auf die Suche nach seinem Mentor Ashton begibt, besucht nach einem Zwischenstopp auf der hochtechnisierten Zentralwelt des menschlichen Sternenimperiums den Planeten einer sterbenden Sonne. Dort wird er zu einer geradezu mythischen Gestalt, dem Dunklen Mann der Prophezeiung, hochstilisiert. Während in der Chronologie des Sonnensystems die Marsianer am Ende ihre Unabhängigkeit wiedererlangen, sind hier die Kolonisatoren die einzig möglichen Retter, welche die Bewohner von Skaith von ihrem dem Untergang geweihten Planeten fortbringen könnten, sofern diese bereit sind, sich zu verändern. Dies mag auch den historischen Veränderungen in der Welt der Autorin geschuldet sein; so war sie als Republikanerin – zu einer Zeit, als dies noch eine ehrenwerte konservative Haltung war – eine Befürworterin des Vietnamkriegs. Was die Politik betraf, so war auch Brackett ein Kind ihrer Zeit.

Und doch gibt es auch in diesem mitunter langatmigen Werk Passagen, für die man ganze andere Romane wegwerfen möchte.

In der Mitte des Raumes saß auf einer eisernen Stange eine Kreatur, die selbst ganz aus Eisen und Bronze zu sein schien, eine martialische Rüstung aus glänzenden Federn. Selbst mit geschlossenen Flügeln sah sie schnell und kraftvoll aus, ein einziger scharfer, sauberer Streich vom Scheitel ihres schlangenförmigen Kopfes bis zum Ende ihres spitz zulaufenden Schwanzes. Ein solches Geschöpf wohnte im Haus eines jeden Häuptlings der Ochar. Gefüttert vom Tisch des Häuptlings, war es mit seinem schmalen goldenen Halsband das Abzeichen und Symbol und der Stolz des Häuptlings, gleichrangig mit der Ehre, höher als Leben, Frau, Mutter oder Kind.

»Schnellflügel«, sagte Ekmal. »Himmelsstürmer. Windreiter. Blitzbruder.«

Die Kreatur öffnete Augen wie zwei rote Sterne und sah Ekmal an. Sie öffnete ihren Schnabel und schrie laut das einzige Wort, das sie kannte:

»Krieg!« [Hounds 47]

Angesichts solcher Szenen wird verständlich, warum Brackett als »writer’s writer« gilt. Darunter versteht man Schriftstellerinnen und Schriftsteller, die in der von ihnen gewählten Form etwas besonders Beeindruckendes zustande bringen, das von anderen ihrer Zunft bewundert wird, weil sie aus eigener Erfahrung wissen, wie schwierig es ist. Brackett war im Gegensatz zu ihrem Mann Edmond Hamilton zudem dafür bekannt, dass sie ihre Geschichten nie nach einem Exposé schrieb, sondern als geborene Erzählerin einfach aus dem Kopf zu Papier brachte [Hamilton 16].

Eine Einschätzung wie diese geht oft auch damit einher, dass solche Talente von der Literaturkritik weitgehend ignoriert werden. Bei Brackett kommt erschwerend hinzu, dass sie in verschiedenen Medien und zudem in mindergewerteten Genres wie dem Kriminalroman, dem Western und der Space Opera, als deren »Königin« sie oft bezeichnet wird, tätig war. Aber ihr Einfluss auf die nächste Generation von Autoren innerhalb ihres Wirkungskreises ist unbestreitbar. Sie war nicht nur eine Frau, die in einer von Männern dominierten Szene Respekt genoss, und damit ein Rollenvorbild für spätere Autorinnen. Sie trug durch ihr Beispiel auch dazu bei, das sprachliche und erzählerische Niveau dieser Literaturgattungen, insbesondere der Science Fiction, anzuheben. Michael Moorcock nannte sie »eine der wahren Patinnen der New Wave« [Web], der experimentellen Strömung in der SF der 1960er-Jahre, und nicht ohne Grund wählte Harlan Ellison eine ihrer Geschichten für die nie erschienene abschließende Fortsetzung seiner bahnbrechenden Anthologie Dangerous Visions (1967) aus. Über die stilistische Qualität und die innovative Kraft ihrer Geschichten können auch die heute antiquiert wirkenden Schauplätze nicht hinwegtäuschen.

Ob die Space Opera wirklich, wie Brackett in ihrem Vorwort »Beyond our Narrow Skies« zu The Bestof Planet Stories #1 (1975) schreibt, »das Volksmärchen, die Heldensage in unserer speziellen Nische der Geschichte« [2] und somit eine legitime Erbin der Mythen und Legenden der Vergangenheit ist, mag Ansichtssache sein. Aber mit der Behauptung, dass man diese Geschichten auch dann noch lesen wird, wenn so mancher Gesellschaftsroman in Vergessenheit geraten ist, hat sie recht behalten.

Bibliographie

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Brackett, Leigh, »The Beast-Jewel of Mars« in: PLANET STORIES, Vol. 4, No. 1 (Winter 1949). 4–26.

—, »Queen of the Martian Catacombs« in: PLANET STORIES, Vol. 4, No. 3 (Sommer 1949). 4–36.

—, The LongTomorrow (New York: Ace, 1955). Das lange Morgen; deutsch von Hannes Riffel (Wittenberge: Carcosa, 2023).

—, Follow the Free Wind [1963]; (Knox, ME: Center Point, 2002).

—, The Secret of Sinharat, erw. Ausg. von »Queen of the Martian Catacombs« (New York: Ace, 1964). Krieg der Unsterblichen; deutsch von Hubert Straßl (München: Pabel [UTOPIA ZUKUNFTSROMAN 579], 1968).

—, The Ginger Star (New York: Ballantine, 1974). Der sterbende Stern; deutsch von Jürgen Saupe (München: Pabel [TERRA TASCHENBUCH 320], 1979).

—, The Hounds of Skaith (New York: Ballantine, 1974). Dämon aus dem All; deutsch von Jürgen Saupe (München: Pabel [TERRA TASCHENBUCH 324], 1980).

—, »Beyond our Narrow Skies« in: The Best of Planet Stories #1, hrsg. von Leigh Brackett (New York: Ballantine, 1975), 1–8.

—, TheReavers of Skaith (New York: Ballantine, 1976).

Hamilton, Edmond, »Story-Teller of Many Worlds« in: The Best of Leigh Brackett, hrsg. von Edmond Hamilton (New York: Ballantine, 1977) 7–17; »Vorwort«, in: Die besten Stories von Leigh Brackett; deutsch von Eva Malsch (München: Moewig, 1981), 7–17.

Howard, Robert E., »Beyond the Black River« in: WEIRD TALES Vol. 25 (1935), No. 5, 591–608; No. 6, 734–54.

Liptak, Andrew, »Leigh Brackett’s Planetary Romances« (28.03.2013). Web. www.kirkusreviews.com/news-and-features/articles/leigh-bracketts-planetary-romances/. (27.03.2023.)

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Moorcock, Michael, »Queen of the Martian Mysteries: An Appreciation of Leigh Brackett« (2002; Reprint, 13.06.2002). Web. www.fantasticmetropolis.com/i/brackett/, archiviert unter https://web.archive.org/web/20070902073949/http://www.fantasticmetropolis.com/i/brackett/ (29.03.2023)

Moore, C. L., »Shambleau« in: WEIRD TALES Vol. 22, Nr. 5 (November 1933). 531–550.

Nevell, Diane & Victoria Lamont, »Savagery on Mars: Representations of the Primitive in Brackett and Burroughs« in: Visions of Mars: Essays onthe Red Planet in Fiction and Science, hrsg. von Howard V. Hendrix, George Slusser & Eric S. Rabkin (Jefferson, NC: Farland, 2011), 73–79.

Valdron, Den, »Spaceman’s Burden«. Web. www.erbzine.com/mag17/1783.html. (27.03.2023)

Helmut W. Pesch (*1952) promovierte mit einer Arbeit über Fantasy. Theorie und Geschichte einerliterarischen Gattung und ist der wohl beste Tolkien-Kenner im deutschsprachigen Raum. Von 1984 bis 2015 war er bei Bastei Lübbe als Redakteur und Lektor tätig, wo er u. a. Werke von Ken Follett, Stephen King und Andreas Eschbach betreute. Für Carcosa hat er, zusammen mit Matthias Fersterer und Karen Nölle, AlwaysComing Home von Ursula K. Le Guin ins Deutsche übersetzt.

[1] In Titelbildern und Innenillustrationen wird Stark in der Regel hell- oder braunhäutig mit schwarzem oder braunem, im Einzelfall auch blondem Haar dargestellt. Die erste Darstellung mit schwarzer Haut ist das Titelbild des Romanhefts Krieg der Unsterblichen (The Secret of Sinharat) von R. S. Lonati (1968), was allerdings auch dem Stil des Künstlers geschuldet sein mag.

Leigh Brackett, Das lange Morgen (Neuübersetzung von The Long Tomorrow [1955]),

Julie Phillips

Über die Grenzen hinaus – Die phantastischeUrsula K. Le Guin

Aus dem amerikanischen Englisch von Hannes Riffel

Der vorliegende Text wurde im Oktober 2016 in der Kulturzeitschrift THE NEW YORKER veröffentlicht, gut ein Jahr, bevor Ursula K. Le Guin in Portland, Oregon, verstarb. Julie Phillips, Verfasserin der bahnbrechenden Biographie James Tiptree Jr. – Das Doppelleben der AliceB. Sheldon, hat die Autorin in den letzten Jahren ihres Lebens begleitet. Derzeit schreibt sie an einer umfassenden Biographie über Ursula K. Le Guin, die auf Deutsch bei Carcosa erscheinen wird.

Seit einiger Zeit beschäftigen sich viele Menschen geradezu zwanghaft mit Politik, und Ursula K. Le Guin ist keineswegs gefeit gegen Anfälle politischer Entrüstung. Vergangenen Winter schrieb sie mir in einer E-Mail, die Enttäuschung würde sie »auffressen«, dass ein Naturschutzgebiet im östlichen Oregon weiterhin von einer bewaffneten Bande regierungsfeindlicher Hetzer unter Führung der Brüder Ammon und Ryan Bundy besetzt werde. Über den Schaden, den diese »finsteren Revolverhelden« wissenschaftlichen Programmen und historischen Artefakten zufügten, die dem dortigen Stamm der Paiute gehörten, war sie ebenso verstört wie über die Zögerlichkeit des F. B. I., diesen »Möchtegern-Cowboys« das Handwerk zu legen. Ein Twitter-Feed mit dem Hashtag #BundyEroticFanFic habe sie immerhin wieder ein wenig aufgemuntert.

Die Hochwüste im östlichen Oregon ist eine der Gegenden, die Le Guin wichtig sind. Oft besucht sie im Sommer, zusammen mit ihrem Ehemann Charles, einem emeritierten Geschichtsprofessor von der Portland State University, dort eine Ranch auf dem Felsrücken von Steens Mountain, der das Reservat überragt. In der Malheur Field Station, einer Ansammlung verwitterter Gebäude, die vorwiegend von Biologen und Vogelbeobachtern genutzt werden, hat sie Schreibwerkstätten geleitet. Außerdem hat sie ein Buch mit Gedichten und Skizzen der Gegend veröffentlicht, das Fotografien von Roger Dorband enthält und den Titel Out Here trägt – »hier draußen«. Es gefällt ihr, wie sehr sie sich in der Wüste der Weite, der Leere und der geologischen Zeit bewusst ist. In einem Gedicht, »A Meditation in the Desert«, stellt sie sich vor, dass ein Stein »von langsameren, längeren Gedanken erfüllt ist, als ein Intellekt sie haben kann«.

Sie hat Wurzeln im östlichen Oregon, die in die Tage der ersten weißen Siedler zurückreichen. Erst unlängst hat sie mir ganz aufgeregt erzählt, dass sie auf dem Dachboden Aufzeichnungen über die Kindheit ihrer Großmutter wiedergefunden hat: »Mein Urgroßvater ist 1873, als meine Großmutter elf Jahre alt war, von Kalifornien nach Oregon gezogen … Sie haben dreihundertfünfzig Rinder durch Nevada getrieben und an der Rückseite von Steens Mountain ein Steinhaus gebaut. Ich glaube nicht, dass er das Grundstück auf seinen Namen hat registrieren lassen – wo hätte er das auch tun sollen? Er war einer der ersten Viehzüchter in einem damals noch weitgehend menschenleeren Land.« Dort blieb die Familie fünf Jahre lang, bevor sie weiterzog, auf der Suche nach frischem Gras oder weniger Abgeschiedenheit – das hat ihre Großmutter nicht gesagt. Die Geschichte enthält Hinweise auf etwas, das Le Guin bereits wusste: dass die leeren Räume Amerikas eine Vergangenheit haben, und dass die ganze Pracht auf Einsamkeit und großen Opfern gründet.

Die Geschichte Amerikas ist eine Geschichte widersprüchlicher Phantasiebilder: Es wird darüber gestritten, welche Geschichten erzählt werden und wer sie erzählen darf. Wenn die Brüder Bundy in einen Aspekt des amerikanischen Traums verliebt waren – Geschichten über geschlagene Schlachten und gewonnene Kriege, über erobertes und domestiziertes Land –, dann hat Le Guin ihr Lebenswerk darauf verwandt, andere, deutlich weniger triumphalistische Aspekte zu erkunden. Sie sieht sich als Schriftstellerin in einer westlichen Tradition, auch wenn ihr Werk an den unterschiedlichsten Schauplätzen spielt, von der Küste Oregons bis zu einem anarchistischen Utopia und einem Kalifornien in einer Zukunft, die der Vergangenheit gleicht. Aus einem Gefühl der Zwiespältigkeit heraus hält sie Abstand zu den literarischen Machtzentren und schafft in ihrem Werk Platz für andere Stimmen. Sie hat immer das Phantastische verteidigt, worunter sie keine schablonenhafte Fantasy versteht, keine Magie vom Fließband, sondern Einbildungskraft als subversive Macht. »Die Phantasie kann, wenn ihr freie Hand gelassen wird, dabei helfen, eine fatale Selbstverliebtheit abzuschütteln«, schrieb sie. »Dann heben wir den Blick und sehen – voller Entsetzen oder voller Erleichterung –, dass die Welt in Wirklichkeit gar nicht unser Besitz ist.«

Als ich Le Guin diesen Sommer in ihrem Haus in Portland besuchte, war sie gelösterer Stimmung. Charles und ich saßen auf der rückwärtigen Veranda des Hauses in der Spätnachmittagssonne, und sie kam mit Bourbon auf Eis zu uns heraus. Dabei wirkte sie geradezu fröhlich, das zerfurchte, ausdrucksstarke Gesicht heiter unter einer Haube kurzen weißen Haars. Ihre tiefe, warme Stimme erinnerte, als sie unbeschwert lachte, an ein Holzblasinstrument. Der Bourbon ist Teil des Abendrituals der beiden: Wenn sie keinen Besuch haben, gönnen sie sich vor dem Abendessen einen Drink und lesen einander abwechselnd vor. Am Hang unterhalb der Veranda unterhielten sich lautstark zwei Buschhäher.

Die Fröhlichkeit, so erklärte sie mir, sei relativ: Teilweise verdanke sie sich der Tatsache, dass eine Telefonkonferenz, die für den heutigen Tag angesetzt gewesen war und bei dem der Fantasyautor Neil Gaiman und irgendwelche Filmleute ihr ein Projekt hatten vorschlagen wollen, verschoben worden sei, sodass sie jetzt genügend Energie für ein Gespräch habe. Ihr Rücken ist vom Alter gekrümmt – diesen Monat wird sie siebenundachtzig –, und sie muss mit einer Ressource sparsam umgehen, die ihr früher im Übermaß zur Verfügung stand. »Meine Kondition lässt mich heutzutage so verdammt schnell im Stich«, sagte sie.

Das Haus, in dem Le Guin seit über fünfzig Jahre lebt, ist, in mancher Hinsicht, seiner Bewohnerin ähnlich geworden. Hinter den Barrieren am Eingang – Charles’ gefährlich dornige Rosen, der Klopfer mit dem Löwenkopf, der die Tür bewacht – befindet sich das dunkel getäfelte, im Craftsman