Vorabbericht in Sachen der Zona Cesarini - Kurt Lanthaler - E-Book

Vorabbericht in Sachen der Zona Cesarini E-Book

Kurt Lanthaler

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Beschreibung

Die unglaubliche Geschichte eines jugendlichen Zirkusartisten und späteren Fußballstars. Wenige Monate alt, wird 1907 Renato Cesarini als Baby in Buenos Aires von Bord getragen. Vier Wochen Fahrt unter Deck liegen hinter ihm und den mehr als tausend zusammengepferchten italienischen Emigrant:innen. In einem Jahrhundert voller Widersprüche wird Cesarini mehrmals den Atlantik überqueren, hin und zurück. In immer neuen Schuhen seines Vaters, eines neapolitanischen Schuhmachers, dribbelt er sich vom kindlichen Taschendieb und Zirkusakrobaten aus der Boca zum Fußballstar zweier Nationalmannschaften (ARG/ITA), wird Champagnertrinker, nächtlicher Szenegänger sowie Betreiber einer Tangueria in Torino. In Gesellschaft von Agenten, Boxweltmeistern, einer Mussolini-Geliebtenund seines Affen Scimmi. Ein wildes Leben schillernd erzählt, leichtfüßig wie ein italoargentinischer Tango.

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Seitenzahl: 348

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Kurt Lanthaler, geboren 1960 in Bozen/Bolzano, lebt seit 1987 in Berlin. Schreibt Romane, Lyrik, Theaterstücke. Installationen. Übersetzte Roberto Alajmo und Peppe Lanzetta aus dem Italienischen. Nach seinen Romanen »Napule« und »Das Delta« greift er hier erneut, durchaus wieder »filmisch«, einen italienischen Stoff auf.

Kurt Lanthaler

Vorabbericht in Sachen derZona Cesarini

Roman

Le Meriche, e lo sapevate, sono ’na mareveglia mostruosa

Stateme ’mbbene, H. G. e W. M.

Inhalt

Anbei also

Le Meriche, 1906 – 1929

Im Takt der Worte auf das Leder

Dieses elende Schiffsdurcheinander

Kein Meer mehr. E poi il mare

Die Jolanda, das Wrack, und die Virginia

Erste Schritte, wenn auch nicht eigne

Nonnonino und die Windrose

Cesarinis Großmutter mütterlicherseits

Landgang eines Säuglings

Weil es mir gerade einfällt

So lebte es sich, e si viveva

Cesarinis Großvater väterlicherseits

Unterwegs in der Boca, unterwegs

Zio Gio, Nonnonino, ein gewisser Chinchella

Vom Grito de Alcorta

Ein Schiff kommt und

Vorm Zirkus

Tangobitte

Abbastanza buono il tuo tango, sowas

Gleichzeitig, zumindest eine Zeit lang

Verlobungsauftrag

El argentino es un italiano que habla español

Orsis erster Arbeitstag

Genova e Torino, febbraio del 1930

Cesarinis zweite Seefahrt

Cesarinis erstes Verschwinden

Gemelli-Bericht 01. Vom Abhandenkommen

Cesarinis erste Nacht, und der Morgen danach

Ostriche in Spagna – Austern in Spanien

Drei Meldungen, eine Zeitung

Nach ausgedehntem Nachmittagsschlaf

Ein Cinzano, zwei Mineral

Es fallen mir Geschichten

Die Schuld der Schulter (das alles)

L’epicentro. Domenica, 13. 12. 1931

Im Nachhinein, ein Leben

La folla, die Menschenmasse

La Zona Cesarini, raccontata da lui stesso

Die Zona Cesarini, in der Presse und den Lexika

Man kann Geschichte insgesamt

Alarme in Zona Cesarini

Gemelli-Bericht 02. Vom Abseitigen

Il Quinquennio del Ventennio

Fünf Jahre, die Zwanzig und die Tausend

Tranquilli, keine Sorge

Gemelli-Bericht 03. Vom Wiederverschwinden

Palace Hotel Merano, Donna Rachele

Diese Seefahrt der Sarfatti

Scompare Ettore, es verschwindet

Wie man auch an Erinnerungen

Stille Tage und ein letzter Tango in Torino

Y de nuevo en Buenos Aires, 1935 ff.

Buenos Aires, impossibile

Da gehen die Geschichten

Die erste Filmaufnahme und eine Fotografie

Ein deutlich seriöseres Business

Un’ altr’ Italia, otra vez, 1946 ff.

Cesarini kommt zurück, und zwar schon

Lesarten, diverse

Lucky a Genova, und ich nicht in Torino

Das bißchen, was ich über Moral weiß

… und Wiedergänger, 1949 – 1969

Schlangenmensch und Seiltänzer

In Saloniki nennt man Barfüßer sparsam

Resultat einer gewissen Verwirrung

Gemelli-Bericht 04. Vom Ansatz

Heimatlose Gesellen, einheitliche Feldtheorie

Die Worte im Takt al ritmo del mare

Fortschreibung

Warhafftige Historien einer Wunderbaren Schiffart, 1535

Lombroso y el origen del argot, 1894

Este informe preliminar, dieser Vorabbericht, 1917

Gramscis Pferdeschwanz, 1932

Ni una sola gota de sangre indígena, 1933

Nuestro Norte es el Sur, 1941

Zwei komplette Nationalmannschaften, 1978

Nachgeholte Biographien

Quellen, und Literatur

Postscriptum

Anbei also

Dooradoyle, den 9. November 2023

(sowie sowieso vorab) die mit Ihnen besprochenen Materialien, zum heutigen Stand. Lassen Sie mich zunächst aber kurz resümieren: Sie haben sich bei mir gemeldet und vorgeschlagen, unser Projekt, das sich wegen des Regierungswechsels in den Irrgärten neubesetzter Ministerialien zerschlagen hatte, doch noch anzugehen. Und ich also, für Geldgeberschaft in Behörden und Beiräten, einen (möglichst lesbaren, schrieben Sie mir) Überblick zu dem Stand unserer Recherchen, dem Ursprung und dem Zweck des Vorhabens uswusf. liefern solle. Und möglichst bald. Ich setze also ein paar sehr vorläufige Bemerkungen voran.

Es ist uns, das der eigentliche Ursprung der ganzen Geschichte (wenn ich unser Vorhaben etwas locker so nennen darf), auf »verschlungenen« Wegen ein Schuhkarton zugegangen. Verschlungen nennt man solche Wege immer, wenn man, wie auch in unserem Falle, (noch) nicht gewillt ist, Quellen offenzulegen. Zumal wir, da wir keine eigentlichen Journalisten, auch nicht wirklich auf Informantenschutz plädieren könnten. Und weil, dazu später mehr – so sehr muß ich dann doch zusehen, mich juridisch nicht allzusehr aufs Glatteis … –, weil noch nicht geklärt, ob der Inhalt unseres Schuhkartons wirklich authentisch. Oder eben nichts als eine weitere Sternstunde.

Da Sie aber, wie Sie mir schreiben, irgendwie nun doch und neuerlich einen Kontakt in den Fluren der römischen Machtburgen aufgetan haben, akquiriert, schreiben Sie, und also denke ich, Sie sind nicht nur teuer abgestiegen, sondern haben auch noch teuer gespeist, »geschäftlich veranlaßte Bewirtung für zwei« und pipapo … auf welchen verschlungenen Wegen Sie trotz Regierungswechsels in der Capitale sich diesen Fisch geangelt, soll mir egal sein. Solange uns der Fisch schlußendlich dann wirklich zu unserer Ausstellungs- und Veranstaltungsreihe in den italischen Vertretungen des Weltenrundes verhilft. (Da ist mir dann, aber da spreche ich nur für mich, Absteige wie Anfutterung relativ egal.) Ansonsten, dachte ich mir, bevor Sie sich gemeldet hatten mit diesem letzten Versuch einer Rettung unseres Vorhabens (und sagen Sie nicht immer Projekt. Sind wir Projektantenonkels?), schmeiß ich den Bettel hin, so sehr hängt mein Herz auch nicht an dem Material, und such mir ein neues Betätigungsfeld; gern was Kleines, Unauffälliges, seeehr marginal Gelegenes und vor allem eines, das ich auch allein für mich in meinem Kämmerchen stemmen kann. Nun gut, ich bin Ihnen irgendwie im Wort, auch wenn selbst solche Worte einer Verjährungsfrist unterliegen, und die wär bereits dreimal abgelaufen, vai con Dio, ma vai, sagte ich mir, und also sei es.

Sie haben mir also mitgeteilt, man müsse alles, was mit den Ministerialen (der vorherigen Regierung) verabredet gewesen, vollkommen neu verhandeln. Ist klar, soweit. Ex novo, ex voto. So, sagt man mir und ich Ahnungsloser muß es glauben, arbeiten auch die Dichter. Schreiben, streichen, neuschreiben. Wiederschreiben. Umschreiben. Mit Ministerialen und Ministern aber, my dear, müssen Sie umgehen. (Die marziani des Orson Welles könnten mir nicht fremder sein als diese Spezies.) Ich liefere nur das Material. (Wenn auch möglichst bißfertig, wie Sie schreiben.)

Bei den jetzigen römischen Zuständen (zumal bei der romanaccia de Roma) würde ich Ihnen ja empfehlen, einen eventuellen Elevator Pitch (der in Roma ein Paternosterpsalm sein dürfte) auf die nationale Bedeutung unseres »Gegenstandes« zu formulieren, gern unter Beigabe der historischen Leistungen der Millionen von Italiani, die ausgezogen in den Jahrhunderten, um die Welt besser/schöner/sonstnochwas zu machen, e pizza, pummarole e tarantella. Italiani brava gente, der Unsere aber ein ganz spezieller. (Ich zähl mich eher zu den Normalitalienern.) Sowas, dacht ich mir, sollte funktionieren. Und entsprechend habe ich Ihnen das folgende Konvolut zusammengestellt. Sie sprachen ja von Montage der Materialien, möglichst ansprechend; da kenn ich mich nicht aus. Ich bin eher, in meiner Arbeitsweise und wohl auch sonst, ein Collagist. (Und Kollationist.) Und als solcher ein Resteverwerter. (Sciacalaggio, sagte man. Leichenfledderei.)

Was Sie in ihren Flurverhandlungen wohl auch gut verkaufen sollten (und die Leute stehen auf sowas, sagt man mir), ist die Schuhkartongeschichte. Deswegen, zu Ihrer Erinnerung, und v. a. damit unser Storytelling dazu nicht allzustark divergiert: Es ging uns, vor einiger Zeit und auf verschlungenen Wegen ein Schuhkarton zu. (Die verschlungenen aber können erst bei einer tatsächlichen Umsetzung unseres Vorhabens, also am Tag der ersten Eröffnung in einem der italienischen Auslandssitze, teilweise, offengelegt werden. Getreu dem Motto der von M. gegen den alliierten deutschen Norden errichteten Bunkerlinie des Namens Linea non mi fido. Traudirnicht.) In diesem Schuhkarton befanden sich eine ganze Reihe von Tonbandspulen. (Details im Berichtsentwurf.) Auf den Tonbändern aber fand sich, vorgeblich, mutmaßlich, die Stimme eines Renato Cesarini. Der, wie sich herausstellte, erstens Hallodri (nicht weitersagen), zweitens Balltreter (nicht mein Fall), drittens Italoargentinier und viertens: Namensgeber einer Zone, die vor allem dem Italiener in uns etwas sagt. (Wobei ich, recht besehen, gar nicht weiß, ob Sie sich auch als solchen zählen. Ist Ihr Bier beziehungsweise Lambrusco. Der inzwischen übrigens ganz beachtliche Qualitäten wieder erreicht.) Tatsächlich aber, fällt mir gerade auf, könnten Sie mir im Zuge eines Akontos einen Karton davon zukommen lassen, sitze immer noch (und weiterhin) in Éire, was bei Nennung meiner Postanschrift den Uninformierten meist ein Ahh! entlockt (Dooradoyle Road 9, Dooradoyle, V94 WV78 Luimneach/Limerick). Und nein, es ist nicht wegen der Steuer, daß ich hier sitze, sondern allein des Wetters wegen. Und so.

Zu den Tonbändern: Das sind natürlich Stunden von Material, das muß alles noch einmal präzise transkribiert und kodifiziert werden. (Backups sind bereits vorhanden, und aushäusig sicher gelagert.) Aber, aber. Noch liegt uns kein materialtechnisches und schon gar kein forensisches Gutachten vor. Weil wir nämlich noch keines in Auftrag gegeben, weil nicht gerade billig. (Es wären mehrere Gutachten notwendig; von chemischen bis zu akustischen Analysen, und, inzwischen, auch die Hinzuziehung eines Spezialisten in Sachen Deep Fake bzw. AI/KI; ach!, hätten wir doch nur unser Vorhaben noch vor den Zeiten von Pest und Cholera ins Trockendock gebracht und auf Reede gelegt, wenigstens dieser AI-Sch… wär uns erspart geblieben.) Ohne diese Gutachten können wir zwar und evtl. die Ambasciate d’Italia z. B. bespielen (strizzando l’occhio, zwinkerzwinker); ganz sauber wärs nicht, aber wer ist hier schon Meister Propper … eine weitere Verwertung (bekannt als Funk&Fernsehen und was nicht noch alles bis hin zu Noflix) schlösse sich aus. Selbst bei hundsbanalen Buchverträgen (sogar im reimenden Bereich, sagt man mir) unterschreiben Autoren einen Haftungsausschluß, oder wie immer Sie das Ding nennen mögen. Da sollten wir uns der Sache mit der Authentizität der Bänder dann schon relativ sicher sein. Oder besser: entsprechende Gutachten vorlegen können. (Ich möchte nicht, daß uns, wenn die Chose erst einmal läuft, dann plötzlich der Sternenhimmel einbricht, weil man feststellt, das Trägermaterial der Tonbänder sei so, wie es vorliegt im Schuhkarton, erst ab Mitte der, sagen wir, Siebziger produziert worden. (Da der Cesarini schon tot.) Wir sind hier nicht in Hamburg. La speranza è l’ultima a morire, sagt man, die Hoffnung stirbt zuletzt und, ja, man hat schon Pferde kotzen und grobe Fälschermaterialfehlgriffe gesehen. Und wir haben nicht mal Millionen dafür bezahlt. Sowas aber auch.)

Sonstnochwas? (Ich bin nämlich in einer gewissen Eile. Dem Nichtstun entgegen, nämlich.)

Der »Rekorder« zu den Bändern: Von dem Spulentonbandgerät der Schweizer Marke Nagra (Näheres im Vorab-Konvolut), das Cesarini (oder wer auch immer für ihn) benutzt haben will, fehlt jede Spur. Fand sich auch kein Hinweis im Schuhkarton. Was einen nicht sonderlich verwundert; immerhin müßten die treuen Eidgenossen den eigentlichen Auftraggeber JFK ganz schön hintergangen haben, indem sie ein selbstverständlich streng CIA-geheimes Vorabmodell an einen dubiosen (Ex-)Faschisten übergeben, und das ausgerechnet dann auch noch auf seinem Rattenweg, der rat line, nach Buenos Aires. Und wieso das alles dann bei dem unseren Cesarini landet, wär auch wiederum eine Frage. Wir müssen aber nicht alle Fragen stellen, und schon gar nicht laut. Knieschußgefahr. (Nachtrag. Die italienische Soziologin Elena Esposito eröffnet einen ihrer Texte folgendermaßen: »Die Wahrscheinlichkeitsrechnung und der moderne Roman entstanden beinahe zeitgleich.« Ersetzen Sie Roman durch unser Vorhaben, und der Satz hat was.)

Also, und ums offiziell zu machen: Zu dem von uns angedachten »Ausstellungsprojekt« (»multimedial ecc. et al.«) »in Sachen der Zona Cesarini« nunmehr, wie verabredet, anbei ein Vorabbericht; eine Kompilation aus sogenannten »Originaltexten«, den notwendigen »kuratorischen« Passagen (äußerst knapp gefaßt), Zeitdokumenten, sowie einigen Übersichtsseiten. Dies alles – hoffentlich, trotz des Zeitdrucks in der Zona Cesarini – eingerichtet auf passable Lesbarkeit hin, zu Händen der behördlichen Instanzen und diversen Kommissionen. (Später werden wir uns freieren Lauf lassen, uno spera.)

Meine Arbeit ist getanUnd nun tun Sie die Ihresowie sowieso mit besten Grüßenil sottoscritto

PS: (Vergaß ganz)

»Frühestens, verfüge ich hiemit, frühestens 100 Jahre nach dem Tag der sogenannten Zona Cesarini und also keinesfalls vor dem 14. Dezember 2031, dürfen meine Aufzeichnungen, also diese Tonbänder mit den Erfindungen und Erzählungen meiner Gänge durch die Barrios von Buenos Aires, oder Teile von ihnen, veröffentlicht werden. (Am liebsten allerdings gar nicht. Beziehungsweise: Ich bin da noch etwas in der ZC mit meiner Haltung.)«

So Renato Cesarini handschriftlich, dem Schuhkarton (Mario Valentino e Figli, Napoli – New York) beigelegt, in dem die bewußten Tonbandspulen gelagert waren. Wir sehen uns also gedrängt, jeden, dem dieser Vorabbericht vorgelegt wird, um entsprechende Vertraulichkeit zu bitten, vertrauensvoll

e fiduciosamente, il sottoscritto

Partono ’e bastimente / pe’ terre assaje luntaneEs laufen die Schiffe / zu sehr fernen Ländern aus

E. A. Mario / Giovanni Ermete Gaeta

Im beginnenden Winter meines Lebens / Schwimmen Teiledes eigenen Gedächtnisses / Als Eisschollen den Fluss hinab

Robert Schindel

Der poetische Fußball ist der südamerikanischeUnd unser Held ist dessen Meister der Meister

Pier Paolo Pasolini

Denn wessen Leben habe sich schon so zugetragenwie von einem selbst erzählt?

Josef Oberhollenzer

Ich bin kein Historiker, kein Soziologe, kein Anthropologe. Ich bin nur ein Geschichtenerzähler, ein italienischer Romanschriftsteller.Daher sollte das Folgende, über das die Fachleute sicherlich die Nase rümpfen werden, mit einem gewissen Vorbehalt aufgenommen werden.

Andrea Camilleri

Il poeta dell’ultimo minutoDon Renato Tano Cè CesariniStarb 1969 an einer HirnblutungIm Alter von dreiundsechzig JahrenDie Zona Cesarini aber lebtEvviva y ¡viva!

Le Meriche, 1906 – 1929

Im Takt der Worte auf das Leder

Damals, als ich mit meinen Eltern in Genova auf das Schiff nach Südamerika ging, damals, im späten Jahre 1906, wie ich heute weiß, als Vattern beschlossen hatte, nun sei es genug mit dem Gewürge und Gewuste, und es sei genug mit diesem italischen Land, das weder ihn noch seine Frau noch seinen Sohn ernähren konnte, an dem schon schlimm genug war, daß er der einzige und noch dazu ein Schwächling war – und nicht nur ein stummer Zwerg –, und es sei, hatte Vattern beschlossen, vor allem genug damit, sich für sein spaghettidünnes Kind schämen zu müssen, nur weil man ihm nicht regelmäßig Spaghetti oder gar Penne auf den Tisch stellen … Manno, lascia stà, laß das, sagte Muttern, und misch dich nicht ein, der trinkt ja noch. Und, anders als du, Milch. Vattern aber konnte, einmal in Wut geraten, nicht mehr aufhören mit seinem halblauten Lamento, und zu Zeiten, als er noch Schuster war, und also ein Leben lang, wenn auch wenig erfolgreich, bis auf die Schuhe, die er mir ein Leben lang gemacht … und so hämmerte er im Takt der Worte auf das Leder ein, wenn man Leder weich bekommt, muß man doch dieses verdammte Leben auch weich bekommen, bevor einem la chiánta, die Sohle, zum letzten Mal löchrig geworden ist, eine ewige Litanei, die meines Vaters, wobei er in napuletanisch litanisierte, und also la chianta statt la suola, während Mutter, um die Tränen zurückzuhalten, sich in den Rosenkranz, den sie gar nicht besaß, vergrub, Avemaria undsoweiter, dabei fluchte sie sonst, wenn ihr gerade nicht nach Weinen war, auf das Gebete, aber mir ist lieber, das Kind wächst mit einer betenden Mutter auf als mit einer weinenden, worauf der Mann nur den Kopf geschüttelt hat, Blödsinn, babbeóna, ma che stai a dicere, was redest du da, Frau. Ich red weniger als du, Mann, sagte sie dann, du führst die ganze Zeit deine Litanei im Mund, ein ewiges Gebißgewackel und Lamentieren, noch sind wir nicht verhungert, Mann, also laß es gut sein und laß mich weinen, wenn ich schon muß. Und Mann, statte ’mbbene, mascúlo, laß gut sein, Männeken. Wenn sie ihre engen vier Mauern verließen, unseren Basso in der Boca von Buenos Aires, dieses Italien in den Meriche, waren sie platzeinnehmend stolze Leute. Kein Lamento über seine Lippen, kein Rosenkranz über ihre.

Nicht einmal, als ihnen auf dem Schiff übel geworden war, irgendwo im Atlantik, auf dem rußfauchenden piroscafo immezzo del Talantico, wir hatten seit Tagen keinen Himmel mehr zu sehen bekommen in den wenigen Minuten, die man uns aufs Deck hinauf ließ aus dem Verlies der dritten Klasse, um endlich etwas Luft zu holen, ich aber weiß nichts davon, ich war Säugling (selbst das hat man mir nur erzählt, und ich muß es glauben), ein schönes Kind, che bammíno. Che bellezzetúddene? sagte ihr Mann dann immer, was für ein Kind, was für eine Schönheit denn? Tι κακαφάναρα, che cacafánara, was für ein langweiliger Blödsinn, sagt seine Frau, ein schönes Kind, natürlich, wir haben dich jedesmal, sobald uns der Weg an Deck erlaubt, dermaßen eingewickelt, daß kaum mehr deine Nasenspitze zu sehen war, und trotzdem sagten alle, was für ein schönes Kind, während ich dich so fest als möglich hielt und dein Vater mich, dann doch, und damit auch dich, irgendwie, der Talantico stürmte allgewaltig, che burrásca, daß nichts zu sehen war außer dem Wasser in der Luft, und davon viel. Und die Frischluft, wegen der wir uns aus dem Unterdeck der Dritten hochgekämpft hatten über die taumelnden Stiegen, das Kind braucht ein paar Mäuler Frischluft, Sonne bräuchte es auch, aber wo ist hier Sonne, da war sogar in Genova noch mehr Sonne, und das heißt was, wer weiß, was sie uns von den Meriche und diesem Amerika alles erzählt haben, wer weiß, ob es wahr ist, die Luft an Deck jedenfalls ließ sich kaum atmen, so voller Wasser war sie, wir fürchteten, du ertrinkst uns mit jedem deiner Atemzüge, und sind jedesmal nach wenigen Augenblicken wieder unter Deck geflüchtet, naß und klamm, und wenn man nicht gerade mit den taumelnden Eisenabgängen zu kämpfen hatte, und dem Salz allüberall, das das Meer hinterlassen, und dem anderen, das die Leute an Bord von sich gelassen, und regelmäßig dann mit einem taumelnden Magen über die taumelnden Planken, und hätte ich dich nicht stillen müssen, ich hätte gar nichts mehr gegessen, deinem Vater ging es noch schlechter als mir, grün im Gesicht und blau wie frischgegerbtes Leder, doch da war nichts mit Blaumachen, er hatte gleich am ersten Tag an Bord seine Schuhflickerdienste angeboten, der scarpare. Und du warst natürlich für alle die crijatura de lo scarpare, die Kreatur des Schuhflickers.

Und so wandert er durch die Dritte, ganz grün im Gesicht, aber bemüht, sein angelerntes Napuletanisch so zu sprechen, als sei er nicht eigentlich in den Bergen abseits Napules geboren, da kommt einer aus einem Verlorenenseelenort namens Maiorano di Monte und tut dann, als wär er ein Meeranwohner, du Bergmajoran du, Mann, und somit eben kein echter guappo und kein Napuletane nicht, dafür ein echter Flickschuster, der scarpare, das ja, auch wenn er es weder in Napule noch sonstwo zu einem Geschäft gebracht hat, keiner Werkstatt, keinem Nichts, werkelt auf seinen Knien, aber jetzt, jetzt ist er der scarpare, der Schuster, auf diesem Schiff, der Mann, und perdío und bei Gott, es waren genug Schuhe an Bord, die es nötig gehabt hätten, ihr könnt doch nicht, als Schuster ist man Geschäftsmann, und der Mann war ein bemühter, aber letztendlich lausiger Geschäftsmann und ein guter Schuster, nur die Zeiten, die waren nicht so gut, ihr könnt doch nicht mit solchen verlotterten Schuhen ein neues Leben beginnen, und ihr wollt in diesen Meriche ja ein neues Leben beginnen, oder?, es möcht ja keiner in seinem alten verbleiben, da es eben kein Leben, also gönnt auch euren Schuhen ein neues Leben, oder wenigstens, um Himmels willen, per l’amor del ciel, einen kleinen Flicken, und noch während der Mann über seinem ersten Schiffsschuh saß, den er, in diesem Fall durchaus liebevoll, mein merikanischer Schuh nannte, der ihm Glück bringen sollte und den er deswegen, genauso wie seinen Paarzwilling, gratis flicken wollte, was er auch sofort getan hätte mit seinen flinken Schuhmacherhänden, wenn ihm nicht bereits über diesem ersten Schuh schlecht geworden wäre von der See, buchstäblich in den Schuh hinein, und die folgenden Tage war es nicht anders, auch wenn er inzwischen gewarnt war und den Kübel rechtzeitig fand.

Aber, sagt der Mann, bei allem was recht ist, ich habe diesen Schuh geputzt, und ich habe diesen Schuh und den anderen, ich habe dieses Paar zu Ende gearbeitet, es hat länger gedauert als üblich, ja, per l’amor del ciel, aber das war nicht weiter wichtig, erstens lag der Schuhträger selbst auch krank flach und brauchte also momentan gar keine Schuhe und konnte sie so schonen für ihren merikanischen Weg und zweitens war der arme Teufel, dem meine Rede an die Landsleute doch ziemlich in die Knochen gefahren war, weil er sie ernst genommen hatte, obwohl es nichts als eine Reklamerede für mein Schuhmachergeschäft war, das auf diesem Schiff genau wie sonst auch im besten Falle im Schuheflicken bestehen konnte, der arme Teufel war heilfroh, weil er so umsonst an sozusagen neue Schuhe kam, jedenfalls an die besten, die er je besessen hatte, immerhin hatte er mir ganz das Aussehen eines scarpesalotas, und für die unter uns, die kaum ein Napuletanisch verstehen, Frau, weil sie dermaßen ungebildet sind mit ihrem Herkommen aus ihrer griechischen Ziegengegend, ist ein scarpesalota einer vom Dorfe ganz hinten in den calabbrischen Bergen, wo die Leut dort, wie wir wissen, wieder anders sprechen und zudem meist zu Fuß gehen, es sei denn, sie gingen zu Grabe, nachdem sie zuvor sich verehelicht, nachdem sie getauft, i povercristi, die armen Hunde, und auch deshalb, so bin ich nunmal, Frau, nichtwahr, nevvero, habe ich an nichts gespart bei diesen Schuhen, schließlich sollten sie mir Glück bringen, und daß sie mich so viel Zeit gekostet haben wegen der verdammten See, nahm ich als zusätzlichen Glückswink, sie würden mir eben lange Glück bringen, meine ersten merikanischen, dem Magen und dem Meer abgetrotzten Schuhe.

Sollen sie Ihnen und Ihrer Frau und Ihrem wunderhübschen Kind vor allem viel Glück bringen, sagte der arme Teufel, als er seine Schuhe wieder in die Hand nahm, sagt der Mann, wenn sie Ihnen Glück bringen, werden sie mir auch Glück bringen, er hat diese Schuhe dann bis zu der Stunde, als der Hafen von Buenos Aires endlich in der Morgendämmerung vor uns auftauchte, um den Hals getragen, und wann immer und wo immer ihnen Gefahr drohen konnte, durch Mitmenschen und Meereswogen in dieser recht chaotischen Anlandung, hat er sie unter seiner Jacke versteckt und die Arme um sie geschlungen, meineseine merikanischen Schuhe, und wir dann, sagt man mir, wir drei, dem Mann und den Schuhen hinterher, ein unübersehbarer Haufen an crijature, eine ewig sich hinziehende Schlange, wir waren angekommen und wir wußten noch nicht, wo wir waren, blinzelten in die Morgensonne, und überm Hafen lag der Rauch und der Geruch von Kohle, und aus Kaminen stiegen schwarze Fahnen, und jetzt wollen wir mal sehen, sagt der Mann, mein Vater, da war ich dann vielleicht fünf Jahre alt, jetzt wollen wir mal sehen, wie lange uns diese Schuhe noch Glück bringen werden in diesem neuen Land, bis jetzt kann ich mich nicht beklagen. Auch wenn du den ganzen Tag nur zu klagen hast, Mann, wenigstens solange du über deinen Schuhen sitzt, das ist was anderes, Frau, sagt der Mann, so über einen Schuh gebeugt arbeitet es sich besser, wenn man dabei etwas zu sagen hat, oder zumindest zu reden, und was soll ich sonst sagen, außer, daß es das Leben mit uns schon noch ein klein wenig besser hätt meinen können, wir sind nicht verhungert, sicher, aber satt geworden sind wir auch nicht in diesem Merika, e con ’ste Meriche, oder?

Dieses elende Schiffsdurcheinander

Wo man doch von Seefahrt und auch keinen anderen Großfahrten keine Ahnung nicht hat, wir gingen zu Fuß, und das barfuß, Mann, und, scarpare mie, wie du weißt, war bei dir ja nicht groß anders, und weil wir alle immer in den Bergen gehaust, auch von Booten keine Ahnung, von Kähnen und Nachen, und also haben wir das damals, scemi, die wir waren, sagt die Frau, richtige Idioten, natürlich gar nicht mitbekommen, du kamst zurück und du sagst, im Dorf sagen sie, daß man in Senigallia sagt, daß das Schiff nicht fährt, katapómmfete, la katástrofe! So war das, Mann.

E infatti und tatsächlich war da ein biblisches Durcheinander gewesen, und il cappuccino, der Kapuzinerpater, der im Winter durch die Dörfer zieht, um nach Öl und Wein, den er aber lieber gleich schonmal vorabverkostet, zu betteln jedenfalls, für sein Kloster, falls es nicht gar für seinen eignen Wanst, ich bin ja kein Politischer, aber da geht mir schon der Kragen auf, sagt der Mann. Das kannst laut sagen, du und irgendwas mit politisch, Mann mascúlo! Hat mir nie geschadet, Frau, sagt er, geholfen auch nichts, sagt sie, und also doch geschadet, weil alles, was einem nicht hilft, wenn man von unten kommt, schadet einem, so einfach, perdío, ist es, eigentlich, außer man ist als Mann einer, der noch immer ein Majoranòn ist.

Maioránese, caso mai, donna, sagt er, wennschon, und was hat das damit zu tun, wo ich die ersten wenigen Jahre meines Lebens gelebt, ist alles schon wieder Ewigkeiten her und ich seither, im Umherziehen den Arbeiten und Anstellungen hinterher, und den Hunger an den Haken dabei allweil, längst aus dem Maiorano-Süden in dem Castellaro-Norden gelandet, wo es nichts als windet und schneit, in diesem Hier … der windige Kapuzinerpater jedenfalls lachte und sagte sowas wie und ich, ich hatte gehofft, ihr fahrt endlich, über diesen Atalantico, so es ihn wirklich gibt und er nicht nur ein Trugbild del principe delle tenebbre, des vermaledeiten Höllenfürsten, aber wenn ihr dann eines Tages wirklich weg sein solltet, ihr kleinen Cäsaren ihr, ihr Cesarinis, gibt es ihn eventuell, den Atalantico, und mir bleibt dann mehr von dem Hier, hat er gesagt, der cappuccino, und gelacht und sich auf den Wanst geklopft dabei.

Der hat, mannomio, daß du das immer noch nicht begriffen, der hat sich die Kutte genauso geklaut wie den Rest, der hat mehr Kerker als Klöster gesehen, glaub mir das, Mann, sonst muß ich dir das mit dem Schaf des Nachbarn nochmal erzählen, als Geschichte. Peramordidío, donna, laß gut sein, sagt er darauf nur.

In seltenen Fällen war er, ganz augenscheinlich, zarter Natur, der Mann. Hat er nie ganz begriffen, und wir haben es schnell wieder vergessen.

Da sitzen wir also, sagt die Frau, Geld weg an die società, schon lang, das ganze zusammengelegte und zusammengeliehene und zusammengebettelte Zeug, die centesimi und die lire, und wir mit nichts als einem Stück Papier in der Hand im Gegenzug, ich hab dem Vermittler in Senigallia ja nie recht getraut, Mann, der mit seinen allerbesten Beziehungen zu dem Lloide oder wie der heißt mit seinem Weltwunderschiff, der Jalonda oder wie die heißt, was ist mir um irgendeine principessa, Mann. Das glaub ich aufs Wort, donna, sagt Vater, du stammst sogar aus einem ganz anderen Königreich als dem unseren, wenns nach dir geht, aber nach dir geht es nicht, e basta, perlamadonna!

Da kommst du also, Mann, und sagst, im Dorf sagen sie, daß man in Senigallia sagt, daß unser Schiff nicht fährt, und zwar, e katapómmfete, nie mehr. Und also kein Meer mehr.

Kein Meer mehr. E poi il mare

Und also sitzen wir jetzt hier in Castellaro di Senigallia fest, wenn wir hoch genug aufspringen in die Luft, und noch etwas mehr, schaffen wir es sogar, da hinterm Hügel vornunten das Meer zu sehen, auf dem wir, deinem Ratschluß nach, Mann, in die Meriche sollten. Nicht mehr. Und ich hab mich schon darauf eingerichtet, ein ganzes Leben wieder von vorne umzugraben, wie den steinigen Erdfleck hinterm Haus, um wieder irgendwo in diesem Italischen anzukommen, noch ehe wir in dieses Argentische aufgebrochen, alles nochmal, alles wieder, wenn nicht dort, dann eben hier, was bleibt einem, und das Kind keine paar Monate alt, aber trinkt brav und schreit nicht, der Renatino, woran du dir ein Beispiel nehmen könntest, Manno, an dem nicht, sagt Vater. An dem nicht, und ich geh und werd uns diese verdammte Überfahrt besorgen, es ist schließlich unser Recht, und wenn ich uns einen solchen Kahn schnitz, dann wohl eher, scarpare, sagt Mutter, einen aus deinem Leder nähen. Und leim die Nähte gut, und fett sie nach. Und scheiß auf das Recht, seit wann hat unsereins ein Anrecht auf Recht, Mann, das wär mir neu. Neu mag dir gewesen, daß ich, Frau, nach zwei Tagen aus Senigallia zurück, zwei Tagen, in deren Nächten ich auf irgendeiner Bank geschlafen, aber zurückgekommen, und zwar mit einem neuen Zettel und mit einem neuen Datum und mit einem neuen Schiff, und der Nachricht, daß das eigentlich unsrige untergegangen, und das nun unsrige ein noch schöneres, obwohl das vorige das allerschönste gewesen sein sollt, Hauptsache, der Tag steht fest, und er stand fest, der Tag, an dem wir zu den Meriche aufbrechen sollten, auslaufen nach diesem Buenos Aires, als ob es uns um die Luft gegangen wär, wo es uns ums Brot ging. Und so sind wir, Mann, sagt Mutter, so sind wir los. Atemlos, und hungrig. Und doch irgendwie glücklich, auch wenn wir es nicht bemerkt haben werden, war ja alles so ungewohnt, und man ist, noch an Land, bereits eine Schiffbrüchige, irgendwie. Und bekreuzige dich nicht, Mann, als ob das was nützte. Und spuck mir auch nicht auf den Küchenboden. Non sputar pe’ terra, muß ich nur wieder putzen.

Die Jolanda, das Wrack, und die Virginia

schließlich: Das war die Reihenfolge der Abläufe, so sollen sie erzählt werden. (Und es wäre beinahe von Beginn an schiefgelaufen.)

Geplant und gebucht, und mit den allerletzten scudi, soldi, centesimi und lire del Re d’Italia dann auch bezahlt, war die epochemachende Weltenfahrt der drei Cesarini, zumal sämtliche Passagen auf der günstigeren Mendoza bereits ausgebucht, eigentlich auf einem blendendneuen piroscafo namens Principessa Jolanda (Margherita Milena Elisabetta Romana Maria di Savoia, Erstgeborene des Vittorio Emanuele III. di Savoia, König). Der Überseedampfer Jolanda war 1905, zum Zeitpunkt der flüchtigen Empfängnis des Renato Cesarini, vom LLOYD ITALIANO, COMPAGNIA DI NAVIGAZIONE des Erasmo Piaggio bei der ligurischen Werft (Sestri Levante) des CANTIERE NAVALE DI RIVA TRIGOSO des Erasmo Piaggio in Auftrag gegeben worden (zeitgleich mit dem Auftrag für die baugleiche Principessa Mafalda) und sollte planmäßig die profitable Route Genova – Napoli – Rio de Janeiro – Montevideo – Buenos Aires befahren. Die Jolanda war mit 9.210 BRT, 146 Meter Länge, zwei Masten, zwei Schloten, zwei Dampfmaschinen à 10.500 CV, 14 Knoten Reisegeschwindigkeit bei 18 Knoten Maximalgeschwindigkeit, 300 Mann Besatzung, 180 Plätzen erster, 150 Plätzen zweiter und 950 Plätzen dritter Klasse, sowie in der ersten einem Innenausbau von bisher unerhörter Güte, der Stolz eines ganzen Landes.

Am Tag des feierlichen Stapellaufs der Principessa Jolanda, dem 22. September 1906, um die Mittagszeit und bei gutem Wetter, konnten zahlreiche Schaulustige und Fotografen dabei zusehen, wie die Jolanda so gut wie sofort backbords eine Schlagseite von 45 Grad einnahm (obwohl auf der Stelle der Steuerbordanker geworfen wurde), sodann langsam, aber sicher vollief, und schließlich, am dritten Tag, gänzlich absoff, die Perle des Landes sowie des Lloyd Italiano, »der modernste Dampfer seiner Zeit«. (Immerhin wollte man Millionen Mitbürger schnellstmöglich emigrieren.) Zu allem Unglück aber beseitigte sich die Jolanda lediglich dermaßen, daß Teile der Oberdeckreeling, die eigentlich für die Passagiere der ersten Klasse gedacht war, stolz mahagonimessingfarben aus dem trüben Werfthafenwasser glänzten. Auf Armlänge zu den spätsommerlichen ligurischen Badegästen. Als Memento. Am falschen Ort, zur falschen Zeit.

Und da das Schwesterschiff, die Principessa Mafalda (Maria Elisabetta Anna Romana di Savoia, Zweitgeborene), erst im Jahre 1908 fertiggestellt werden sollte (die Mafalda überlebte ihren Stapellauf. Sollte allerdings im Jahre 1927 bei Porto Seguro sinken, mitsamt 50 Kilo Gold im Bordsafe. 360 der 1.580 Passagiere starben) … die Mafalda also noch nicht verfügbar war, sah sich der Reedereieigner Erasmo Piaggio, da er den Werfteigentümer Erasmo Piaggio kaum sinnvoll verklagen konnte, gezwungen, zum Zwecke der Schadensbehebung einen Ersatz für die Jolanda zu finden – immerhin hatte eine gewisse Familie Cesarini bereits gebucht sowie eine Anzahlung geleistet, die im Verhältnis zu den Jolanda-Kosten zwar irrisoria und somit lächerlich, die Familienkasse allerdings zu sprengen drohte, wenn nicht gar das Sippenbudget.

Also wurde vom Reeder als Ersatz kurzerhand die Virginia umdirigiert. Sie hatte ihre Jungfernfahrt im Oktober 1906 absolviert, war eigentlich dauerhaft für die Route Genova – Napoli – New York vorgesehen und mit 25 Plätzen erster sowie 1.600 Plätzen dritter Klasse als Ersatz für die Jolanda gar nicht so unvorteilhaft. Es ließen sich ein paar crijature mehr unter Deck verstauen und verschiffen.

L’istante in cui si determina la disgrazia, 1906

Der Augenblick, in dem sich das Schicksal entscheidet

Der Überseedampfer Principessa Jolanda sinkt während des Stapellaufes

Heute vormittag wurde in Riva Trigoso, in der Nähe von Sestri Levante, in Anwesenheit einer überwältigenden Menge sowie zahlreicher Behörden der grandiose Überseedampfer Principessa Jolanda des Lloyd Italiano zu Wasser gelassen. Um 12 Uhr 25 gab der Werftleiter, Ingenieur Tappani, das Kommando: »Leinen los!« und das grandiose Schiff setzte sich in Bewegung, schleppte aber die Hälfte der sog. Seitenpallen (Stützen) der Rampe hinter sich her und kippte, sobald es auf See war, mit dem Bug auf die rechte Seite. Bei diesem Anblick verstummte der begeisterte Beifall, wie von Geisterhand!

La Stampa, 23. 9. 1906, Torino

Keine halbe Stunde später liegt das Schiff, jedem professionellen Liebhaber der Seefahrerei ein seelenverstörender Greuel, komplett längsseits im Wasser. (Wär sie doch ganz den Augen entschwunden.)

L’Avvisatore Marittimo, 25. 9. 1906, Livorno

Die Ursachen des Unglücks

Was die Ursachen anbelangt, die zu dem Desaster geführt haben, so scheint es am wahrscheinlichsten, daß ein Kingston-Ventil offen geblieben sei, so daß Wasser ungehindert in den Maschinenraum eindringen konnte. So hören wir zumindest vor Ort von zuverlässigen Facharbeitern. In der Gegend von Riva Trigoso, an deren sandigen Stränden seit Jahrhunderten, und erfolgreich, Boote aller Art gebaut werden, fehlt es nicht an solchen maestranze; noch bis vor wenigen Jahren zeichneten diese Meister ihre Bootspläne mit Stöcken in den feinen ligurischen Sand; seit aber, mit der Modernisierung der Werften, die ’gegneri colle cartaccie, die Ingenieure mit ihrem Papierzeug, das Ruder übernommen hätten, nun … man schweigt. Und sieht aufs Wasser. Sic transeat.

La Tribuna, 25. 9. 1906, Roma

Was für ein Schiff

Der im nächsten Monat geplante Stapellauf der Principessa Jolanda, das sagt man selbst hier im irredentistischen Trieste, wird für die italische Marine von besonderer Bedeutung. Nicht nur, weil die Jolanda der größte und schnellste transatlantico der italienischen Handelsmarine sein wird; nicht nur, weil sie auch das erste italienische Dampfschiff ist, das die Ehre hat, als solider Hilfskreuzer in die italienische Marinereserve aufgenommen zu werden; sondern auch, weil die Jolanda der erste einer Gruppe von Dampfern ist, die dank der Initiative des Italienischen Lloyd einen neuen Schiffahrtsdienst schaffen werden, der im Südatlantik zwischen Europa und Südamerika unbestreitbar den ersten Platz einnehmen wird, auch im Vergleich mit den berühmtesten ausländischen Gesellschaften und Marinen. Selbst denen der Donaumonarchie, die doch ganz erheblich, spätestens seit den gloriosen Zeiten der Novara, und wir meinen hier die Weltexpedition des Kommodore Bernhard von Wüllerstorf-Urbair 1857 und die Reise des seligen Kaisers von Mexiko im Jahre 1864.

Il Piccolo, 20. 8. 1906, Trieste

Der erste Gigant der See

Es handelt sich hier um das größte Dampfschiff, das einen sicheren und ständigen Zugang zum Hafen von Buenos Aires ermöglicht. Die Jolanda und ihre Zwillingsschwester Mafalda gehören als Kampfschiffe zur Marinereserve. Ihre Rümpfe werden also nach den viel anspruchsvolleren Anforderungen von Kriegsschiffen gebaut. Der Doppelboden ist nicht auf den Bereich von Kessel und Maschinen beschränkt, sondern erstreckt sich über die gesamte Länge des Schiffes. Auf diese Weise bleibt die Seetüchtigkeit auch dann gewährleistet, wenn eine ganze Abteilung geflutet wird, und der Auftrieb ist selbst bei zwei gefluteten Abteilungen immer noch absolut gegeben. So gesehen sind die beiden neuen Linienschiffe eigentlich auch Unterseeboote. Die Luxusklasse ist so beschaffen, daß sie mit den modernsten und prächtigsten Dampfern der nordamerikanischen Reedereien konkurrieren kann. Winter- und Dachgarten, Säle und Salons mit sechs Meter hohen Fenstern, À-la-carte-Restaurants, die von der Leitung berühmter Hotels geführt werden. Kurzum, ringsum höchste Raffinesse und Üppigkeit.

Secolo XIX, 12. 9. 1906, Genova

Erste Schritte, wenn auch nicht eigne

So waren wir, ganz ohne unser Zutun, von der Jolanda auf die Virginia gekommen, damals und schwuppdiwupp, sozusagen, was allerdings für uns Leuts unter Deck keinen wirklichen Unterschied gemacht hatte, und auch keine bessere Luft dort, es gibt in der Dritten generell keine Luft, also auch keine bessere, und so waren wir aus dem Norden Italiens, nachdem wir aus dem Stiefelsüden, endlich in den Süden Amerikas gekommen, der berühmten Meriche, und dadort war es Winter gewesen und hierorts ist es Sommer, und es regnet Kübel, die ein herrischer Wind übers Deck weht, während wir in der Schlange stehen, die sich langsam Richtung vonschiffs und nach unten bewegt, und schon hört der Regen auf und schon legt sich der Wind, und wir kommen endlich Schritt für Schritt weiter, und dann brennt die Sonne und wir stehen schon so gut wie an Land, der neuen terraferma.

Eben tatsächlich etwas kurzatmig, der alte Renato. Woher das kommen mag, ragazzo? Sicher nicht aus den dich anspülenden Erinnerungen, die nehmens gemächlich und drippeln sich durchs Mittelfeld. Und ob der Wind dem Mikrofon schadet, ich weiß es nicht, und mein Zwilling Gemelli ist verschwunden, nel niente, nel bludipintodiblu, ins Nichts, wie immer, seit dreißig Jahren, sobald man wirklich was möcht von ihm. Also weiter, im Gehen, weiter, i vicoli, le viuzze, le calle e contrade, durch die Gassen der Barrios von Buenos Aires.

Den Rest, sagt die Frau des Mannes, also dieses ganze unsägliche Papierzeug und die Beamten, le cartacce e le burocrazze, dazwischen immer wieder Uniformen, die Ordnung knüppeln, und die Schwestern erst und die Ärzte dann, die uns auf Pest und Cholera und sonstwas untersuchen, Zunge raus, Zähne her, auf einem Bein, Augenlider hochgestülpt, was wollen die denn da finden?, hab da ja selber noch nie nachgesehen, seltsam das, dann am Geschlecht, madresantissima, und das ganze andere Zeug in diesen endlosen Stunden, das hast du schlauerweise verschlafen, Renataccio Tinotanonano. Der, Frau, sagt ihr Mann, so aus dem Seitenwinkel seines schmalen Mundes heraus, der weiß eben seit Anbeginn an, wie man sich raushält, wenn es um echte Arbeit geht und wirkliche Mühe. Also das Leben an und für sich. Doch, sage ich, doch, doch.

Wie gerne würde ich sagen, meine ersten Schritte nach meiner Anlandung in Buenos Aires wären bedeutungsvoll gewesen. Allein schon aus Respekt vor meinem Zuhörer. Der Bandmaschine. Wahrheit ist, e infatti und Tatsache, daß ich getragen wurde. Und schlief. Und daß mir träumte. Jedenfalls bin ich der festen Überzeugung, bei meiner Anlandung geträumt zu haben, bei meiner Ankunft in den Meriche, es kann aber auch gut sein, daß es mir irgendwann, und immer wieder, so erzählt worden war. Im Endeffekt bestanden wir drei, die wir uns da nicht ganz freiwillig zusammengefunden in den Meriche, wir bestanden, schien es mir manchmal und scheint es mir heute, wo ich, als alter Sack, müden, aber lustigen Fußes durch die Boca … wir drei bestanden aus nichts als den Geschichten, die allüberall und allimmerwann erzählt wurden, uns von uns. Und also ist es erzählt worden oder es hat sich zugetragen, wer weiß das schon, im allgemeinen, und vor allem im besonderen, also dem Eignen. Ich weiß es sicher nicht. Ich erzähle es nur. Mir, wem auch immer. Also eher mir.

Es war mir also, und es ist mir, als wäre damals mit der Sonne auch eine Art von Musik aufgekommen in dieser seltsamen Gegend, die ich später als Hafen von Buenos Aires begreifen sollte, noch war es nur ein Gewusel und Gewurste aus Menschenleibern, und wenn der eigne Leib noch dermaßen klein, und ich war kleiner als klein, bin nie recht größer geworden, nunalso – bei einer solchen Kleinheit ist der Rest ganz schnell recht groß.

Als aber die Sonne auf uns schien, und also auch auf mich, der von der Frau des Mannes im müden Arme getragen wurde, immer diese Halbschritte in der Schlange, passo dopo semipasso in Richtung der Meriche, und schien, und schien die Sonne, da schienen mir meine Glieder zu wachsen, ich mein, ich konnte ihnen zusehen dabei, die Beine immer länger, langsam nach vorne wachsend, dort dann auch die Füße, die in dem Augenblick noch gänzlich ohne irgendwelche Schuhe des scarpare, e dimmi te, perché ne avrebbe avuto bisogno, sag du mir, Frau, wieso der die nötig gehabt haben sollte, der Hosenscheißer, quel cagabraghe.

Obwohl der Schuhmacher genau wußte, daß ich noch keine Hosen anhatte. Sondern irgendwelche nicht genauer beschreibbaren Stoffdinger, ich seh sie heut noch vor mir, und ein jedesmal, wenn ich mir einen Maßanzug fertigen ließ, sah ich sie vor mir. Acque passate. Alles den Fluß runter. Ins Meer. Ich sah also, während ich die Stimmen hörte, ich sah, wie meine Beine und meine Füße wuchsen, und zwar ansehnlich, die Zehen auch, und dann sah ich auf meine Hände und sah … daß die geblieben, wie sie gewesen. Und das war der Augenblick, in dem ich erschrak. Oder aufgewacht bin. Oder im Leben angekommen, wenige Schritte noch entfernt davon, in diesem neuen Land anzukommen, ’ste Meriche.

Bordarztberichte, 1907

Le condizioni sanitarie del viaggio di andata. Die sanitären Bedingungen auf der Hinreise waren unbefriedigend: Von 1.401 Auswanderern hatte ich 48 in der Krankenstation des Schiffes aufgenommen, von denen sich nur drei während der Überfahrt erholten, 44 gingen krank von Bord und einer war verstorben. Die Ursache für diesen hohen Prozentsatz an Erkrankten war die Tatsache, daß drei verschiedene Infektionskrankheiten fast gleichzeitig auftraten an Bord: Pocken, Windpocken und Masern.

Dei 100 italiani respinti nel porto, von den 100 Italienern, die im Hafen von New York als geistig verwirrt bzw. nervenkrank zurückgewiesen wurden, waren 10 bereits zu Hause krank gewesen, 45 hatten während der Reise Anzeichen von schwerer Irritation gezeigt, 4 waren betrunken, 30 waren den Ärzten als bizarr erschienen, weil sie gestikulierten, und 5 hatten angegeben, entfernte Verwandte zu haben, die in Irrenanstalten verwahrt seien.

Archivio centrale dello stato (ACS); Ministero dell’Interno; Direzione Generale di Sanità pubblica (DGSP). Relazioni sanitarie (1882–1915) und ACS, DGSP, b. 52, Relazioni sanitarie (1901–1912), Relazione sanitaria dal piroscafo Città di Torino

Nonnonino und die Windrose

Man sagt, was eigentlich heißt, man erzählt sich, und solches Erzählen hat, anders als das Sagen, immer einen noch ganz anderen Zweck, man erzählt sich also, er hätte, sobald er sich wieder aufmachen wollte, aber wieder einmal weder wußte, in welche Himmelsrichtung, noch zu welchem Zwecke, WindroseWindrose gesagt, weil es ihm grad so nach Was Ist Mir Ost Was Ist Mir West, SudNord, der Nonnonino, der Großvater mit dem zum Schuhflicker mißratenen Sohn, dieses niedergelassene Dasitzen, gebeugt über Tierhäute, das war dem Nonnonino ein Greuel, und er konnte, sobald er wieder einmal wie aus dem Nichts und für ein paar Tage aufgetaucht, nicht ablassen davon, diesem Schuhmachergreuel auch seinen Ausdruck zu verleihen in sämtlichen seiner Sprachen.