Vorstandsdämmerung - Caspar von Hauenschild - E-Book

Vorstandsdämmerung E-Book

Caspar von Hauenschild

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Beschreibung

In Wagners Götterdämmerung gehen die Götter unter. Ähnliches droht den Göttern in den Vorstandsetagen deutscher Banken. Auch die DKOM-Bank unter Leitung des Vorstandsvorsitzenden Hermann Held und sein sechsköpfiges Führungsgremium steht mächtig unter Druck. Cum-Ex ist nur das I-Tüpfelchen in einer langen Reihe von Skandalen, die auch ihre Bank erschüttert. Die Geschäftsstrategie überzeugt weder die Politik noch die Aktionäre oder die Fachpresse. Nichts scheint zu fruchten, die Bank kommt nicht aus den Schlagzeilen und die Mitarbeiter erteilen dem Vorstand in jährlichen Umfragen immer schlechtere Noten. Erst als der Vorstand, angeregt durch Anne Vulcano, die neue »Quotenfrau« im Gremium, begreift, dass man zunächst das eigene Auftreten und Verhalten ändern muss, wendet sich das Blatt. Schafft die DKOM den steinigen Weg zu einem funktionierenden High-Performance-Team und in einen inneren Erneuerungsprozesses, an dessen Ende eine neue Werteorientierung steht? Ein spannender Roman, der das System Bank und dessen zerstörerische Mechanismen offenlegt und gleichzeitig einen Weg aus dem Dilemma weist.

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Caspar von Hauenschild

Vorstandsdämmerung

Eine Bank im Aufbruch

© Dittrich Verlag ist ein Imprint

der Velbrück GmbH, Weilerswist-Metternich 2022

Printed in Germany

ISBN 978-3-947373-80-2

www.dittrich-verlag.de

Lektorat: Friederike Schmitz, Dreieich

Satz: Gaja Busch, Berlin

Cover: Sandra Praun, Stockholm

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Anne Vulcano traut sich was

Ein kühler Empfang für die Neue

Die erste Vorstandssitzung

Der erste Tag im kritischen Rückblick

Sprachlos in der Ehe und ein Ei-Fleck auf der Krawatte

Never complain, never explain und postheroisches Management

Der Kofferträger

Der CEO will nicht auf die Yogamatte

Banker und Hauptpastor – Brüder in der Ratlosigkeit

Vorstandssitzung: Chaos

Vorstandssitzung: Einkehr

Vorstandssitzung: Neuanfang

Der Neuanfang

Der Vorstand zieht ins Open Space

Die Fuckup Night

Das Vergütungssystem in der Fishbowl

First Follower: Einer muss anfangen und einer folgen

Die ersten Erfolge

Die Bewährungsprobe

Die Panel-Diskussion: Integrität und Führungskultur in Banken – geht das überhaupt?

Nachwort

Literaturverzeichnis

Glossar

Vorwort

Eigentlich wollte ich ein Sachbuch über Integrität und Führungskultur in der Finanzbranche schreiben. Herausgekommen ist ein erzählendes Sachbuch mit sieben Protagonisten, die sich zusammenraufen und ihre Bank vor dem Untergang retten wollen.

Das Thema bewegt mich seit der Finanzmarktkrise von 2008. Seit zwölf Jahren reden Fach- und Regenbogenpresse über Gier, Größenwahn und kriminelle Energie der Banker. Sie gelten als die wirkliche Ursache der Krise. Aufgeregtes Banker-Bashing ist bis heute en vogue. In den Talkshows bei Illner, Will und Lanz kommen Banker schon lange nicht mehr vor. Nach den Skandalen von Cum-Ex bis Wirecard schämt sich die ganze Republik für den Finanzmarkt Deutschland.

Politik und Zivilgesellschaft fordern seit zwölf Jahren stereotyp mehr Kontrolle, Regulierung und härtere Strafen. Doch die hieran geknüpften Erwartungen werden auch weiterhin unerfüllt bleiben, weil der wichtigste Adressat für eine Integrität fördernde Unternehmenskultur nicht angesprochen wird. Das oberste Führungsteam. Der Vorstand.

Wie bedeutsam das Funktionieren von Führungsteams ist, habe ich selbst in verschiedenen Kontexten erlebt, im Guten wie im Schlechten. Dysfunktionale Vorstandsteams lähmen Unternehmen, verhindern Mitarbeiterengagement und fordern Regelverstöße geradezu heraus. Von solchen Leitungsteams verkündete Werte werden von den Mitarbeitern als Hohn empfunden und entsprechend ignoriert. Funktionale Geschäftsleitungen als Hochleistungsteams an der Spitze von Unternehmen hingegen prägen eine Unternehmenskultur, in der Mitarbeiter gerne arbeiten, sich für das Unternehmen einsetzen und nicht nur egozentrisch die eigenen Ziele verfolgen. »Hochleistungsteam« klingt allerdings eher nach Sport als nach Unternehmensführung. Wir wollen daher in Zukunft von High-Performance-Teams sprechen.

Je länger ich über das Fachbuch nachdachte, desto weniger war ich davon überzeugt, dass die Welt ein weiteres theoretisches Werk mit den 13 besten Tipps für Unternehmensethik, Führungskultur und Integrität braucht. Patrick Lencioni, US-amerikanischer Autor von Büchern über Unternehmensführung, hat seine spannenden fachlichen Beobachtungen über die fünf Dysfunktionen von Teams in einen fiktiven betrieblichen Kontext gestellt. Das hat mich begeistert und inspiriert, weil mit der Darstellung von Denken und Handeln der Protagonisten die verhaltenstechnischen Erkenntnisse verständlicher und nachvollziehbarer werden.

Also habe ich meine ganz persönlichen Erfahrungen und Beobachtungen in einen frei erfundenen betrieblichen Kontext gestellt, und aus dem Buch ist ein erzählendes Sachbuch mit Botschaften zu moderner Unternehmensführung geworden.

Die Deutsche Kommerzbank (DKOM) befindet sich in einer schweren Krise. Die Geschäftsstrategie überzeugt weder die Politik noch Aktionäre oder Fachpresse. Der Kostendruck ist enorm und der angekündigte Abbau von Personal ist quälendes Dauerthema seit Jahren. Das Führungsgremium um den Vorstandsvorsitzenden Hermann Held steht mächtig unter Druck. Man bedient sich aller traditionellen Methoden, um die Probleme in den Griff zu bekommen. Nichts scheint zu fruchten, denn die Bank kommt nicht aus den Schlagzeilen und die Mitarbeiter erteilen dem Vorstand in jährlichen Umfragen immer schlechtere Noten. Erst als man im Vorstand begreift, dass man zunächst das eigene Auftreten und Verhalten ändern muss, wendet sich das Blatt. Der Vorstand entwickelt sich allmählich zu einem High-Performance-Team und will als Vorbild vorangehen. Die bleierne Zeit scheint ein Ende zu haben.

Mit diesem ungewöhnlichen Format möchte ich die Dilemma-Situationen in Unternehmen sowie mögliche Wege aus der Vertrauenskrise emotional erlebbar und nachvollziehbar machen. Die Protagonisten des Buches sind keine Helden, sondern Menschen, die in einem komplexen Unternehmenskontext agieren. Es ist meine tiefe Überzeugung, dass in einem solchen Umfeld nur solche Unternehmen erfolgreich sein werden, die von funktionierenden Teams geführt werden. Der einzelne Star oder Charismatiker wird es nicht schaffen. Ein funktionierendes Team schon. Dazu muss das Gremium allerdings stetig an mehr Vertrauen zueinander, echter Konfliktbereitschaft und gegenseitiger Unterstützung arbeiten. Nur dann entsteht das Fundament für eine neue Führungskultur, die auch auf das Tagesgeschäft ausstrahlt. Das aber ist schwerer zu haben, als man denkt. Aber es kann gelingen. Das Buch wird es zeigen.

Ich hoffe, dass ich dem einen oder anderen einen Erkenntnisgewinn oder sogar Lust und Mut zum Handeln vermitteln kann.

Dieses Buch wäre ohne Edna Schöne, die Frau an meiner Seite, nie geschrieben worden. Ihre reichen Erfahrungen als Vorstand einer Versicherung waren entscheidend für die vorgeschlagenen Maßnahmen, um den Untergang der DKOMBank zu verhindern. Dabei hat sie besonders ihre Kenntnisse von Menschen, die geführt und entwickelt werden wollen, eingebracht. Ihre Erfahrungen im Coaching von Mitarbeitern und Kollegen in diversen Gremien waren maßgeblich für das hier vorgestellte Konzept der Wandlung eines Vorstandsgremiums zum High-Performance-Team.

Caspar von Hauenschild

Hamburg im März 2022

Anne Vulcano traut sich was

»Wie gestern bekannt wurde, hat die Deutsche Kommerzbank (DKOM-Bank) ab Januar 2019 endlich ihre erste Vorstandsfrau. Anne Vulcano, zuvor in der Geschäftsführung des eher kleinen Versicherers Insure, tritt die Nachfolge des glücklosen Personalvorstands Kevin Wohlfahrt an, der sich nur neun Monate auf seinem Posten halten konnte. Die Gerüchteküche um seinen Weggang bediente alle Vorurteile über die wenig schmeichelhaften Charaktereigenschaften von Bankern; die Bank selbst sprach – wie in solchen Fällen üblich – von »persönlichen Gründen« für den Weggang. Frau Vulcano tritt ein schweres Erbe an, kommt die Deutsche Kommerzbank doch seit Jahren nicht mehr aus den Schlagzeilen. Als Personalvorständin soll sie nicht nur den seit drei Jahren andauernden Personalabbau weiter vorantreiben, sondern auch nichts weniger als die Integrität und Führungskultur der Bank wiederherstellen. Aus internen Quellen sind erhebliche Zweifel an ihrer Qualifikation für die Aufgabe zu hören, bringt sie doch keinerlei Erfahrungen mit dem Bankgeschäft mit, geschweige denn mit einem solchen Transformationsprojekt. Das hässliche Wort »Quotenfrau« macht die Runde. Die Börse jedenfalls zeigte sich nach Bekanntwerden der Personalie unbeeindruckt. Die Aktie der DKOM machte das, was sie seit Monaten macht: Sie sank um 2,3 %. Der Kurs ist damit auf Ramschniveau. Wir wünschen Frau Vulcano einen guten Flug.«

Anne ließ die Zeitung sinken und seufzte. »Was habe ich mir da bloß angetan? Manchmal denke ich, sie haben recht und das Ganze ist eine Nummer zu groß für mich.«

Ihr Mann Balthasar, der gerade die Sahne für seinen Kaffee aus dem Kühlschrank holte, legte ihr tröstend eine Hand auf die Schulter. In diesem Moment ging mit einem Knall die Tür auf und ihr 16-jähriger Sohn Johann schlurfte herein. Schlaftrunken fläzte er sich auf die Küchenbank, gähnte laut und griff nach dem Brotkorb. »Was, keine Croissants heute?«, murmelte er schlecht gelaunt mit seiner tiefen Stimme, die Anne immer noch überraschte. Was war bloß aus ihrem süßen kleinen Sohn geworden, der sich morgens in ihr Bett gekuschelt und ihr »Mami, ich hab dich lieb« ins Ohr geflüstert hatte?

»Guten Morgen erstmal«, sagte Balthasar und schaute Johann etwas zu streng an. Er erhielt keine Antwort. Johann hatte sich in sein neues iPhone vertieft und fragte: »Mama, ist mein Kenzo-Pullover gewaschen? Ich wollte ihn heute Abend anziehen.«

»Heute Abend?«, fragte Anne beunruhigt. »Ich dachte, du schreibst Montag Mathe, musst du dafür nicht etwas tun?« Noch während sie die letzten Worte aussprach, wusste sie, dass sie wieder in die Falle getappt war. Johanns Miene verdüsterte sich.

»Fängst du schon wieder damit an? Ich bin alt genug, um zu wissen, wann ich lernen muss. Heute Abend bin ich jedenfalls nicht zu Hause.« Anne atmete tief ein und verkniff sich eine Antwort. Johann war bereits aufgestanden und verließ die Küche, um im Bad zu verschwinden und sich dort um seine Pickel zu kümmern und seinen im Fitnessstudio gestählten Astralkörper zu betrachten.

Anne kehrte seufzend zurück zu ihrer Zeitungslektüre, konnte sich aber nicht auf den Text konzentrieren. Immer wieder schweiften ihre Gedanken zum nächsten Tag. Sie spürte Balthasars Hand auf ihrem Arm.

»Ich weiß genau, was du jetzt denkst. Aber erinnere dich daran, was du alles bei Insure erreicht und bewegt hast! Du bist eine tolle Führungskraft und kannst jeden mit deiner Energie und deinem Enthusiasmus anstecken. Das können die Herren in deinem neuen Führungsgremium gut gebrauchen! Das wird auch dieser Herr Held, dein neuer Chef, spüren. Und der Aufsichtsratsvorsitzende allemal. Der war gleich begeistert von dir.« Anne lächelte dankbar und spürte, wie sich der Knoten in ihrem Bauch etwas auflöste.

Ein kühler Empfang für die Neue

Sie blickte auf die Armbanduhr. Es war 7.59 Uhr, als sie schwungvoll durch die Drehtür des 18-stöckigen Gebäudes trat. Auf dem kurzen Weg vom Parkplatz zum Bürogebäude hatte sich ein Regenschauer über sie ergossen. Ein Glück, dass sie heute Morgen geistesgegenwärtig zum Regenschirm gegriffen hatte, den sie nun ausschüttelte. Hinter dem Empfangstresen saß ein älterer Herr mit grimmiger Miene. Er betrachtete schweigend ihren nassen Trenchcoat und die Tropfen, die sich auf dem Marmorboden gebildet hatten.

»Guten Morgen«, grüßte Anne überschwänglich und legte ihren Personalausweis auf die Glastheke. Der Pförtner riss seinen Blick von der kleinen Pfütze, die sich auf dem Boden gebildet hatte, und schaute sie unfreundlich an.

»Sie wünschen?«, knurrte er.

»Mein Name ist Vulcano, ich habe hier heute meinen ersten Arbeitstag«, antwortete Anne, etwas verunsichert.

»Ich habe hier nichts vorliegen«, entgegnete der Mann, während er in seinen Unterlagen blätterte. Anne blickte auf sein Namensschild.

»Herr Schulze«, sagte sie höflich, »vielleicht wären Sie so freundlich, bei Herrn Held anzurufen und Bescheid zu geben, dass ich da bin?«

Bei der Erwähnung des Namens Held kam Leben in Herrn Schulze. Er sprang auf, wählte hektisch eine Telefonnummer und begleitete sie nur Sekunden später zu einem der vier Fahrstühle. Sie beobachtete, wie er einen Schlüssel in die Etagenauswahl steckte und umdrehte. Sofort leuchtete die Fahrstuhlanzeige grün und die Türen glitten auf. Anne stieg ein. Andere Wartende drängelten nach, wurden jedoch von Herrn Schulze unsanft am Einsteigen gehindert.

»Wir fahren in den Achtzehnten!«, erklärte er in gebieterischem Tonfall. Das wirkte, die Männer und Frauen vor der Fahrstuhltür wichen zurück. Der Fahrstuhl sauste in den 18. Stock und Anne spürte, wie sich Druck in ihren Ohren aufbaute. Sie versuchte lautlos tief ein- und wieder auszuatmen. Dabei spürte sie, wie sich ihr Puls beschleunigte und ihr Hitze ins Gesicht schoss. Verdammt, dachte sie, jetzt bekomme ich schon wieder rote Backen. Jeder kann sehen, dass ich aufgeregt bin.

Der Fahrstuhl kam zum Stehen und die Türen öffneten sich mit einem satten, schlurfenden Ton. Herr Schulze geleitete sie geräuschlos über einen cremefarbenen, hochflorigen Teppich, vorbei an einem weiteren Empfangstresen, hinter dem sich zwei Frauen flüsternd unterhielten. Der gesamte Empfang war nur von verdeckten Lichtquellen beleuchtet und wirkte dunkel und bedrückend. Sie passierten eine Reihe verschlossener Türen, bis sie vor einer Tür stehen blieben, auf der ein Schild aus gebürstetem Messing prangte: »Hermann Held, Vorstandsvorsitzender«. Herr Schulze klopfte beinahe zärtlich an die Eichentür. »Ihr Besuch«, säuselte er und signalisierte Anne mit erhobener Hand, still zu sein.

»Ja bitte«, antwortete eine etwas müde klingende Stimme. Herr Schulze öffnete behutsam die Tür und bedeutete Anne einzutreten. Sie trat in das riesige Zimmer mit bodentiefen Fenstern, der Blick auf die Stadt war atemberaubend. Das Mobiliar wirkte seltsam aus der Zeit gefallen in diesem luftigen, hellen Raum: Den hinteren Teil dominierte ein schwerer Eichentisch, hinter dem der Vorstandsvorsitzende der Bank in einem wuchtigen schwarzen Sessel thronte. Es roch nach Leder und kaltem Zigarrenrauch. Hermann Held, der noch in ein Dokument vertieft schien, winkte ihr zu und signalisierte ihr wortlos, in der Besucherecke Platz zu nehmen. Sie setzte sich in einen der unbequem aussehenden Designerstühle, die immer nach hinten kippten, wenn man sich zurücklehnte. Herr Held riss sich nun etwas widerwillig von seinen Unterlagen los und stand auf, um sie mit einem flüchtigen Händedruck zu begrüßen.

»Frau Vulcano, herzlich willkommen bei der Deutschen Kommerzbank. Wie schön, dass Sie endlich da sind«, begann er ohne besonderen Enthusiasmus in der Stimme. Er wirkte fahrig und sein Blick glitt immer wieder zu den Unterlagen auf dem Schreibtisch. »Die Kollegen freuen sich alle schon sehr, Sie kennenzulernen«, fuhr er fort. »Ich habe deshalb die Vorstandssitzung auf heute verlegt. Dann können Sie gleich alle kennenlernen und sofort in die strategisch wichtigen Themen einsteigen. Es gibt viel zu tun und wir werden Ihren vollen Einsatz brauchen. Ich werde jemanden holen, der Ihnen Ihr Zimmer zeigt. Um Punkt 9.00 Uhr geht es los. Wenn Sie mich bis dahin bitte entschuldigen würden? Wir sehen uns dann dort.«

Er trat an seinen Schreibtisch und drückte auf einen Knopf. Wenige Sekunden später stand Frau Blume, seine Sekretärin, etwas außer Atem in der Tür. Irritiert von der kühlen Begrüßung drückte Anne mit einer nicht unerheblichen Kraftanstrengung den schweren Besucherstuhl nach hinten und stand auf.

»Ich freue mich auf eine gute Zusammenarbeit, Herr Held«, sagte sie in Richtung des Schreibtisches. Er blickte etwas unwirsch von seinen Unterlagen auf und fixierte sie. Die sich ausbreitende Stille kam ihr wie eine Ewigkeit vor. Sie drehte sich um und ging mit – wie sie hoffte – energischen Schritten zur Tür und an der Empfangsdame vorbei.

Anne schloss die Tür zu ihrem Büro, lehnte sich einen Moment dagegen und atmete erst einmal tief durch. Was für ein seltsamer Empfang! Ihr Blick streifte durch den Raum. Das also war ihr neues Reich – ein Traum in Creme, Chrom und Stahl. Sie fröstelte. Ihr Blick blieb an dem Bild hinter dem Schreibtisch hängen. Es beherrschte den ganzen Raum. Auf einer drei Meter breiten schwarzen Leinwand bedrohte ein schnaubender, breitbeinig stehender roter Stier den Betrachter. Das konnte nur das Vermächtnis ihres Vorgängers, Kevin Wohlfahrt, sein. Ein etwas unangenehmer Zeitgenosse, den sie einmal auf einem Empfang des Bankenverbands kennengelernt hatte. Sie setzte sich auf den cremefarbenen Sessel und schaute aus dem Fenster. Einem Impuls folgend, zog sie ihr iPhone aus der Tasche, fotografierte den Stier und schickte das Foto in die Family-App.

Anne: Mein neues Büro!

Johann: Cool. Welches Auto bekommst du?

Balthasar: Mein Kleines, du weißt doch, was man mit Stieren macht. Man packt sie an den Hörnern. Oder …

Johann: Papa, hör auf, das ist peinlich.

Balthasar:

Anne lächelte und steckte das Handy wieder weg. Vor ihr auf der blankpolierten Glasplatte lag eine dicke Mappe mit der Aufschrift »VoSi 7.1.2019«. Die Unterlagen für die Vorstandssitzung also. Sie schlug die erste Seite auf und erschrak über die Tagesordnung: 22 Tagesordnungspunkte! Wie lange würde diese Sitzung wohl dauern? Sie hatte gehofft, heute Zeit zu haben, ihr Team kennenzulernen. Das schien mit einem solchen Programm in weite Ferne gerückt. Sie blickte auf die Uhr: 8.15 Uhr. Sie war tatsächlich nicht mehr als fünf Minuten im Büro ihres neuen Chefs gewesen, an ihrem ersten Tag! »Das nennt man wohl Effizienz«, murmelte sie und fing an, die Vorstandsunterlagen durchzublättern. Tagesordnungspunkt 1: Update Non-Financial-Risk-Assessment (Buchbinder). Es folgte eine farbenfrohe 34-seitige Powerpoint-Präsentation. Ein Anflug von Müdigkeit beschlich Anne und so stand sie auf, um sich erst einmal einen Kaffee zu besorgen.

Auf dem Gang war es gespenstisch still. Sie unterdrückte den Impuls, über den flauschigen Teppich zu schleichen, um niemanden zu stören. Stattdessen ging sie festen Schrittes dorthin, wo sie die Pantry vermutete. Sie genoss den Kaffeegeruch, während der Volluto in die Tasse lief, als Frau Blume nervös den Raum betrat.

»Es tut mir leid, Frau Vulcano, ich wusste nicht, dass Sie einen Kaffee wünschen. Ich hätte Sie vorhin fragen sollen.«

»Kein Problem«, beruhigte Anne, »ich brauchte ohnehin etwas Bewegung.«

Frau Blume schaute nervös in Richtung der schweren Eichentür von Herrn Held. »Ich zeige Ihnen, wie Sie mich oder eine der anderen Vorstandssekretärinnen das nächste Mal erreichen, wenn Sie etwas brauchen«, sagte sie mit Bestimmtheit. Anne gab nach und ging zurück in ihr Büro, wo sie weitere Unterlagen für die Vorstandssitzung durchblätterte. Bei Tagesordnungspunkt 12 hielt sie inne: Analyse Ergebnisse der Mitarbeiterumfrage 2018 (Vulcano).

Sie hatte gar nicht gewusst, dass die Ergebnisse der jährlichen Mitarbeiterumfrage bereits vorlagen. Interessiert blätterte sie die Auswertung durch, deren Ergebnisse offenbar auf einem ähnlich niedrigen Niveau lagen wie im Vorjahr. Deutlich unter dem Industrie-Benchmark. Besonders schlecht schienen die Zustimmungswerte zur Unternehmensleitung und Strategie zu sein. Sie stand auf und ging in Helds Vorzimmer, wo Frau Blume gerade Akten ordnete. Frau Blume schaute überrascht auf, offensichtlich war sie es nicht gewohnt, Besuch zu bekommen.

»Frau Blume, können Sie mir sagen, wo ich Herrn Hartmann finde, den Personalchef?«

»Ich werde sofort veranlassen, dass Herr Hartmann hochkommt«, antwortete Frau Blume und hielt bereits den Hörer in der Hand.

»Nein danke, Frau Blume, ich möchte gern bei ihm vorbeigehen, bevor die Vorstandssitzung anfängt.« Frau Blume senkte den Hörer und stand auf.

»Ich bringe Sie hin«, sagte sie und geleitete Anne zum Fahrstuhl.

Der 3. Stock erwies sich als überraschend lebhaft nach der kühlen Stille des 18. Stocks. Anne registrierte erfreut, dass viele der Bürotüren offenstanden. Aus einem der Büros hörte sie Gelächter. Sie spürte, wie sich ihre Schultern entspannten, die sie offenbar schon den ganzen Morgen hochgezogen hatte. Ein bekanntes Anzeichen von Anspannung, das sich heute Abend in schmerzhaften Nackenverspannungen bemerkbar machen würde. Frau Blume steuerte auf das einzige Büro zu, dessen Tür geschlossen war, offenbar das Büro des Personalleiters.

Nicolaus Hartmann blickte überrascht auf, als Frau Blume mit Anne in den Raum trat. »Frau Vulcano, ich hatte heute nicht mit Ihnen gerechnet! Ist jetzt nicht Vorstandssitzung?«

»Ja, stimmt«, sagte Anne, »aber ich kann ja nicht meinen ersten Tag hier anfangen, ohne bei meinem Team vorbeizuschauen, oder? Die Vorstandssitzung scheint den ganzen Tag zu dauern. Ich möchte aber, dass wir uns gleich morgen Vormittag mit dem Führungsteam der Personalabteilung Zeit nehmen, um uns kennenzulernen und unsere Prioritäten für die nächsten Monate festzulegen. Passt Ihnen das?« Nicolaus Hartmann lächelte und nickte. Sie verabredeten sich für den nächsten Morgen um 8.30 Uhr im Besprechungsraum der Personalabteilung.

Auf dem Weg zurück zum Fahrstuhl fragte Anne eine vorbeieilende Mitarbeiterin nach den Waschräumen, um sich kurz vor ihrer ersten Sitzung frisch zu machen. Diese zeigte ihr merkwürdig zögernd den Weg. Die Damentoilette war leer. Als sich Anne setzte, fiel ihr Blick auf ein Plakat an der Innenseite der Toilettentür. Die Überschrift lautete: »Unsere Werte«. Darunter standen Sätze wie: »Integrität ist die Grundlage unseres Handelns«, »Wir sagen die Wahrheit und lassen uns an unseren Versprechen messen«, »Das Wohl unserer Kunden steht bei uns immer im Mittelpunkt« und »Wir stärken das Team«.

Anne hatte ein starkes Déjà-vu-Erlebnis. Wo hatte sie dieses Plakat schon einmal gesehen? Vor ihrem inneren Auge tauchte das von der Unternehmensberatung Copy & Paste entworfene Plakat ihres früheren Arbeitgebers auf. Integrity, Customer Centricity und Teamwork – das hatte dort auch gestanden. Sogar die Farben waren ähnlich; offenbar war Pastell gerade in Mode. Überall hatte man sie im letzten Jahr bei Insure aufgehängt, damit auch wirklich keiner an ihnen vorbeikommen konnte. Sie konnte sich allerdings nicht daran erinnern, dass die Plakate in der Versicherung auf der Toilette hingen. War das nicht ein wenig übertrieben?

Viel interessanter als der gedruckte Text waren allerdings die mit Kugelschreiber und Bleistift in verschiedenen Handschriften gekritzelten Anmerkungen. »Wer’s glaubt, wird selig« stand unter »Wir sagen die Wahrheit«, und im Satz zum Kundenfokus war »Das Wohl unserer Kunden« durchgestrichen und durch ein »Das Wohl unseres Vorstands« ersetzt worden. Oje, dachte sie. Ich hoffe, dass es sich dabei um Einzelmeinungen handelt. Aber sogleich erinnerte sie sich an die Ergebnisse der Mitarbeiterumfrage, die sie eben überflogen hatte. Die Rückmeldungen zum Vorstand müsste sie sich heute Abend nochmal ganz in Ruhe ansehen. Spontan machte sie ein Foto von dem Plakat und schickte es Balthasar:

Anne: So kommen unsere Werte bei der Belegschaft an

Balthasar: Oha. Aber wenigstens scheinen die DKOM-Mitarbeiter einen gewissen Humor zu haben. Darauf lässt sich aufbauen

Sie sah auf die Uhr. Jetzt musste sie sich beeilen. Schließlich wollte sie nicht gleich am ersten Tag zu spät zur Vorstandssitzung kommen. Sie spürte, wie sich ihr Puls beim Gedanken an die Sitzung beschleunigte. Wie die anderen Vorstände sie wohl empfangen würden?

Die erste Vorstandssitzung

Es war 8.55 Uhr, als Anne den Vorstandssitzungsraum im 18. Stock betrat. Der Raum war riesig und hätte sonnendurchflutet sein können, wenn nicht vor alle Fenster Lamellen gezogen wären. An dem gigantischen Tisch waren nur noch zwei Plätze frei: ein Platz in der Mitte der anwesenden Vorstände – ganz offensichtlich der des Vorstandsvorsitzenden – und ein direkt an der Tür gelegener, offenbar ihrer.

In ihrem Kopfkino lief der Film eines Seminars ab, an dem sie vor einigen Jahren in ihrem Frauennetzwerk teilgenommen hatte: »Überleben in der Welt der Alpha-Tiere«.

»Es ist entscheidend, wo ihr sitzt«, hatte ihnen die Seminarleiterin eingebläut. Entweder direkt neben dem Alpha-Tier oder ihm gegenüber, jedoch niemals an der Seite oder direkt an der Tür. Dort sitzen die unwichtigen stillen Mäuschen.« Okay, heute also der Mäuschen-Platz für mich. Einen Moment überlegte sie, ob die anderen schon auf ihren Plätzen saßen, damit genau dieser Platz für sie übrig war. Unsinn, dachte sie, für solche Spielchen hat hier doch keiner Zeit. Sie ging um den Tisch herum und begrüßte ihre neuen Kollegen mit Handschlag. Sebastian Krupp, Firmen- und Privatkundenvorstand; Finanzvorstand Hans Müller; Richard Buchbinder, Risikovorstand; Tom König, Operations-Vorstand; Rick Smart, der Chef von Investmentbanking und Treasury, sowie einen sehr jungen Kollegen, der sich als Leonard Fleming vorstellte, Assistent des Vorstandsvorsitzenden. Die Begrüßung fiel sehr förmlich aus und Anne erwischte sich dabei, die Schultern wieder hochzuziehen, nachdem sie sich auf ihren Platz an der Tür gesetzt hatte.

Als Herr Held das Zimmer betrat, standen alle auf und begrüßten ihn, bevor er sich mit einem bedeutungsvollen Seufzer auf seinen Sessel fallen ließ. Er schlug seine Sitzungsmappe auf, hieß Anne in einer kurzen Ansprache höflich willkommen im Vorstand der DKOM und bat Richard Buchbinder, mit dem Tagesordnungspunkt 1) zu beginnen.

Während Buchbinder durch die – gemessen an der Länge und dem dramatischen Tonfall des Vortrags – offenbar erheblichen Risiken der Bank führte, beobachtete Anne die anwesenden Vorstände. Hermann Held brachte der Risikovortrag offenbar so zum Schwitzen, dass er sich mehrfach mit einem Tuch über die Stirn wischen musste. Rick Smart dagegen hatte sich ganz in seinen Laptop vertieft und machte sich entweder Notizen oder beantwortete E-Mails. Sebastian Krupp blätterte gedankenverloren in der Vorstandsmappe und prüfte immer wieder seine perfekt geknotete Blümchen-Krawatte. Hans Müller hingegen hörte aufmerksam zu und nickte ab und zu bestätigend.

Nach vierzig Minuten erreichte der Vortrag von Herrn Buchbinder offenbar einen Höhepunkt, denn er machte eine kurze Kunstpause, bevor er die 28. Folie mit dem Titel »Top Risiko: IT« aufrief. Tom König, der IT-Vorstand, setzte sich kerzengerade auf. Richard Buchbinder fuhr fort: »Auch im vergangenen Monat zeichnete sich unsere IT durch zahlreiche Ausfälle aus. Ich frage mich, wie lange unser geschätzter Kollege noch zusehen möchte, wie mit jedem IT-Update neue Fehler auftauchen. Sämtliche IT-Projekte laufen langsamer als geplant und zeichnen sich durch Budgetüberschreitungen aus. Wann werden wir endlich über die leistungsfähige ITInfrastruktur verfügen, die Sie uns, lieber Herr König, seit Ihrem Einstieg in der Bank versprochen haben? Ich möchte auch darauf hinweisen, dass unser Predictive-Analytics-Anti-Fraud-Programm immer noch nicht läuft, sodass meine Abteilung nach wie vor manuell nach Betrugsrisiken fahnden muss. Sollte uns hierdurch etwas durch die Lappen gehen, übernehme ich jedenfalls keine Verantwortung dafür.« Strafend sah er den rot angelaufenen Tom König an. Es war still geworden und alle Blicke richteten sich auf den IT-Chef.

Anne beobachtete, wie König sich hektisch mit fehlendem Budget und engen Personalkapazitäten verteidigte. Nach einem kurzen Blick auf Herman Held, der jedoch nur stumm der Diskussion folgte, stimmte nun Sebastian Krupp in Buchbinders Klagelied über die Unzulänglichkeiten der IT ein. Auch Rick Smart bestätigte, dass andere Banken über wesentlich leistungsstärkere Systeme zur Unterstützung ihres Investmentbankings verfügten. Tom König sprach immer schneller. Dabei ging es hier offenbar längst nicht mehr um das Thema IT, sondern um etwas ganz anderes. Mit Sachargumenten würde Tom König hier nichts mehr werden.

Anne war plötzlich ganz wach und alarmiert. Wurde sie gerade Zeugin der üblichen Diskussionskultur in diesem Gremium, oder war dies eher ein Ausrutscher? Der Satz auf dem Werte-Plakat auf der Damentoilette kam ihr in den Sinn, »Wir stärken das Team«. Davon war hier gerade nichts zu spüren, hier war das Motto eher »Jeder gegen jeden oder alle gegen einen«. Mit Grauen dachte sie an ihre erste Präsentation. Da würde sie sich warm anziehen müssen.

Herman Held hob die Hand. »Meine Herren«, sagte er leise und schien Annes Anwesenheit gänzlich vergessen zu haben, »ich denke, dass ich diese Diskussion bilateral mit Herrn König weiterführen werde. Wir sollten nun zum nächsten Tagesordnungspunkt kommen.« Tom König sackte auf seinem Stuhl zusammen, während Buchbinder seinen Laptop triumphierend und geräuschvoll zuklappte und Herman Held zunickte.

Tagesordnungspunkt 2) mit dem Titel »Projektüberblick« wurde aufgerufen. Eine nervöse Frau betrat den Raum und stellte sich als Leiterin der Abteilung »Projekt- und Prozessmanagement« vor. Sie führte durch eine schwindelerregend hohe Zahl von Projekten, die mit verschiedenen Ampeln versehen waren, um den Fortschritt des jeweiligen Projekts zu kennzeichnen. Schon nach wenigen Sätzen setzte das Klappern der Tastaturen ein und die Köpfe senkten sich über Laptops und Handys. Anne blickte verstohlen zu ihrem Sitznachbarn Hans Müller. Outlook. Er bearbeitete seine Mails und würdigte die Vortragende keines Blickes. Anne widerstand dem Sog des vor ihr liegenden Handys, auf dem sicher neue Mails eingegangen waren, und entschied sich für Präsenz. Sie konzentrierte sich auf den Vortrag und die Folien. Viele Projekte schienen schon lange zu laufen und erhebliche Kapazitäten zu fressen. Die meisten Ampeln waren grün, einige gelb, kein Projekt schien den Status rot zu haben.

Die Berichterstattung schien eher ein Harmoniebedürfnis des Vorstands zu bedienen, als den Stand der Dinge wirklich offenzulegen. Anne hatte das dringende Gefühl, etwas sagen zu müssen. Gleichzeitig merkte sie, wie sich ihr Puls beschleunigte bei dem Gedanken, zum ersten Mal das Wort zu ergreifen.

Ihr wurde plötzlich bewusst, dass sie die einzige Vorständin im Raum war. Die anderen würden sie bestimmt besonders kritisch beobachten, wenn sie zum ersten Mal etwas sagte. Sie hatte keine Verbündete im Raum, sie war der Außenseiter, neu, nicht aus der Bank, Frau und dann noch für das »Gedöns-Thema« Integrität verantwortlich. Stellung zu beziehen hieß auch immer, sich angreifbar zu machen. Andererseits ging es hier nicht nur um Projektmonitoring, sondern auch um Transparenz und Fehlerkultur. Das waren für sie unverzichtbare Orientierungspunkte in einem Transformationsprozess, wie ihn die Bank ganz offenbar gerade durchlief. Sie war es der DKOM-Bank schuldig, für ihre Prinzipien einzustehen. Sie überwand mit Mühe ihre Schwellenangst und räusperte sich.

»Vielen Dank für das ausführliche Briefing. Das ist ja eine beeindruckende Anzahl von Projekten, die wir hier gemeinsam zu managen haben. Könnten Sie mir sagen, wann wir zuletzt ein gescheitertes Projekt beerdigt haben? Und mich würde auch interessieren, welches der Projekte Sie nachts nicht gut schlafen lässt und bei dem Sie besondere Unterstützung vom Vorstand benötigen.«

Das Klappern der Vorstandslaptops war verstummt. Man hätte eine Stecknadel fallen hören können. Die Abteilungsleiterin wirkte überrascht und warf einen fragenden Blick auf Herrn Held, der stirnrunzelnd aufblickte. Dann antwortete sie: »Das letzte Projekt, das wir beerdigt haben? Oh, das muss vor meiner Zeit gewesen sein. Und keines der Projekte ist wirklich ›auf rot‹, insofern schlafe ich noch gut.« Sie lächelte tapfer.

Anne ließ nicht locker: »Der Vorstand kann Ihnen nur helfen, wenn wir hier offen nicht nur über Erfolge, sondern auch über Misserfolge sprechen. Denn darum sitzen wir hier doch zusammen. Damit wir uns gegenseitig als Team helfen, die Bank voranzubringen.« Die Abteilungsleiterin blickte verwirrt zu Herrn Held.

Nun ergriff Buchbinder das Wort. »Verehrte Frau Kollegin, Ihr Interesse als Neueinsteigerin in allen Ehren. Ich denke nicht, dass wir in diesem Gremium Projektarbeit machen sollten. Aus Haftungsgründen ist es wichtig, dass wir uns regelmäßig über den Stand der strategischen Projekte berichten lassen. Mehr ist es nicht. Und wie Sie sehen, hat die Kollegin alle Projekte im Griff, genauso wie wir es von ihr erwarten. Dabei sollten wir es heute bewenden lassen, schließlich haben wir noch eine stramme Agenda vor uns.«

Anne sah, wie Hermann Held sie nun interessiert anblickte, ohne die Provokation von Buchbinder zu kommentieren. Was war das? Ein Tennismatch? Matchball Buchbinder? Hermann Held als Schiedsrichter? Wieder erinnerte sie sich an das Alpha-Tier-Seminar. »Denkt daran: Bei Angriffen durch das Beta-Tier vor versammelter Mannschaft geht es nicht um die Sache. Es geht darum, das Alpha-Tier zu beeindrucken und alle anderen auf die Plätze zu verweisen.« Anne war einen Moment versucht zu lachen, weil sie plötzlich das Bild einer Horde Gorillas im Dschungel und Hermann Held als Silberrücken vor Augen hatte.

Blitzschnell überschlug sie ihre Optionen: Option 1: Schweigen und Herrn Buchbinder als Sieger vom Platz gehen lassen. Schließlich stand sie über solchen Dingen. Option 2: Eine scharfe Bemerkung zu seiner unverschämten Äußerung machen und die Gefahr laufen, als Zicke abgestempelt zu werden. Option 3: Es mit einer souveränen, humorvollen Bemerkung versuchen, wodurch sich Buchbinder aller Voraussicht nach herabgesetzt fühlen würde. Kein guter Start im Team. Und Option 4: Das Machtspiel nicht mitspielen, sachlich bleiben und nach einem ihrer Lieblingsmottos handeln: Hart in der Sache, verbindlich im Ton.

Sie entschied sich für die vierte Alternative. »Herr Kollege, Sie haben natürlich recht mit Ihrer Bemerkung, dass ich mit dem Ablauf der Sitzungen noch nicht vertraut bin. Insofern bin ich dankbar für jeden Hinweis und bitte um Nachsicht, wenn ich vielleicht die eine oder andere Frage mehr stelle. Ich möchte auch nicht in eine Projektarbeit eintreten, sondern lediglich in einen offenen Gesprächsmodus. Meine persönliche Erfahrung mit Projekten zeigt, dass der offene Dialog gerade bei Innovationsprojekten wichtig ist. Inspirierend finde ich da zum Beispiel Google: Hier werden Ideen, die die erste Stufe der Ideenfindung überstanden haben, durch ein spezielles Team überprüft. Dieses hat die Aufgabe zu erkennen, was an der Idee NICHT funktioniert! Das Projekt wird auf diese Weise so früh wie möglich zum Scheitern gebracht, ganz im Gegensatz zu Projekten in den meisten konventionellen Unternehmen. Wir arbeiten ewig an Projekten, weil Scheitern als persönlicher Misserfolg angesehen wird. Damit verbrennen wir Kapazitäten, Geld und Motivation, die wir dringend für andere Innovationen benötigen würden.«

Sie blickte in die aufmerksamen Gesichter ihrer Kollegen. Sie schien durchaus auf Interesse zu stoßen. Insbesondere Tom König nickte nachdenklich. Nur Buchbinder sah nicht erfreut aus. Er hatte die Lippen zusammengepresst, als sie über »Scheitern« gesprochen hatte. Zwischen seinen gepflegten Augenbrauen zeichnete sich eine unvorteilhafte Zornesfalte ab. Die Projektmanagerin jedoch hing an ihren Lippen. Jetzt nur nicht ins Dozieren kommen, sagte Anne zu sich selbst.

»Was möchte ich damit sagen?«, setzte sie fort. »Es gibt kaum Projekte, die nicht im Lauf der Zeit mit einer oder mehreren erheblichen Herausforderungen zu kämpfen haben. Da ist Unterstützung nötig oder auch mal die Entscheidung, ein Projekt zu beerdigen. Und ich denke, dafür könnten wir genau das richtige Gremium sein.«

Sie blickte Herrn Buchbinder an, der gerade anhob, etwas zu erwidern, als die Abteilungsleiterin für alle überraschend das Wort ergriff. »Tatsächlich gibt es ein Projekt, das mir ein wenig Sorge bereitet, es handelt sich um das IT-Projekt Venus. Wir haben den Go-live bereits mehrfach verschoben, weil das System einfach nicht stabil läuft, was auch daran liegt, dass immer wieder neue Anforderungen der Fachbereiche dazukommen. Aber sicher sind die Ursachen weitaus komplexer. Ich denke, der Projektleiter könnte durchaus Unterstützung gebrauchen.«

Tom König wirkte überrascht. »Mir war gar nicht bekannt, dass wir hier ein größeres Problem haben. Offenbar müssen wir hier tatsächlich für mehr Transparenz sorgen. Kommen Sie nachher doch mit dem Projektleiter bei mir vorbei.«

Hermann Held war angesichts der Heftigkeit der Diskussion zunehmend unruhiger geworden. Er griff häufiger zu seinem Taschentuch und wischte sich über die feuchte Stirn. Ihm entging nicht, dass immer wieder Kollegen zum ihm schauten und diskret um eine Intervention baten. Aber er brachte nur heraus: »Schön, Herr König, dann machen Sie das so! Die Zeit ist ja schon fortgeschritten und wir haben noch achtzehn weitere Themen auf der Tagesordnung!«

Anne lehnte sich im Stuhl zurück und atmete zweimal tief durch. Sie spürte, dass ihr Deo versagt hatte und ihre Bluse in den Achselhöhlen klebte. Jetzt würde sie den ganzen Tag die Arme unten halten müssen. Für zukünftige Vorstandssitzungen müsste sie wohl eine Ersatzgarnitur mitbringen und sich in der Pause umziehen. Bei dem Gedanken musste sie schmunzeln. Sie hoffte dennoch, dass sie einen kleinen Beitrag zu einem offenen Diskurs im Vorstand geleistet hatte, war sich aber überhaupt nicht sicher.

Buchbinder sah sie für den Rest der Sitzung nicht mehr an und hatte sich demonstrativ in seine Vorstandsmappe vertieft. Bei ihm hatte sie jedenfalls keine Punkte gesammelt. Sie hatte das Gefühl, hier sehr auf der Hut sein zu müssen.

Und so schleppte sich die Sitzung dahin. Ein Strom von Vortragenden wurde zu den unterschiedlichen Tagesordnungspunkten hereingebeten. Fast alle leierten erschreckend inhaltsleere Powerpoint Charts herunter. Man hätte denken können, dass das Spiel »Bullshit-Bingo« in der DKOM erfunden wurde. Sie konnte den Vortragenden die fehlende Inspiration auch kaum vorwerfen, denn zumeist hörten nur wenige dem Vortrag zu. Zu sehr waren sie mit dem Lesen und Beantworten offensichtlich sehr wichtiger Mails oder dem Zählen von Likes der eigenen LinkedIn-Posts beschäftigt. Sofern doch jemand zuhörte und den Vortrag kommentierte, diente die Äußerung meist nur einem Ziel: dem Vortragenden oder dem für ihn zuständigen Vorstand zu zeigen, dass man es besser wusste. Vermeintliche Lücken oder Fehler wurden mit sarkastischen Bemerkungen kommentiert. Kein Vorstand zeigte Interesse an der Person des Vortragenden oder versuchte gar, mehr über die Hintergründe des Themas zu erfahren.

Andere wie Tom König sagten gar nichts. Offenbar hatte man ihm bereits den Schneid abgekauft, sich überhaupt zu äußern. So konnte er auch keinen Fehler machen. Anne spürte, dass sie immer müder und mutloser wurde. Ihre Energiespeicher hatten sich in einem erschreckenden Tempo geleert. Auch ihr Körper hatte reagiert und ihre Schultern wurden immer verspannter. Sie träumte von Balthasars Massage am Abend, aber dafür waren noch Stunden durchzuhalten.

Hermann Held rief den Tagesordnungspunkt 12 auf: die jüngste Mitarbeiterumfrage. Interessanterweise schien das Thema alle Mitglieder des Gremiums zu bewegen, denn die Smartphones wurden auf den Tisch gelegt. Nicolaus Hartmann, Annes Personalchef, trug die frisch eingetroffenen Ergebnisse vor. Hermann Held holte wieder sein Taschentuch hervor. Buchbinder malträtierte nervös seinen Schreibblock mit einem Kugelschreiber. Das Bild voller Blitze, Sterne und schroffen Ruinen war wohl Spiegelbild seines gegenwärtigen Gemütszustandes.

Die Ergebnisse der Umfrage waren niederschmetternd. Die Mitarbeiter waren zu vielen verschiedenen Bereichen ihrer Tätigkeit und des Unternehmensumfelds gefragt worden. Stimmung im Team, Kundenorientierung, Innovationskraft, Kommunikationsverhalten, Stolz auf das Unternehmen, Verständnis und Überzeugungskraft der Unternehmensstrategie sowie Wirkung des Vorstands und der diversen Führungsebenen. Verglichen wurden die Ergebnisse mit denen des Vorjahres und mit den durchschnittlichen Ergebnissen anderer Finanzinstitute.

Hartmann versuchte, mit verbindlichen Worten und in gemäßigtem Ton das Ergebnis zusammenzufassen. Dennoch war die Botschaft allen klar: Die Mitarbeiter der Deutschen Kommerzbank waren überwiegend der Meinung, dass die Bank über keine zukunftsfähige Strategie verfügte, eine ehrliche und offene Kommunikation nicht möglich sei, Kunden nicht im Mittelpunkt stünden, Innovationen nicht wirksam gefördert würden, Integrität in der Bank keinen hohen Stellenwert habe und die Geschäftsleitung kein Interesse an den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern habe und insgesamt nicht glaubhaft agiere. Und die Ergebnisse waren gegenüber dem bereits schlechten Vorjahr noch weiter gesunken – gerade was die Beurteilung der Geschäftsleitung und deren Glaubwürdigkeit anging.

Nicolaus Hartmann beendete die Tortur mit einem letzten Chart, das mit »Action Plan« betitelt war. Hier wurden Kommunikationsvorschläge gemacht, die vor allem die schlechten Ergebnisse schönreden sollten (»es gibt auch Dimensionen, die sich positiv entwickelt haben«). Des Weiteren könnten Arbeitsgruppen gebildet werden, in denen die Mitarbeiter Maßnahmen zur Verbesserung entwickeln sollten. Und zuletzt stand zur Entscheidung an, ein Beratungsunternehmen zu engagieren, das die Ursachen der schlechten Umfragewerte analysieren sowie einen Maßnahmenkatalog entwickeln und umsetzen sollte. Kosten: 550.000 Euro. Anne sah schon die Masse von Präsentationsunterlagen vor sich, die vor allem empfehlen würden, an der Einstellung der Belegschaft zu arbeiten und Umstrukturierungen vorzunehmen.

Hermann Held ergriff mit ärgerlicher Stimme das Wort. »Meine Herren (schon wieder hatte er Anne vergessen), ich brauche Ihnen wohl nicht auseinanderzusetzen, wie enttäuscht ich von diesen Ergebnissen bin. Wir haben im letzten Jahr ein großes Unternehmens-Kulturprojekt ausgerollt, konzipiert und durchgeführt von der Unternehmensberatung Copy & Paste. Die Mitarbeiter haben in vielen Workshops die neue Unternehmensvision »DKOM, die Kundenbank« entwickelt. Unseren ebenfalls Bottom-up entwickelten Wertekatalog haben wir konsequent in unseren Mitarbeiterveranstaltungen kommuniziert. Unser Kollege Buchbinder hat überall Verhaltenskontrollen eingeführt, um integres Verhalten sicherzustellen. Und nun das. Ich finde das von der Belegschaft undankbar. Als ich damals bei der DKOM anfing, hat es sowas nicht gegeben. Ich musste als Lehrling beim Bäcker die Leberkäs-Semmel für den Abteilungsleiter holen. Habe ich mich darüber beschwert? Nein. Nach meiner Meinung hat mich damals keiner gefragt und ich hätte es nicht gewagt, meine Geschäftsleitung infrage zu stellen. Wo steuert diese Gesellschaft nur hin?«

Finanzvorstand Hans Müller meldete sich erregt zu Wort: »Ich denke, dass Sie da völlig recht haben. Ein weiteres Problem ist eindeutig das mittlere Management. Dort sitzt eine ganze Reihe von Klassensprechern. Das ist unsere Lehmschicht. Die plappern nur nach, was die Mitarbeiter meckern, und leisten der schlechten Stimmung damit Vorschub. Die Attitude stimmt dort einfach nicht. Ich weiß von anderen Unternehmen, die alle Manager durch ein Assessment-Center schicken, um festzustellen, ob sie noch zu dem Unternehmen passen. So etwas könnte ich mir für uns auch vorstellen.«

Anne spürte einen harten Knoten im Bauch. Nicht nur waren die Ergebnisse deprimierend, noch schlimmer fand sie die reflexartigen Reaktionen ihrer Vorstandskollegen. Offenbar lagen die Ursachen der schlechten Ergebnisse überall – nur nicht im Vorstandsgremium selbst. Auch die Vorschläge ihres Personalleiters hatten sie ganz und gar nicht überzeugt. Workshops für die Mitarbeiter, um die fehlende Glaubwürdigkeit des Vorstands zu bearbeiten? Anne überlegte fieberhaft, wie sie reagieren sollte.