W.G. Sebald - Carole Angier - E-Book

W.G. Sebald E-Book

Carole Angier

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Beschreibung

Carole Angier gelingt es, Sebald ehrlich in die Augen zu schauen und sich zugleich ihre Bewunderung zu bewahren.“ Observer

W.G. Sebald zählt zu den einflussreichsten Schriftstellern des 20. Jahrhunderts, seine Arbeit beeinflusst Schreibende bis heute und löst noch immer internationale Debatten aus. Nun hat Carole Angier seine erste große Biografie geschrieben. Anhand seines Werks und der Erinnerungen zahlreicher Wegbegleiter und der letzten Zeitzeugen zeichnet sie das Porträt eines Autors, der sich den existenziellen Themen seiner Zeit auf besonders eindringliche Weise näherte. 1944 geboren, lebte und schrieb Sebald unter dem Eindruck von Holocaust und Krieg. Flucht, Exil und Verlust, das Erinnern und Vergessen wurden zu seinen zentralen Motiven. Carole Angier spürt diesen Motiven nach. Sie zeigt: Sebalds Leben und seine literarische Kunst zwischen Fiktion und Geschichte sind auf das Engste miteinander verknüpft.

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Über das Buch

»Carole Angier gelingt es, Sebald ehrlich in die Augen zu schauen und sich zugleich ihre Bewunderung zu bewahren.« Observer W.G. Sebald zählt zu den einflussreichsten Schriftstellern des 20. Jahrhunderts, seine Arbeit beeinflusst Schreibende bis heute und löst noch immer internationale Debatten aus. Nun hat Carole Angier seine erste große Biografie geschrieben. Anhand seines Werks und der Erinnerungen zahlreicher Wegbegleiter und der letzten Zeitzeugen zeichnet sie das Porträt eines Autors, der sich den existenziellen Themen seiner Zeit auf besonders eindringliche Weise näherte. 1944 geboren, lebte und schrieb Sebald unter dem Eindruck von Holocaust und Krieg. Flucht, Exil und Verlust, das Erinnern und Vergessen wurden zu seinen zentralen Motiven. Carole Angier spürt diesen Motiven nach. Sie zeigt: Sebalds Leben und seine literarische Kunst zwischen Fiktion und Geschichte sind auf das Engste miteinander verknüpft.

Carole Angier

W.G. Sebald

Nach der Stille

Biografie

Aus dem Englischen von Andreas Wirthensohn

Hanser

Vorwort

In einer Biografie geht es immer darum, Löcher zusammenzufügen, wie bei einem Netz, und zwar aus Gründen, denen W.G. Sebalds eigenes Werk nachspürt: der Fehlbarkeit der Erinnerung, dem Tod oder dem Verschwinden von Zeugen, der zweifelhaften Rolle des Erzählers. All diese Aspekte muss jede Biografin berücksichtigen. Sebalds Biografin freilich in ganz besonderem Maße. Denn die Löcher im Netz dieser Geschichte sind zahlreich.

Die zentrale Leerstelle ist sein Familienleben, denn das möchte seine Witwe privat halten. Ohne ihre Erlaubnis können seine Äußerungen aus privaten Quellen, wie etwa bestimmte Briefe, nicht zitiert, sondern nur paraphrasiert werden. Auch seine veröffentlichten Worte, in Büchern und Interviews, können nur innerhalb der gesetzlich erlaubten Grenzen wiedergegeben werden.

Es gibt aber auch noch andere Lücken. So werde ich zum Beispiel über Sebalds vier große Prosa-Bücher schreiben, aber kaum über seine wissenschaftlichen Texte und seine Lyrik. Zu beidem gibt es hervorragende Bücher des Germanisten Uwe Schütte.1

Auch mit Blick auf eine wichtige Freundschaft und auf Sebalds Zusammenarbeit mit seinem letzten englischen Lektor gibt es Leerstellen, denn sowohl der Freund als auch der Lektor zogen es vor, nicht mit mir zu sprechen.2 Ich bedaure das, aber nicht so sehr wie das letzte und größte Schweigen, das uns zum ersten zurückführt. Es betrifft die Frage, warum W.G. Sebald, trotz einer langen und loyalen Ehe, trotz der Zuneigung zu seiner Tochter, immer allein war. Seine Bücher sind so voll von diesem Alleinsein, dass manche Kritiker sich darüber lustig machen — warum ist jede Straße, jede Landschaft so unwahrscheinlich leer? Tatsächlich aber war das nicht zum Lachen. Wie sein Pessimismus — den Kritiker mit fröhlicherer Veranlagung ebenfalls infrage stellen — begleitete ihn seine essenzielle Einsamkeit fast sein ganzes Leben lang. Sie existierte zusammen mit und neben seinem Charme, seinem Humor, seinem tiefen Einfühlungsvermögen, aber sie konnte jeden Moment hervorspringen und ihn mit ihrem eisigen Griff packen. Als er jung war, zeigte sie sich selten, bei den engsten Freunden und Verwandten seiner Jugend gar nicht, aber mit der Zeit nahm sie ihn immer mehr in Beschlag. So sehr, dass er sich viele Jahre lang — die Jahre seines Schreibens — zutiefst allein fühlte, und auch die Menschen, die er liebte, müssen sich allein gefühlt haben.

Warum, um alles in der Welt, habe ich trotz dieser Einschränkungen weitergemacht? Ich blieb beharrlich, weil W.G. Sebald der exquisiteste Schriftsteller ist, den ich kenne; weil ich das Recht seiner Witwe akzeptiere, ihre und seine Privatsphäre zu schützen, nicht aber, deshalb alle wie auch immer gearteten Nachforschungen über die Wurzeln seines Schreibens bleiben lassen zu müssen; weil ich genauso hartnäckig bin wie jeder andere auch. Der Hauptgrund freilich, warum ich das Schreiben dieses Buches nicht aufgeben konnte und wollte, ist eine Einschränkung meinerseits.

Sebald-Leser und -Leserinnen stimmen zunehmend darin überein, dass es falsch ist, die jüdische und deutsche Tragödie des Holocaust als den einzigen Fokus seines Werks zu sehen: Die Düsternis seiner Weltsicht reicht viel weiter, sie gilt der gesamten menschlichen Geschichte, der Natur selbst. Das stimmt. Aber hier ist meine Einschränkung: Ich bin die Tochter von Juden, die vor dem Nationalsozialismus geflohen sind. Es war die Tatsache, dass Sebald der deutsche Schriftsteller war, der die Last der deutschen Verantwortung für den Holocaust am tiefsten auf sich nahm, die mich zuerst zu ihm hinzog; und es ist immer noch eines der Dinge, die mich an seinem Werk am meisten erstaunen und bewegen. Er wollte nicht als »Holocaust-Schriftsteller« etikettiert werden, und ich nenne ihn hier auch nicht so. Aber obwohl der Holocaust bei Weitem nicht die einzige Tragödie war, die er wahrnahm, so war er doch seine Tragödie, als Deutscher, als Sohn eines Vaters, der fraglos in Hitlers Armee gekämpft hatte. Es war auch meine Tragödie, als Tochter von Wiener Juden, die nur knapp dem Tod entronnen waren. Ich denke, es ist richtig, den Holocaust als zentral für sein Werk zu betrachten. Aber wenn ich ihn zu zentral mache, dann ist das der Grund dafür.

W.G. Sebald ist, abgesehen von der schieren Qualität seiner Prosa, für viele Dinge berühmt, auch dafür, dass er sich stärker mit den Opfern Deutschlands identifiziert hat als jeder andere deutsche Schriftsteller. Am berühmtesten ist er dafür, dass seine Bücher sich nicht kategorisieren lassen. Handelt es sich um Belletristik oder um Sachbücher? Sind es Reiseberichte, Essays, Geschichts- oder Naturkundebücher, Biografien, Autobiografien, Enzyklopädien mit geheimnisvollen Fakten? Sein erster britischer Verleger, Christopher MacLehose, war sich so unsicher, dass er Die Ringe des Saturn und Schwindel. Gefühle. unter drei Genres auflistete: Belletristik, Reise und Geschichte. (Eigentlich hätte er sie gerne unter vier Kategorien aufgelistet, aber es waren maximal drei erlaubt.3) Und seitdem ist sich niemand mehr sicher. Schließlich akzeptierten Wissenschaftlerinnen und Kritiker — und sogar Verleger und Buchhändlerinnen — etwas Überraschendes, aber Wahres: W.G. Sebald hatte eine neue Gattung erfunden, die irgendwo zwischen Belletristik und Sachbuch, zwischen Fiction und Non-Fiction angesiedelt war. Und viele jüngere Autoren sind seinem Beispiel gefolgt, von Robert Macfarlane in Großbritannien über Teju Cole in den Vereinigten Staaten bis zu Stephan Wackwitz in Deutschland und vielen anderen. Jeder große Schriftsteller schaffe ein neues Genre, sagte Walter Benjamin. Der Schriftsteller des 20. Jahrhunderts, der diesen verrückten Test am besten besteht, ist W.G. Sebald.4

Das Zweitberühmteste an ihm ist die Art und Weise, wie ihm diese Balance zwischen Fiktion und Sachbuch gelungen ist: indem er Fotografien und Dokumente in seinem Werk platzierte. Wenn man ein Sebald-Buch zum ersten Mal aufschlägt, sieht es aus wie eine Biografie: Es gibt nicht nur Fotos von Edward Fitzgerald und Roger Casement, sondern auch von Paul Bereyter und Ambros Adelwarth und von Jacques Austerlitz auf dem Cover. Oder es wirkt wie eine Autobiografie, mit Fotos von Sebald, der in Die Ringe des Saturn an einem Baum lehnt, oder mit seinem durchgestrichenen Gesicht auf einem entwerteten Passbild in Schwindel. Gefühle. Und es liest sich auch wie eine Autobiografie, denn der Erzähler folgt fast exakt W.G. Sebalds Lebensweg, von der Geburt in einem süddeutschen Dorf bis zum Leben in Norfolk und der Lehrtätigkeit an einer englischen Universität.

Es gibt kein Problem mit Fitzgerald oder Casement oder — was die Fotos angeht — mit Sebald. Und zunächst scheint es auch kein Problem mit Bereyter oder Adelwarth oder Austerlitz zu geben. Ihre Fotografien bringen uns näher an sie heran, als es Worte — selbst Sebalds Worte — tun können. Die Begegnung mit ihrer leibhaftigen Präsenz fügt ihren Geschichten etwas Unermessliches hinzu. Es ist, als könnten wir ihnen direkt in die Augen schauen, sofern wir das aushalten können.

Doch dann lesen wir die nächste Geschichte und die nächste, und wir fangen an, uns zu wundern. Die Geschichten sind so düster, so verhängnisvoll, mit ihrer obsessiven Darstellung des Leidens, des seelischen wie des körperlichen: Das ist mehr als bloße Beobachtung; es ist eine Sicht auf das Leben, oder vielmehr auf den Tod. Dann merkt man auch, wie literarisch diese Bücher sind, mit ständigen Anklängen an andere Autoren; und wie Schwindel. Gefühle. durch ein Motiv von Kafka zusammengehalten wird, Die Ausgewanderten durch das Bild von Nabokov.

Diese beiden Werke sind also Fiktion, und alle anderen sind es auch. Für alle Figuren, von Dr. Henry Selwyn bis Austerlitz, gab es Vorbilder, aber sie wurden von Sebald verändert und zu fiktiven Schöpfungen kombiniert. Und an diesem Punkt geschieht etwas Seltsames. Diese Fotografien und Dokumente, die all diese Figuren für uns so real gemacht haben — was sollen wir jetzt davon halten? Wenn die Figuren Fiktionen sind, von wem sind dann die Fotos? Und plötzlich kippen sie. Wo sie zunächst eine außergewöhnliche Nähe schufen, schaffen sie jetzt Distanz; statt intensiv mit den abgebildeten Personen zu fühlen, fragen wir: Wer bist du, wer seid ihr? Genau die Technik, die Sebald anwandte, um seine Schöpfungen für uns real werden zu lassen, macht uns nun viel deutlicher bewusst, dass sie nicht real sind, als wenn wir sie uns einfach nur vorstellen müssten, wie in einem normalen Roman. Das ist ein Kreis, aus dem er nicht entkommen kann, und es gibt noch einige andere in seinem Leben. Und mein Buch hält ihn darin gefangen. Wenn Sie ihn lesen, ohne das Gelesene zu hinterfragen, und gerührt sind — dann ist das sein Hauptziel. Ich erinnere Sie an die Wahrheit. Das ist die Aufgabe des Biografen. Das ist der Grund, warum Schriftsteller Biografen nicht mögen, und ich weiß, Sebald würde mich nicht wollen. Aber ich würde ihm sagen: Du irrst dich. Du wolltest immer, dass die Leute deine Geschichten glauben. Aber sie werden ihnen mehr glauben, nicht weniger, wenn sie die Wahrheit kennen.

Nicht nur die Beziehung zwischen den Subjekten und ihren Fotos ist ein Spiel aus Rauch und Spiegeln. Gleiches gilt für die Beziehung zwischen Sebald und seinem Erzähler — und sogar für die Beziehung zwischen Sebald und seinen Interviewern.

Kurz nachdem Die Ausgewanderten in Großbritannien erschienen war, habe ich ein Interview mit ihm geführt. Er war freundlich, düster und lustig; er erzählte mir in seinem ausgezeichneten Englisch vielerlei Dinge, langsam und ernst, und ich glaubte jedes Wort. Aber als ich für dieses Buch recherchierte, merkte ich, dass ich mich geirrt hatte. Er war ehrlich gewesen, was ihn selbst anging, und schockierend ehrlich, was seine Eltern betraf, aber was seine Arbeit anging, hatte er mir ein Märchen aufgetischt.5 Das habe ich in meinem Interview veröffentlicht, und seitdem wurde es als Tatsache wiederholt. Ich habe also selbst für eines der Löcher im biografischen Netz gesorgt. Ihn würde das wohl amüsieren.

Hinweis an die Leserinnen und Leser

Obwohl er die moderne Technik hasste, nutzte W.G. Sebald die Technik seiner Zeit: Fotografien, Fotokopien, Reproduktionen von Kunstwerken. Genauso wichtig wie die Fotografie und die Kunst waren ihm zwei Medien, die man allerdings nicht auf eine Buchseite drucken kann: Musik und Film. Einige Verweise auf diese Medien sind durch ein Kreuz (†) gekennzeichnet. Dieses Symbol führt die Leserinnen und Leser zu der begleitenden Seite zu diesem Buch auf der Bloomsbury-Website, wo sie sich etwas anhören oder ansehen können. Ich habe auch Links zu einigen seiner wichtigsten Interviews eingefügt, für den Fall, dass jemand sie vollständig lesen möchte. Der Link lautet: www.bloomsbury.com/speak-silence.

Übersicht

Cover

Über das Buch

Titel

Fußnoten

Über Carole Angier

Impressum

Inhalt

Vorwort

Hinweis an die Leserinnen und Leser

Teil I

: Anfänge

1

 W.G. Sebald

2

 Dr. Henry Selwyn

Teil II

: Winfried

3

 Wertach, 1944—1952

4

 Il ritorno in patria

5

 Ambros Adelwarth

Teil III

: Sebe

6

 1952—1956

7

 1956—1961

8

 1961—1963

9

 Paul Bereyter

Teil IV

: Cocky

10

 Freiburg, 1963—1965

11

 Fribourg, 1965/66

12

 Der Roman

Teil V

: Max 1966—1970

13

 Manchester, 1966—1968

14

 St. Gallen und Manchester, 1968—1970

15

 Max Ferber

Teil VI

: Max 1970—2001

16

 1970—1976

17

 1977—1988

18

 1989—1996

19

 1997—2001

20

 Marie

Teil VII

: W.G. Sebald

21

 Hin zu den Ausgewanderten

22

 Die Ringe des Saturn

23

 Austerlitz

24

 Ein Versuch der Restitution

Teil VIII

: Enden

25

 Unerzählt

Dank

Hinweise zur Begleitseite im Internet

Abkürzungen und Siglen

Werke von W.G. Sebald

Andere Werke

Werke von Richard Sheppard

Werke von Uwe Schütte

Personen

Institutionen

Anmerkungen

Vorwort

Teil I  Anfänge

Teil II  Winfried

Teil III  Sebe

Teil IV  Cocky

Teil V  Max 1966—1970

Teil V  Max 1970—2001

Teil VII  W.G. Sebald

Teil VIII  Enden

Auswahlbibliografie

1.

Werke von W.G. Sebald

2.

Literatur über W.G. Sebald

3.

Weitere Literatur

4.

Webseiten

Abbildungsnachweis

Teil I, Kap. 1: W.G. Sebald

Teil I, Kap. 2: Dr. Henry Selwyn

Teil II, Kap. 3: Wertach, 1944—1952

Teil II, Kap. 4: Il ritorno in patria

Teil II, Kap. 5: Ambros Adelwarth

Teil III, Kap. 6: 1952—1956

Teil III, Kap. 7: 1956—1961

Teil III, Kap. 8: 1961—1963

Teil III, Kap. 9: Paul Bereyter

Teil IV, Kap. 10: Freiburg, 1963—1965

Teil IV, Kap. 11: Fribourg, 1965/66

Teil V, Kap. 13: Manchester, 1966—1968

Teil V, Kap. 14: St. Gallen und Manchester, 1968—1970

Teil V, Kap. 15: Max Ferber

Teil VI, Kap. 16: 1970—1976

Teil VI, Kap. 17: 1977—1988

Teil VI, Kap. 18: 1989—1996

Teil VI, Kap. 19: 1997—2001

Teil VI, Kap. 20: Marie

Teil VII, Kap. 22: Die Ringe des Saturn

Teil VII, Kap. 23: Austerlitz

Teil VII, Kap. 24: Ein Versuch der Restitution

Register

Teil I

Anfänge

1

W.G. Sebald

Wie weit muss man zurückgehen, fragte Sebald in Nach der Natur, um den Anfang zu finden? Und antwortete: vielleicht bis zum Morgen des 9. Januar 1905, als seine Großeltern in einer offenen Kutsche in den nächsten größeren Ort fuhren, um zu heiraten.

Das war der Anfang des sozialen Wesens W.G. Sebald — und noch mehr, denn der Großvater im Gedicht war der Vater seiner Mutter, Josef Egelhofer, der Mensch, den er seine ganze Kindheit, vielleicht sein ganzes Leben lang am meisten liebte. Doch die Ursprünge des Schriftstellers liegen möglicherweise woanders: nicht in einer Quelle der Geborgenheit und des Glücks — mochte sie auch verloren sein —, sondern im Gegenteil. Wie Sebalds Schwester Gertrud sagt: »Man schreibt nur, wenn man muss.«1 Sebald musste schreiben. Aber warum? Wenn wir diese Frage beantworten könnten, wäre es uns vielleicht möglich, den Anfang zu finden.

Er sei mit dem Gefühl aufgewachsen, schrieb er, dass es »irgendwo eine Art Leere« gebe.2 Schon als Kind dachte er: Hier passt etwas nicht. Es hatte mit seinem Namen zu tun, Winfried: Bereits als kleiner Junge spürte er, dass damit etwas nicht stimmte. (Und all das lässt uns wohl an Austerlitz denken.) Oft stellte er sich »eine lautlose Katastrophe« vor.3 Aber wie sah sie aus? Keiner wollte es ihm sagen.

In der Tat gab es zwei lautlose Katastrophen, die sich beide um die Zeit seiner Geburt ereignet hatten: den Völkermord an den Juden und die Bombardierung der deutschen Städte. Das war die Stille, die danach verlangte, gefüllt zu werden, das waren die Geheimnisse, die er unbedingt erforschen musste.

Das Schweigen war so groß, dass er in den ersten acht Jahren seines Lebens im Dorf Wertach und später dann in der Kleinstadt Sonthofen nichts von beidem bewusst mitbekam. Niemand sprach je von Juden, weder zu Hause noch in der Schule. Nicht von den Juden Europas, nicht von denen in Deutschland oder auch nur von den Juden in Sonthofen, wo es trotz der Abgeschiedenheit am südlichen Rand Bayerns vor dem Krieg einige gegeben hatte. Georg Goldberg zum Beispiel, ein Ingenieur im Eisenwerk, dessen Tochter Deutschland verlassen hatte, als ihr die Ausbildung zur Zahnärztin verwehrt wurde. Und Dr. Kurt Weigert, der Direktor des Sonthofener Krankenhauses, der 1935 aus »Rassengründen« entlassen worden war. Er überlebte den Krieg, kehrte 1945 nach Sonthofen zurück und nahm seine Arbeit im Krankenhaus wieder auf. Nach seinem Tod dreißig Jahre später errichtete der Stadtrat auf dem Friedhof ein offizielles Denkmal für ihn. Auf diese Weise versuchte Sonthofen nachträglich, Wiedergutmachung zu leisten.4

Oberstdorf, wo Sebald zur Schule ging, war viel kleiner als Sonthofen, hatte aber trotzdem ein paar Juden. Die meisten waren reiche Pensionäre, die sich unauffällig verhalten konnten. Für den einen Berufstätigen jedoch — den Zahnarzt Julius Löwin — gab es kein Versteck. 1938 vertrieben die Oberstdorfer Nazis Löwin sowie dessen Frau und Sohn mit Feuereifer.5

»Ein Jude weniger!« Das Allgäuer Anzeigeblatt berichtet über die Abreise von Julius Löwin und seiner Familie aus Oberstdorf im August 1938.6

Die Löwins emigrierten in die Vereinigten Staaten und überlebten so, wie Dr. Weigert, den Krieg. Die »ganz wenigen« verbliebenen Juden — wie zum Beispiel die Mutter des Dramatikers Carl Zuckmayer — folgten ihrem Beispiel jedoch nicht. Wie sich herausstellte, gehörten der Bürgermeister von Oberstdorf und auch der Kreisleiter von Sonthofen, wie wir noch sehen werden, zu den humaneren NS-Funktionären, sodass auch sie überlebten. Doch die antijüdische Propaganda war unerbittlich, und wie alle Juden, die in Deutschland blieben, werden sie die sechs Jahre des »Tausendjährigen Reiches« in Angst verbracht haben.

All dies wurde in den beiden Städten Sebalds begraben und vergessen, als hätte es nie existiert. Er erfuhr nicht einmal, dass sein geliebter Schullehrer seines Postens enthoben worden war, weil er zu einem Viertel jüdisch war — woraus dann die Geschichte »Paul Bereyter« in Die Ausgewanderten wurde. Und es war nicht nur so, dass Juden nie erwähnt wurden. Abgesehen von Dr. Weigert und den wenigen älteren Damen in Oberstdorf gab es aus naheliegenden Gründen keine mehr, sodass Winfried aufwuchs, ohne je auch nur einen einzigen Juden kennengelernt zu haben.7 Gleiches galt für seine Schwester: »Ich wusste gar nicht, was ein Jude war«, sagt sie.

Das begann sich zu ändern, als er siebzehn war und in seiner Schule (wie auch in Gertruds Schule) ein Film über die Konzentrationslager gezeigt wurde.8 Der Plan muss gewesen sein, anschließend nüchtern über das Thema zu diskutieren, doch für Sebald war diese plötzliche Eruption des Todes ins Klassenzimmer, ohne Vorbereitung und nach lebenslangem Schweigen, zu viel, um sie zu verarbeiten. Es war ein schöner Frühlingsnachmittag, mit einem Fußballspiel danach, und er »wusste nicht, was er damit anfangen sollte«, sagte er.9 Er war nicht der Einzige: Die Schulfreundinnen und -freunde, mit denen ich sprach, hatten, wenn überhaupt, nur vage Erinnerungen an den Film. Dieser Einbruch eines Tabus an die Oberfläche ihres jungen Lebens war zu entsetzlich, um ihn zu verarbeiten, wie jeder bezeugen kann, der den Film gesehen hat, selbst wenn er weder Jude noch Deutscher ist. Für Sebald und seine Freunde war es ein frühes Beispiel für etwas, wovon sein späteres Werk zum großen Teil handelt: ein Trauma, das weder zu diesem Zeitpunkt erfasst noch im Nachhinein erinnert werden kann.

Doch jetzt, in den frühen 1960er-Jahren, änderte sich die Atmosphäre. Er und seine Freunde begannen, besorgt miteinander zu reden: Was hatten ihre Väter im Krieg getan? Und ab dem 16. oder 17. Lebensjahr begann sich Winfried selbst zu verändern. Er war schon immer auffallend intelligent gewesen, aber nun begann er sich von seinen Mitschülern zu entfernen. Er wurde ein vielseitiger, unorthodoxer Leser und stand den gängigen Meinungen immer kritischer gegenüber — angefangen beim katholischen Glauben, der unangefochtenen Autorität sowohl zu Hause als auch in der Schule.

Wahrscheinlich lag es an seiner umfassenden Lektüre, glaubt Gertrud, dass er begann, das konspirative Schweigen in der Familie vor ihr infrage zu stellen, obwohl sie drei Jahre älter war. Es klappte nicht. Er war zu direkt, zu kritisch; sein Vater wiederholte hartnäckig: »Ich erinnere mich nicht«, und das Ganze endete in einem heftigen Streit. Es klappte nie; Sebald konnte keinen seiner Elternteile dazu bringen, über die Vergangenheit zu sprechen.10 Hätten sie es getan, hätte er seine Bücher vielleicht nicht schreiben müssen. Denn das ist es, woraus sie trotz aller öffentlichen Bemühungen um »Vergangenheitsbewältigung« entstanden sind: das private Schweigen der deutschen Familien.

Und dann war da noch das andere Geheimnis, das eigene Leiden der Deutschen am Ende des Krieges. Auch darüber sollte er schreiben — wieder ein Tabubruch, denn die Deutschen sollten sich nicht beklagen, wo doch ihre eigenen Verbrechen so viel schwerer wogen. Aber Sebald sollte sich gegen jedes Verbrechen aussprechen, wer auch immer es begangen hatte.

Dieses Schweigen war noch tiefer als das erste: Immerhin wurde ihnen gegen Ende ihrer Schulzeit der Film über die Lager gezeigt. Die Verheerungen der alliierten Bomben, die zwischen 1942 und 1945 auf Deutschland fielen, wurden mit keinem Wort erwähnt. Nicht nur war das Leid zu nah, noch schlimmer war die Scham. Sie waren die »Herrenrasse«, ihr Land sollte von Ungeziefer gesäubert werden — und plötzlich waren sie selbst das Ungeziefer,11 lebten mit Ratten in Kellern und wühlten in den gleichen schmutzigen Resten. Wie konnten Menschen das überleben, wie konnten sie es ertragen, sich daran zu erinnern? Sie konnten es nicht. Sie tilgten es aus ihrem Gedächtnis und konzentrierten sich darauf, sich in Rekordzeit zum reichsten und saubersten Land Europas zu mausern. Aufgrund dessen, was sie in Deutschland überdeckten, waren Sebald extremer Reichtum und Sauberkeit für den Rest seines Lebens suspekt.

Wertach war ein kleines Dorf in den Alpen, und selbst die umliegenden Städte waren zu unbedeutend, um als Ziel infrage zu kommen (auch wenn Anfang 1945 ein paar Bomben auf Sonthofen fielen). München hingegen wurde schwer getroffen, und noch mehrere Jahre nach dem Krieg waren die Straßen von Trümmern übersät. 1947 fuhr Georg Sebald, gerade aus einem Kriegsgefangenenlager in Frankreich zurückgekehrt, mit seinen Kindern ins niederbayerische Plattling zu seinen Eltern. Die Reise führte sie durch München.12 Der kleine Winfried hatte noch nie eine Stadt gesehen und blickte voller Ehrfurcht auf die hohen Gebäude und die riesigen Trümmerhaufen dazwischen. Auf beides gleichermaßen, denn sein Vater sagte nichts dazu, und er wusste, dass er keine Fragen stellen sollte. Noch lange danach sagte Sebald: »Das schien mir der natürliche Zustand von Städten zu sein: Häuser zwischen Bergen von Schutt.«13 Doch die Erinnerung an diese seltsame Stadt war sicherlich Teil der lautlosen Katastrophe, die er sich, da niemand sie erklärte, vorstellen musste.

Eines von Sebalds Lieblingsbüchern, NabokovsErinnerung, sprich,14 beginnt so: »Die Wiege schaukelt über einem Abgrund, und der platte Menschenverstand sagt uns, dass unser Leben nur ein kurzer Lichtspalt zwischen zwei Ewigkeiten des Dunkels ist.«15 Und weiter: »Ich weiß […] von einem Chronophobiker, den so etwas wie Panik ergriff, als er zum ersten Mal einige Amateurfilme sah, die ein paar Wochen vor seiner Geburt aufgenommen worden waren« — in denen er natürlich so abwesend ist, als wäre er bereits gestorben.

Sebald spielte in einem Brief an seine Freundin Marie auf Nabokov an, als er ihr ein Foto von seiner Schwester Gertrud und seinem Freund Sepp Willer schickte, das etwa sechs Monate vor seiner Geburt aufgenommen worden war. Es ist empörend, schrieb er ihr, sie vermissen mich eindeutig nicht.16 Und in Nach der Natur hält er einen noch ernsteren flüchtigen Blick in das ewige Dunkel vor seiner Geburt fest: einen extremen Zusammenbruch der Zeit. Am 28. August 1943, so schreibt er, war seine Mutter auf dem Heimweg von Bamberg, wo sie sich mit seinem Vater auf Urlaub befand. Doch in dieser Nacht flogen Hunderte von Flugzeugen ein, um Nürnberg anzugreifen. »Die Mutter», so fuhr er fort,

ist mit der Bahn bloß

bis nach Fürth gekommen.

Von dort aus sah sie

Nürnberg in Flammen stehn,

weiß aber heut nicht mehr,

wie die brennende Stadt aussah

und was für Gefühle sie

bei ihrem Anblick bewegten.17

Er erklärt nicht — er erklärt nie —, aber das ist eindeutig ein weiterer Fall von Trauma, das nicht festgehalten oder erinnert werden kann. Das erste Trauma in seinem eigenen Leben. Denn am selben Tag bemerkte seine Mutter, dass sie schwanger war, und das Kind war er selbst. Und Jahre später, in Wien, als er Altdorfers Gemälde der brennenden Stadt Sodom sah,

war es mir, seltsamerweise,

als hätte ich all das

zuvor schon einmal gesehen,

und wenig später hätte ich

bei einem Gang über

die Friedensbrücke fast

den Verstand verloren.18

Möglicherweise ist dies, wie so vieles bei Sebald, reines Zitat, ein Echo von Nabokov und nichts weiter. Doch seine Mutter, Rosa, reiste am 27. (nicht 28.) August durch Nürnberg und blieb in Fürth; und in der Nacht vom 27. auf den 28. gab es einen schweren Luftangriff auf Nürnberg: 1500 Tonnen Bomben wurden abgeworfen, und Tausende von Zivilisten starben. Es war eine wolkenlose Nacht, sehr dunkel, weil Neumond war, doch die Feuerstürme loderten so heftig, dass ein scharlachrotes Licht den Himmel ebenso erleuchtete wie die Bomber, die ihre Ladung abwarfen.19 Rosa erzählte die Geschichte ihren Kindern viele Male, und sie war mit Sicherheit wahr. Das einzige Detail, das Sebald änderte, war die Tatsache, dass er und seine Mutter nicht allein waren, denn Gertrud, drei Jahre alt, war bei ihnen. Sie erinnert sich nicht an die Szene, sondern nur an die Erzählung ihrer Mutter davon; und rational gesehen galt das auch für ihren ungeborenen Bruder. Außer dass er W.G. Sebald war und seine Fantasie mit dem Blut dieses Krieges getränkt sein würde. Wie auch immer es um den Zellhaufen bestellt war, der er im August 1943 war, es sollte ihn tatsächlich fast um den Verstand bringen.

Das Feuer beginnt für Sebald in Nürnberg, der Stadt, deren Schutzpatron der heilige Sebaldus ist. Von dort aus wird es durch viele seiner Bücher wüten — durch Schwindel. Gefühle., das mit dem Großen Brand von London endet, bis zu Die Ringe des Saturnund dem Buch danach, das er nie veröffentlichen sollte. Und auch durch viele seiner Interviews, in denen er sagte, Feuer sei das Schrecklichste.20 Das geht zurück auf seine Kindheit in einem Dorf, in dem viele der Gebäude noch aus Holz waren und das mehrmals bis auf die Grundmauern niedergebrannt war. Aber es geht noch mehr auf die beiden Schrecken zurück, die ihn zum Schreiben getrieben haben. Denn sie sind vereint durch das Schweigen danach, aber zu der Zeit, als sie geschahen, durch das Feuer: die Öfen der Vernichtungslager, die Feuerstürme der Städte.

Nach der Naturzeichnet einen Moment auf, der noch weiter zurückliegt als der nabokovsche: den Tag zuvor, den 26. August. Rosa und Georg Sebald sind noch in Bamberg, besuchen den Botanischen Garten. Der Dichter besitzt ein Foto von ihnen, wie sie an einem Teich stehen, auf dem ein Schwan und dessen Spiegelbild ruhig dahintreiben. Es sei erstaunlich, sagt er, wie entspannt seine Eltern wirkten, die er zu Lebzeiten nie so erleben sollte.

Im Jahr 2001 gab er einem Interviewer ein weiteres Foto, das bei diesem Besuch aufgenommen wurde. Wir sehen die Unbeschwertheit der Eltern, auch wenn Georg bald nach Frankreich geschickt wird und vielleicht nicht überlebt. Aber wir sehen nicht den Teich oder den Schwan. Auch viele andere Dinge bleiben verborgen. Wir sehen nicht die Vergangenheit in Bamberg, wo es eine beträchtliche jüdische Bevölkerung gab, wir sehen nicht die Gegenwart in den Vernichtungslagern oder in den brennenden Städten, und wir sehen nicht den Dichter. Aber sie sind alle da.21

Schließlich gab es auch den normalen Anfang: seine Geburt, am Himmelfahrtstag, dem 18. Mai 1944. Das Datum zieht sich durch sein Werk wie ein Faden durch ein Labyrinth. Gegen Ende von Die Ausgewanderten etwa sehen wir auf dem jüdischen Friedhof von Bad Kissingen das Grab von Meier Stern, der am 18. Mai 1889 gestorben ist; in Sebalds Fantasie verwandelt er sich in Max Stern, der auf der letzten Seite von Austerlitz seinen Namen an die Wand des Fort IX bei Kaunas geritzt hat, wo mehr als 30.000 Deportierte starben: Max Stern, Paris, 18.5.44. Ein Hauptvorbild für Jacques Austerlitz wurde am 17. Mai, also am Tag davor, geboren; ebenso die Mutter eines Hauptvorbilds für Max Ferber in Die Ausgewanderten, und Sebald gab Ferbers Mutter Luisa dieses Datum als Geburtstag. Und so geht es weiter.

Sebald wusste ganz genau, dass solche Koinzidenzen in der nüchternen Wirklichkeit nichts bedeuten oder sich nicht belegen lassen.22 Aber worauf es bei einer Idee ankomme, sagte er, seien ihre Formschönheit und ihre Bewegungskraft; und auch ihr Geheimnis, das, wie E. M. Forster sagte, die wichtigste Zutat in einem Roman sei.23 Mit anderen Worten: Der Zufall war in der Kunst am Werk, und darauf kam es ihm an. Aber auch im Leben waren Zufälle, Koinzidenzen, für ihn wichtig und wurden später fast zu einer Obsession. Sie zeigten, dass die Dinge auf eine Weise zusammenhingen, die wir nicht verstünden, sagte er, und wir sollten ihnen Beachtung schenken; zumindest entsprächen sie unserem Bedürfnis, »eine Art von Sinn zu finden, den es, wie wir alle wissen, nicht gibt«.24

Das Zusammentreffen von Ereignissen ist eine der Hauptantriebskräfte für Sebalds Fantasie; und seine Geburt am 18. Mai 1944 ist das wichtigste und erschreckendste Beispiel dafür, nämlich aufgrund dessen, was zur gleichen Zeit im Deutschen Reich geschah. Wenn es eine Sache gibt, die W.G. Sebald zum Schreiben trieb — mehr noch als das Schweigen, mehr noch als die in den Wahnsinn treibende Erinnerung daran, Nürnberg vom Mutterleib aus in Flammen gesehen zu haben —, dann war es das. Er sagte es immer und immer wieder, auf unterschiedliche Weise: Gerade als er in einem abgelegenen, vom Krieg verschonten Winkel der Alpen geboren und im Kinderwagen durch die blühenden Felder geschoben wurde, wurde Kafkas Schwester nach Auschwitz deportiert, zusammen mit Hunderttausenden Menschen aus Ungarn, aus Korfu, aus dem gesamten Mittelmeerraum.25 »Es ist die Gleichzeitigkeit einer glücklichen Kindheit und dieser schrecklichen Ereignisse, die mir heute ganz unbegreiflich erscheint«, sagte er. »Ich weiß jetzt, dass diese Dinge einen sehr langen Schatten auf mein Leben geworfen haben.«26 Und: »Ich empfinde es, vom jetzigen Zeitpunkt aus gesehen, als eine Ungerechtigkeit, sozusagen, daß ich damals in diesem windstillen Tal aufwachsen durfte; und weiß also nicht so recht, womit ich das verdient habe, sozusagen.«27

Wenn ich diese Worte höre, denke ich, so sollten sich alle Deutschen fühlen; ja, so sollten sich alle Menschen fühlen, die eine schreckliche Zeit durchleben und etwas hätten tun können oder nicht tun konnten, wie der kleine Winfried in seinem Kinderwagen. Aber er ist der Einzige, oder zumindest der Einzige, den ich kenne, der unter der Schuld des Überlebenden litt, obwohl er überhaupt nichts damit zu tun hatte.

Die ersten Jahre lebte Winfried in einer stabilen, sicheren kleinen Familie. Sie bestand aus seinen Großeltern, seiner Mutter und seiner Schwester, und sie behagte ihm vollkommen. Dann, Anfang 1947, der Schock: Ein Fremder tauchte auf »und behauptete, mein Vater zu sein«.28

Er sprach oft über diesen Schock. Er sei nicht von seinem Vater erzogen worden, sollte er mehrfach sagen, der zurückgekehrt sei, als er drei Jahre alt war, und weitere drei Jahre lang nur am Sonntag nach Hause gekommen sei.29 Für die ersten sechs Jahre seines Lebens war sein Großvater sein Vater, und das blieb er bis zu seinem, des Großvaters, Tod, sechs Jahre später.

Diese zentrale frühe Lebensgeschichte des Schriftstellers ist bereits teilweise erfunden: Tatsächlich arbeitete Georg Sebald im ersten Jahr nach seiner Rückkehr in seinem alten Beruf als Schlosser in Wertach, bevor er eine besser bezahlte Stelle in Sonthofen fand.30 Doch die emotionale Bedeutung der Erzählung ist — wie bei Sebald üblich — vollkommen wahr. Er hat seinen Vater nie akzeptiert. In seinen Teenager- und Zwanzigerjahren fügte er seinen Beschwerden Militarismus und Nazismus hinzu. Aber das kam später und war komplizierter. Von dem Tag an, da Georg nach Hause kam, war er ein altmodischer, autoritärer Vater, und Winfried wollte nichts von ihm wissen. Das feierliche Foto, das ein paar Monate nach seiner Rückkehr aufgenommen wurde, macht das auf fast schon komische Weise deutlich. Die Eltern sind im Sonntagsstaat gekleidet, den Rosas Schwestern aus Amerika geschickt haben, die Kinder in den schönsten Sachen, die ihre Mutter genäht hat. Gertrud ist glücklich, einen Vater zu haben, aber man schaue sich den kleinen Winfried an.

Er war damit nicht allein. Viele spät heimgekehrte Väter hatten Schwierigkeiten mit ihren Kindern, was seinen Teil zur Rebellion der zweiten Generation beitrug. Es sei eine traurige Wahrheit, sagt Gertrud, dass die Familien, denen es nach dem Krieg am besten ging, oft die waren, in denen die Väter nicht nach Hause kamen.

Und dann war da noch die andere Seite der Medaille: Winfrieds Beziehung zu seinem Großvater. Sebald hat darüber fast so oft gesprochen wie über den Zufall. Er habe seine Kindheit in der Obhut seines Großvaters verbracht, sagte er: »Ich habe alles von ihm gelernt und denke noch heute jeden Tag an ihn.«31 Sein Großvater brachte ihm das Lesen und die Liebe zu Geschichten bei. Zwei seiner größten Leidenschaften, die für die Natur und das Wandern, stammen von seinem Großvater; er bewahrte seinen Großvater in seinem schwungvollen Gang, in seiner Fürsorge für Pflanzen und Tiere, in dem Schnurrbart, den er sich ab seinem 19. Lebensjahr wachsen ließ, in der Art, wie er prüfend gen Himmel blickte, wenn er nach draußen trat. Und vielleicht hat er ihn auch in seinem Humor bewahrt, denn Josef Egelhofer liebte es, seinen Enkeln mit unbewegter Miene Lügengeschichten zu erzählen: dass ein Lastwagen käme, um die Löcher für den Emmentaler zu bringen, dass sie gehen und ihm für zehn Pfennig Samen für Stecknadeln kaufen sollten.

Sein Großvater sei »ein außergewöhnlich gütiger Mensch« gewesen, sagt Sebald. »Als Junge fühlte ich mich beschützt. Sein Tod, als ich zwölf Jahre alt war, war etwas, worüber ich nie ganz hinweggekommen bin.«32 Sein Interesse am Tod und an den Toten resultierte aus »jenem Moment, in dem man jemanden verliert, den zu verlieren man sich eigentlich nicht leisten konnte«. Vieles änderte sich für ihn damals, auch sein Gesundheitszustand: »Gleich nach seinem Tod brach bei mir eine Hautkrankheit aus, die jahrelang anhielt.« Tatsächlich trat sie sein ganzes Leben lang immer wieder auf. Der Journalistin Maria Alvarez sagte er, als sein Großvater starb, sei »dieses riesige Loch in mein Universum eingetreten. Es ist jetzt fünfundvierzig Jahre her, und ich vermisse den Mann immer noch.«33 Seine Stimme, so bemerkte Alvarez, habe »ein wenig gestockt«. Und das, obwohl er 57 Jahre alt war und seinen Großvater 45 Jahre zuvor verloren hatte.

Winfried mit seinem Großvater, 1947/48.

Das ist durchaus außergewöhnlich. Ihr Großvater war die wichtigste Person in ihrer Kindheit, stimmt Gertrud zu. Seine Sanftmut stand in scharfem Kontrast zu Georgs Strenge. Aber viele Jungen haben strenge Väter; und Gertrud ist sich sicher, dass Georgs strenge Disziplin nie über die damals üblichen Schreiereien und Ohrfeigen hinausging. Sebald selbst hat trotz seiner Neigung zu dramatischen Geschichten nie eine solche über seinen Vater erzählt, und trotz seines Hangs zur Schwermut sagte er, seine Kindheit sei »nicht evident schrecklich« gewesen: »Ich bin ein ganz normaler Fall.«34 Ich denke, wir können ihm glauben. Damit etwas schiefgeht, hat einmal jemand zu mir gesagt, braucht es nichts weiter als ein sensibles Kind, das in eine einfache Familie hineingeboren wird.35 Das war der letzte Anfang: dass Winfried ein sensibler Junge war. Und sein Großvater wusste das. Er nannte seinen kleinen Enkel »Männdle« und hänselte ihn, weil er so dünn war: »Wennst so weitermachst«, sagte er, »kannst dich gleich hinter einem Besenstiel umziehen.«36

Ich habe dies den letzten Anfang genannt, denn Josef Egelhofer starb, als Winfried zwölf war. Doch in Wirklichkeit gab es noch einen weiteren, der sieben Jahre zuvor stattgefunden hatte. Ich setze ihn an die letzte Stelle dieser zweifelhaften Liste (ich gebe zu, sie ist zweifelhaft, denn wer kann schon wirklich sagen, wo irgendetwas begann, schon gar der Geist eines Schriftstellers, obwohl es genau das ist, was ich wissen will?), weil er der geheimnisvollste ist. Sebald sprach darüber im August 2001 mit dem Journalisten Arthur Lubow, vier Monate bevor sein Auto auf einer Straße auf die Gegenfahrbahn geriet und gegen einen Lastwagen krachte. Sie blätterten in einem Familienalbum aus dem Jahr 1933, als er auf ein Foto zeigte, das sein Vater von einem toten jungen Mann gemacht hatte, der auf einer Bahre lag und dessen leere Augen nach oben starrten. Der junge Mann war ein Kriegskamerad von Georg, erinnert sich Gertrud, und er war sehr blass und wunderschön. Als er dieses Bild mit fünf Jahren zum ersten Mal sah, so Sebald, »hatte er eine Ahnung, dass hier alles begann — eine große Katastrophe, die sich ereignet hatte und von der ich nichts wusste«.37 War das die stille, lautlose Katastrophe, die er um sich herum spürte, die nicht in der Vergangenheit, sondern in der Zukunft verborgen lag? Denn der junge Mann war, so erzählte sein Vater, bei einem Autounfall ums Leben gekommen.

2

Dr. Henry Selwyn

Das erste Buch von W.G. Sebald, das Leser in englischer Sprache erreichte, warDie Ausgewanderten (The Emigrants).

Die beiden früheren, Nach der Natur und Schwindel. Gefühle., hatten in Deutschland lediglich den Status eines Geheimtipps unter Literaten gehabt und »heimlichen Ruhm« genossen.1Die Ausgewanderten war das erste Buch, das dort ein breiteres Publikum fand, und das erste, das übersetzt wurde.

Das war ein großes Glück für uns und für seinen Autor. Denn Die Ausgewanderten ist das Sebald-Buch schlechthin. Erstens aufgrund seines Themas: Drei der vier Geschichten handeln von Juden oder »Teiljuden«, die aus ihren Ländern vertrieben wurden, zwei davon aus Deutschland. Und zweitens durch die Einbeziehung von Fotos und Dokumenten in fiktive Geschichten. Denn die Hauptprotagonisten der beiden Bücher davor und danach sind fast alle echte historische Figuren. Lediglich Die Ausgewanderten am Anfang unserer Begegnung mit Sebald und Austerlitz am Ende dokumentieren Fiktionen. Austerlitz ist allerdings nur spärlich dokumentiert: Es gibt lediglich zwei Bilder von Jacques Austerlitz, als kleines Kind und als Jugendlicher, und keine Tagebücher oder andere Aufzeichnungen über seine Reise durch die Welt. Im Gegensatz dazu ist Die Ausgewanderten vollgepackt mit Fotos von mindestens zwei seiner Protagonisten, Paul Bereyter und Ambros Adelwarth; Adelwarth führt zudem ein Agendabuch und schreibt einen Abschiedsbrief (»Have gone to Ithaca«), und Bereyter füllt Exzerpthefte, die wir allesamt abgebildet sehen. Und obwohl es keine Fotos von Dr. Henry Selwyn gibt, gibt es viele von seinem Garten, und obwohl keines von Max Ferber, viele von seinen ermordeten Eltern. Mit den Ausgewanderten ist W.G. Sebald sozusagen vollständig über uns hereingebrochen, wie er es mit keinem seiner anderen Bücher, so außergewöhnlich sie auch sind, getan hätte.

Weil Sebalds Ruhm so geheim war, griff kein anderer Kritiker bei The Emigrants zu, und der Spectator schickte es mir zur Besprechung. Ich schlug es mit gedämpftem Interesse auf: Wer war W.G. Sebald? Und bevor ich wusste, wie mir geschah, war ich am Ende der ersten Geschichte angelangt und rieb mir die Augen wie jemand, der aus einem Traum erwacht.

Ich las mich eilends weiter durch die anderen, ohne innezuhalten, als ob sie entkommen könnten, wenn ich das Buch weglegte. Jede dieser Geschichten war so seltsam und so schön wie die erste. Als ich spät in der Nacht das Buch zuklappte, war ich wie jemand, der verliebt ist — überglücklich, und ich sehnte mich danach, der Welt von diesem wunderbaren Schriftsteller zu erzählen, den niemand außer mir kannte. In den nächsten Wochen und Monaten stellte ich fest, dass Leser in der ganzen englischsprachigen Welt das Gleiche fühlten.

Später fand ich in Austerlitz zwei Ideale der Kunst: die schnelle Aquarellskizze, wie TurnersBegräbnis in Lausanne, und die Schilderung des letzten Tages der Schlacht von Austerlitz durch Austerlitz’ Lehrer André Hilary, die zwar stundenlang dauerte, aber dennoch zu kurz war, denn »sollte man wirklich […] in irgendeiner gar nicht denkbaren systematischen Form berichten, was an so einem Tag geschehen war, wer genau wo und wie zugrunde ging oder mit dem Leben davonkam, oder auch nur, wie es auf dem Schlachtfeld aussah bei Einbruch der Nacht, wie die Verwundeten und die Sterbenden schrien und stöhnten, so brauchte es dazu eine endlose Zeit«.2 »Dr. Henry Selwyn« ist wie eine Aquarellskizze von Turner. Danach ist jede Geschichte in Die Ausgewanderten länger als die jeweils vorangegangene und Die Ringe des Saturnwieder länger, bis wir in Austerlitz selbst zu der »gar nicht denkbaren systematischen Form« von Hilarys Ideal gelangen. Das alles sind überragende Kunstwerke, aber »Dr. Henry Selwyn« verblüfft mich immer noch am meisten, weil es auf seinen gerade einmal dreißig Seiten die Essenz von Sebalds Weltsicht destilliert.

Von Anfang an steht das Geheimnisvolle im Mittelpunkt. Die Fenster von Dr. Selwyns Haus sind wie dunkle Spiegel, durch die niemand hinein- oder hinaussehen kann; es erinnert den Erzähler an ein Schloss, das er einmal in Frankreich gesehen hatte, vor dem »zwei verrückte Brüder« eine falsche Fassade des Schlosses von Versailles errichtet hatten. Mit anderen Worten: Das ist kein normales Haus, vielleicht nicht einmal ein richtiges. Und so geht es weiter. Der Garten ist eine vernachlässigte Wildnis, das Badezimmer der Wohnung, in der der Erzähler und seine Frau leben werden, ist eine außergewöhnliche Konstruktion, die »auf gußeisernen Säulen untergebracht und nur über einen Steg zu erreichen war«.3 In die Wohnung selbst gelangt man über ein dunkles Treppenhaus, von dem aus einst verborgene Gänge hinter den Wänden verliefen, damit die Besitzer des Hauses nicht sehen mussten, wie die Bediensteten ihre Lasten hinauf- und hinuntertrugen. Wir befinden uns in einer Traum- oder Albtraumwelt, in der durch die Ruhe und Schönheit, die den Erzähler anziehen, etwas anderes dahinter hindurchschimmert.

Dann treffen wir Dr. Selwyn, der auf der Wiese liegt und Grashalme zählt. Auch er — vor allem er — ist geheimnisvoll. Er ist eindeutig der Besitzer von Prior’s Gate, sagt aber, es gehöre jetzt seiner Frau Hedi. Er ist groß und breitschultrig, wirkt aber untersetzt; seine Gedanken, so erklärt er dem Erzähler, würden jeden Tag verschwommener und gleichzeitig präziser. Offensichtlich verbirgt sich hinter Dr. Selwyn genauso viel wie hinter seinem Haus.

Es ist Hedi, die dem Erzähler und seiner Frau die Wohnung zeigt und sich um das Mietverhältnis kümmert. Sie ist ein viel bodenständigerer Mensch — eine Fabrikantentochter aus der Schweiz, die ein Vermögen geerbt hat und selbst eine gute Geschäftsfrau ist. Doch auch sie neigt zu seltsamen Bemerkungen und meint, dass das Badezimmer an einen Taubenschlag erinnere, seit die letzten Mieter es weiß gestrichen hätten. Worauf der Erzähler eine noch seltsamere Bemerkung macht: dass ihm diese Beobachtung »als ein vernichtender Urteilsspruch über die Art, wie wir unser Leben führten, bis heute im Sinn geblieben ist, ohne dass ich es vermocht hätte, an dieser Lebensführung etwas zu ändern«. Diese plötzlichen Blicke in einen Abgrund — in Dr. Selwyns Gedanken, in die des Erzählers — sind beinahe die auffälligste Merkwürdigkeit in dieser Geschichte; und sie bleiben es in allen Büchern. Das ist eines der Dinge, an denen sich Sebald-Liebhaber sofort von Sebald-Skeptikern scheiden. Wenn irgendetwas in der hyperwachen ängstlichen Beklemmung seines Werks einen anspricht, ist man bereit, diese schwindelerregenden Einblicke zu akzeptieren und sich von der Schönheit ihres Ausdrucks bewegen zu lassen. Wenn nicht, wahrscheinlich nicht.

Es gibt noch eine weitere Bewohnerin von Prior’s Gate, die die seltsamste von allen ist: das Dienstmädchen Aileen, mit ihrem kurz geschorenen Haar, ihrem wiehernden Lachen und ihrer langen grauen Schürze, ihrer befremdlichen Puppensammlung und ihrer rätselhaften Tätigkeit, denn man hat sie noch nie gesehen, wie sie eine Mahlzeit kocht. Dennoch muss sie das manchmal tun, denn bei der einen Gelegenheit, bei der Dr. Selwyn einen Gast hat und den Erzähler und seine Frau einlädt, rollt sie auf einem Servierwagen ein Abendessen herein, das mit Produkten aus dem verwilderten Garten zubereitet wurde. Während dieser Mahlzeit offenbart Dr. Selwyn zum ersten Mal einen Teil seiner Geschichte: seine Freundschaft als junger Mann mit einem älteren Bergführer namens Johannes Naegeli, in dessen Gesellschaft er sich wohler fühlte als mit irgendjemandem davor oder danach, Hedi eingeschlossen, die aber mit Naegelis Tod endete, als dieser 1914 in eine Gletscherspalte im Aaregletscher stürzte. Die Nachricht, sagt Dr. Selwyn, habe ihn in eine tiefe Depression gestürzt. Es sei gewesen, als wäre er selbst unter Schnee und Eis begraben.

Diese Bilder — Schnee und Eis als Tod und Depression, die kostbare Freundschaft mit einem alten Mann, sogar Hedis Taubenschlag und Aileens grauer Kleiderschurz — werden in anderen Sebald-Büchern immer wieder auftauchen. Aber sie haben ihren ersten Auftritt hier in »Dr. Henry Selwyn«, wie die Verabredung in der Vergangenheit, die Austerlitz sich vorstellen wird.

Als die vier Personen — Dr. Selwyn, sein Botaniker-Freund Edwin Elliott, der Erzähler und seine Frau — ihre Mahlzeit beendet haben, die an einem großen Eichentisch serviert wird, der »leicht dreißig Gästen Platz geboten hätte«, begeben sie sich in den drawing room. Jetzt schiebt Aileen ein weiteres Wägelchen herein, auf dem ein Diaprojektor steht. (Diese Wägelchen und das Bild von vier Personen an einem Tisch für dreißig Personen lassen einen beim dritten oder vierten Lesen laut auflachen.) Und Dr. Selwyn zeigt seinen Mietern Dias von seiner und Edwins Reise nach Kreta zehn Jahre zuvor. Nun bemerkt der Erzähler, dass eine der Aufnahmen von Dr. Selwyn, mit seinen knielangen Shorts und dem Schmetterlingsnetz, »bis in Einzelheiten einem in den Bergen oberhalb von Gstaad gemachten Foto von Nabokov« glich, das er aus einer Schweizer Zeitschrift ausgeschnitten hatte: Damit legt er die subtile Spur, die diese Geschichte mit den anderen verbinden wird. Und noch weitere Spuren, die das Buch mit den anderen Büchern verbinden werden: der Anblick der Hochebene von Lasithi zum Beispiel, übersät mit den weißen Segeln von Windpumpen, die in Die Ringe des Saturn wiederkehren werden.

Nach der kretischen Diashow bewegt sich die Geschichte zügig auf ihr Ende zu. Die Frau des Erzählers kauft »kurzerhand« ein Haus, und sie ziehen aus Prior’s Gate aus. Dr. Selwyn besucht sie regelmäßig und bringt Gemüse und Kräuter aus seinem Garten mit. Und eines Tages fragt er den Erzähler, ob er jemals Heimweh habe. Der Erzähler weiß nicht, was er antworten soll, aber das ist auch egal. Trotz seiner Tweedjacke, trotz seiner perfekten englischen Manieren ist Dr. Selwyn selbst, wie sich herausstellt, weit von zu Hause entfernt. Und er will dem Erzähler seine Geschichte erzählen.

Zusammengefasst ist es diese: dass er in der Nähe von Grodno in Litauen geboren wurde und als Siebenjähriger mit seiner Familie nach England kam. Er erklärt nie, warum, und erwähnt nie das Wort jüdisch, aber aus seinem richtigen Namen und dem seiner Schwestern geht hervor, warum sie 1899 das von Pogromen heimgesuchte Litauen verließen und in Whitechapel landeten. Er berichtet dem Erzähler von seiner Jugend, von seiner Freundschaft mit Naegeli, von seiner sich dem Ende nähernden Ehe mit Hedi. Die Jahre des Zweiten Weltkriegs und danach seien eine schlimme Zeit für ihn gewesen, sagt er, und 1960 habe er seine Praxis und seine letzten »Kontakte mit der sogenannten wirklichen Welt« aufgegeben. Als er geht, gibt er dem Erzähler — ganz ungewöhnlich — die Hand.

Obwohl er so wenig erklärt, begreifen wir. Dr. Selwyn hat seine Vergangenheit und seine Heimat verloren, so wie es Bereyter, Ferber und Austerlitz tun werden, und zwar aus demselben Grund. Aber in seinem Fall gibt es noch etwas anderes. Die anderen bleiben Außenseiter und allein. Dr. Selwyn hat geheiratet und ist mit der englischen Gesellschaft verschmolzen; lange Zeit hielt er sein Geheimnis vor seiner Frau und vor allen anderen verborgen. Sein Leiden hat also nicht nur mit Verlust zu tun, sondern auch mit Verrat: an seiner Frau, an seiner jüdischen Familie (»Aber ich habe es nie fertiggebracht, etwas zu verkaufen, except perhaps, at one point, my soul«). Sein Haus ist in der Tat nicht real; die Fassade, an die es den Erzähler so scheinbar fantasievoll erinnert, war hingegen ganz präzise. Dieser doppelte Verlust — sowohl Emigration als auch Assimilation — ist das, was hinter der Ruhe und Schönheit von Prior’s Gate, hinter der Traurigkeit von Dr. Selwyn hindurchschimmert.

Später im Sommer, als der Erzähler und seine Frau von einem Urlaub in Frankreich nach Hause kommen, erfahren sie, dass der Doktor sich mit dem Jagdgewehr, das er nie benutzt hat, das Leben genommen hat. Als er die Nachricht zum ersten Mal hörte, sagt der Erzähler, habe er den Schock ohne große Schwierigkeiten überwunden, »[d]och haben, wie mir in zunehmendem Maße auffällt, gewisse Dinge so eine Art, wiederzukehren, unverhofft und unvermutet, oft nach einer sehr langen Zeit der Abwesenheit«. Das ist Sebalds am häufigsten wiederkehrendes Thema in Die Ausgewandertenund Austerlitz: dass das Trauma nicht zugelassen und verdrängt wird, letztlich aber zum Vorschein kommen wird. Und am Ende sehen wir es auftauchen, in dem außergewöhnlichen, ambivalenten Bild, wie Johannes Naegelis Leiche vom Eis freigegeben wird, 72 Jahre nach seinem Tod. »So also kehren sie wieder, die Toten«, schreibt Sebald: Trost und erneute Trostlosigkeit, Rückkehr und Mahnung zugleich.

Ende 2014 ging ich die halbmondförmige Zufahrt hinunter zur Haustür von Prior’s Gate, 44 Jahre nach dem Erzähler und seiner Frau. Es hieß nicht Prior’s Gate, und es lag nicht in Hingham, wie Sebald geschrieben hatte. Es heißt Abbotsford, und es liegt in einer schönen kleinen Stadt zehn Meilen von Norwich entfernt, die Wymondham (ausgesprochen »Wyndham«) heißt. Beide Namen für das Haus, der reale und der fiktive, beruhen auf der Tatsache, dass es ganz in der Nähe der großartigen, halb verfallenen Wymondham Abbey liegt, wo »Dr. Henry Selwyn« 1970 Kirchenvorsteher und eine Säule der Gemeinde war, der das jährliche Abbey-Fest im großen Garten von Abbotsford veranstaltete.

Die Tür wurde mir von Christine, der Schwiegertochter von Dr. Selwyn, geöffnet. Es war besonders nett von ihr, dass sie sich bereit erklärte, mich zu empfangen, denn anfangs hatte sie gezögert; tatsächlich hatte sie es viele Jahre lang, so gut es ging, vermieden, über Sebald zu sprechen. Schließlich sollte sie mich auch anderen Familienmitgliedern vorstellen, die alle dasselbe dachten. Aber für heute blieben wir auf sicherem Terrain. Ich wollte nur das Haus und den Garten sehen.

Christine führte mich in eine große, helle Halle. In der Mitte stand ein riesiger Eichentisch (ja, sagte Christine, der Eichentisch aus Dr. Selwyns Zeit). Rechts von uns führte eine breite Treppe nach oben, und durch eine offene Tür vor uns erblickte ich das Grün des Gartens. Jetzt wusste ich, warum Sebald Abbotsford geliebt hatte: Es ist einer jener ruhigen Orte, über die er schreiben würde, wo die Zeit stillzustehen scheint.

Wir traten durch die offene Tür, die in einen Salon führte — den Salon aus der kretischen Diashow vor langer Zeit, mit seinem großen Kamin und dem hohen Spiegel darüber. Dann gingen wir hinaus und spazierten herum, vorbei am Küchengarten, am Tennisplatz, an der großen Zeder an der Südwestseite. Alles, sagte ich, wie Sebald es beschrieben hatte! »Ja«, sagte Christine, »bis auf zwei Dinge. Erstens war es überhaupt keine Wildnis, keine Natur, »die unter dem Gewicht dessen, was ihr aufgeladen werde von uns«, in sich zusammensinke. »Meine Schwiegereltern hatten immer Gärtner gehabt, und es war ein vollkommen zivilisierter Ort.« Diese letzten Worte sagte sie ziemlich scharf.

Der andere Unterschied, sagte Christine, sei, dass keines der Fotos aus dem Garten in Abbotsford stammte. »Wirklich?«, fragte ich. Es habe sich nicht viel verändert, sagte Christine, ich könne mich selbst davon überzeugen. Wir gingen zurück zum Küchengarten und zum Tennisplatz, und ich schaute mir die Bilder in Die Ausgewanderten an. Sie hatte recht. Wahrscheinlich hatte Sebald damals einfach keine Fotos gemacht oder sie nicht aufbewahrt, sodass er andere finden musste, die dem nahekamen, woran er sich erinnerte. Insofern war jedes Foto von Prior’s Gate genauso gefälscht wie das erste, und sie waren nicht die »authentischen« Dokumente, als die Sebald die meisten seiner Fotos ausgab.4 Das Geheimnis der Geschichte blieb.

Wieder drinnen, schloss Christine eine Tür auf und führte mich in einen hellen, weißen Korridor. »Früher war es hier unglaublich schummrig und dunkel«, sagte sie, »mit nur einem Licht an jedem Ende und gelber Vinyltapete und dunkelblauem Linoleum auf dem Boden. Ich habe die alten Dienstbotenglocken an der Wand gelassen, ich habe es nicht übers Herz gebracht, sie zu entfernen.«

Ich schaute dorthin, wo sie hindeutete, und da waren die Schellen, genau wie Sebald es erzählt hatte. »Das war also…?«, setzte ich an. »Eileens Korridor«, sagte Christine. »Eileen?«, fragte ich. »Richtig«, antwortete Christine. »Das Dienstmädchen meiner Schwiegereltern, das Sebald in der englischen Ausgabe Elaine nannte (im deutschen Original heißt sie Aileen). Hier schob sie ihren Wagen von der Küche im Ostflügel bis ins Esszimmer im Westen. Dafür brauchte sie immer ewig. Bis sie das Essen an den Tisch gebracht hatte, war es immer kalt.«

Christine konnte mir die Wohnung der Sebalds nicht zeigen, die war belegt. Also setzten wir uns hin und redeten bei einer Tasse Kaffee.

»Ja«, sagte Christine, »Eileen war fast genau so, wie Sebald sie beschrieben hat; er hat nicht einmal ihren Namen so richtig geändert.5 Sie war ein seltsames, stilles Wesen, vielleicht ein bisschen einfältig. Aber sie war sehr loyal gegenüber meinen Schwiegereltern und diese ihr gegenüber.«

»Sebald war immer an seltsamen, exzentrischen Menschen interessiert«, sagte ich, »er fand, dass sie ein fantastisches Element ins Leben brachten.«

»Und sie waren ein guter Stoff für Satire«, sagte Christine, diesmal sehr scharf. »Er sagte, ihr Haar sei geschnitten wie das einer Verrückten, und sie habe vor sich hin gemurmelt …«

»Hat sie das?«, fragte ich.

»Manchmal«, antwortete Christine. »Aber das hätte er nicht sagen müssen.« Sie schob ihren Stuhl mit Nachdruck vom Tisch zurück und stand auf. »Ich zeige Ihnen, wo sie früher reingekommen sind«, sagte sie.

Wir gingen durch die Vordertür zurück und die gekieste Auffahrt entlang. »Die Sebalds bogen hier ein«, sagte Christine, »in einen kleinen Hof. Die Fenster da oben waren die ihren.«

Ich schaute hinauf, fast fürchtete ich, ich könnte sehen, wie sie herausschauten. Aber die Fenster waren in der späten Nachmittagssonne blind, wie die in der Geschichte. »Dort war früher die Außentreppe«, sagte Christine und zeigte auf sie. »Es gab also eine?«, fragte ich.

»Ja«, sagte sie, »wir haben sie vor Kurzem abgerissen, zusammen mit dem Badezimmer.«

Ich schaute sie an. »Das verrückte Badezimmer, das Sebald beschrieben hat, auf gusseisernen Säulen — das war doch sicher eine Fantasie?«

»Oh nein«, sagte Christine. »Er hat wie immer übertrieben — es gab keinen Steg, nur einen kleinen Treppenabsatz. Aber sonst war das Badezimmer genau so, wie er es gesagt hat. Es wurde hinzugefügt, als die Wohnung gebaut wurde, weil es kein Innenbad in der Nähe gab. Es war ein verrückter Bau, aber er hat fast siebzig Jahre gehalten. Sie haben ihn nur knapp verpasst.«

Das Bad war die erste Überraschung. Und es war das Gegenteil von dem, was Sebald uns erzählt hat, nämlich dass er nur unwesentliche Details erfunden habe. Es war ein unwesentliches Detail, aber es war nicht erfunden. Und wie sah es mit der anderen Seite der Medaille aus, seiner Behauptung, dass die wichtigsten Dinge in den Geschichten real waren?6 Wie passte das zu »Dr. Henry Selwyn«?

Gar nicht. Sebalds Vermieter und Freund in Abbotsford war tatsächlich Arzt, Naturforscher und ein zurückhaltender Mann von altmodischer Höflichkeit. Er war außerdem mit einer Schweizerin verheiratet, die praktischer veranlagt und sozial ehrgeiziger war als er selbst; er war groß und breitschultrig, aber gebückt, und er legte sich oft ins Gras seines Rasens, um ein Insekt, eine Pflanze, vielleicht sogar einen Grashalm zu untersuchen. Und er nahm sich, ein paar Jahre nachdem die Sebalds Abbotsford verlassen hatten, mit einem Jagdgewehr das Leben. Mit anderen Worten, er war fast genau wie Dr. Henry Selwyn, außer im wichtigsten Aspekt. Denn er wirkte nicht nur englisch, er war durch und durch Engländer. Er war in Cheshire geboren worden, nicht in Litauen, und er hatte keinen einzigen jüdischen Knochen in seinem Körper.

Nicht lange nach meinem Besuch in Abbotsford traf ich zwei weitere Mitglieder seiner engen Familie, seine Tochter Esther und deren Tochter Tessa. Und obwohl auch sie sich sträubten, ergänzten sie die Geschichte des echten Dr. Henry Selwyn.7 Sein Name war Philip Rhoades Buckton, stets bekannt als Rhoades. Sein Vater war ein Geistlicher; seine Mutter, Janey Edwards, stammte aus einer Familie, die in der Landwirtschaft klein begonnen hatte und als Besitzerin des größten englischen Molkereiunternehmens, Unigate, endete. Dementsprechend gab es auf dieser Seite der Familie eine ganze Menge Geld. Rhoades war 1901 geboren, also neun Jahre jünger als Dr. Henry Selwyn, und er war in den späten Sechzigern, nicht Siebzigern, als Sebald ihn kannte. Er war zu jung gewesen, um wie Dr. Selwyn im Ersten Weltkrieg zu dienen, und begann seine Karriere direkt nach dem Medizinstudium. In der Zwischenzeit hatte eine von Janeys Schwestern einen Deutschen geheiratet, der eine Nichte namens Mädi (kurz für Mädchen) hatte. Durch diese familiäre Verbindung lernte Rhoades Mädi kennen, und Dr. Selwyn fand seine Schweizer Frau.

1946 kaufte Dr. Buckton zusammen mit seinen Edwards-Tanten Abbotsford und praktizierte dort über zwanzig Jahre lang als menschlicher und beliebter Arzt. Er und Mädi lebten nicht das prunkvolle Leben, das Sebald den Selwyns gab, sondern ein zivilisiertes. Sie veranstalteten musikalische Abende, bei denen Mädi Klavier spielte und Rhoades mit seiner tiefen Bassstimme sang. Er inszenierte Shakespeare im Garten und Mysterienspiele in der Abtei; als er MolièresDer eingebildete Kranke auf die Bühne brachte, übersetzte er es selbst. Er passte nicht wirklich zum behäbigen Adel Norfolks. Dennoch konnte er mit seinem schönen Haus, seinem vornehmen Auftreten und seinem Norfolk-Tweed wie der örtliche Gutsherr wirken. Mädi dürfte das gefallen haben. Sie jagte und strebte danach, in die örtliche Gesellschaft aufgenommen zu werden, aber Rhoades hatte daran kein Interesse.

Keiner aus seiner Familie bemerkte bei ihm die Melancholie, die Sebald an Dr. Selwyn beschreibt. Er liebte seine Praxis, sagen sie, seine Kinder, die Kirche, Vögel und Insekten und Wildblumen. Als die Sebalds 1970 ankamen, war er bereits im Ruhestand, und seine Kinder waren erwachsen und aus dem Haus. Aber er hatte immer noch den Rest, besonders die Vögel und Insekten und Wildblumen, die er mit seinem Freund Ted Ellis teilte, einer bekannten Persönlichkeit aus Norfolk, den Sebald sehr getreu in Edwin Elliott verwandelte. Ted war ein kleiner, schmächtiger Mann mit einem dürren Hals und vor Leben sprühenden Augen und einem enormen Wissen über die natürliche Welt. Er und Rhoades unternahmen zwei gemeinsame Botanik- und Entomologiereisen nach Kreta, bei denen sie auf einer beinahe ihr Flugzeug in Athen verpasst hätten, weil Ted verschwunden war. Er wurde gerade noch rechtzeitig auf einem nahe gelegenen Hügel entdeckt, wo er Blumen sammelte.

Die Familie erinnert sich, dass sich Dr. Buckton und seine Frau, wie auch Dr. Selwyn und seine Frau, langsam auseinanderlebten. Auch sie waren sehr unterschiedlich: Rhoades der Träumer, Mädi die Macherin. Ihre Mutter habe Partys gemocht, sagt Esther, ihr Vater interessante Menschen. Mädi war extravagant begabt — eine Pianistin auf Konzertniveau, in ihrer Jugend eine große Eisläuferin, eine Reiterin, Seglerin und Tennisspielerin. Christine nennt sie »ein Feuerwerk«; Esther sagt, sie sei »temperamentvoll und anstrengend« gewesen. Tessa sagt, sie war herrisch und eine gute Geschäftsfrau, wie Hedi Selwyn. Sie war zu viel für ihre Kinder, sagt Esther; und zu viel, das ist klar, für ihren ruhigen Ehemann.

Keiner weiß, warum Rhoades Buckton sich erschossen hat. Er hat keinen Abschiedsbrief hinterlassen und sich nie bei jemandem beschwert. Aber vielleicht wurde er gegen Ende ein bisschen mürrisch, sagt Tessa. Die Arthritis in seinen Knien war so schlimm geworden, dass er nicht mehr durch seinen Garten laufen konnte, sondern auf seinem großen schwarzen Fahrrad herumfahren musste. Mädi drängte ihn, Abbotsford ihrem Sohn Stephen zu überlassen. Aber Rhoades wollte sein Zuhause nicht verlieren. Christine, die selbst Ärztin ist, nennt noch einen weiteren Grund. Ärzte hätten eine andere Vorstellung vom Tod, sagt sie. Wir sehen so viel davon, er scheint einfach ein Teil der Dinge zu sein.

Rhoades Buckton auf Kreta, 1970. Mit seinem Netz sieht er aus wie Nabokov (siehe Die Ausgewanderten, S. 27).

Esther, die jetzt in ihren Achtzigern ist, stand ihrem Vater sehr nahe. »Ich war am Boden zerstört ob seines Todes«, sagte sie mir, »und bin es immer noch.« Ich erinnere mich daran, was Sebald sagte, als er für seine Bücher mit Menschen über die Vergangenheit sprach: Man könne nicht sicher sein, ob man nicht vielleicht Schaden anrichte.8 Ich hoffe, dass ich Esther keinen Schaden zugefügt habe, aber sicher kann ich mir da nicht sein. Wie ihr Vater würde sie sich nicht beschweren.

Tatsächlich zögerte die ganze Familie Buckton, mit mir zu sprechen; nicht so sehr, weil es ihnen Schaden zufügen könnte, sondern weil Sebald es bereits getan hatte. Hier stieß ich zum ersten Mal auf das, was ich immer wieder bei den Vorbildern für seine Fiktionen entdecken sollte: Sie waren alle wütend. Menschen, die sich für Zwecke der Kunst benutzt fühlen, sind es fast immer. Aber die Kraft von Sebalds Geschichten, die Treue zu ihren Vorbildern und vor allem der Realitätsanspruch, den die Fotografien implizieren, machten das noch schlimmer als sonst.

Tessa erinnerte sich noch sehr genau an die Erfahrung. Ein Freund rief an und sagte: »Hast du dieses neue Buch gesehen? Es handelt von deinem Großvater!« Tessa stürzte los und kaufte The Emigrants