Wa(h)re Gesundheit - Krystian Manthey - E-Book

Wa(h)re Gesundheit E-Book

Krystian Manthey

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Beschreibung

Jeder möchte bei bester Gesundheit alt werden. Die Wenigsten haben jedoch das "Glück". Doch ist es tatsächlich Glück? Wieso bekommen heutzutage Jugendliche und Kinder immer häufiger bereits Alterskrankheiten wie Diabetes Typ 2 oder Arthritis? Und wieso bleiben die meisten Naturvölker von den sogenannten Zivilisationsleiden weitestgehend "verschont"? Trotz fast täglichen Sports plagten den Autor Krystian Manthey selbst jahrelang quälende und alltagseinschränkende Rückenschmerzen – beginnend im Alter von 14 Jahren. Genervt vom ergebnislosen Ärztemarathon ergriff er Eigeninitiative. In verständlicher Sprache beschreibt der Medizinredakteur die Mechanismen, die uns Menschen krank oder gesund machen, und gibt praktische Alltagshilfen, Übungen, Recherche-Tipps und Wegweiser für ein gesünderes Leben an die Hand. Im vorliegenden Gesundheitskompass kombiniert der Autor sorgfältig recherchierte kritische Betrachtungen zum aktuellen Gesundheitssystem und zu den modernen Zivilisationskrankheiten mit einem Gesundheitsratgeber zur Ursachenforschung, zu Standard,- Komplementär- und Alternativtherapien sowie ausgewählten Präventionsmöglichkeiten. Dieses Buch richtet sich an alle, die die Verantwortung für ihre Gesundheit zunächst einmal in die eigenen Hände nehmen möchten, sie nicht an irgendwelche Personen oder Institutionen abzugeben bereit sind. Es liefert den Leser*innen das nötige Rüstzeug, um kritische Fragen zu stellen und selbst über die für sich richtige medizinische Behandlung zu entscheiden.

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KRYSTIAN MANTHEYWA(H)RE GESUNDHEIT

Krystian Manthey

Wa(h)re Gesundheit

Lektorat: Dr. Richard Reschika

Umschlaggestaltung: Gesine Beran, Turin

Coverfoto: © © shutterstock | Kenishirotie |

 Serega K Photo and Video | j.chizhe

Innenteil, Layout/Satz: Wilfried Klei

© Kamphausen Media GmbH, Bielefeld 2021

[email protected] | www.kamphausen.media

ISBN Printausgabe: 978-3-95883-543-6

ISBN E-Book: 978-3-95883-544-3

1. Auflage 2021

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese

Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;

detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über

http://dnb.de abrufbar.

Weitere Informationen hierzu finden Sie unter www.kamphausen.media

Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Funk, Fernsehen undsonstige Kommunikationsmittel, fotomechanische oder vertonte Wiedergabesowie des auszugsweisen Nachdrucks vorbehalten.

KRYSTIAN MANTHEY

DER GESUNDHEITSKOMPASSIM THERAPIE-DSCHUNGEL

Mit diesem Buchkauf unterstützt du den Wandel zu einer nachhaltigen Gesellschaft, denn 80% meines Honorars spende ich an …

Schule im Aufbruch ist eine Initiative für ganzheitliche und transformative Bildung, die zu mehr Potenzialentfaltung unserer Kinder führen soll. Wir wollen Schulen, die die angeborene Begeisterung und Kreativität von Kindern und Jugendlichen erhalten und fördern. Dafür bedarf es einer neuen Lernkultur, vielfältiger Lernformate und einer wertschätzenden Haltung. Was wirklich zählt: Vertrauen, Wertschätzung, Beziehung, Verantwortung, Sinn.

Mehr unter: www.schule-im-aufbruch.de/

Eden Reforestration Projects ist eine global agierende, erfahrene NGO, die brachliegende Flächen wieder aufforstet. Für die Bepflanzung und anschließende Pflege der Wälder wird die lokale Bevölkerung mit fairer Bezahlung beschäftigt. Dadurch hilft das Projekt, extrem arme Regionen der Welt nachhaltig zu unterstützen.

Mehr unter: edenprojects.org/user/krystianmanthey/

Vorwort von Gerald Hüther

„Wissen ist Macht“

Meine (Krankheits)Geschichte

Fortschritte der Medizin: Fluch oder Segen für unsere Gesundheit?

Krankes Deutschland: Hohe Lebenserwartung, hohe Krankheitserwartung

Mehr Kranke als Gesunde: Fehler im System?

Ursache für Krankheiten: Unveränderbare Gene?

Schmerzen: Etwas Positives?

Hauptursachen fast aller Krankheiten

Bewegungsmangel: Zum Laufen geboren!

Sport ist Mord?

Fußfehlstellungen: Hightech und High Heels machen krank!

Stress: Gut oder schlecht?

Schlechter Schlaf: Sind acht Stunden normal?

Ernährung: Lebensmittel versus Nahrungsmittel

Umweltgifte: Unsichtbare Gefahr!

Die häufigsten Zivilisationskrankheiten

Herz-Kreislauf-Erkrankungen

Erkrankungen des Bewegungsapparates

Krankheiten der Sinnesorgane

Tumore

Psychische Leiden

Demenz

Stoffwechselstörungen

Lungenerkrankungen

Autoimmunerkrankungen

Was wir für Gesundheit halten und was sie wirklich ist

Gesundheit und Krankheit aus Sicht der evolutionären Medizin

Selbstheilung: Dein „innerer Arzt“ heilt, nicht der Doktor

Artgerechte Menschenhaltung im 21. Jahrhundert

Der Schlüssel für ein gesundes und langes Leben

Zusammenfassung

Danksagung

Empfehlenswerte Bücher, Websites und Co.

Literaturverzeichnis

Über den Autor

Vorbemerkung

Im Sinne des Gleichstellungsgedankens mögen Personalbezeichnungen wie Patient im weiteren Verlauf des Buches bitte im Sinne von Patient*innen verstanden werden, um neben dem weiblichen und männlichen Geschlecht auch alle Menschen zu inkludieren, die sich nicht zu einem der beiden Geschlechter zugehörig fühlen.

Haftungsausschluss

Diese Veröffentlichung ersetzt keine ärztliche Konsultation oder Untersuchung. Autor und Verlag übernehmen keine Haftung oder Verantwortung für mögliche Schäden aus der Benutzung dieser Informationen. Entscheidungen für oder gegen eine ärztliche Behandlung liegen in der Eigenverantwortung jedes Lesers. Dieses Buch hat nicht die Absicht, dich von einem Arztbesuch abzuhalten oder dein Verhältnis zum Arzt deines Vertrauens zu belasten, wohl aber, dass du alle Informationen, die du dort erhältst, kritisch auf Sinn und Absicht hinterfragst. Auch auf dem Gebiet der Wissenschaft gilt die freie Meinungsäußerung, die nicht durch Wirtschaftsgruppen, Verbände oder Interessengruppen unterbunden werden darf.

Der Verlag weist darauf hin, dass im Text enthaltene externe Links nur bis zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung eingesehen werden konnten. Auf spätere Veränderungen hat der Verlag keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags für externe Links ist stets ausgeschlossen.

„Die Gesundheit ist zwar nichtalles, aber ohne Gesundheit istalles nichts.“

Unbekannter Autor

Vorwort von Gerald Hüther

Dieses Buch von Krystian Manthey ist das Beste und Fundierteste, was ich bisher unter den zahlreichen kritischen Beiträgen über unser gegenwärtiges Gesundheitssystem gelesen habe. Das alles zusammenzutragen muss enorm mühsam und aufwendig gewesen sein. Und es so behutsam, leicht verständlich und kaum angreifbar zu formulieren ist eine hohe Kunst. Deshalb bin ich froh, dass der Kamphausen Verlag es nun einer breiten Öffentlichkeit zugänglich macht. Und ich verbinde damit drei Hoffnungen: Die erste besteht darin, dass es möglichst vielen Lesern die Augen dafür öffnet, dass es nicht möglich ist, die Aufrechterhaltung ihrer Gesundheit an irgendwelche Personen oder Einrichtungen abzugeben. Zweitens hoffe ich, dass unter den im Gesundheitswesen beschäftigten Personen eine Debatte darüber in Gang kommt, was es bedeutet, erkrankte Menschen so zu begleiten, dass sie wirklich wieder gesunden und nicht nur als wieder „arbeitsfähig“ entlassen werden, um in die Gesellschaft eingegliedert werden zu können. Dazu gehört auch eine Klärung der Frage, was ein modernes Gesundheitssystem zu leisten vermag und was nicht. Und meine dritte Hoffnung besteht darin, dass die Leserinnen und Leser durch die Lektüre dieses Buches in die Lage versetzt werden, kritische Fragen zu stellen, und Argumente zur Hand haben, um nicht jede medizinische Behandlung schicksalhaft über sich ergehen zu lassen. Selbst denken zu können gehört ja zu den Herausstellungsmerkmalen unserer Spezies. Und erst diese Fähigkeit macht es uns möglich, uns selbst und das, was wir für unsere Gesunderhaltung brauchen, in Zukunft möglicherweise etwas besser zu verstehen als bisher.

Wir Menschen sind ja sonderbare Wesen. Keinem Tier und erst recht keiner Pflanze muss erklärt werden, was es oder sie tun sollte, um gesund zu bleiben. Sie alle, die Sonnenblumen und Kuckuckslichtnelken, die Grashüpfer und Nacktschnecken, die Dachse und Iltisse, ja sogar die Affen wissen von ganz allein, was ihnen guttut und was sie brauchen, um möglichst lange gesund zu bleiben, einen Fortpflanzungspartner zu finden und Nachwuchs zu bekommen. Ihre über viele Generationen durch Mutation und Selektion optimierten genetischen Programme steuern die Herausbildung ihrer körperlichen Merkmale, die Regulation ihres Stoffwechsels, die Entwicklung ihres Gehirns und damit auch ihr jeweiliges Verhalten ganz von allein.

Wir stammen zwar von tierischen Vorfahren ab, sind aber doch ganz anders als sie unterwegs. Der Grund dafür ist unser zeitlebens lernfähiges Gehirn. Mit dem können wir so gut wie alles lernen, was uns andere Menschen beibringen, und noch besser all das, was sie uns tagtäglich selbst vorleben. Leider gehört dazu auch vieles, was uns später krank macht. Wir wissen nicht von allein, was gut für uns ist. Wir müssen es erst im Lauf unseres Lebens herausfinden, jeder und jede Einzelne, aber auch wir alle zusammen. Und wer nicht aus sich selbst heraus weiß, wo es langgeht, kann sich eben auch allzu leicht auf seiner Suche nach einem glücklichen, erfüllten und gesunden Leben verirren. Leider bemerken wir das aber oft erst dann, wenn es zu spät ist und wir bereits krank geworden sind. Denn hier liegt der große Unterschied zwischen uns und den Tieren und Pflanzen. Im Gegensatz zu ihnen lassen wir uns nicht von den aus dem eigenen Körper kommenden Signalen und natürlichen Empfindungen leiten, sondern von irgendwelchen Vorstellungen, die wir von anderen übernommen oder die wir uns selbst zusammengebastelt haben. Wir leben nicht so, wie wir sollten, um gesund zu bleiben, sondern wir leben so, wie wir das aufgrund dieser Vorstellungen für richtig halten. Selbst dann, wenn uns das danach gestaltete Leben krank macht.

Diese Vorstellungen bestimmen – und das macht Krystian Manthey sehr eindringlich im Kapitel über die Hauptursachen unserer sogenannten Zivilisationskrankheiten deutlich – den sich in der gegenwärtigen Welt ständig weiter ausbreitenden Lebensstil und die daraus erwachsenen und damit einhergehenden krank machenden Gewohnheiten. Um das zu erreichen, wovon so viele glauben, es mache sie glücklich, sind Menschen dazu bereit – und haben es meist auch allzu gut gelernt –, völlig lieblos mit sich selbst und mit anderen umzugehen. Manche sind auf der Suche nach möglichst viel Anerkennung, Erfolg, Reichtum und Besitz lieblos geworden. Anderen war es besonders wichtig, alles im Leben zu optimieren und zu kontrollieren, oft sogar sich selbst. Auch das hat sie dazu gebracht, lieblos mit sich selbst umzugehen. Manche wünschen sich, von anderen gebraucht, von ihnen beschützt und umsorgt zu werden. Aber wer die Verantwortung für sich selbst an andere abgibt, handelt nicht liebevoll, sondern verantwortungslos.

Die meisten dieser Vorstellungen sind bestenfalls dazu geeignet, das krank machende Leben, das so viele Menschen führen, noch ein paar Jahre länger auszuhalten. Es gibt sehr viele Zeitgenossen, die ihre Freude, ihre Lebendigkeit und alle spielerische Leichtigkeit hinreichend nachhaltig und oft über viele Jahre hinweg unterdrückt haben, um so perfekt wie möglich zu funktionieren: als Lebenspartner, als Kind ehrgeiziger, oft auch noch zerstrittener Eltern, im ständigen Wettbewerb um Bedeutsamkeit, Macht, Einfluss und die besten Positionen – in der Schule, im Berufsleben und oft auch in allen anderen Bereichen unseres Zusammenlebens. Weil so viele Menschen lieblos mit sich selbst umgehen, werden so viele von ihnen krank.

Was uns krank macht, sind nicht die psychischen Belastungen und körperlichen Abnutzungserscheinungen. Krank werden wir, weil wir unser Leben nach Vorstellungen gestalten, die uns krank machen. Um gesund zu bleiben, müssten wir uns also von diesen Vorstellungen befreien. Dazu werden wir allerdings erst dann imstande sein, wenn wir etwas finden, vielleicht auch einfach nur wiederfinden, das für uns bedeutend wichtiger und anziehender ist als all die bisher von uns verfolgten, verwickelten und krank machenden Vorstellungen und alle dafür eingeübten ungesunden Gewohnheiten.

Göttingen, Weihnachten 2020

Dr. Gerald Hüther

„Wissen ist Macht“

Dieses Buch ist all jenen gewidmet, die unter Zivilisationskrankheiten wie Rückenschmerzen, Bluthochdruck oder Diabetes leiden und auf Besserung ihres Zustandes hoffen. Es richtet sich aber zugleich an alle, die ihre Gesundheit bis ins hohe Alter erhalten möchten.

Komplexe biologische Abläufe im Körper und wissenschaftliche Erkenntnisse der verschiedensten medizinischen Fachrichtungen werden leicht verständlich aufbereitet. Das Buch soll dir dabei helfen, deinen Körper und die Mechanismen, die ihn krank oder gesund machen, zu verstehen, und dir Werkzeuge an die Hand geben, dieses Wissen auch tatsächlich anzuwenden – für ein langes und gesundes Leben. Denn erwiesenermaßen kann ein jeder zur eigenen Gesundung effektiver beitragen, wenn er die Hintergründe seiner Beschwerden versteht.

Im ersten Teil widme ich mich zunächst dem Gesundheitssystem, das leider aktuell eher als Krankheitssystem bezeichnet werden sollte, und den Möglichkeiten, wie du es dennoch für dich nutzen kannst. Anschließend werfe ich einen Blick auf die Gene und kläre danach die wichtigen Fragen: Was ist Schmerz, warum gibt es ihn und wie kann er dir dabei helfen, gesund zu werden? Damit lege ich die Grundlage, um die Hauptursachen und -risikofaktoren von Zivilisationsleiden zu verstehen. Im darauffolgenden Kapitel analysiere ich die häufigsten Volkskrankheiten, beleuchte die Ursachen zum besseren Verständnis nochmals im Detail und zeige dir mögliche Heilungswege auf. Schließlich nehme ich dich mit auf eine philosophische Reise zum Thema „Was ist Gesundheit?“ und zeige dir, wie du dein Gesundheitswissen auch tatsächlich umsetzen und deinen inneren Schweinehund an die kurze Leine nehmen kannst.

Dieses Buch soll ausdrücklich kein Ersatz für den Besuch bei einem Arzt deines Vertrauens sein, sondern als Ergänzung dienen und dich in erster Linie dazu befähigen, deine Gesundheit aktiv mitzugestalten und die richtigen Fragen – an dich selbst und deinen Arzt – zu stellen.

Alle wichtigen Aussagen sind für tiefer gehende Recherchen und zur Untermauerung von Untersuchungen und Fakten mit genauen Quellen belegt. Wo Studienangaben fehlen, beziehe ich mich notgedrungen auf den gesunden Menschenverstand sowie auf Erfahrungsberichte von Ärzten, Therapeuten und Betroffenen.

Hierzu sei darauf hingewiesen, dass bekanntlich zu jeder Meinung eine Studie existiert, und umgekehrt. Zudem sind viele Studien verfälscht durch Placebo- und Selbstheilungseffekte (dazu später mehr) sowie durch Interessenkonflikte. Auch wenn die Auswertungen einer großen Anzahl randomisierter Doppelblindstudien durch sogenannte Metaanalysen tatsächlich sehr aussagekräftig sind, können sie doch nur für den Durchschnitt aller Menschen und nicht vollumfänglich für den Einzelnen, also für dich, gelten.

Dieses Buch ist das Ergebnis mühevoller, jahrelanger Recherche. Ich habe meine ganz persönlichen Erkentnnisse und Konsequenzen daraus gezogen, und das empfehle ich auch dir. Übernimm nicht einfach meine Meinung, sondern mache dir dein eigenes Bild von der Welt und hinterfrage dieses immer wieder. Denn, wie man so schön sagt: „Man lernt nie aus“ – das gilt auch für die Wissenschaft.

„Wir sprechen über den Stand des Wissens – und gleichzeitig über den aktuellen Stand des kollektiven Irrtums.“1

– Dr. Eckart von Hirschausen, Arzt, Komiker, Wissenschaftsjournalist und Gründer der Stiftung „Gesunde Erde – Gesunde Menschen“

Da auch ich noch nicht im Besitz der Fehlerfrei- oder Allwissend-Pille bin, möchte ich mich vorab – trotz größter Sorgfalt – für Ungenauigkeiten und Schlampereien entschuldigen. Natürlich wird mancher auch den ein oder anderen Fakt, eine spezielle Behandlung oder diesen oder jenen Guru vermissen. Deshalb erhebt dieses Buch ausdrücklich nicht den Anspruch, der Weisheit letzter Schluss zu sein. Vielmehr soll es dir die aktuelle Situation des Gesundheitssystems und seiner Ungereimtheiten aufzeigen und dich in erster Linie inspirieren und dir helfen, deine Gesundheitsprobleme in Eigenregie weiter zu ergründen. Das schließt den Rat von Ärzten, Trainern und Therapeuten nicht aus, sollte aber nicht alleinig auf deren „Weisheiten“ basieren. Menschen oder Ratgeber, die behaupten, den Universalschlüssel für ein Problem gefunden zu haben, sind dabei grundsätzlich mit Vorsicht zu genießen.

Besonders hervorheben möchte ich, dass ich weder für noch gegen die Schulmedizin bin. Genauso wenig bin ich für oder gegen die Alternativmedizin. Ich bin für die Gesundheit eines Menschen, und mir ist es egal, aus welcher „Ecke“ die dafür nötige Erkenntnis oder Therapie kommt.

Meine Bitte: Wenn du gerade vorhattest, direkt zu den Übungen und Tipps zur Bekämpfung deiner Krankheit zu springen, nimm dir die Zeit und lies das komplette Buch. Du tust dir andernfalls keinen Gefallen und verringerst die Chance, tatsächlich gesund zu werden. Denn ohne das notwendige Hintergrundwissen und das Verstehen gesamtgesellschaftlicher Probleme und bio-psycho-sozialer Prozesse, die zu den Erkrankungen geführt haben, werden dir elementare Bausteine zu deiner Gesundung fehlen.

Wissen ist bekanntlich Macht. Im konkreten Fall: Macht über den Zustand deines Körpers und deines Geistes.

Meine (Krankheits-) Geschichte

Mein Name ist Krystian Manthey. Ich trage keinen weißen Kittel, bin weder Naturheiler noch Sportwissenschaftler, kein Trainer von Milliardären, Fußballstars oder Staatschefs. Und auch kein Forscher einer geheimen Abteilung der Weltgesundheitsorganisation. Ich kann weder durch Wände gehen noch Wunderheilungen vollbringen.

Ich bin wie du – ein ganz normaler Typ. Und wie fast jedem normalen Typen tut auch mir manchmal das Knie oder der Nacken weh. Ich lebe mal gesund, mal weniger gesund, esse mal selbst gezogenes Bio-Gemüse oder auch lecker fettige Pommes. Wie fast jeder rannte auch ich den Versprechen hinterher, dass diese eine Übung, dieses eine Nahrungsergänzungsmittel oder jene Wundersalbe meine Schmerzen dauerhaft lindern könnten.

Auch meine Vorsätze ließen sich sehen: Sport, Rückenschule, Dehnübungen, gesunde Ernährung und Autogenes Training – am besten alles gleichzeitig und in 20 Minuten. Am Ende der Woche jedoch landete ich entweder motivationslos vorm Fernseher oder war so gestresst, dass ich noch mehr gesundheitliche Probleme bekam.

Warum nun glaube gerade ich, dir helfen zu können?

Durchschnittlich zehn Jahre irrt der deutsche Schmerzpatient durch das Gesundheitssystem, ohne dass seine Schmerzen spürbar und dauerhaft gelindert werden können. Bei mir waren es zwölf Jahre. Geholfen haben mir letztlich weder Arzt, Gesundheitsexperte, Trainer noch Zen-Meister. Nicht die Medizin, Operation oder brandneue Behandlung. Letztlich war es das Auseinandersetzen mit mir und meinem Körper, das Lesen vieler Stapel Bücher und wissenschaftlicher Studien sowie das Ausprobieren unzähliger Behandlungen und das Austauschen mit Menschen, die ihre Krankheiten und Beschwerden in den Griff bekommen haben. Gesund wurde ich durch Wissen und Erkenntnisse.

Beides zu erlangen ist sehr mühselig. Mich hat es zwölf Jahre „gekostet“, und ich bin noch immer nicht allwissend (das ist keiner!), nicht 100 Prozent schmerzfrei und immer noch kein Guru, der die Weisheit mit Löffeln gefressen hat. Ich bin ein ganz normaler Typ, der dir dabei helfen will, die richtigen nächsten Schritte zu lang anhaltender Gesundheit bis ins hohe Alter zu gehen, und der dir den Weg zu diesem wichtigen Wissen erleichtert.

Und für diesen Weg brauchst du nicht zwangsläufig einen Mediziner. Zweifelsfrei sind unser Gesundheitssystem und unsere Ärzte elementar wichtig und haben definitiv ihre Daseinsberechtigung. So bin ich überaus dankbar dafür, dass mein heftig entzündeter Blinddarm von Schulmedizinern entfernt wurde und Orthopäden die fachgerechte Heilung meiner beim Fußballspielen zugezogenen Knochenbrüche ermöglicht haben. Für die meisten Volkskrankheiten brauchst du jedoch keinen Arzt, und schon gar keinen, den du als allwissend in den Himmel hebst. Du brauchst ein ganzheitliches Wissen und Verständnis, um die wahre Ursache deiner Beschwerden zu bekämpfen.

Und dazu benötigst du keine nobelpreiswürdige Intelligenz, weder unglaublich viel Zeit noch übermenschliche Willenskraft, auch keinen Feenstaub, und den Kobold am Ende des Regenbogens musst du auch nicht finden. Was du brauchst, ist ein richtiger Anstoß. Ich hoffe, dieses Buch kann dir ein Augenöffner und erster Wegweiser sein.

Zwar werden meine Vorschläge nicht jedem in gleichem Maße helfen können, denn der Mensch ist ein Individuum, viel zu vielfältig, als dass die eine Lösung existieren könnte. Aber meine Hinweise haben bisher auch niemandem geschadet.

Wenn du also seit Langem nach Antworten suchst, weil deine Beschwerden dir Lebensenergie und Motivation rauben, lies dir meine Erkenntnisse durch und entscheide selbst, welche davon für dich geeignet sind. Was hast du zu verlieren?

Ich möchte dir zu Beginn jedoch auch noch den Rat, den einst Buddha seinen Schülern und Anhängern stets ans Herz legte, mit auf den Weg geben: „Glaubt mir nicht, überprüft alles und probiert es selbst aus. Und wenn ihr für euch selbst herausgefunden habt, dass etwas für euch gut und förderlich ist, dann folgt ihm. Und wenn ihr für euch selbst herausgefunden habt, dass etwas für euch nicht gut und förderlich ist, dann lasst es bleiben.“

Fortschritte der Medizin: Fluch oder Segen für unsere Gesundheit?

„Wir irren uns empor.“

– Prof. Dr. Gerhard Vollmer (vermutlich entsprungen aus Diskussionen mit seinem Kollegen Odo Marquard), Philosoph und Physiker

Die Medizin hat die DNA entschlüsselt, kann Fingerkuppen nachwachsen lassen und Lebewesen klonen. Wie kann es dann aber sein, dass allein etwa 83 Prozent der über 18-jährigen Deutschen mindestens einmal jährlich – und teils seit Jahrzehnten – an Rückenschmerzen leiden und die Ursache (meist) nicht gefunden werden kann?1 Müsste die Zahl der Schmerzpatienten nicht längst abgenommen haben? Noch vor 30 Jahren gab es fast keinen Schmerztherapeuten und heute sind bundesweit mehrere Tausend flächendeckend aktiv!

Entwicklung der Arztdichte im Vergleich zum Anstieg der Rate an Muskel-Skelett-Erkrankten in Deutschland2

Jährlich klagen mehr Menschen über Probleme. Nahezu jeder Deutsche hat irgendein Gebrechen: Schmerzen, Verschleißerkrankungen, Stoffwechselprobleme – und das oft schon von Jugend an. Durchschnittlich 17 Mal geht jeder von uns jährlich zum Arzt.3 Doch statt dauerhaft gesund zu werden, erwartet uns jedes Jahr aufs Neue das gleiche Spiel von vorn. Woran liegt das? Sind wir Menschen dazu verdammt, krank zu werden?

Das könnte man zumindest glauben, wenn man die aus allen Nähten platzenden Arztpraxen betritt. Häufigster Grund sind Beschwerden im Bewegungsapparat mit dem Spitzenreiter Rückenschmerzen.

Auch ich hatte Rückenschmerzen. Sie begannen im Alter von 14 Jahren und verschlimmerten sich schleichend. Das Ergebnis meines darauffolgenden Ärztemarathons war eine Flut an Diagnosen: Beckenschiefstand, Skoliose, Morbus Scheuermann und so weiter. Ich wurde gespritzt, beklebt, verrenkt, behandelt. Mit 16 waren meine Rückenschmerzen trotz regelmäßigem Sport chronisch und hatten an Intensität deutlich zugenommen. Schützt ein gesundes Leben also nicht vor Krankheit?

Damals glaubte ich, dass es das scheinbar nicht tut. Ich verdammte die Schmerzen, schob die Schuld den Genen zu. Meine nicht enden wollenden Schmerzen machten mich müde, depressiv und schränkten meinen Alltag ein.

Wer jedoch schon einmal von den Langlebigkeitszonen gehört hat, in denen die Menschen überdurchschnittlich alt werden und kerngesunde 100-Jährige auf den Feldern arbeiten, fragt sich, was diese Menschen anders machen.

Gibt es vielleicht doch den Schlüssel zur Gesundheit bis ins hohe Alter? Wenn ja, warum ist er in Ländern wie Deutschland scheinbar unbekannt?

Nur so viel vorab: Heute habe ich noch immer all die genannten irreversiblen Rückenschädigungen aus meiner Jugend. Schmerzen jedoch habe ich nur noch sehr selten, und wenn, weiß ich, was ich gegen sie tun kann. Denn …

„Ungeheilt ist nicht unheilbar.“

– Walter Ludin, Schweizer katholischer Theologe

Krankes Deutschland: Hohe Lebenserwartung, hohe Krankheitserwartung

Verbesserte Nahrungsmittelsicherheit, gestiegene Hygienestandards und medizinische Errungenschaften in der Vorbeugung (z. B. bestimmte Impfungen) und Therapie (z.B. Antibiotika) von Erkrankungen lassen unsere Lebenserwartung seit 1980 im Schnitt um über zehn Jahre steigen. Besonders Menschen in Wohlstandsgesellschaften profitieren davon – also auch wir Deutschen.

So hat ein 2015 in Deutschland geborenes Mädchen durchschnittlich 83 Lebensjahre vor sich; ein südafrikanisches Mädchen nur etwa 64 Jahre, allerdings hauptsächlich aufgrund schlechterer Hygiene- und Sozialhilfestandards in den Entwicklungsländern, und nicht vordergründig wegen schlechterer medizinischer Versorgung.1

Erkrankungen aus der vorindustriellen Zeit treten heutzutage wesentlich seltener auf und sind zudem kaum noch lebensbedrohlich – zumindest in den Wohlstandsgesellschaften. Gestiegen allerdings ist die Häufigkeit von Krankheiten, die zu früheren Zeiten eher unbekannt waren beziehungsweise selten auftraten.

Die häufigsten Volkskrankheiten in Deutschland im Jahre 2017 sind laut der Global Burden of Disease Study: Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Tumore, Muskel-Skelett-Erkrankungen (vor allem Rückenschmerzen), psychische Leiden, Atemwegserkrankungen, Stoffwechselstörungen (insbesondere Diabetes), Darmerkrankungen und Krankheiten der Sinnesorgane.2

So leiden Menschen reicher Länder wie Deutschland eher an Muskel-Skelett- und Herz-Kreislauf- sowie Stoffwechselkrankheiten. Menschen ärmerer Länder hingegen haben überwiegend (noch) mehr mit Infektionskrankheiten wie beispielswiese AIDS, Malaria oder Tuberkulose zu kämpfen.3

Dank unseres Wohlstands und Hygienestandards müssen wir Deutsche uns heute um solche bedrohlichen Infektionskrankheiten kaum noch Gedanken machen, da sie der Gesellschaft verhältnismäßig deutlich weniger Lebensjahre rauben als beispielsweise Diabetes. Verstehe mich nicht falsch: Ich leugne die Gefahr von beispielsweise Corona nicht und jeder Tote ist einer zu viel. Dennoch raubt uns dieses Virus nur einen Bruchteil der gesamtgesellschaftlichen Lebenszeit im Vergleich zum übermäßigen Zuckerkonsum oder Bewegungsmangel.

Und obwohl auch in technisch rückschrittlicheren Ländern Beschwerden wie Rückenschmerzen zunehmen, sind Muskel-Skelett-Erkrankungen in Industrienationen prozentual noch deutlich häufiger vorzufinden.4

Hinzu kommt, dass der Anteil der Deutschen, die an Rückenschmerzen leiden, beinahe jährlich zunimmt. So gaben laut des DAK-Gesundheitsreports von 2016 drei Viertel aller Berufstätigen an, mindestens einmal im Jahr Rückenschmerzen gehabt zu haben. 2013 war es „nur“ etwa jeder Zweite.5 Ähnlich rapide Anstiege sieht man auch bei all den anderen weiter oben genannten Volksleiden (siehe letzte Infobox).

Nach dem wissenschaftlichen Gesetz des Ursache-Wirkung-Prinzips muss es Gründe dafür geben. Nichts passiert einfach so! Warum also erkranken Menschen aus Industrienationen so viel häufiger als andere an Rückenschmerzen, Diabetes und Co.? Und warum steigt der Prozentsatz der Erkrankten fast jährlich?

Mehr Kranke als Gesunde: Fehler im System?

Die Global Burden of Disease Study untersuchte über 36.000 Quellen aus 188 Ländern, um den weltweiten Gesundheitszustand und dessen Entwicklung seit 1990 festzustellen. Das Ergebnis:

• 1990 waren die Menschen durchschnittlich ein Fünftel ihres Lebens krank. Etwa jeder Dritte hatte mehr als fünf Beschwerden.

• 2013 waren die Menschen schon ein Drittel (also 13 Prozent mehr) ihres Lebens krank. Mehr als 52 Prozent hatten mehr als zehn Krankheiten. Zudem stieg beispielsweise die Prozentzahl an Diabetes erkrankter Menschen um 43 Prozent an.1

Dieser Wandel wird von Wissenschaftlern auch als „Epidemiological Transition“ bezeichnet. Denn chronische Krankheiten lösen gegenwärtig Infektionskrankheiten als häufigste Todesursache ab. So sterben heute mehr Menschen an Bluthochdruck, Fettleibigkeit oder Diabetes als an AIDS oder Malaria.

Viele Wissenschaftler und Ärzte – darunter Peter Piot, einer der renommiertesten Virologen der Welt – halten diese Entwicklung für nicht nur besorgniserregend, sondern in gewisser Weise auch für zynisch, da sich eine solch hohe Sterblichkeit erst als Folge eines ungesunden Lebensstils ausgebreitet hat.2

Dieser rasche Anstieg ist besonders deutlich in reichen Ländern wie Deutschland zu beobachten. Aber auch unter diesen reichen Ländern unterscheidet Deutschland sich deutlich von den anderen: Viel häufiger als andere Nationen verschlägt es uns Deutsche zum Arzt – wir scheinen dauerkrank zu sein.3 Sogar so oft, dass es uns an Medizinern mangelt, um alle „Fälle“ mit der nötigen Zeit und in der benötigten Zeit zu behandeln. Wer hat nicht schon einmal darüber „geschimpft“, dass er stundenlang im Wartezimmer ausharren musste?

Dabei ist die Arztdichte in Deutschland deutlich höher als im weltweiten Durchschnitt.4 Trotzdem ist die Belastung der Ärzte so hoch, dass sie selbst zunehmend unter Stresserkrankungen wie Depressionen, Müdigkeit und Schlafstörungen leiden und somit selbst zu Patienten werden.5

Ein Problem besteht dabei im Folgenden: Oftmals geht der Deutsche wegen Bagatellen zum Arzt und nimmt so wirklich Kranken wichtige Behandlungszeit weg und zwingt die Ärzteschaft zu krank machenden Überstunden.6 Nicht selten ist man – ob für eine Überweisung oder die Krankschreibung – allerdings als Patient auch gezwungen, zum Arzt zu gehen. Das System selbst verursacht also allein durch seine Bürokratie, aber auch durch reißerische und aufbauschende Medienberichte unnötige Arztbesuche und Kosten. Allesamt Kosten, die die Gemeinschaft tragen muss und dadurch die Krankenkassenbeiträge in deren unnötigen Höhe mitverantwortet.

Wichtig: Im Zweifelsfall machst du alles richtig, wenn du zum Arzt gehst. Diese Zweifel jedoch auf ein Minimum zu reduzieren und im Zweifel die richtigen Fragen an deinen Arzt zu stellen, dabei soll dir dieses Buch helfen.

Offensichtlich fehlt uns das Wissen zum Verstehen des eigenen Körpers. Wir haben scheinbar vollkommen verlernt, die eigenen Körpersignale und -symptome richtig zu deuten. Verständlicherweise macht sich dann eine gewisse Panik breit, wenn der Körper nicht so funktioniert, wie er sollte, oder man – scheinbar unerklärliche – Schmerzen hat. Also braucht man Hilfe. Und wer ist der Helfer? Natürlich der Experte.

Nur Experten scheinen die Gesundheit oder Krankheit richtig beurteilen zu können (beziehungsweise zu dürfen). Was daraus folgt, ist so, als würdest du dich immer mithilfe eines Navigationsgerätes orientieren. Wenn du niemals mithilfe einer Karte gefahren bist, wirst du dich ohne Experten in Form der Technik nicht mehr orientieren können. Und wenn du nun all deine Körperdaten und -funktionen durch Schrittzähler, Pulsmesser und dem Paradigma „nur der Arzt kann heilen“ outsourct, kannst du folglich deinen Körper ohne Medizinapparate und ohne fremde Hilfe nicht mehr richtig einschätzen.

Was der Mensch über Jahrtausende ganz natürlich durch Selbstbeobachtung und -steuerung gemacht hat (und Tiere immer noch tun), ist nun von externen Faktoren abhängig. Wie aber soll ein Externer (der Arzt), der sich in Deutschland im Durchschnitt nur acht Minuten Zeit für dich nimmt (oder nehmen kann), all die Ursachen erkennen, die über die Jahre oder Jahrzehnte auf deine Krankheitsentstehung eingewirkt haben?

Der Gang zum Arzt kann daher meist keine dauerhafte Besserung deines Befindens bringen. Vor allem auch deshalb nicht, weil in unserem Gesundheitssystem fast ausschließlich die Reparaturmedizin zu Gange ist. So werden Symptome behandelt, statt Ursachen aufzudecken und zu beheben.

Ein einfaches Beispiel: Du bist erkältet und gehst zum Arzt. Dieser verschreibt dir Nasenspray, Hustenmittel – meist auf deine eigenen Kosten – und möglicherweise ein Antibiotikum. Dieses wirkt im Übrigen jedoch nur bei Bakterien, die meisten Erkrankungen werden aber durch Viren ausgelöst. Vielleicht helfen die ganzen Mittelchen tatsächlich gegen die Symptome, und deine Nase wird frei, dein Husten wird gelindert und die Gliederschmerzen verschwinden. Warum aber fragt keiner danach, was das Immunsystem dermaßen geschwächt hat, dass es die „Angreifer“ nicht unbeschadet abwehren konnte?

Fraglich ist außerdem, ob die Arznei dich tatsächlich schneller gesund macht.

„Eine Erkältung dauert ohne Behandlung eine Woche, mit Behandlung sieben Tage.“

– Altes Sprichwort

Teilweise werden Krankheitsverläufe durch Medikamente sogar verlängert oder gar verschlimmert. Denn es gilt: keine Wirkung ohne Nebenwirkung. Es ist unmöglich, an einer Stelle etwas zu verändern, ohne in einem komplexen System – ob Wetter oder Körper – auch unerwünschte Wirkungen an anderer Stelle zu entfachen.

Ich meine dabei nicht nur die direkten Nebenwirkungen einer Arznei. Die meisten Medikamente sind vor allem deshalb da, damit sich der Patient weniger krank fühlt, also in seiner Lebensweise so weitermachen kann wie bisher. Symptome, die den Patienten zu einer gewissen Schonung oder Lebensstiländerung animiert hätten, werden durch die Arznei unterdrückt und letztlich möglicherweise mit einer Verlängerung der Krankheit erkauft. Das ist auch völlig in Ordnung, wenn der Patient über diesen Zusammenhang aufgeklärt worden ist.

So kann es durchaus für den Einzelnen Sinn machen, wenn er beispielsweise vor einem entscheidenden Schritt seiner Karriere steht, aber eine akute Erkrankung ihn daran hindern würde. Das heißt: Eine Symptomunterdrückung könnte hier sinnvoll sein. Ist dies aber nicht der Fall, erzeugt diese Symptomunterdrückung ein unnatürliches Aktivitätsniveau (zum Beispiel Arbeit statt Ruhe), das Heilungsprozesse des Körpers erschwert. Versteh mich nicht falsch, ich bin nicht grundlegend gegen Medizin.

Wenn einem beispielsweise der Kopf vor Schmerzen fast zerspringt und man deshalb die so nötige Ruhe nicht findet, kann eine Schmerztablette unglaublich hilfreich sein. Aber der Glaube, dass Medikamente eine Krankheit heilen können, ist ein fataler Irrtum. Sie können richtig dosiert – wie im Fall der heftigen Kopfschmerzen – die Heilung unterstützen. Heilen aber kann weder Arzt noch Medizin, sondern allein dein Körper.

Außerdem sind einige der Krankheitssymptome durchaus hilfreich. Fieber ist zum Beispiel – als häufige Begleiterscheinung vieler Erkrankungen – ein Anzeichen für die Aktivität des Immunsystems. So werden schädliche Parasiten, Viren und Bakterien durch die erhöhte Temperatur geschwächt und die Immunabwehrzellen werden aktiver. Deshalb schwimmen kranke Fische in wärmeres Wasser und Eidechsen legen sich in die Sonne. Dadurch steigt ihre Körpertemperatur und sie steigern so ihre Immunabwehr.7 Fieber wird außerdem meistens von Appetitlosigkeit und hohem Schlafbedürfnis begleitet. Allesamt Funktionen, die die Selbstheilung unterstützen. Denn eine geringere Nahrungsaufnahme zum Beispiel reduziert die Eisenverfügbarkeit, die für Bakterien und Pilze lebensnotwendig ist. Eine sofortige Fiebersenkung ist daher nicht immer sinnvoll und schadet in der Regel mehr als sie nützt.8

Allerdings ist Fieber nicht immer eine nützliche Maßnahme des Körpers, um Eindringlinge abzuwehren. Denn manche Erreger – wie zum Beispiel die für Malaria – erhöhen ihrerseits das Fieber sogar, um den Wirt zu schwächen. So wird er anfälliger für Insektenstiche, weil er sich vor Erschöpfung nicht mehr wehren kann, und die Verbreitungswahrscheinlichkeit des Eindringlings steigt. In diesem Fall ist Fiebersenkung also sinnvoll.

Sei dir aber bewusst: Jede Arznei hat Nebenwirkungen. Jährlich sterben Schätzungen zufolge bis zu 60.000 Menschen aufgrund dieser Nebenwirkungen.9

Ein einfacher Hustensaft vermag dich nicht direkt ins Grab zu schicken. Dennoch sollte jede Medizin mit Bedacht eingenommen werden – und davon nur so viel, wie wirklich nötig ist. Oftmals reichen deine Selbstheilungskräfte aus, um gesund zu werden. Wie du diese stärkst und worauf es zu achten gilt, erfährst du später.

Vorsicht ist jedoch geboten, pauschal jegliche Medizin zu verweigern. Denn wie wir am Beispiel „Fieber“ gesehen haben, sind jede Störung und jeder Mensch ganz individuell zu betrachten. Es gilt immer, die Vor- und Nachteile einer Behandlung selbst und von einem Arzt genau abzuwägen und sich selbst zu informieren – denn es ist dein Körper, deine Gesundheit und dein Leben. Das Risiko trägst vor allem du, und nicht beziehungsweise nur bedingt der Arzt oder Therapeut. Viel zu oft allerdings vertrauen Patienten ihren Behandlern (oder ihrem Fernsehsender oder ihrer Zeitung) nahezu blind und wissen selbst kaum etwas über ihre Erkrankung. Wir blättern teils wochenlang Kataloge durch und durchforstern Internetseiten, wenn es um den Kauf eines neuen Möbelstücks, eines passenden Laptops oder eines perfekten Autos geht. Warum geben wir uns bei so vielen anderen Dingen so unglaublich viel Mühe, alles zu verstehen und das Beste für uns herauszuschlagen, aber tun dies beim wirklich Essenziellen, unserem Körper, nicht?

Ein weiterer Grund, warum wir krank werden: Wissen – insbesondere medizinisches – ist seit Dr. Google zwar in Unmengen und nahezu barrierefrei vorhanden. Doch überströmt einen meist eine Flut an möglichen Erkrankungen, die nur schwer differenzierbar und symptomatisch ähnlich sind. Hat man nun Kopfschmerzen aufgrund einer Verspannung oder eines Hirntumors? Das eine ist harmlos und schnell behandelbar. Das andere ist lebensbedrohlich und Furcht einflösend. Was habe ich denn nun? Ungewissheit und Angst sind jedoch nicht gerade förderlich für das eigene Wohlbefinden und können Krankheiten durch den sogenannten Nocebo-Effekt (d. h. einen negativen Placebo-Effekt) sogar verschlimmern. Die Kraft der Psyche kann durch Angst vor Symptomen also auch zur Zustandsverschlechterung führen und die Wahrscheinlichkeit für die gefürchteten Krankheiten erhöhen.10

Der Nocebo-Effekt entsteht auch durch unnötige Diagnosen von Körperwerten, die bisher keinerlei Beschwerden verursachten. Es verhält sich dabei ähnlich wie beim Bau einer neuen Straße, die mittelfristig mehr Fahrzeugverkehr ermöglicht, da ja nun mehr Platz vorhanden ist. Und so erzeugen (falsche oder für das eigene Wohlbefinden unwichtige) Diagnosen neue Ängste und neue Krankheiten beim Patienten.

Was passiert nun? Der Patient durchläuft zahlreiche Untersuchungen, teilweise über Jahre. Denn auch Ärzte stehen vor einem Labyrinth an Krankheiten, deren differenzierte Bezeichnungen auch noch stetig zunehmen. Gab es nach dem Zweiten Weltkrieg erst 106 verschiedene psychische Störungen, stehen im jetzt gültigen Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (DSM-5) bereits 374.11 Einen ähnlich dramatischen Anstieg verzeichnet das internationale Klassifizierungssystem der Krankheiten ICD (International Classification of Diseases and Related Health Problems).12

„Es gibt tausend Krankheiten, aber nur eine Gesundheit.“

– Ludwig Börne, deutscher Journalist und Literaturkritiker

Kleine Zwischenübung für deine Gesundheit:

Es wird Zeit, deinen Augen eine kurze Erholungspause zu gönnen.

Steh auf und begib dich zum Fenster. Sieh bewusst für mindestens 20 Sekunden in die Ferne. Kneife im Anschluss deine Augen ein paar Mal fest zusammen und löse die Spannung wieder.

Mit dieser kurzen, simplen Augenübung beugst du aktiv Sehstress und Spannungskopfschmerzen vor.

Auch die Körperwerte, ab denen Medikamente verschrieben werden, also ab denen man als behandlungsbedürftig gilt, haben sich in vielen Bereichen willkürlich – das heißt ohne wissenschaftlich eindeutige Grundlage – verändert. Das beste Beispiel dafür ist die Grenze für Bluthochdruck: Anfang der 90er-Jahre galten in Deutschland Werte von 160 zu 100 mmHg als behandlungsbedürftig. Dann wurden von der Deutschen Liga zur Bekämpfung von hohem Blutdruck die Grenzwerte auf 140 zu 90 mmHg herabgesetzt. Quasi über Nacht wurde die ursprüngliche Patientenzahl auf über 20 Millionen verdreifacht und der Bluthochdruck damit zu einer Volkskrankheit erklärt.

Seit wenigen Jahren werden sogar bereits Grenzwerte von 130 zu 80 mmHg diskutiert. Und in Amerika zählt man schon bei Werten von 120 zu 80 mmHg als prähypertensiv – also als von Bluthochdruck gefährdet – und darf medikamentös behandelt werden.13 War man im Jahr zuvor noch kerngesund, könnte man im Folgejahr per Diagnose nun als Kranker gelten – auch zum Wohle der Pharmaindustrie. Und dies, obwohl die Sterblichkeitsrate nachweislich nicht verbessert wird, wenn die Ziel-Blutdruckwerte auf unter 140 zu 90 mmHg gesenkt werden. Im Gegenteil: Die Gesundheit leidet sogar teilweise darunter.14 Beispiele wie diese finden sich zuhauf.

Ein Problem dabei ist Folgendes: Zwar basiert unser Land auf Gewaltenteilung – also eine strikte Trennung von Gesetzgebung, Rechtsprechung und Polizeigewalt –, nicht aber unser Gesundheitssystem. Hier herrschen extrem asymmetrische Marktverhältnisse. So ist ein Arzt Diagnostiker und Behandler zugleich. Er sagt, was gemacht werden muss, und „vollstreckt“ auch selbst. Sowohl in der Diagnostik als auch bei der Auswahl der Therapie existiert ein erschreckend großer – und für den Arzt größtenteils ungefährlicher – Spielraum. Und wo manch eine Behandlung oder Operation Zigtausende Euro einbringt gegenüber einer konservativen Behandlung, ist die Versuchung bei dem ein oder anderen Arzt einfach zu groß, Untersuchungsergebnisse drastischer darzustellen oder gar umzudeuten.

„Operationen werden einerseits sehr gut bezahlt, und wir haben zu viele Operateure. Gerade in der Orthopädie und in der Neurochirurgie sind immer mehr Leute auf den Rücken spezialisiert. Das hat Folgen: Die Menge der Operationen korreliert stark mit der Menge der Operateure.“15

– Professor Marcus Schiltenwolf in einem Spiegel-Interview

Dies ist einer der Gründe, warum die Kosten für unser Gesundheitswesen seit 1950 mit zwei Millionen Umsatz auf heute etwa 5,5 Milliarden gestiegen sind und unfassbare zwölf Prozent des Bruttoinlandsproduktes ausmachen.16 Auch die eine oder andere Klinik kann dieser Deutungshoheit nicht widerstehen. In jährlich etwa 800.000 Fällen wird in deutschen Krankenhäusern überbehandelt – also unnötig am Patienten „herumgedoktert“. Und obwohl der Medizinische Dienst der Krankenkassen (MDK) lediglich zwölf Prozent aller Abrechnungen überprüfen kann, ergibt sich trotz alledem ein jährliches Rückforderungspotenzial (Geld, das die Kliniken zurückzahlen müssen) von etwa 1,5 Milliarden Euro, wie der Rechtswissenschaftler Professor Ralf Kölbel in einem Gutachten für die AOK festhält.17 Diese berechtigten Anschuldigungen würde sicherlich kaum ein betroffener Mediziner oder Klinikdirektor zugeben. Eine Untersuchung offenbart jedoch, dass die meisten Ärzte sehr wohl über die Schädlichkeit und die Risiken vieler Behandlungen und Operationen Bescheid wissen oder es zumindest erahnen. Weshalb sonst ist die Häufigkeit bestimmter Eingriffe bei medizinischem Personal und dessen Angehörigen signifikant geringer als bei der restlichen Bevölkerung?!18

Verfalle jetzt jedoch bitte nicht dem Irrtum, alle Ärzte handelten so. Wie in allen Bereichen gibt es auch unter den Gesundheitsdienstleistern Meister ihres Fachs und eher mittelmäßige bis schlechte. Es gibt ehrliche und unehrliche, sehr engagierte und hilfsbereite, aber auch falsche Propheten sowie egoistische Nutznießer. Als Patient und Kunde muss man deshalb immer wachsam und sorgsam bei der Auswahl des Verkäufers beziehungsweise Behandlers sein.

Das ist auch deshalb wichtig, weil das „Gesetz“ in Form von medizinischen Leitlinien keineswegs neutral und unbefangen ist. In diesen Leitlinien werden Krankheiten beschrieben und deren Behandlung empfohlen. Obwohl sie nicht verpflichtend sind, wird bei Krankheitsverschlechterung das Nichtanwenden dieser Leitlinien-Empfehlung gern von Anwälten für Klagen benutzt, weshalb sich viele Behandler allein schon deshalb nach diesen Leitlinien richten. Viele dieser Empfehlungen sind allerdings von wissenschaftlich geringer Qualität und schaden teils mehr, als sie nützen. Zwar gibt es in Deutschland aktuell kein Gesetz, das Leitlinien-Autoren dazu verpflichtet, Verbindungen zur Industrie öffentlich zu machen und einzugestehen. Doch liegt es nahe, dass die Umstände ähnlich denen in den USA sind, wo beispielsweise mehr als die Hälfte der Autoren von kardiologischen Leitlinien finanzielle Beziehungen zu den entsprechenden Produktherstellern hat, die sie in ihren Leitlinien empfiehlt. Teilweise halten die Autoren sogar Aktien an diesen Unternehmen, wie der Arzt Doktor Gunter Frank in seinem Buch Schlechte Medizin: Ein Wutbuch anhand einiger Fälle schildert.19 So wird zum Beispiel die deutsche Hochdruckliga von etlichen Unternehmen gefördert, die Produkte wie Blutdrucksenker, Blutdruckmessgeräte oder Functional Food vertreiben.20 Und selbst wenn eine solche Beziehung nicht vorhanden ist, stehen teilweise Eigeninteresse und/oder Eitelkeit neuen evidenzbasierten – also in der Praxis wissenschaftlich erprobten und nachweislich richtigen – Erkenntnissen entgegen. Wer würde schon gern zugeben, dass er jahrzehntelang auf ein falsches Pferd gesetzt oder nicht ganz ehrlich war?! Anders ist es nicht zu erklären, warum zum Beispiel die Deutsche Gesellschaft für Orthopädie und Orthopädische Chirurgie (DGOOC) trotz eindeutiger Studienlage jahrelang weiterhin in ihrer Leitlinie als Mittel die Knorpelglättung bei Gonarthrose empfiehlt – obwohl diese Maßnahme keinerlei Nutzen hat; im Gegenteil, sie schadet eher. Aber sie bringt halt einfach Geld!21 Aber nicht dem einzelnen Mediziner gilt hier pauschal die Schuld. Denn in einem Gebiet wie der Medizin, das so rasant wächst, ist es schier unmöglich, immer auf dem aktuellsten Stand zu sein. Und so handeln die meisten Ärzte schlicht nach ihren bisherigen – im Laufe des Studiums und der „Karriere“ – gemachten Erfahrungen und Überzeugungen.

„Medizinstudenten müssen sich unzählige Fakten über häufige und seltene Krankheiten einprägen. Was sie allerdings selten lernen, sind statistisches Denken und kritische Bewertung wissenschaftlicher Artikel auf ihrem eigenen Gebiet. Das Lernen ist auf das Abschneiden im großen Staatsexamen abgerichtet, das oft wenig Bezug zur klinischen Praxis hat.“22

– Prof. Gerd Gigerenzer, Direktor emeritus am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung

All das erworbene Wissen und die Überzeugungen sind jedoch (fast) zwangsläufig das Ergebnis der leitenden Mediziner und Lehrstuhlinhaber. All jene Positionen werden wiederum nahezu ausschließlich von Personen vertreten, die dem herrschenden System und den Geldgebern (überwiegend die Pharmaindustrie) unkritisch gegenüberstehen.

Hinzu kommt der Alltagsstress des meist chronisch überarbeiteten Medizinpersonals, das dem Einzelnen jede Zeit und Kraft raubt, um den Blick über den Tellerrand zu wagen. Außerdem leiden viele Ärzte unter dem vorherrschenden extremen medizinischen Perfektionsdruck, vor allem in den Kliniken. Wer Fehler macht, über den wird bestenfalls getuschelt, schlimmstenfalls drohen Degradierung, Mobbing, Anzeigen oder Rauswurf. Wer kann es der Ärzteschaft verübeln, dass sie sich durch Über-Diagnostik und Über-Therapie vor rechtlichen und sozialen Folgen schützen möchte? Wie eine Schweizer Studie herausfand, ist genau das der häufige Grund für ärztliche Maßnahmen, die sie ihren eigenen Angehörigen nicht empfehlen würden.23

„Wir leben in einem Gesundheitssystem, in dem Ärzte nicht die gleichen Ziele haben wie Patienten. Das ist nicht allein die Schuld der Ärzte; schließlich strengen die Patienten die Prozesse an und tragen damit zu der anhaltend negativen Fehlerkultur in der Medizin bei. Statt zu klagen, müssen wir mehr Verwantwortung für unsere eigene Gesundheit und die unserer Kinder übernehmen.“24

– Prof. Gerd Gigerenzer, Direktor emeritus am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung

Wenn aber aus Fehlern nicht kollektiv gelernt werden kann, ist auch eine System- und Risikoverbesserung nahezu unmöglich. Da verwundert es nicht, dass Flüge sicherer als ein Krankenhausaufenthalt sind. Nur einer von 10 Millionen Flügen verunglückt – dank Checklisten und einer offenen, konstrukiven Fehlerkultur. Laut Bericht der Weltgesundheitsorganisation erleiden hingegen vier von zehn Patienten gesundheitlichen Schaden durch ihre Behandlung, und das Aktionsbündnis Patientensicherheit schätzt, dass mindestens 15.000 Deutsche pro Jahr an vermeidbaren medizinischen Fehlern sterben.25

„Hätten wir die Sicherheitskultur eines Krankenhauses, wir hätten zwei Abstürze pro Tag.“26

– Leiter des Risikomanagements einer internationalen Fluggesellschaft

Wer hat also Schuld am desaströsen Gesundheitssystem? Wir müssen festhalten, dass fast nie die böse Absicht eines Einzelnen die große Zahl der Missstände verantwortet. Vielmehr sind wir alle gehandicapt durch das übergeordnete System: den Neoliberalismus.

Alles und jeder hat sich den „Gesetzen“ des Marktes zu beugen, so will es die Ideologie. Und so werden bereits die Kleinsten unter uns einer Gehirnwäsche unterzogen, wenn die Werbung in bunten, fröhlichen Farben „die Extraportion Milch“ beim Verzehr eines Schokoriegels verkündet und damit als gesundheitsförderlich verkauft – dabei handelt es sich nahezu ausschließlich um in Form gegossenen Zucker.

Diese oftmals unbewusste Lenkung unserer Gedanken zieht sich durch unseren ganzen Alltag. Und schließlich glaubt man als Pharmavertreter, viel operierender Arzt oder Globuli verabreichender Naturheilkundler irgendwann tatsächlich daran, etwas Gutes und das Richtige zu tun. Man kann es niemandem verübeln. Unsere moderne, medialisierte Welt ist – nicht nur im Gesundheitsbereich – in ein Dickicht aus Fehlinformationen gehüllt. Es ist enorm mühselig und braucht den richtigen Anstoß, um in diesem Nebel klar sehen zu können.

So ähnelt unsere heutige Welt dem satirischen Theaterstück Knock – oder der Triumph der Medizin von Jules Romains: Knock übernahm die Praxis eines alten Landarztes in einem Bergdorf, dessen Einwohner kerngesund waren und fast nie medizinischen Rat suchten. Keine Patienten bedeuteten wenig Einnahmen. Damit wollte sich der Nachfolger nicht abfinden und lockte die eigentlich vitalen Dorfbewohner mit Vorträgen über die vermeintliche Gefahr von Kleinstlebewesen in seine Praxis. Ein jeder dürfe zu seiner kostenlosen Konsultation kommen, um die Ausbreitung unheimlicher Krankheiten einzudämmen. In den Sprechstunden diagnostizierte Knock vermeintlich unnatürliche und krankhafte Symptome, die es dauerhaft zu behandeln galt. Binnen kürzester Zeit war das einst gesunde Dorf überwiegend bettlägerig und krank(geschrieben). Und sein Geldbeutel und sein Besitz ins unermessliche gestiegen. Heute ist das Modell „Knock“ längst Realität geworden. Würde man alle Krankheitsrechnungen der Pharmalobby auf den einzelnen Menschen „runterbrechen“, hätte ein jeder mindestens 20 behandlungsbedürftige Erkrankungen!

Abgesehen davon gibt es in unserem Gesundheitssystem Gesundheit schon rein formal nicht. Denn selbst wenn ein Mensch ohne Beschwerden zur Vorsorge geht, muss der Arzt immer eine Abrechnungsdiagnose ausstellen, und zwar eine „kurative“ Diagnose, also einen Krankheitsnamen. Denn ohne diese erhält der Arzt durch weiter erbrachte „Leistungen“ kein Geld – abgesehen von der viel zu niedrigen Patientenpauschale. Ein Arzt kann also nur Geld verdienen beziehungsweise von dir als Patient leben, wenn du krank bist; zur Not per Diagnose. So ist selbst der aufgeklärteste und ehrlichste Arzt dazu gezwungen, Krankheiten „auszustellen“ – denn er ist auch nur ein Mensch, der sich und seine Angehörigen ernähren muss.

„Die Medizin ist so weit fortgeschritten, dass niemand mehr gesund ist.“

– Aldous Huxley, britischer Schriftsteller

Dieses Phänomen der willkürlichen Krankheitserfindung und Diagnose ist auch als „Disease Mongering“ bekannt und existiert tatsächlich. Denn je mehr Kranke es gibt, desto mehr Medizin kann oder muss verordnet werden und bedeutet entsprechend mehr Umsatz für die Gesundheitsindustrie. Aber nicht nur die Schwellenwerte werden systematisch heruntergesetzt, es werden auch komplett neue Erkrankungen erfunden!

So gibt es seit 2015 ein Medikament gegen die sexuelle Unlust bei Frauen. Zugelassen wurde es von der obersten Arzneimittelbehörde der USA – nach jahrelangen Beratungen, vorübergehenden Ablehnungen, Anhörungen und Studien. Aber handelt es sich hierbei tatsächlich um eine krankhafte Fehlfunktion? Oder wurde hier nur eine der vielen im Leben zu meisternden Schwierigkeiten unter großem Aufwand zu einem körperlichen Leiden erklärt, um somit neue Märkte und höhere Profite zu schaffen?

Beispiele wie diese gibt es zuhauf. Wer schüchtern ist, hat heute eine „soziale Phobie“, die mit Antidepressiva behandelt werden kann. Unkonzentrierte Schüler, die lieber – wie es natürlich ist – spielen und entdecken würden, statt dem Unterricht eines veralteten Bildungssystems zu folgen, haben auf einmal ADHS. Menschen, die sich in einem emotionalen Umbruch befinden und einfach Zeit, Inspirationen und soziale Unterstützung zur Bewältigung ihrer Gedanken brauchen, nennen wir depressiv und stopfen sie voll mit Psychopharmaka.27

„Wer nichts weiß, muss alles glauben.“

– Marie von Ebner-Eschenbach, mährisch-österreichische Schriftstellerin

Geschickt, aber schamlos wird das urmenschliche Verlangen nach Gesundheit in „pathologische“ Bahnen gelenkt. Mit angeblich vorsorglichen Untersuchungen und Bodyscans – die mehrheitlich unter großem werbewirksamen Aufwand auf Druck der Pharmalobby entstanden sind – wird propagiert, potenziell gefährliche und behandelbare Krankheiten zu entdecken.

Die Wirksamkeit einiger Präventivuntersuchungen ist jedoch wissenschaftlich nicht belegt. Im Gegenteil: Eine Metaanalyse randomisierter Doppelblind-Studien – der Goldstandard unter wissenschaftlichen Untersuchungen – des Cochrane-Netzwerks mit über 230.000 Probanden zeigt, dass zum Beispiel die allgemeinen Gesundheitschecks in der Gesamtbetrachtung keineswegs zu einem längeren Leben führen.28„Wir sagen damit nicht, dass Ärzte aufhören sollen, Tests durchzuführen, wenn sie eine bestimmte Krankheit vermuten“, betont Krogsbøll, der Hauptautor des Reviews.29 Die Auswertung zeige jedoch, dass trotz häufigerer Diagnosen durch Check-ups die Menschen insgesamt im Vergleich nicht weniger krank sind oder länger leben. Öffentliche Gelder werden also ohne wissenschaftliche Grundlage „verbrannt“.

Ein weiteres Beispiel ist die Prostatakrebsfrüherkennung durch den sogenannten PSA-Test bei Männern. Drei Prozent der Männer sterben an Prostatakrebs. Was viele nicht wissen: Fast jeder im Alter über 70 Jahren – nämlich über 80 Prozent – hat Prostatakrebs, meist sogenannten progressiven, also nicht oder nur sehr langsam wachsenden Krebs.30 Die meisten sterben demnach nicht an Prostatakrebs, sondern mit Prostatakrebs. Denn dieser Krebs ist einfach nicht so aggressiv und macht häufig keine Probleme. Der Nutzen eines solchen jährlichen Früherkennungstests, der zudem selbst zu zahlen ist, ist daher mehr als fraglich. Zumal durch falsche Testergebnisse auch unnötige Behandlungen (inklusive deren Nebenwirkungen, z. B. > 20% werden inkontinent) durchgeführt werden, wie folgende Abbildung zeigt.31

Auch Lungenkrebsscreening mittels Spiral-CT wird gern angeboten. Fünf Prozent der Lungenoperierten sind nach einem Monat nicht mehr am Leben. Nun muss man bedenken, dass die Spiral-CT aber auch zu etwa 50 Prozent nicht-progressive Krebszellen entdeckt. Wir erinnern uns: Das sind Zellabnormalitäten, die in der Regel ein Leben lang symptomlos sind und nicht hätten operiert und behandelt werden müssen.32 Warum immer noch so viele Mediziner und Fachgesellschaften unnötige und teils schädliche Maßnahmen empfehlen, erklärt der Statistik- und Risikoexperte Professor Gerd Gigerenzer mit folgenden drei Gründen, die er als SIC-Syndrom bezeichnet:

• Selbstschutz: Viele (vor allem bildgebende) Verfahren dienen dem Schutz vor Schadensersatzansprüchen, die Anwälte trotz fehlender Evidenz häufig und erfolgreich einklagen.

• Innumeracy (Zahlenblindheit): Die meisten Mediziner kennen die Daten zu einer Maßnahme gar nicht oder haben nie gelernt, sie richtig zu interpretieren.33 Beispielsweise ergab eine Zufallsstichprobe unter 20 Berliner Urologen, dass nur zwei von ihnen den Schaden und Nutzen von PSA-Tests kannten.34

• Conflicts of Interest (Interessenkonflikte): Jede extra Untersuchung, jede zusätzliche Behandlung spült zusätzlich Geld in die Kassen.

Statt zu nutzen, schürt so manche Vorsorgeuntersuchung folglich Ängste beim Patienten und fördert so den Nocebo-Effekt: Lebensangst statt Lebenslust. Plötzlich ist man wegen einer Vorsorgeuntersuchung – die aber nichts weiter als eine Früherkennung ist und mit Vorsorge meist nichts zu tun hat – wirklich krank. Denn was womöglich das Wohlbefinden und die Lebensdauer gar nicht beeinflusst hätte, ist jetzt im Kopf des Patienten. Viele Erkrankungsvorstufen entwickeln sich aber nicht oder nur extrem langsam weiter – wie wir am Beispiel von Prostatakrebs sehen – oder bilden sich sogar von selbst zurück.

Klar ist: Früherkennungsuntersuchungen können Krankheiten nicht verhindern. Die Weltgesundheitsorganisation bewertet solche Maßnahmen nur dann als sinnvoll, wenn …

• sie bei Erkrankungen mit schweren Folgen eingesetzt werden, um unnötige Untersuchungen zu vermeiden, und ein klarer Vorteil für den Patienten ersichtlich ist;

• eine zuverlässige Untersuchungsmethode ohne schädliche Nebenwirkungen oder Risiken existiert;

• es eine wirksame Therapie gibt, die nachweislich im Frühstadium von Krankheiten effektiver ist.35

Ein Beispiel für solch eine sinnvolle Maßnahme ist die Darmspiegelung zur Früherkennung von Darmkrebs. Hierbei können Darmpolypen entfernt werden, die sich andernfalls gelegentlich zu Krebs entwickeln. Auch der PAP-Abstrich zur Untersuchung auf Gebärmutterhalskrebs scheint Leben zu retten. Aber auch hier gilt: Am besten informiert man sich selbst.

Wenn dir ein Arzt eine Früherkennung vorschlägt, kannst du mit folgenden Fragen besser abschätzen, ob diese sinnvoll sein könnte:

• Tritt die Erkrankung in meinem Alter generell häufig auf oder habe ich offensichtliche Symptome?

• Hilft die frühzeitige Entdeckung der Erkrankung nachweislich bei der Behandlung und kann damit die Sterberate (nicht die Überlebensrate!) verbessert werden? Können Sie mir die Studien dazu zeigen?

• Welche möglichen Gefahren und Nebenwirkungen gehen mit der Früherkennungsuntersuchung einher und wie oft treten diese auf?

• Wie häufig sind falsch positive Befunde (Fehlalarm) und falsch negative (unentdeckte Erkrankungen trotz Screening)?36

Und trotz langem Bestehen all dieser Erkenntnisse ist Früherkennung dank Werbung Mode geworden. Ich nenne dieses ganze Vorgehen Geldschneiderei auf Kosten der Beitragszahler! Zwar vermag die ein oder andere Früherkennung – wie es bei meiner eigenen Großmutter der Fall war – tatsächlich Leben zu retten, indem bestimmte Krankheiten frühzeitig behandelt werden können. Nicht wenige Früherkennungsmaßnahmen haben für den gesunden, beschwerdefreien Menschen jedoch keinerlei Nutzen. Wahrscheinlich auch deshalb nicht, weil die Angst vor Krankheiten eben auch krank machen kann.

Das Ergebnis dieser Früherkennungshysterie: Sieben Prozent der Deutschen leiden laut einer Fragebogenstudie unter „ausgeprägten Krankheitsängsten“. Nicht ohne Grund lehnt beispielsweise der Verband der amerikanischen Röntgenärzte Bodyscans bei ansonsten kerngesunden Menschen ab.37 Denn die meisten Abweichungen von der Norm – wie etwa eine schwache Skoliose, leicht erhöhte Cholesterinwerte etc. – sind keineswegs besorgniserregend, sondern normal! Denn was ist denn die Norm? Ein seit Jahren kleiner werdender Bereich, damit mehr Menschen per ärztlicher Diagnose behandlungsbedürftig sind – überwiegend zugunsten der Pharmaunternehmen.

Abstruserweise wird das Kranksein einfach zum Normalzustand erklärt. Und natürlich gibt es für jede Krankheit das passende Medikament. So existieren unfassbare 50.000 Fertigarzneimittel in Deutschland. Und dies, obwohl die Weltgesundheitsorganisation lediglich 460 Wirkstoffe (Stand 2019) als unentbehrlich erklärt hat.38 Nicht selten werden sogar mehrere Arzneien gleichzeitig eingenommen – mit ungeahnten Nebenwirkungen. So sterben laut Schätzungen allein in Deutschland jedes Jahr etwa 15.000 bis 60.000 Menschen infolge der Medikamenteneinnahme – je nach Quelle. Der Tod durch Nebenwirkungen medizinischer Behandlung ist damit die vierthäufigste Todesursache in Industriestaaten.39 Diese Medikalisierung alltäglicher und normaler Prozesse des Lebens – wie Sexualität, Alter, Konflikte etc. – wird nicht nur von mir kritisiert: Viele Ärzte weigern sich zunehmend, entgegen ihrem Berufsethos zu handeln und ihre Patienten nur mit Tabletten vollzustopfen. So haben sich mittlerweile auch ganze Ärzteverbände gegründet, die sich nicht von der Pharmalobby mit teurem Essen, Kongressen an exotischen Orten oder gratis Laptops verführen lassen, deren Produkte (sprich Tabletten) zu verschreiben. Diese Gegenbewegung ist auch bitter nötig. Denn wer soll all die Kranken behandeln, wenn irgendwann keiner mehr gesund ist?

Weitere interessante Fakten:

• Wurden 2007 noch 452.000 Rückenoperationen durchgeführt, waren es 2015 schon 772.000 Eingriffe – 71 Prozent mehr.40 Ein möglicher Grund ist: Fast die Hälfte aller neu geschlossenen Chefarzt-Verträge enthielt einer Studie der Unternehmensberatung Kienbaum zufolge Boni-Klauseln als Anreiz für mehr Operationen.

• 200.000 Patienten wird jährlich verschlissener Knorpel am Knie abgeschabt – die sogenannte Knorpelglättung. Das bringt deutlich mehr Geld als das Verschreiben von Physiotherapie. Dabei wäre diese erwiesenermaßen effektiver und langfristig gesünder.41 Stattdessen stirbt jeder 1000. Patient – also ca. 200 pro Jahr – an den Folgen der Operation, meist durch Narkoseunverträglichkeiten oder Thrombose.42

• Pharmakonzerne müssen weltweit die meisten Strafzahlungen aufgrund von Gesetzesverstößen (z.B. Ärztebestechungen, Preisbetrug oder unerlaubte Werbung) leisten und liegen damit noch vor den Banken.43

„Im stationären Bereich bestehen durch die eingeführten Fallpauschalen fatale finanzielle Anreize zur unsachgemäßen Leistungsausweitung, da jetzt eine möglichst hohe Zahl von Operationen das große Geld bringt.“, kritisiert Christian Zimmermann, Präsident des Allgemeinen Patienten-Verbands.44 Dieses kapitalistische, rein profitorientierte Interesse ist auch der Grund, warum das Gesundheitssystem überwiegend nach Krankheiten sucht und diese dann mit teuren Medikamenten, Spritzen, Behandlungen und Operationen „wegzutherapieren“ versucht. Dabei zeigen verschiedene Studien, dass in den meisten Fällen somit lediglich die Symptome behandelt oder die Gesundheitsprobleme zeitlich etwas nach hinten verlagert werden, der eigentliche Krankheitsgrund jedoch weiter bestehen bleibt.

Abgesehen davon, ist mir kein Medikament bekannt, das (nach dauerhafter Einnahme) ohne Nebenwirkungen auskommt. Möchte man wirklich das eine Krankheitsrisiko reduzieren beziehungsweise Schmerzen betäuben, um an anderer Stelle das Risiko zu erhöhen? In jedem Falle würde man so abhängig von der medizinischen Behandlung und füllt die Taschen der Pharmaindustrie. Gesund wird man jedoch nicht.

„Was bringt den Doktor um sein Brot? (a) die Gesundheit und (b) der Tod. Drum hält der Arzt, auf dass er lebe, uns zwischen beidem in der Schwebe.“

– Eugen Roth, deutscher Lyriker und populärer Autor humoristischer Erzählungen

Ich würde das Zitat leicht abändern. Denn nicht der einzelne Arzt und auch nicht der Mitarbeiter eines Arzneimittelherstellers sind die Bösen. Es ist das komplette System, das ein paar wenige superreiche Strippenzieher hervorbringt, die den Menschen nur als profitmaximierbare Ware sehen. Wer – Arzt und Patient – das bisher nicht durchschaut hat, dem kann man auch keinen Vorwurf machen, dass er nach seinen Überzeugungen richtig (be)handelt beziehungsweise richtig behandelt wird – auch wenn das nachweislich oftmals im besten Fall nicht hilfreich ist.

Ganz anders hingegen im alten China, wo für den Menschen nur Arztgebühren fällig wurden, solange er gesund war – so erzählt man sich zumindest. Ob Wahrheit oder Wunschvorstellung: Hätten dann die Ärzte von damals dieselbe Menge an Medizin verordnet, die gleichen Behandlungen durchgeführt und ebenso oft operiert wie heute üblich? Man mag es zumindest stark bezweifeln.

Heutzutage bekommt der Arzt dagegen nur dann Geld, wenn er eine Diagnose stellt, also eine Krankheit feststellt und medizinisch behandelt. Zu welcher Zeit war wohl die Motivation, den Menschen zu Gesundheit zu verhelfen, größer?

Ein Beispiel: Ein eigentlich gesunder Mensch geht zum Arzt, weil er sich in der Nacht schlecht gelegen ist und Rückenschmerzen hat. Beim fast obligatorischen Röntgen (diese Untersuchung bringt viel Geld) wurde eine Skoliose festgestellt; die im Übrigen nichts mit den verspannungsbedingten Rückenschmerzen durch schlechten Schlaf zu tun hat.

Das Wissen um die Skoliose – ist ohne weitere Infos und Hintergründe – für den Patienten ein Schock. Er verspannt sich automatisch noch mehr. Der Arzt führt sehr wahrscheinlich weitere Untersuchungen durch und findet möglicherweise einen Beckenschiefstand als „Ursache“ für die Skoliose. Nun verschreibt er dem Patienten gegebenenfalls eine Schuheinlage zum Ausgleich für die den Beckenschiefstand verursachende Beinlängendifferenz und im besten Fall noch Physiotherapie. Das Resultat: Viele geldbringende Maßnahmen und ein verunsicherter Patient, der eigentlich keiner sein müsste und sich „einfach“ etwas hätte dehnen, entspannen und massieren lassen müssen.

Dazu musst du allerdings wissen, dass kein Mensch zu 100 Prozent symmetrisch gebaut ist und geringfügige Skoliosen, Schiefstände und Dysbalancen fast jeder hat, und daher auch bei nahezu jedem diagnostiziert werden könnte. In diesem Fall eine Schuheinlage zu verschreiben, verschlimmert eventuell sein Wohlbefinden sogar auf Dauer noch, aber dazu später mehr.

Doch allein pauschal den Ärzten oder Pharmakonzernen die Schuld zu geben ist zu einseitig betrachtet.

„Wir sind alle daran gewöhnt, dass es gegen jedes Leiden ein Mittel gibt.“45

– Gerd Glaeske, Professor für Gesundheitswissenschaften an der Universität Bremen und einer der kritischsten Beobachter der Pharmaindustrie, gegenüber der WELT

Denn es ist – verständlicherweise – so viel einfacher, Patient zu sein, als sich den Aufgaben und Problemen des Lebens zu stellen, die Verantwortung für den eigenen Körper an andere abzutreten und Schmerzen und Beschwerden mit Pillen zu betäuben, als der eigentlichen Ursache auf den Grund zu gehen.

An dieser Stelle sehr passend, möchte ich ein paar Zeilen des kabarettistischen Songs „Aber sonst gesund“ von den Wise Guys mitgeben:

Manchmal kann ich kaum noch gehn,

doch es gibt ja Voltaren.

Hab’ ich Wunden an den Zeh’n,

Nehm’ ich auch noch Bepanthen.

Oft dreht sich mein Magen um,

Ich nehm’ zwei Imodium.

Weil das an den Nerven zerrt,

Schluck’ ich Baldrian Dispert.

Hab’ ne leichte Diabetes,

Doch mit Insulin, da geht es.

Die Erkältung bin ich leid –

Ich nehm’ nachts Wick MediNait.

Bleib’ ich trotzdem Bettenwälzer,

Nehm’ ich noch zwei Alka-Seltzer.

Dass ich abends gern was trink’,

Ist egal – dank GranuFink.

Aber sonst gesund! Alles läuft so weit ganz rund,

Hab’ mich gut gehalten und hab’ zum Klagen keinen Grund.

Aber sonst gesund! Denn beim winzigsten Befund

Werfe ich mir kunterbunt meine Pillen in den Schlund.46

Zum Glück gibt es – den umwerbenden und profitgetriebenen Schmeicheleien der Pharmaindustrie zum Trotz – immer noch viele Ärzte, Therapeuten und Trainer, die sich ihrer Verantwortung bewusst sind und tatsächlich helfen wollen. Prozentual überwiegt allerdings leider der uninformierte, desinteressierte oder geldgetriebene Teil der Mediziner. Vermutlich auch deshalb, weil 80 Prozent der ärztlichen Fortbildungen von der Pharmaindustrie finanziert sind.47 Die Misere beginnt leider oft schon im Studium, dessen Kern die (überwiegend) medikamentöse oder operative Behandlung der steigenden Anzahl von Krankheiten beinhaltet. Und auch Pharmaunternehmen scheuen sich nicht davor, bereits Studenten mit Fortbildungen, Geschenken und anderen Annehmlichkeiten zu locken.

Über Gesundheit lernt man im klassischen Medizinstudium leider verhältnismäßig wenig. Da verwundert es nicht, dass leider auch viele Ärzte selbst krank oder übergewichtig sind, rauchen oder eine krumme Haltung und Schmerzen haben.

Was ich mich dann immer frage: Würdest du einem fetten, rauchenden Fitnesstrainer glauben, wenn er dir etwas von Muskelaufbau erzählt? Warum glauben dann so viele Menschen blind alles, was ihnen der Arzt sagt? Und dennoch tun es die meisten und hinterfragen den „Halbgott in Weiß“ nicht, machen jede Behandlung mit und nehmen jede Arznei ein.

Und dies, obwohl nur 31 Prozent der Behandlungsleitlinien der medizinischen Fachgesellschaften evidenzbasiert, das heißt nachweislich nützlich sind. Der Rest beruht auf Annahmen und dem Konsens von Lehrstuhlinhabern, ohne dass ein Nutzennachweis vorliegt.48 Die unabhängige Plattform „Leitlinienwatch“ bezeichnet lediglich zehn Prozent der Leitlinien als „gut“, 49 Prozent sollten sogar komplett gestrichen werden.49

Kleine Zwischenübung für deine Gesundheit:

Wie du in den Folgekapiteln noch erfahren wirst, ist langes bewegungsarmes Sitzen einer der Hauptübeltäter für zahlreiche Krankheiten und Beschwerden. Deshalb:

Steh jetzt auf und mache zehn Kniebeugen.

Gehe dabei so tief in die Hocke, wie es dir möglich ist, und achte auf einen geraden Rücken.

Falls du Kniebeschwerden hast, kannst du auch einfach abwechselnd die Beine heben oder auf der Stelle gehen.

Dadurch fließen Unsummen aus den Krankenkassenbeiträgen und Steuergeldern in das Gesundheitssystem: täglich über eine Milliarde Euro, Tendenz stark steigend.50 Das Paradoxe dabei ist: Je mehr Geld in das Gesundheitssystem eines Landes fließt, desto wahrscheinlicher ist es, dass sich dessen Bewohner krank fühlen.