Wache Schule: Mit Achtsamkeit zu Ruhe und Präsenz - Susanne Krämer - E-Book

Wache Schule: Mit Achtsamkeit zu Ruhe und Präsenz E-Book

Susanne Krämer

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Beschreibung

„Es gibt keine andere vernünftige Erziehung, als Vorbild zu sein.“ (Albert Einstein) Welchen Einfluss hat Achtsamkeit auf das Wohlergehen von Lehrpersonen und Kindern und auf ihre Beziehung zueinander? Wie wirkt sich achtsame Präsenz auf den Unterricht, auf problemorientierte Elterngespräche oder die Atmosphäre im Lehrerkollegium aus? Wie helfen Achtsamkeitsübungen den Schülerinnen und Schülern dabei, sich besser zu konzentrieren und weniger impulsiv zu sein? Basierend auf ihrer langjährigen Praxiserfahrung gibt Susanne Krämer Antworten auf diese und weitere Fragen rund um das Thema Achtsamkeit in der Schule. Sie zeigt, wie die Haltung der Achtsamkeit kultiviert, im Schulalltag gelebt und altersstufengerecht vermittelt werden kann. Anhand von Fallbeispielen, Übungsanleitungen und Hinweisen zur Umsetzung gibt sie einen konkreten Leitfaden zur Schaffung einer achtsamen Schulkultur: für ein harmonisches Miteinander und eine lernfördernde Umgebung. "'Wache Schule' bietet Anleitungen sowohl zur eigenen Achtsamkeitspraxis der Lehrperson als auch zur Anwendung im Unterricht. Darüber hinaus werden Hintergründe und Relevanz der Übungen hilfreich und anschaulich erklärt. Eine umfassende, vielseitige Handreichung zur Förderung der Achtsamkeitspraxis für Individuum und Gemeinschaft." (Ira Anderson, Berliner Englischlehrerin in der Sekundarstufe) "Achtsamkeit kommt in der Schullandschaft an. Susanne Krämer geht einen Schritt weiter und lässt Praktiker in ihrem Buch zu Wort kommen. Sie verknüpft konkrete Erfahrungen aus der Achtsamkeitspraxis mit theoretischen Erkenntnissen aus der Achtsamkeits- und Mitgefühlsforschung. Ein Buch, das ich gerne an meine Kolleginnen und Kollegen weiterempfehlen werde. Gemeinsam mit Susanne Krämer können sie sich auf den Weg machen, sich selbst und die Schule aufzuwecken.“ (Nanine Schulz, Lehrerin in Berlin-Wedding) "Ein Must-read für alle, die Achtsamkeit in die Schule bringen wollen!" (Dr. Karlheinz Valtl, "moment by moment", Ausgabe 01/2019) "Unbedingt lesen!" (Pindo, Blog unter: https://achtsaminberlin.wordpress.com/2019/06/16/wache-schule-mit-achtsamkeit-zu-ruhe-und-prasenz/) "Dieses Buch über Achtsamkeit in der Schule ist ein absoluter Schatz für mich. Ich habe zwar schon sehr viel und auch Gutes zum Thema gelesen, bin Susanne Krämer aber dennoch total dankbar für Ihren Beitrag, welcher Theorie und Praxis und Lebensweisheit und Lebensfreude so versteh- und anwendbar macht." (Lehrerin aus Niedersachsen)

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Seitenzahl: 461

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Susanne KrämerWache Schule: Mit Achtsamkeit zu Ruhe und Präsenz

Über dieses Buch

„Es gibt keine andere vernünftige Erziehung, als Vorbild zu sein.“
 (Albert Einstein)

Welchen Einfluss hat Achtsamkeit auf das Wohlergehen von Lehrpersonen und Kindern und auf ihre Beziehung zueinander? Wie wirkt sich achtsame Präsenz auf den Unterricht, auf problemorientierte Elterngespräche oder die Atmosphäre im Lehrerkollegium aus? Wie helfen Achtsamkeitsübungen den Schülerinnen und Schülern dabei, sich besser zu konzentrieren und weniger impulsiv zu sein? Basierend auf ihrer langjährigen Praxiserfahrung gibt Susanne Krämer Antworten auf diese und weitere Fragen rund um das Thema Achtsamkeit in der Schule. Sie zeigt, wie die Haltung der Achtsamkeit kultiviert, im Schulalltag gelebt und altersstufengerecht vermittelt werden kann. Anhand von Fallbeispielen, Übungsanleitungen und Hinweisen zur Umsetzung gibt sie einen konkreten Leitfaden zur Schaffung einer achtsamen Schulkultur: für ein harmonisches Miteinander und eine lernfördernde Umgebung.

Susanne Krämer arbeitet am Zentrum für Lehrerbildung und Schulforschung der Universität Leipzig. Zu ihren Schwerpunkten gehören verbale und nonverbale Kommunikation, Achtsamkeit und Kommunikationskompetenz durch spielbasierte Methoden.

Copyright: © Junfermann Verlag, Paderborn 2019

Coverfoto: © Steve Debenport – www.istockphoto.com

Covergestaltung / Reihenentwurf: Junfermann Druck & Service GmbH & Co. KG, Paderborn

Satz, Layout & Digitalisierung: Junfermann Druck & Service GmbH & Co. KG, Paderborn

Alle Rechte vorbehalten.

Erscheinungsdatum dieser eBook-Ausgabe: 2018

ISBN der Printausgabe: 978-3-95571-617-2

ISBN dieses E-Books: 978-3-95571-802-2 (EPUB), 978-3-95571-804-6 (PDF), 978-3-95571-803-9 (MOBI).

Ich widme dieses Buch meinen Eltern,

die mir mit ihrer Liebe die Basis gaben;

meinem Mann,

der mein Leben unendlich bereichert;

meinen Kindern,

die meine Tage mit Glück erfüllen;

und meinen Lehrerinnen und Lehrern,

die mir die Fähigkeit eröffneten, diese Fülle zu leben.

Vorwort

Atemlos durch Tag und Nacht oder lieber: Mehr Achtsamkeit und Mitgefühl für Erwachsene und Kinder im Schulalltag?

Haben Sie auch das Gefühl, dass der Lebenstakt zu schnell geworden ist für unsere Seele? Immer seltener werden die kostbaren Momente des Bei-uns-selbst-Seins und des wirklichen Miteinanders. Zunehmende Ruhelosigkeit, Überstimulation durch virtuelle Medien, Naturentfremdung sowie fehlende Balance zwischen Aktivitäts- und Erholungsphasen prägen den Alltag vieler Erwachsener. Und wir ziehen die Kinder mit in dieses atemlose Leben! Wollen wir das wirklich? Es ist anstrengend, kostet Kraft, macht unzufrieden und krank. Und es droht etwas Wesentliches auf der Strecke zu bleiben: das Verbundensein, Verbundensein mit uns selbst und miteinander.

Das Leben in sozialen Gemeinschaften hat über die letzten 400.000 Jahre die Potenziale und Fähigkeiten hervorgebracht, die heute unser Menschsein charakterisieren: Aufmerksamkeit füreinander, Einfühlungsvermögen, Mitgefühl, Kooperation, Fürsorge, Liebe und Humor. In nahen, bedeutsamen und fruchtbaren Beziehungen können wir diese Potenziale ausformen und stärken. Auch die Haltung uns selbst gegenüber kann, wenn alles gut geht, von diesen Qualitäten geprägt sein. Dann sind wir in der Lage, für uns, füreinander und für die Welt so zu sorgen, dass lebendiges Wachstum und Entfaltung stattfinden können, ohne dass die Ressourcen in unserem Innern und in der Natur um uns herum unwiderruflich verbraucht und zerstört werden. Wenn wir das wollen, gilt es JETZT aufzuwachen und bewusste Entscheidungen zu treffen.

Schulen sind die Orte, wo bewusste Entscheidungen für die Ermöglichung und Förderung bedeutsamer und nährender Beziehungen und für die Kultivierung von Beziehungsfähigkeit, Fürsorge und Verantwortung am nachhaltigsten wirken können. Susanne Krämers Buch bietet eine Fülle an Anregungen und Inspirationen dafür. Das Interesse an diesen Themen im pädagogischen Kontext wächst in Deutschland. Viele Menschen spüren, dass wir in der Schule beginnen müssen, die menschlichen beziehungs- und lebensstärkenden Fähigkeiten zu erhalten und zu kultivieren. Doch im konservativen Schulsystem ist das Beharren auf dem Status quo dominant. Überforderung, Herzlosigkeit, Außenorientierung, Abwertung und Aussonderung, um das gängige Machtsystem in der Gesellschaft zu erhalten, prägen noch immer viele Schulen – und somit viele Kindheiten. Der vielbeklagte (zu) große Einfluss der Wirtschaft auf die Inhalte und das Tempo der Schulbildung scheint dabei den Spielraum für die Bildung und Kultivierung von Interessen, Begabungen, Begeisterung und Engagement, das von Herzen kommt, fundamental einzuschränken. Der möglichst effiziente Erwerb von Kompetenzen und vermarktbaren Skills ist an die Stelle der Bildung von Persönlichkeiten und Charakter getreten. Zugleich beklagen die Unternehmen, dass viele der Berufsanfänger nicht über basale Fähigkeiten wie Eigeninitiative, Motivation, Begeisterung, Kreativität und Kooperationsfähigkeit verfügen. Innovative Arbeit heute und in Zukunft braucht genau diese Eigenschaften, die den Kindern im antiquierten, streng hierarchisch organisierten Schulbetrieb abtrainiert werden.

Dazu kommt eine weitere entscheidende Fähigkeit, auf die zu wenig fokussiert wird: die gesundheitliche Selbstregulation. Denn unter den zunehmend entgrenzten Arbeitsbedingungen erhalten nur die Menschen langfristig ihre Arbeitsfähigkeit und -freude, ihre Kreativität und Gesundheit, die spüren, wenn es Zeit ist für Pause, Kontemplation und Regeneration, und die sich Raum lassen für Erholung, Spiel und Familie. Selbstwahrnehmung, Selbstregulation, das Spüren und Wissen um die eigenen inneren Impulse, Bedürfnisse, Interessen und Leidenschaften sowie die Fähigkeit, auch die inneren Welten der Mitmenschen zu spüren, mit ihnen in Resonanz zu treten und nährende Beziehungen zu pflegen, sind die Qualitäten des Menschseins, die sich durch bewusste Achtsamkeit und Mitgefühl kultivieren lassen.

Susanne Krämer gehört zu den Pionierinnen, die diese „not-wendige“ Entwicklung im deutschen Schulsystem voranbringen. Mit ihrem Buch teilt sie die Früchte ihrer persönlichen Entwicklung und Erfahrung mit allen Interessierten. Dabei macht sie immer wieder deutlich, dass Achtsamkeit keine neue Masche ist, kein weiterer Punkt auf der To-do-Liste der angesagten Interventionen, sondern eine zutiefst humanistische Qualität, die es wert ist, in der Schule und im Leben mit Kindern verkörpert und gelebt zu werden. Am schönsten und wirkungsvollsten lassen sich Achtsamkeit und Mitgefühl gemeinsam fördern, in der Beziehung zu uns selbst, zu den Menschen um uns herum, im Kreis von Kolleg*innen, Kindern, Eltern und darüber hinaus: Der Bezug zu den natürlichen Ressourcen für unser Menschsein, zur Natur, den Tieren, Pflanzen und zur Erde, erweitert diesen Lebenskreis. Wie wäre es, wenn Schulen zu Häusern des Lernens und Bildens würden, die zugleich Achtung, Fürsorge, Lebendigkeit, Mitgefühl und Verantwortung für alles, was lebt und Leben nährt, stärkten? Jedem Kind und jeder Familie könnten wir damit die Hoffnung auf ein friedliches, gesundes und lebendiges Leben vermitteln.

Möge dieses Buch viele Menschen erreichen, die in diesem Sinne wache Schulen gestalten, erleben und fördern möchten!

Dr. Nils Altner Essen, im Frühjahr 2018

Dr. Nils Altner engagiert sich für und forscht zu Achtsamkeit und Mitgefühl im Kontext von Gesundheit, Bildung und Entwicklung u. a. an der Universität Duisburg-Essen.

Einleitung

„Es geht in der Schule darum, mich mit meinem Idealismus und mit meiner Freude am Tun voll und ganz einzubringen und für die Sache zu brennen – und das so zu gestalten, dass es gut für mich ist und ich nicht verbrenne.“

(Lehrerin einer Berliner Gemeinschaftsschule im Interview)

Wie viele Kolleg*innen1 würden ihre Bemühungen ähnlich beschreiben wie diese Berliner Lehrerin? Zwischen dem persönlichen Engagement, das der Arbeit Sinn und Tiefe verleiht, und dem Aufreiben angesichts der unzähligen Anforderungen des Schulalltags liegt nur ein schmaler Grat, und oft braucht es spezielle Ressourcen, um sich sicher auf ihm zu bewegen:

„Ich habe gespürt, wie gut es tut, einer regelmäßigen Achtsamkeitspraxis nachzugehen. Die morgendlichen Meditationen sind mir sehr wichtig geworden, auch als Unterstützung im Umgang mit den Kolleg*innen, in der Mitarbeitervertretung (Betriebsrat), in Konfliktsituationen. Ich bleibe in solchen Situationen sehr bei mir, kann gelassener reagieren. Und ich nehme die Themen auch nicht mehr so intensiv mit nach Hause, die Dinge relativieren sich. Ich merke, dass ich in schwierigen Situationen oder auch wenn ich nicht einschlafen kann, mehr und mehr lerne, mich nicht wegschwemmen, wegtragen zu lassen von den überfordernden Gefühlen, sondern einen Schritt zurücktreten und einfach wahrnehmen kann. Eine größere Gelassenheit in der Schule stellt sich ein.“

Um diese Haltung, die Sie befähigt, mit mehr Wohlbefinden durch den Schulalltag zu gehen und Ihre Umwelt mit Gelassenheit und Klarheit wahrzunehmen, soll es auch in diesem Buch gehen. Nicht um Extras, die Sie Ihren ohnehin schon vollen Arbeits- und Lebenswelten noch hinzufügen. Nur Sie stehen hier im Mittelpunkt. Denn die Basis für den gelungenen Kontakt mit den Kindern und Jugendlichen, mit denen Sie Tag für Tag zusammenarbeiten, ist Ihr eigenes Da-Sein, Ihre Präsenz und die Fähigkeit, selbstbestimmt mit den eigenen Emotionen, den eigenen Gedanken umzugehen.

Aus diesem Grund möchte ich den Schwerpunkt nicht auf komplexe Theorien und empirische Studien legen – dazu gibt es bereits hervorragende Literatur –, sondern ausgehend von Ergebnissen wissenschaftlicher Forschung den Versuch wagen, Ihnen den „Duft der Praxis“ zu vermitteln. Es geht um alltagstaugliche Übungen, die Ihnen ermöglichen, eigene Erfahrungen zu machen. Nur was Sie selbst kennenlernen, was Sie am „eigenen Leibe“ erfahren, wird Spuren in Ihrem Denken und Verhalten hinterlassen. Kommen Sie selbst auf den Geschmack! Oder wie der Neurowissenschaftler Gerald Hüther es formuliert: „Haltungen kann man nur verändern, indem man das verändert, was die Haltung hervorgebracht hat, nämlich die Erfahrung – Haltungen sind das Ergebnis von Erfahrung, bestimmen ganz entscheidend darüber, wie Menschen die Welt und das Geschehen um sie herum bewerten“ (Sobiray-Hüther & Hüther 2011).

Achtsamkeit leben und vermitteln

Wie sieht es mit Ihrer Gelassenheit aus, wenn Ihnen ein Elternteil mit dem Rechtsanwalt droht? Können Sie Ihre eigenen Impulse auch in eskalierenden Konflikten zwischen Schüler*innen kontrollieren, um mit Klarheit zu handeln? Können Sie mit Enttäuschung, Wut, Hilflosigkeit umgehen? Und ist es Ihnen möglich, auch für sich selbst einen „fehlerfreundlichen“, fürsorglichen Blick zu kultivieren?

Ihre eigene authentische Haltung ist die wichtigste Voraussetzung dafür, Achtsamkeit in die Schule zu bringen – wach zu werden für eine neue (Schul-)Kultur des Miteinanders.

Schule soll unsere Kinder auf das Leben vorbereiten. Als Pädagogin oder Pädagoge werden Sie daher auch das Anliegen haben, Ihren Schülern und Schülerinnen über die fachlichen Inhalte hinaus etwas fürs Leben mitzugeben. Denn auch sie brauchen in der zunehmend schneller werdenden Welt die Fähigkeit, innezuhalten, mit sich in Kontakt zu kommen. Wenn Sie ihnen die Möglichkeit zur Selbstwirksamkeit eröffnen, können Schülerinnen und Schüler für sich selbst Verantwortung übernehmen und darüber hinaus für ihre Klassenkamerad*innen, ihre Mitmenschen und schlussendlich für die Gesellschaft.

„Was Achtsamkeit wirklich bedeutet? Dass ich selbst für mein Leben, für mein Wohlbefinden, für meine Stimmung zuständig bin“ (Lehramtsstudentin aus Leipzig). – Ich hoffe, dass Sie und Ihre Schüler*innen dieses Fazit nach dem „Genuss“ des Buches auch ziehen können!

Wege der Vermittlung

Bei den Formen der Weitervermittlung des Achtsamkeitskonzeptes in der Schule gibt es zwei unterschiedliche Ansätze:

Implementierung durch externe Kursleiterinnen und Kursleiter,

Achtsamkeitstrainings für Lehrpersonen zur eigenen Selbstfürsorge und als Basis der Weitervermittlung.

Beide Ansätze haben Vor- und Nachteile und können auch miteinander kombiniert und ergänzt werden. Im ersten Fall kann die Einführung durch eine noch nicht bekannte Person geschehen, zu der noch keine eventuell vorbelastete Beziehung besteht und die weder durch das Kollegium noch durch die Schüler*innen bereits in eine Schublade gesteckt wurde. Hier ist jedoch die Grundvoraussetzung für eine nachhaltige Entwicklung, dass zumindest eine Lehrperson der zu schulenden Klasse die Achtsamkeitspraxis gutheißt und sie weiterführt.

Dieser entscheidende Faktor der Wertschätzung und Weiterführung ist natürlich bereits gegeben, wenn die zweite Vermittlungsvariante gewählt wird. Auch kann in dieser Form die Vermittlung an die Schüler*innen in einer ganz anderen Bandbreite erfolgen: von dem Vorleben einer achtsamen Haltung im Schulalltag, welche das Lernen am Vorbild ermöglicht, über die Integration von kurzen Elementen in den bestehenden Lehrplan bis hin zur expliziten Unterweisung in Achtsamkeit.

Ein 14-köpfiges Autorenteam, unter ihnen einige der führenden Entwickler*innen von Achtsamkeitsprogrammen an US-amerikanischen Schulen (Meiklejohn et al. 2012), untersuchte anhand der vorhandenen Programme eben diesen Ansatz. Ihr Fazit war, dass der entwickelte Sinn für Präsenz, verkörpert von der Lehrperson in den alltäglichen Klassenzimmeraktionen und Lernstrategien, eine weitergehende und nachhaltigere Wirkung auf das Bildungssystem hat.

Dieser zweite Ansatz entspricht auch dem Weg, den ich als Achtsamkeitslehrende seit 2006 gehe und 2013 im Rahmen der Lehrer*innenausbildung am Zentrum für Lehrerbildung und Schulforschung in Leipzig im Bereich Kommunikation implementieren konnte. Die eigene Achtsamkeitspraxis bietet die Basis für eine gelungene Vermittlung: Mein Verhalten ist Vorbild für meine Student*innen. Dies ist Anspruch und Chance zugleich, denn das Schöne ist: Auch das eigene Lernen hört nie auf! Ich begebe mich mit jedem Schüler und jeder Schülerin gemeinsam immer wieder neu auf eine „Forschungsreise“. Gerade die Weitervermittlung von Achtsamkeit ist eine sehr tiefgehende Praxis, bei der man auch vor großen Herausforderungen steht, an denen man jedoch nur wachsen kann. Sie werden es erleben, denn ich möchte Ihnen mit diesem Buch einen Kompass für Ihre eigene Forschungsreise an die Hand geben.

In diesem Sinne ist das vorliegende Buch – im Kontrast zu dem wissenschaftlichen Kontext der Universität, in dem ich mich sonst bewege – ein sehr persönliches. Ich möchte Sie an den Erkenntnissen, die ich im Laufe meines „Forschungsexperiments“ gewonnen habe, teilhaben lassen. Dieses Experiment durchdringt alle Bereiche meines Alltags seit nun bereits mehr als 18 Jahren und bereichert mein Leben. Ich schreibe im Wissen, dass ich erst ganz am Anfang des immer weitergehenden Erkenntnisprozesses stehe. Wie wunderbar, dass es noch so viel zu entdecken gibt, und auf diese Entdeckungsreise möchte ich Sie mitnehmen.

Zu meinem Weg gehörte es immer, dass mich viele Menschen in direkter Begegnung oder durch ihre Schriften inspiriert haben. Und so möchte ich die Stimmen von Lehrerinnen und Lehrern, die ich auf Lehrer*innenfort- und -weiterbildungen kennenlernen durfte, von Kindern und Jugendlichen, die ich auf Retreats in Achtsamkeitskursen begleitet habe, von den bereits über 800 Lehramtsstudierenden, die mein Seminar „Kommunikation und Achtsamkeit“ besucht haben, und von den Teilnehmer*innen meiner MBSR-Kurse und anderer achtsamkeitsbasierter Fortbildungen mit einfließen lassen. Mir war es ein Anliegen, hier ein breites Spektrum aufzuspannen, und so führte mich dieses Buchprojekt, neben der Sichtung der bestehenden qualitativen Interviewstudien, auch zu zahlreichen Interviews mit Lehrer*innen und Schüler*innen, die bereits Achtsamkeit in ihr Leben integriert haben. Ihre Aussagen und die Zitate aus den seminarbegleitenden „Lerntagebüchern“ meiner Student*innen (Portfolios)2 sollen Ihnen ein lebendiges Bild gelebter Achtsamkeit vermitteln.

Ich möchte jene zu Wort kommen lassen, die durch ihr Dasein das Gesicht einer „wachen Schule“ prägen.

„Es gibt keine andere vernünftige Erziehung, als Vorbild zu sein.“

Albert Einstein

Wie dieses Buch Sie begleiten kann

Ziel des Buches ist, Ihnen einen klaren Übungsweg aufzuzeigen und die Motivation zu wecken, diesen individuell in Ihr Alltagsgeschehen einzubauen. Nur was Sie selbst erfahren haben, können Sie fundiert und authentisch weitervermitteln.

So wird in Teil I die Haltung der Achtsamkeit in all ihren Facetten (Umgang mit schwierigen Emotionen, Stressbewältigung, Wohlbefinden stärken, Empathie und Mitgefühl, Humor, Kommunikation) erläutert und mit Beispielen des schulischen Alltags verknüpft. In den jeweiligen Kapiteln werden konkrete Übungsmöglichkeiten vorgestellt und durch Erfahrungsberichte und Ergebnisse wissenschaftlicher Forschung ergänzt.

Die Übungen sind unterteilt in

Einzelübungen (kontemplative, selbstreflexive und experimentelle) ,

Dyadenübungen und

Gruppenübungen .

So ist ein guter Überblick gewährleistet und Vorschläge zur Einbindung in den Alltag sowie Kurzvarianten (MINI) ergänzen die Übungspraxis. Abgerundet wird Teil l mit Möglichkeiten, Achtsamkeit im Kollegium zu leben („Netzwerke bilden – sich in der Praxis unterstützen“).

Teil II erweitert den Übungskanon durch spezifische Angebote für Kinder und Jugendliche. Dabei werden eine allgemeine Herangehensweise erläutert (Haltung des Lehrenden, Wege der Implementierung) und konkrete Übungen vorgestellt, um im Sinne eines flexiblen, situationsadäquaten Umgangs dem individuellen Entwicklungsniveau und dem Klassenklima gerecht zu werden. Aus diesem Grund habe ich auch bewusst auf die Gestaltung eines Wochenmanuals verzichtet. Die Icons (, , ) werden weiterhin zur Verdeutlichung der Übungsstruktur gesetzt. Alle Übungen aus Teil II sind natürlich für das Gruppensetting einer Klasse oder einer AG / GTA beschrieben. Die Icons machen eine schnelle Zuordnung, ob es sich um eine Gruppen- / Partner- oder Einzelübung handelt, möglich.

Der Zugang zu einer Haltung der Achtsamkeit ist vergleichbar mit einem Haus, das durch viele Türen zu betreten ist. Das Erleben der Selbstwirksamkeit fängt bei der Wahl der Schlüssel an.

Zu einigen Themen gibt es Zusatzmaterialien, die Sie unter http://www.junfermann.de (Mediathek zum Titel) downloaden können. Sie erkennen diese Dokumente an diesem Symbol .

1  Um eine durchgängige Nennung beider Geschlechter zu vermeiden, nutzen wir die an der Universität Leipzig geläufige Sternchenform. Um der Lesbarkeit willen richtet sich die grammatikalische Fortführung des Satzes nach der femininen Form, da diese zuletzt vom Auge erfasst wird.

2  Aus datenschutzrechtlichen Gründen werden diese Portfolioauszüge (im Text jeweils kenntlich gemacht durch den Begriff „Portfolio“) und Interviews (im Text jeweils kenntlich gemacht durch den Begriff „Interview“), die mit freundlicher Genehmigung der Teilnehmenden freigegeben sind, großenteils anonym zitiert. Die Interviews wurden mündlich geführt, transkribiert und der besseren Leserbarkeit willen von Füllwörtern, Wortwiederholungen etc. gereinigt.

TEIL I: DIE HALTUNG DER ACHTSAMKEIT

1. Bewusst im Hier und Jetzt

„Nur der Tag bricht an, für den wir wach sind.“

Henry Thoreau

„Da bin ich“, ruft mein dreijähriger Sohn, während er die Tür aufreißt, mit den schlammverschmierten Stiefeln den Flur entlangrast und sich in meine Arme wirft. Da ist er, ganz im Moment, ohne sich um das Vorher oder Nachher zu kümmern. Voller Wiedersehensfreude.

Diese Qualität des Erlebens kennen wir alle, diese Momente, in denen wir „im Flow“ sind und alles zusammenzupassen scheint; Momente, in denen wir uns und das Leben um uns herum intensiv wahrnehmen und ganz in dem aufgehen, was wir gerade tun. Dies müssen nicht nur die „leichten“ Augenblicke des Lebens sein. Auch wenn wir anfallende Schwierigkeiten mit Ruhe und Kreativität angehen, hinterlässt das ein erfüllendes Gefühl des Beschwingtseins in uns.

Was all diesen Flow-Momenten gemein ist, ist das Sein im Moment, das von Klarheit und intensiver Wahrnehmung geprägt ist.

Werden wir älter und reflektierter, verlieren wir die kindliche Unbefangenheit des Dreijährigen, der noch nicht die Folgen seines Handelns überblickt und sich so ganz unbefangen auf den Moment einlassen kann. Er antizipiert vor seinem Tun nicht, dass anschließend der Flur mit Eimer und Putzlappen erst mal vom Schlamm befreit werden muss.

Die kindliche Unbefangenheit geht uns verloren, dafür präsentiert uns unser Gehirn fast zeitgleich Folgen und Konsequenzen einer überstürzten Impulshandlung. Wir wägen alle möglichen Eventualitäten ab und kommen so „zum Glück“ zu dem Entschluss, dass auch das Ausziehen der Schuhe vor dem Eintreten unserer Wiedersehensfreude keinen Abbruch tut. Nur ist es meist sehr viel mehr, was nottäte, hinter uns gelassen zu werden, als nur unsere Schuhe. Denn wie oft ist das Ankommen belastet von dem Stress des Arbeitstages und den Gedanken daran, was noch erledigt werden muss. Und dies steht zudem nicht selten noch in Widerstreit mit den eigenen Wünschen und Bedürfnissen: „Eigentlich will ich nur noch in die Badewanne und dann ins Bett!“ So findet ein richtiges Ankommen, das ungetrübte „Da bin ich“, nicht mehr statt.

An meiner Tür hängt eine Kalligrafie von Thich Nhat Hanh, einem vietnamesischen Zen-Meister (Abbildung 1.1):

Abbildung 1.1: Kalligrafie von Thich Nhat Hanh (mit freundlicher Genehmigung des Europäischen Instituts für Angewandten Buddhismus)

Sie erinnert mich daran, anzukommen, den Raum immer wieder neu zu betreten und mich an dem, was da ist, zu erfreuen. Ich bin zu Hause.

Im Moment ankommen – darum geht es in der Achtsamkeitspraxis. Und dies ist zugleich die Basis für Gesundheit und Resilienz (nicht nur) im Schulalltag.

* * *

Achte gut auf diesen Tag

Achte gut auf diesen Tag,

denn er ist das Leben –

das Leben allen Lebens.

In seinem kurzen Ablauf liegt alle Wirklichkeit

und Wahrheit des Daseins.

Die Wonne des Wachsens – die Größe der Tat –

die Herrlichkeit der Kraft.

Denn das Gestern ist nur ein Traum

und das Morgen nur eine Vision.

Das Heute jedoch – recht gelebt –

macht jedes Gestern zu einem Traum voller Glück

und jedes Morgen zu einer Vision voller Hoffnung.

Darum achte gut auf diesen Tag.

(unbekannt, aus dem Sanskrit)

* * *

1.1 Achtsamkeit – was ist das eigentlich?

Diese Frage stelle ich meinen Student*innen immer in der ersten Sitzung des Seminars „Kommunikation und Achtsamkeit“. Häufige Antworten darauf sind: „Der Respekt vor dem Gegenüber“, „die Fähigkeit, sich einzufühlen, empathisch zu sein“, „Wertschätzung entwickeln“. Diese Definitionen lenken den Blick auf unser Gegenüber, nach außen. Andere Student*innen erweitern die Perspektive und beziehen sich selbst mit ein: „Es geht darum, sich selbst zu spüren, die eigenen Emotionen und Gedanken wahrzunehmen.“ Es erfolgt also eine Aufteilung in Fremd- und Selbstwahrnehmung. Ich stelle daraufhin die Definition von Paul Grossmann vor (2004, S. 73):

„Achtsamkeit ist durch ein gelassenes, nichtwertendes und kontinuierliches Gewahrsein wahrnehmbarer geistiger Zustände und Prozesse von Augenblick zu Augenblick gekennzeichnet. Dies bedeutet ein anhaltendes, unmittelbares Gewahrsein körperlicher Empfindungen, Wahrnehmungen, Affektzustände, Gedanken und Vorstellungen.“

Was ich an dieser Definition sehr schätze, ist, dass es hier keine Unterscheidung oder Trennung von Ich und Du gibt. Es ist ein „unmittelbares Gewahrsein körperlicher Empfindungen, Wahrnehmungen, Affektzustände, Gedanken und Vorstellungen“, sowohl der eigenen Zustände als auch der meines Gegenübers: Ich nehme mein Gegenüber in der Interaktion automatisch über meine Sinne wahr. In meinem Gehirn (in den sogenannten sensorischen Projektionszentren) werden diese Reize mit den bereits gespeicherten Daten abgeglichen und Spiegelneurone geben Signale an meine Nervensysteme, sodass ich empfinden kann, wie sich mein Gegenüber fühlt (s. Kasten). In der Neurowissenschaft spricht man von einer affektiven Resonanz (vgl. Singer 2015, S. 45). Wird meinem Partner Schmerz zugefügt, werden bei mir dieselben Hirnareale aktiviert wie bei eigenem Schmerzempfinden. Ist man jedoch für die eigenen Emotionen und körperlichen Reaktionen nicht empfänglich, wie es etwa bei Alexithymie (Gefühlsblindheit) der Fall ist, dann entsteht eine mangelnde (oder gar keine) Aktivierung der empathiebezogenen Bereiche im Gehirn (ebd., S. 50). Um sich in andere Menschen einfühlen zu können, um sie zu verstehen, muss man also zunächst die eigenen Emotionen und Körperzustände begreifen. Alle Informationen über die Außenwelt haben eine körperliche Entsprechung in der eigenen Innenwelt. Die Grenze lässt sich nicht ziehen, wo die eigene Wahrnehmung oder die Wahrnehmung des Gegenübers stattfindet. Martin Buber spricht vom „Strom der Wechselwirkung“ (2002, S. 33) und stellt die Beziehung an den Anfang alles Zwischenmenschlichen (ebd., S. 22).

Die Entdeckung der Spiegelneuronen bietet zu diesem Prozess eine neuropsychologische Erklärung an:

Spiegelneurone

Ob wir Handlungen bei anderen beobachten oder sie selbst ausführen: Für Spiegelneurone ist das offenbar ein und dasselbe.

„Spiegel-Nervenzellen simulieren beziehungsweise imitieren in unserem Gehirn ein Spiegelbild der inneren Vorgänge, die sich in anderen Personen abspielen, vorausgesetzt, diese Personen befinden sich im ‚Einzugsbereich‘ unserer fünf Sinne. Sehen wir einen anderen Menschen eine Handlung ausführen, so wird die Beobachtung dieser Handlung in unserem Gehirn Nervenzellen in Aktion setzen, die auch dann aktiv werden müssten, wenn wir die beobachtete Handlung selbst ausführen müssten. Spiegelneurone üben also ‚heimlich‘ mit (…).“

(Bauer 2010, S. 8)

Mittlerweile weiß man auch, dass sie nicht nur anspringen, wenn wir eine Handlung mitverfolgen, sondern dass sie uns ebenso fühlen lassen, was andere fühlen (z. B. Freude oder Traurigkeit, Begeisterung oder Desinteresse, Wohlbefinden oder Schmerz).

„Unsere Spiegelzellen informieren uns nicht nur über die inneren Vorgänge anderer Menschen, sie können uns auch anstecken. Ein Mensch (z. B. ein Pädagoge), der jede Körperspannung vermissen lässt und gähnt, wird mich (oder die Schüler) nicht nur spüren lassen, dass er müde ist, er wird meinen eigenen Befindenszustand (beziehungsweise den der Schüler) verändern.“

(Ebd.)

Die Resonanzen werden sowohl von der verbalen Sprache als auch von der bewusst oder unterbewusst wahrgenommenen Körpersprache ausgelöst, denn Spiegelneurone sind präreflexiv: Sie arbeiten, ohne dass wir bewusst nachdenken müssen.

Der zweite Aspekt der obigen Achtsamkeitsdefinition von Grossmann schildert die Wahrnehmung von „Augenblick zu Augenblick“. Oft stecken wir in Sorgen oder Erinnerungen an die Vergangenheit fest; überlegen wieder und wieder, wie wir uns in schwierigen Momenten verhalten haben. Oder wir verlieren uns in Planungen für die Zukunft: Was muss noch alles erledigt werden? Wer wartet auf meinen Anruf? Welche Termine muss ich einhalten? Die To-do-Liste ist schier endlos. Sowohl das Sicherinnern als auch das Planen haben einen Wert, nur findet beides oft in Momenten statt, in denen wir weder die jeweilige Thematik bearbeiten noch klare Entscheidungen treffen können. Und so bewegen sich unsere Gedanken in immer fortwährenden Schleifen. Diese ergänzen die bereits bestehende Gedankenflut oft nur um ein „Daran sollte ich auch noch denken“, führen aber nicht zu einem effektiven Ergebnis und „zersplittern“ unsere Aufmerksamkeit. Es ist uns nicht möglich, dem Kind vor uns zuzuhören, wenn wir parallel dazu innerlich den Ablauf der nächsten Stunde durchgehen. Hier kommt der lang gehegte Mythos des Multitaskings ins Spiel. Dass er sich so lange hält, entspricht sicher unserem Wunsch, die vielen Dinge, die es zu tun gilt, quasi übereinanderzuschieben und dadurch Zeit zu sparen. Und es passt auch in das von Selbstoptimierung und Effizienz geprägte Bild des perfekten Arbeitnehmers, wie es ein Artikel im Handelsblatt beschreibt: „Mitarbeiter, die wie ein Computer mehrere Aufgaben zugleich erledigen können, sind der Traum eines modernen Arbeitgebers“ (Wolf 2010, S. 1). Jedoch bleibt dies ein Traum, der aufgrund unserer neuronalen Ausstattung nicht erfüllt werden kann. Denn unser Gehirn kann nicht zwei Prozessen parallel folgen. Stattdessen springen wir immer zwischen ihnen hin und her. Die Folge: Es sinkt die Qualität unserer Arbeit und die „Erledigung der eigentlichen Aufgabe braucht mehr Zeit“ (ebd.). Das Fazit liegt nah, die Dinge klar voneinander zu trennen. Höre ich der Schülerin zu, dann bin ich ganz bei ihr und kann deshalb auch auf sie adäquat reagieren. Bin ich noch in einer anderen Tätigkeit gebunden, bitte ich sie kurz, zu warten, um ihr dann meine ganze Aufmerksamkeit zuteilwerden zu lassen.

Zum „Gewahrsein von Augenblick zu Augenblick“ gesellen sich jetzt noch zwei weitere Qualitäten hinzu:

die Gelassenheit und

das Nichtwerten.

Gelassenheit beschreibt die Fähigkeit der Emotionsregulation, auf schwierige Situationen mit Ruhe zu reagieren. Diese ist eng verbunden mit der Art und Weise, wie wir mit unseren eigenen Vorstellungen und Erwartungen umgehen. Oft haben wir ein ganz genaues Bild davon im Kopf, wie wir eine Situation gerne hätten. Ein Beispiel dazu: Wenn ich nach einem langen Arbeitstag nach Hause komme, freue ich mich auf einen schönen Abend mit der Familie. Kaum durch die Wohnungstür getreten, merke ich aber, dass die Situation eine ganz andere ist. Es herrscht „dicke Luft“ und keiner hat richtig Lust, etwas gemeinsam zu unternehmen. Ich kann jetzt noch meine Enttäuschung obendrauf packen. Ich kann sie aber auch annehmen, wie sie ist, von meiner Erwartung loslassen, sie zurückstellen, bis die Lage sich geklärt hat. Erst in der Akzeptanz, dass die Situation sich ganz anders darstellt, als ich sie erhofft habe, komme ich mit der Wirklichkeit in Kontakt und kann adäquat auf sie reagieren. Als Folge dieser Akzeptanz entsteht Gelassenheit. Etymologisch bedeutet der mittelhochdeutsche Ausdruck gelāʒen sowohl „gottergeben“ im Sinne von „das Schicksal annehmend“ als auch sich „niederlassen“ (Wahrig 1986), welches eine interessante Beziehung zum „Niederlassen im Moment“, in der Meditation, aufweist. Übrigens: Als der Philosoph und Theologe Meister Eckhart im Mittelalter den Begriff der Bildung einführte, definierte er als ihr Ziel das Erlernen von Gelassenheit (vgl. Bechthold-Hengelhaupt 1990).

Gelassenheit, die aus Akzeptanz resultiert, ist aber nicht zu verwechseln mit Gleichgültigkeit, die ein Nichtagieren impliziert. Im Sichniederlassen im Moment, also im Akzeptieren, dass es jetzt genau so ist, wie es ist, und nicht so, wie ich es mir wünschen würde, liegt die Basis, die adäquates Handeln ermöglichen kann. Komme ich in eine Klasse und ziehe dort ganz nach Plan meinen Unterricht durch, ohne überhaupt zu beachten, dass die Schüler*innen vollkommen desinteressiert und unruhig sind, kann ich mir zwar vorgaukeln, dass ich eine gute Stunde gehalten habe, aber mit der Realität hat das nichts zu tun. Die Schüler*innen werden vom Inhalt der Stunde kaum etwas abspeichern. Nehme ich die Situation von Anfang an wahr und akzeptiere den momentanen Zustand der Schüler*innen als „nicht in der Lage, weiteren Stoff aufzunehmen“, dann werde ich in der Lage sein, genau mit dieser Situation umzugehen und vielleicht eine aktivierende Methode an den Beginn der Stunde zu stellen, eine kurze Bewegungseinheit oder auch eine Achtsamkeitsübung. Das Annehmen der Situation führt dazu, dass ich – dann eben über den Umweg – zu meinem Ziel gelange, nämlich den Stoff zu vermitteln. „Störungen haben Vorrang“, so würde es Ruth Cohn ausdrücken. Ein Ignorieren oder bewusstes Ausklammern der Störungen führt nur dazu, dass sie sich auf anderen Wegen Bahn brechen.

Eng verbunden mit der Akzeptanz ist die Qualität des Nichtwertens. Hierzu eine Geschichte, die vielen sicher bekannt ist und die ich in den unterschiedlichsten Kontexten gehört habe. Verschriftlicht wurde sie das erste Mal im zweiten Jahrhundert v. Chr., im „Huainanzi“, den Schriften des daoistischen Meisters von Huainan (Larre, Robinet & Rochet de la Vallée 1993). Ich selbst erzähle sie so:

* * *

In den großen Wäldern lebte in einem abgeschiedenen Dorf ein alter Bauer. Er hatte nur einen einzigen Sohn und ein einziges Pferd. Nicht viel könnte man denken, aber auch nicht wenig. Der Sohn half fleißig bei der Arbeit auf dem Feld. Das Pferd auch.

Eines Tages nach getaner Arbeit brachte der Sohn das Pferd auf die Weide und legte sich dann schlafen. Doch er hatte das Gatter nicht richtig verschlossen und des Morgens war das Pferd verschwunden. Da kamen die Nachbarn gelaufen: „Welch ein Unglück, das einzige Pferd, das du hattest! Wie willst du nun dein Feld bestellen?“ Der Bauer betrachtete den leeren Stall und sprach: „Ob es ein Glück ist oder ein Unglück, man weiß es nicht.“ Und dann machte er sich ohne Pferd an die Arbeit.

Als er am nächsten Morgen zur Weide kam, stand dort nicht nur sein Pferd, das zu seinem sicheren Heim zurückgekehrt war, nein, es hatte sich auch noch einen Gefährten mitgebracht. Einen prächtigen Wildhengst aus den Bergen. Die Nachbarn staunten: „Welch ein Glück, so ein wunderbares Pferd!“ Und der Bauer, der sich die beiden besah, sagte: „Ob es ein Glück ist oder ein Unglück, man weiß es nicht.“

Der Sohn des Bauern kümmerte sich gut um den Neuankömmling, und schließlich begann er, ihn zuzureiten. Aber er war ja nur das alte Arbeitspferd des Vaters gewöhnt. Kaum hatte er sich auf den Rücken des Hengstes geschwungen, da lag er auch schon wieder unten und fiel so, dass er sich ein Bein brach. Dieses wuchs ihm krumm zusammen, sodass er von diesem Tag an hinkte. „Ach“, sprachen die Nachbarn, „welch ein Unglück! Nun hat dein Sohn einen Hinkefuß, und das alles wegen eines Pferdes.“ Was sollte er da wohl entgegnen? „Ob es ein Glück ist oder ein Unglück, man weiß es nicht“, und bedächtig nickend führte er sein Tagewerk weiter aus. Alsbald kam der Krieg übers Land und alle jungen Männer wurden eingezogen. Nur den Sohn des Bauern ließen sie da, denn einen Hinkefuß konnte man nicht bei den Soldaten gebrauchen. „Welch ein Glück!“ rufend kamen gleich die Nachbarn angelaufen: „Das Leben deines Sohnes ist sicher.“ Und der Bauer? Was er erwiderte, nun, das wisst ihr schon …

* * *

Wir sind schnell dabei, jede Erfahrung zu bewerten als gut oder schlecht, angenehm oder unangenehm. Lassen wir die Bewertung weg, kommen wir mit der Realität in Berührung. „Es ist, was es ist“, schreibt Erich Fried in seinem Gedicht über die Liebe.

Das nichtwertende Zurückkommen in den Moment ermöglicht uns, ihn mit seiner ganzen Fülle an Schwierigkeiten, aber auch an Potenzial und Möglichkeiten zu entdecken: „Wenn ich mich so, wie ich bin, akzeptiere, dann ändere ich mich“ (Rogers 2018, S. 32).

1.2 Von den Anfängen zu McMindfulness

Achtsamkeit ist keine neumodische Erfindung, sondern basiert auf einer Grundhaltung, die wir alle mehr oder weniger ausgebildet haben und die seit jeher die menschliche Suche nach der Qualität und dem Sinn des Lebens begleitet. So gibt es mittlerweile auch Studien, die die natürlich vorhandene, durch unsere Lebensbiografien entwickelte Achtsamkeit messen (Geiger, Haak & Van der Meer 2016).

Nur streben Menschen danach, Fähigkeiten, die sie als positiv erkannt haben, weiterzuentwickeln. Und so wurden kontemplative Praktiken, die die Entwicklung von Konzentration, Mitgefühl und Präsenz förderten, in vielfältigen religiösen und kulturellen Traditionen auf der ganzen Welt genutzt.

Relativ neu ist die systematische Aufbereitung in säkularen Programmen, die kontemplative Praxis und psychoedukative Elemente verbinden. Das am weitesten verbreitete und besterforschte Programm ist das von Jon Kabat-Zinn an der Universitätsklinik in Worcester (USA) in den 1970er-Jahren entwickelte MBSR-Programm: Mindfulness-Based Stress Reduction. Kabat-Zinn ließ sich für die kontemplativen Bestandteile seines Programms von Übungen der buddhistischen Vipassana- und Zen-Tradition inspirieren und verband diese mit Yoga-Übungen und Erkenntnissen der westlichen Psychologie und Stressforschung. Ursprünglich wurde dieses Programm für Patienten mit chronischen Schmerzen entwickelt, es fand aber bald Einzug in der Behandlung anderer stressbedingter Erkrankungen und wird mittlerweile als Prävention von den Krankenkassen anerkannt. Ausgehend von diesem Programm wurden weitere Formate und inhaltliche Neuausrichtungen entwickelt, sei es in der Therapie, im Coaching, der betrieblichen Gesundheitsförderung oder im Bildungsbereich (MBE – Mindfulness-Based Education).

Durch die großflächige Verbreitung und die schnell wachsende Popularität des Themas in den letzten Jahren ist jedoch ein Phänomen aufgetreten, welches von Kritikern als McMindfulness bezeichnet wird: Immer mehr Programme werden angeboten, Achtsamkeits-Apps werden in vielfältigen Versionen produziert, die Wellness-Branche hat das Thema entdeckt. Große Firmen wie Google bieten ihren Mitarbeitenden Achtsamkeitsprogramme an (Search inside yourself), um diesen das Wohlbefinden zu ermöglichen, das Kreativität und Entwicklungsgeist fördert. Ist diese Entwicklung zu begrüßen, weil auf diese Weise einer breiten Bevölkerungsgruppe Zugang zu einem Thema ermöglicht wird? Oder wird die Essenz der Programme immer mehr verwässert und führt so zum Verlust von Qualität?

Wichtig ist, immer wieder zu hinterfragen, welche Qualitäten durch die Achtsamkeitspraxis gestärkt werden sollen. Denn Achtsamkeit, verstanden als Tool zur Stressreduktion und Aufmerksamkeitssteigerung, führt keineswegs automatisch zu prosozialem, konstruktivem oder gesundheitsförderndem Verhalten. Spätestens seitdem die US-amerikanischen Streitkräfte Achtsamkeitstrainings mit dem Ziel durchführen, einen „mentalen Panzer“ zu entwickeln3, wird zunehmend der Versuch unternommen, die Haltung der Achtsamkeit von dem Ziel der Selbstoptimierung abzugrenzen. Dafür braucht es den Rückbezug der säkularisierten Programme der westlichen Psychologie auf die traditionellen, religiös geprägten Systeme. In diesen sind die meditativen Praktiken in ein Wertesystem integriert und befinden sich damit in einem ethischen Rahmen. Im Zuge der Säkularisierung der Praktiken wurden diese Komponenten vereinfacht oder gänzlich außer Acht gelassen. Die Diskussionen der letzten Jahre führen dazu, dass der ethische Bezug durch die Integration der Dimensionen Empathie und Mitgefühl (compassion) wieder größere Beachtung findet (Krämer 2016, S. 345). Ohne die nichtwertende, mitfühlende Haltung sich selbst und seiner Umwelt gegenüber wird Achtsamkeit zum Konzentrationstraining, und als solches ist sie auch zum Training eines Scharfschützen geeignet, sein Ziel besser zu treffen.

Noch ein zweiter wichtiger Kritikpunkt hilft, die Ausrichtung der überhandnehmenden Achtsamkeitsangebote zu überprüfen: Führt die akzeptierende Grundhaltung nicht zu einer Duldung von ungerechten Zuständen? Zwar unterstützt ein Achtsamkeitstraining die Menschen darin, die eigene Balance wieder so weit herzustellen, dass sie nicht ernsthaft erkranken, aber ermöglicht das nicht erst das Aufrechterhalten unmenschlicher, nicht zumutbarer Bedingungen? Wenn Arbeit krank macht, braucht es dann nicht eine Änderung des Systems und nicht die Anpassungsfähigkeit des Einzelnen?

Es ist genau diese Fragestellung, die den Unterschied deutlich macht zwischen der vom Wellness beanspruchten Achtsamkeitsübung, die eine Entspannung, ein Abschalten und damit auch Verdrängen der eigentlichen Realität anstrebt, und dem achtsamen Hinwenden zum Moment, das diesen in seiner ganzen Fülle, sowohl mit den angenehmen als auch mit den unangenehmen Aspekten, wahrnehmbar werden lässt. Damit möchte ich nicht das eine höherstellen als das andere. Es sind nur zwei verschiedene Ansätze, die man bewusst differenzieren sollte, um selbstbestimmt wählen zu können, wann für welche Übung der Moment da ist. Brauche ich einen kurzfristigen, kompletten Abstand zu meiner momentanen Situation? Oder möchte ich mich darin üben, auch angesichts meiner Unsicherheiten und Ängste und trotz der Belastungen, die ich jeweils zu stemmen habe, ruhig, offen und handlungsfähig zu bleiben und auf das „Sich-immer-Ändernde“ zu vertrauen? „Man kann Wellen nicht aufhalten, aber man kann lernen zu surfen.“ Diese Aussage, die Jon Kabat-Zinn von einem Poster über Achtsamkeitspraxis übernommen hat (2013, S. 39), bringt es auf den Punkt. Wenn wir beim „Surfen“ die Augen aufmachen (Achtsamkeit!), sehen wir auch, wenn die nächste Welle zu hoch für uns ausfällt, und wählen selbstbestimmt eine andere Richtung. Diese Auswirkung der achtsamen Haltung wurde sehr schön von einer Arbeitsgruppe unter Leitung des Psychologen und Professors für Gesundheitswissenschaften Niko Kohls dokumentiert. Diese führte ein MBSR-Training in einem Callcenter durch. Das Ergebnis: Während ein Teil der Mitarbeitenden, wie vom Unternehmen erhofft, durch eine höhere Stressresilienz und Selbstfürsorge bessere Leistungen erbrachte, beschlossen andere, ihren Arbeitsplatz aus eben dieser Selbstfürsorge heraus zu kündigen (Lau 2015).

Sehr spannend lesen sich in diesem Zusammenhang auch die ersten Ergebnisse aus dem NRW-Landesmodellprojekt GIK (Gesundheit, Integration, Konzentration), welches seit 2016 in 21 Solinger Grundschulen stattfindet. Modellhaft soll untersucht werden, wie Achtsamkeit im Bildungssystem entwickelt und gefördert werden kann. Dazu wurden interessierte Lehrer*innen schulintern von zertifizierten Achtsamkeitskursleiter*innen in 20-stündigen mehrwöchigen Kursen geschult. Nach der Durchführung konnten klare Verhaltensveränderungen beobachtet werden, die, ausgehend von der Selbstwahrnehmung und -regulation, sich insbesondere auf die Kommunikation im Kollegium und mit den Schüler*innen auswirkten: Bedürfnisse und Grenzen wurden klarer ausgedrückt. Vor allem aber wurde als Konsequenz eine ganze Liste an konkreten, kreativen Neuerungen in den einzelnen Kollegien beschlossen, um eine Kultur des entstressenden und gesundheitsfördernden Miteinanders zu entwickeln (nachlesbar auf http://www.achtsamkeit.com/gik). Viele dieser Anregungen werden Sie im Verlauf des Buches wiederfinden.

Achtsamkeit bedeutet also auch, eine bessere Wahrnehmung dafür zu bekommen, welche Missstände und Ungerechtigkeiten angegangen werden müssen, und deren Auswirkungen „am eigenen Leibe“ zu spüren. Dies führt nicht zum Rückzug, sondern gibt uns die Energie zum bewussten Gestalten unserer Umwelt!

„Ich habe den Eindruck, dass die Menschen, die sich mit Achtsamkeit beschäftigen, eine andere Form von Wachheit bzw. Bewusstheit gegenüber ihrer Umwelt entwickeln. Achtsamkeit trägt dazu bei, dass wir klarere Entscheidungen treffen, wissen, was zu tun ist und wann wir Stopp sagen müssen. Wenn Achtsamkeit dazu beiträgt, dass wir kraftvoll und voller Energie bleiben können, haben wir die Möglichkeit, uns für unsere Rechte und die der Kinder an der Schule gezielt einzusetzen.“

(Nanine Schulz, Lehrerin und Entwicklerin des Polly-Ananda-Programms, im Interview)

1.3 Die Wirkung der Achtsamkeitspraxis

1.3.1 Forschungsgegenstand Achtsamkeit

Neue bildgebende Verfahren machen es möglich, die Wirkungen der Achtsamkeitspraxis, die seit Jahrtausenden physisch und psychisch erfahrbar sind, nun auch neurowissenschaftlich zu belegen. Die Forschung zu Achtsamkeit und Meditation ist in den letzten Jahren exponentiell gewachsen und es würde den Rahmen sprengen, hier ausführlich die aktuellen Ergebnisse zu dokumentieren. Was ich Ihnen an die Hand geben möchte, sind Fakten, die Sie persönlich motivieren können, sich auf die Achtsamkeitspraxis einzulassen, und / oder gegenüber Eltern und Schulleitung als Argumente dienen, diese in der Schule zu implementieren.

Was mich persönlich immer sehr überzeugt hat, ist die Tatsache, dass die meisten in der Achtsamkeitsforschung Tätigen Achtsamkeit selbst praktizieren bzw. im Verlauf ihrer Forschungsarbeit damit begonnen haben. So sah man etwa auf dem interdisziplinären Kongress zur Meditations- und Bewusstseinsforschung in den Hallen der Deutschen Bank, wie die Damen und Herren im Businessoutfit sich zwischen den Vorträgen einen „Atemraum“ gaben oder einfache Yoga-Übungen ausführten (Fritsch 2011). Der Forschungsgegenstand bleibt kein abstraktes Phänomen. Die Ergebnisse für unser eigenes Wohlbefinden, für unsere Lern- und Konzentrationsfähigkeit u. v. m. sind so überzeugend, dass sie zur Umsetzung motivieren.

Allgemeine Auswirkungen

Am besten erforscht ist das bereits erwähnte von Jon Kabat-Zinn entwickelte MBSR-Programm. Dazu einige ausgewählte Ergebnisse internationaler Studien, welche die gesundheitsfördernde, stressreduzierende und die Lebensqualität steigernde Wirkung der Achtsamkeitspraxis belegen:

weniger Stressempfinden (Chiesa & Serreti 2009)

senkt den Blutdruck (Hughes et al. 2013)

lässt weniger depressive Episoden auftreten (Teasdale et al. 2000)

reduziert psychiatrische Symptome (Hofmann et al. 2010), Substanzabhängigkeit (Brewer, Van Dam & Davis 2015) und Essstörungen (Kristeller 2015)

verbessert die Immunfunktion (Davidson et al. 2003)

erhöht die Kreativität (Ostafin & Kassman 2012)

verstärkt Empathie (Shapiro, Schwartz & Bonner 1998)

erhöht das allgemeine Wohlbefinden (Carmody & Baer 2008)

Auswirkung auf Lehrer*innen

In einer 2014 veröffentlichten Studie mit Lehrer*innen unter der Leitung von Silke Rupprecht konnte gezeigt werden, dass selbstregulative Fähigkeiten, wie sie durch Achtsamkeit erworben werden, in Zusammenhang stehen mit Lehrergesundheit und mit erfolgreichem Lehrerhandeln. Rupprecht betont, dass weniger Resignation angesichts von Misserfolgen auftritt und durch die verstärkte Präsenz im Körper die Entspannungs- und Erholungsfähigkeit steigt. Indem man körperliche und psychische Anspannungen schneller wahrnimmt, kann ganz gezielt gegengesteuert werden. Dadurch entstehen mehr Wohlbefinden, Ruhe und Ausgeglichenheit. Angst, Stressgefühle und Depression nehmen ab.

Die „Entwicklung der kognitiven Flexibilität“, festgestellt von Kashdan und Rottenberg (2010), hat entscheidende Auswirkungen auf das Unterrichtsgeschehen. „Wenn ich mich auf eines verlassen kann“, beschreibt ein Kollege seinen Schulalltag, „dann darauf, dass immer alles anders läuft als geplant.“ Je größer die kognitive Flexibilität, desto leichter sind Lehrerinnen und Lehrern situationsadäquate Reaktionen und Veränderungen an der Unterrichtsstruktur oder den Vermittlungswegen möglich.

Durch die Förderung der Selbstreflexion (Farb et al. 2007) können Achtsamkeitsprogramme Lehrkräften helfen, die „Tendenz zu emotionaler Impulsivität (als Reaktion auf Schülerverhalten) zu überwinden, welche zu emotionaler Erschöpfung und Burnout führt“ (Chang 2013, Jennings & Greenberg 2009), und so die Zyklen negativer Impulsivität zu durchbrechen (Safran & Segal 1990). Das kurze Innehalten führt zu der Fähigkeit, selbstbestimmt zu agieren und sich mit effektiven Problemlösungsstrategien zu beschäftigen (ebd.). Wie sehr sich die Emotionsregulation auf das tägliche Unterrichtsgeschehen auswirkt, wird vor allem am zwischenmenschlichen Miteinander sichtbar: Wie die Lehrperson negative Emotionen ausdrücken bzw. steuern kann, trägt viel zur Qualität der Lehrer-Schüler-Beziehung bei (Jennings & Greenberg 2009, S. 500). Und welche Relevanz die Beziehung auf das Classroommanagement hat, wird in einer Metastudie von Marzano, Marzano & Pickering (2003) deutlich: Lehrpersonen, deren Beziehungen zu ihren Schüler*innen eine hohe Qualität aufweisen, haben 31 % weniger auffälliges Verhalten in ihren Klassen. Und nicht nur das, auch die Lernmotivation der Schüler*innen wird durch eine positive Beziehung gefördert (Anderman & Freeman 2004).

Die deeskalierende Wirkung von Achtsamkeit konnte auch diese Schulleiterin eines Leipziger Gymnasiums bei sich selbst beobachten (Interview):

„Wenn ich vergleiche, wie ich mich jetzt verhalte und wie ich früher war, dann entdecke ich tatsächlich ganz viele Unterschiede. Ich denke nach, bevor ich irgendwas tue oder sage, lasse mir für Dinge mehr Zeit und überlege ganz genau, muss das jetzt sein, ist das überhaupt so, wie ich mir das denke, oder ist es eigentlich ganz anders und ich bin nur grad zu sehr im Strudel, um es objektiv zu sehen. (…) Momentan hilft mir das, sehr, sehr gut durchs Leben zu kommen, auch Sachen zu relativieren, die mich früher rausgerissen hätten. Jetzt denke ich, ach, ist gar nicht so wild, ist nicht so schlimm.“

Auswirkung auf Schüler*innen

Zunächst einige der wichtigsten Ergebnisse, um Ihnen einen Überblick zu geben:

Physische und psychische Gesundheit

weniger Schlafstörungen (Bootzin & Stevens 2005)

weniger ADHS-Symptome (Zylowska et al. 2008). Erwähnenswert ist hier auch ein Achtsamkeitstraining mit Müttern, welches zur Reduzierung der ADHS-Symptome bei ihren Kindern führte (Singh et al. 2009), ohne dass Erziehungsratschläge gelehrt wurden.

reduzierte Symptome von Angst, Depression und somatischem Stress bei Zunahme von Selbstwert und verbessertem Schlaf (Biegel et al. 2009)

Resilienz nimmt zu (Zenner, Herrnleben-Kurz & Walach 2014)

Zunahme von Selbstmitgefühl und Selbstsorge (Neff & Dahm 2015)

Wahrnehmung von eigenen kognitiven und physiologischen Zuständen, Regulationsfähigkeit nimmt zu (Mendelson et al. 2010)

Zunahme von allgemeinem Wohlbefinden und persönliche Entwicklung (Lau & Hue 2011)

Ein Meditationstraining mit jugendlichen Straftätern führte zu großer Zufriedenheit, mehr Ruhe und verbesserter Konzentration (Witoonchart & Bartlet 2002). Und Zufriedenheit wird als einer der entscheidensten präventiven Faktoren zur Kriminalitätsvermeidung gezählt (Max-Planck-Gesellschaft 2017).

Aufbau sozialer Kompetenzen

verbessert soziale Kompetenz (Saltzman & Goldin 2008)

interkulturelle Kompetenzen und Bewusstheit für sich selbst und andere steigt (Wall 2005)

eigene Emotionen können erlebt, ausgedrückt und ertragen werden (Biegel et al. 2009; Semple et al. 2010)

weniger Aggressivität (Singh et al. 2007) und größere Impulskontrolle (van de Weijer-Bergsma et al. 2012; van de Oord, Bögels & Peijnenburg 2012)

Verbesserung der Aufmerksamkeit

Die Stärkung der Aufmerksamkeit durch veränderte Hirnstrukturen, welche bei Erwachsenen nachgewiesen ist (Cahn & Polich 2006), konnte bei Kindern und Jugendlichen bestätigt werden. Insbesondere folgende Aspekte, die gleichsam starke Prädiktoren für den Schulerfolg darstellen, wurden dabei belegt:

selektive Aufmerksamkeit, einhergehend mit einer Zunahme der Kreativität, kognitiven Flexibilität und der Merkfähigkeit für den Unterrichtsstoff (Napoli, Krech & Holley 2005)

Stärkung des Arbeitsgedächtnisses und der Konzentration, des logischen Denkens, von geistiger Flexibilität und Problemlösefähigkeit sowie Planung und Durchführung kognitiver Prozesse (Flook et al. 2010)

Interessant ist, dass die wiederholte Lenkung der Aufmerksamkeit während der Meditation die entsprechenden Hirnareale vergleichbar einem Muskel trainiert. Der anteriore cinguläre Cortex (ACC), der für die exekutive Aufmerksamkeit zuständig ist, wird durch Meditation in Funktion und Struktur gestärkt (Hölzel et al. 2007). Die sogenannte weiße Substanz, das Nervengewebe des Zentralnervensystems, das aufgrund seiner Myelinisierung weiß erscheint, wird verändert. Die weiße Substanz des Gehirns bestimmt nach heutigem Erkenntnisstand die Verstandesarbeit, die soziale Kompetenz und den Lernerfolg viel stärker mit als früher vermutet. Und auch eine „zunehmende Konnektivität mit anderen Regionen“ wurde festgestellt (Tang et al. 2012).

Die Vermutungen, die in vergangenen Jahrhunderten noch nicht belegt werden konnten, werden heute zu neurowissenschaftlichen Fakten. „Es sei der Geist, der sich den Körper baue, schrieb Friedrich Schiller einst im ‚Wallenstein‘. Zug um Zug erkennt die Neurowissenschaft, wie richtig der Dichter – und examinierte Arzt – damit lag: Die Seele kann den Leib verändern“ (Blech 2013).

Und so möchte ich nach all diesen Studien einer Studentin das Wort geben, die ihr persönliches Erleben schildert und davon inspiriert einen Appell an das gesamte Bildungswesen richtet (Portfolio):

„Ich persönlich habe während des Seminars Achtsamkeit kennengelernt als einen Weg, zu sich selbst zurückzukehren, einen Schritt zurückzutreten aus der beschleunigten, komplexen Alltagswelt und das Wesentliche wieder im Blick zu haben. (…) Während meiner gesamten Schullaufbahn kam das Thema Achtsamkeit nie zur Sprache und auch der Umgang mit eigenen Gefühlen und Gedanken wurde sehr selten thematisiert. Letztendlich wusste ich (…) nicht, was ich gegen Ängste und Stress tun könnte, und habe mich diesen Empfindungen gegenüber ebenfalls eher ausgeliefert gefühlt. Das Seminar hat mich dazu gebracht, viele Prozesse (z. B. eigene Bewertungssysteme) genauer zu untersuchen und mir Praktiken anzueignen, die mich vielleicht ein Leben lang begleiten können.

Besonders für Schüler und Schülerinnen im heutigen, stark selektierenden Schulsystem halte ich es für enorm wichtig, mit Stress und den eigenen Ängsten umgehen zu können. Darüber hinaus ist es auf dem Gebiet der Hirnforschung bereits erwiesen, dass negative Emotionen beim Lernen hinderlich sein können und eine ‚positive Grundstimmung‘ förderlich ist, vor allem dann, wenn es um innovative Ansätze und kreative Ideen geht. Meiner Meinung nach sollte das Thema unbedingt schon früher und am besten an alle Menschen herangetragen werden, unter anderem zur Vorbeugung von psychischen Erkrankungen und zur Stärkung des Selbstkonzepts und vor allem der Selbstwirksamkeitsüberzeugung, die ich für eine der wichtigsten Ressourcen halte, zunächst für die Motivation, aber vor allem für das Lernen allgemein. Somit sollte es meiner Meinung nach als Aufgabe jeder Schule betrachtet werden, alle Schüler, wenn nicht alle Beteiligten des Bildungsprozesses, auf dem Gebiet der Achtsamkeit auszubilden.“

Überlassen Sie also dieses Feld nicht der Forschung, sondern probieren Sie selbst aus, welche Wirkungen Achtsamkeit auf Sie hat, denn wie Carl Rogers es ausdrückt:

„Erfahrung ist für mich die höchste Autorität. Der Prüfstein für Gültigkeit ist meine eigene Erfahrung. Keine Idee eines anderen und keine meiner eigenen Ideen ist so maßgeblich wie meine Erfahrung. Ich muss immer wieder zur Erfahrung zurückkehren, um der Wahrheit, wie sie sich mir als Prozess des Werdens darstellt, ein Stück näher zu kommen.“

(Rogers 2018, S. 39)

1.3.2 Die eigene Erfahrung als Prüfstein

„Wenn man mit den Übungen der Achtsamkeit beginnt, entdeckt man in der Regel schnell das Chaos im eigenen Kopf, eine Fülle an Gedanken. So war meine erste Erfahrung nicht die eines wunderbaren, harmonischen inneren Gleichgewichts, sondern die Beobachtung, dass da so einiges in meinem Schädel los ist.“ So beschreibt der Gymnasiallehrer Max Althammer (2016) seine ersten Erfahrungen mit der Achtsamkeitspraxis. Diese erst mal ernüchternde Erfahrung machen viele Anfänger. Die Motivation, sich mit Achtsamkeit auseinanderzusetzen, besteht in der Regel darin, mehr Ruhe und Gelassenheit zu erfahren, in der Schnelllebigkeit des Alltags Halt zu finden. So kann es manchmal enttäuschend sein, im Innehalten zunächst mit der Fülle an Gedanken konfrontiert zu werden. Und doch ist genau dies der erste Schritt: anschalten statt abschalten. Hinschauen statt verdrängen. Im Kontakt mit der Realität sein.

Im Neuerleben der eigenen Wirklichkeit kann eine andere Gewichtung der Wahrnehmung entstehen. Eine Oberstufenschülerin aus der Achtsamkeits-AG des Friedrich-Ebert-Gymnasiums in Berlin erzählt (Interview):

„Was mir direkt dazu einfällt, ist, dass Achtsamkeit für mich die Lebensqualität in vielerlei Hinsicht ungemein steigert. Weil du dir selbst einfach so viel bewusster wirst, sowohl über die guten Dinge als auch über die schlechten. Aber du lernst dann, mit den schlechten besser umzugehen und die Guten mehr zu gewichten. Das hilft mir, in die Mitte zu kommen und den Fokus zu finden. Das gibt mir so viel an – wie gesagt – Lebensqualität und das ist ein sehr starkes Wort für mich. Aber ich meine das auch so: Das verbessert wirklich viel.“

Die Schülerin macht dies auch an ihren Lern- und Prüfungserfahrungen fest:

„Achtsamkeitsübungen helfen mir, wenn ich auf so einem hohen Stresslevel bin, die Mitte zu finden, etwa während der Klausuren, wenn ich merke, ich habe eine Schreibblockade, ich komme nicht weiter. Das ist mir schon so oft passiert, dass ich vergessen hatte, zu essen und zu trinken, weil ich so im Schreibfluss drin war. Und auf einmal habe ich eine Blockade und weiß überhaupt nichts mehr. Dann einen Schritt zurückzutreten, noch mal durchzuatmen, sich einfach ein Stück davon zu distanzieren, was zu essen oder zu trinken – diese Pause hätte ich mir früher nie gegeben. Aber mir ist klar geworden, wie wichtig es ist, auf sich selbst zu achten. Und danach einfach alles noch einmal von vorne zu lesen, diese ganze Gelassenheit da mit reinzubringen. Ich wende dann keine spezifische Übung an, sondern einfach nur dieses Mindset, diese Haltung, alles achtsam zu sehen.“

Kontakt zu mir selbst – Kontakt zum Gegenüber

Der Schulalltag ist geprägt von zahlreichen, schnell wechselnden Kontakten. Sie haben als Fachlehrer mit vollem Deputat bis zu 200 Schüler*innen in der Woche, dazu kommen Kolleg*innen und Eltern. Und dennoch sollten diese vielfältigen Begegnungen von einer wirklichen und authentischen positiven Beziehung zum Gegenüber geprägt sein. Die Bedeutung dieser Beziehungsfähigkeit für das Lernen wurde in den letzten Jahren sehr stark diskutiert, spätestens seit mit der Hattie-Studie (2010) wieder die Persönlichkeit der Lehrperson in den Fokus genommen wurde. „Positive Beziehungen, eine fürsorgliche Haltung der Lehrperson sowie eine positive Lernatmosphäre gelten nebst anderen Faktoren als Voraussetzungen für motivierte Schülerinnen und Schüler und folglich für deren Lernerfolg. Die Hirnforschung liefert weitere Belege dafür“ (Vogel 2017, S. 9).

Doch angesichts der zahlreichen unterschiedlichen Begegnungen im Schulalltag scheint die Forderung nach Beziehungen dieser Art fast unmöglich. „Ich hatte so viele Kontakte zu managen, dass ich nicht mehr in den einzelnen Kontakt zu den Schülern gehen konnte und zunehmend den Bezug verloren habe. Zu meinen Schülern, aber auch den Bezug zu meiner eigenen Motivation, Lehrer zu sein. Aus dieser Unzufriedenheit habe ich mich der Achtsamkeitspraxis zugewandt“, erzählt Max Althammer (2016), der diese mittlerweile nicht nur für sich selbst ausübt, sondern sie im Projekt „Achtsame Schule“ an Schüler*innen, Kolleg*innen und Eltern vermittelt.

Wie kann Achtsamkeit positiv zu unseren Beziehungen beitragen? Wir haben uns bereits das Prinzip der empathischen Wahrnehmung in der Definition der Achtsamkeit (vgl. Abschnitt 1.1) angeschaut. Das empathische Verstehen meines Gegenübers läuft über den Kontakt zu mir selbst, zu meinen körperlichen Empfindungen, die mir die Informationen darüber liefern, wie es meinem Gegenüber geht. Nur ist gerade diese Eigenwahrnehmung im Lehrberuf extrem schwierig. Wenn Sie sich im Unterricht beobachten, wohin geht dann Ihre Wahrnehmung? Nehmen Sie eigene seelische Vorgänge oder die der Schüler*innen wahr? Viele Lehrer*innen beschreiben, dass ihre Aufmerksamkeit fast ausschließlich auf Tätigkeiten der Schüler*innen gerichtet ist (Miller 2005). Eigene Emotionen oder körperliche Befindlichkeiten werden kaum wahrgenommen. Damit sinkt aber auch die Fähigkeit eines empathischen Wahrnehmens des Gegenübers. Und nicht nur das: Auch das eigene Wohlbefinden ist gefährdet. Joachim Bauer nennt im Freiburger Modell die Beziehungsarbeit als einen der drei Bestandteile des „magischen Dreiecks“ der Lehrergesundheit (neben der Identität und sozialen / kollegialen Unterstützung). „Da fortgesetzt gestörte Beziehungsabläufe den Menschen krank werden lassen, kommt in Berufen, in denen das Beziehungsgeschehen eine herausgehobene Rolle spielt, vorbeugenden Maßnahmen gegen psychosomatische Erkrankungen eine besondere Rolle zu. Dies betrifft in besonderem Maße den Lehrerberuf“ (Bauer, Unterbrink & Zimmermann 2007, S. 4).

Achtsamkeit bietet die Möglichkeit, den Fokus zu erweitern und das eigene Innenleben nicht mehr länger zu vernachlässigen. Insbesondere die Steigerung der Interozeption, also der Fähigkeit, auf Reize aus dem eigenen Inneren zu reagieren, ist hinlänglich belegt (u. a. Chiesa 2010). So wird eine neue Beziehungsqualität zu sich selbst und somit auch zu den Schüler*innen möglich:

„In den zwei Jahren, in denen ich jetzt Achtsamkeit an der Schule praktiziere, konnte ich beobachten, wie sehr sich diese Beziehungen (zu Kollegen, Eltern und Schülern) verbessern, und meine Erklärung dafür ist ziemlich einfach. Jeder Mensch will wahrgenommen werden, und jeder Mensch will als der, der er ist, wertgeschätzt werden. Achtsamkeit ermöglicht es mir, im Unterricht nicht nur mich mit mir selbst zu verbinden, sondern auch jeden einzelnen Schüler in den Blick zu nehmen und zumindest einen kurzen Moment wirklich wahrzunehmen. Das spüren die Schüler. Und das führt dann dazu, dass sich ein höheres Maß an Vertrauen bildet. Auf diese Lehrer-Schüler-Beziehung des gegenseitigen Vertrauens und der Wertschätzung lässt sich dann auch ein guter, produktiver Unterricht gestalten.“

(Althammer 2016)

Tatsächlich gibt es kein Patentrezept für eine stets gelingende Umsetzung von Beziehungsfähigkeit und wertschätzender Kommunikation. So sind Schulungsprogramme zum Scheitern verurteilt, die auf einem immer gleichen Lösungsansatz bestehen. Was es zu stärken gilt, ist unsere lebendige Präsenz.

„Jede lebendige Situation hat ein neues Gesicht, nie dagewesen, nie wiederkehrend. Sie verlangt eine Äußerung von Dir, die nicht schon bereitliegen kann. Sie verlangt nichts, was gewesen ist. Sie verlangt Gegenwart, Verantwortung, Dich.“

Martin Buber

Gewohnheitsmuster – der Autopilot am Steuer

Unsere Gewohnheiten oder – um den psychologischen Begriff zu nutzen – unsere Muster sind oft die bestimmende Richtschnur in unserem Leben. Sie geben uns Halt und Sicherheit. Sie setzen sich aus Erfahrungen zusammen, was in bestimmten Kontexten hilfreich war, und geben uns so die Möglichkeit, ohne viel Nachdenken und Energieaufwand eine Situation zu bewältigen. Deutlich wird dieses Konzept, wenn wir an das Autofahren denken.

Durch Lernprozesse werden manche Vorgänge so automatisch, dass wir sie nicht mehr bewusst steuern müssen. So brauchen wir weniger Energie und können diese anderen Dingen zuwenden, beim Autofahren etwa dem Gespräch mit unserem Beifahrer, der Musik aus dem Radio oder den streitenden Kindern auf der Rückbank. Das Fahren wird von unserem „Autopiloten“ übernommen. Eine Funktionsweise unseres Hirns, welche evolutionär betrachtet viele Vorteile bietet. Nur: Je öfter wir immer gleich reagieren, desto fester prägen sich die Muster ein. Habe ich Stress, zünde ich eine Zigarette an. Fragt ein Schüler zum zweiten Mal nach, bin ich gereizt. Ist das Wetter schlecht, habe ich miese Laune. So kann es sein, dass wir im Laufe des Lebens immer mehr an Lebendigkeit und Spontaneität verlieren und sich eine gewisse Starrheit einstellt.

Interessanterweise sind es durchaus nicht nur unsere eigenen Muster, die uns auf diese Weise „vorbestimmen“. Wir haben die Fähigkeit, die Muster anderer Menschen zu „kopieren“. Heidemann bezieht sich insbesondere auf die experimentellen Arbeiten von Bandura, wenn er feststellt, dass „weniger die theoretische Einsicht als vielmehr die Beobachtung von Modellen (…) zu Veränderungen unseres konkreten Verhaltens [führt]. Das kann so alltägliche Dinge umfassen wie eine bestimmte Handhaltung, die Art des Lachens, Körperhaltung und -bewegung, aber auch Einstellungen und Wertorientierungen einschließen“ (Heidemann 2007, S. 28). Die Wirksamkeit der Vorbildrolle ist leider nicht nur auf die positiven Qualitäten beschränkt. Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm. – Dieses Sprichwort, das die sich ähnelnden Verhaltensweisen der Mitglieder einer Familie beschreibt, ist genauso in der Sozialisation von werdenden Lehrer*innen zu beobachten. Sie sind entscheidend geprägt worden durch die Persönlichkeiten ihrer Lehrpersonen, von deren didaktischen wie menschlichen Qualitäten, in positiver wie in negativer Hinsicht (vgl. Stumpner 2014).

Interessanterweise fallen Berufseinsteiger*innen, wenn sie in schwierige Situationen geraten, gerade in die Verhaltensweisen zurück, die sie an ihren Lehrpersonen besonders ablehnten. Warum? Diese Situationen haben uns emotional stark bewegt, unsere komplette Aufmerksamkeit gefordert. Sie hinterlassen einen starken Eindruck. Sind wir nun in einer kritischen Situation mit anscheinend schnellem Handlungsbedarf, greifen diese eingeprägten Muster. Und wie Sie wissen, kann unser Gehirn hier schlecht zwischen positiven und negativen Einordnungen unterscheiden: Sie alle kennen das Experiment „Denken Sie jetzt nicht an einen rosa Elefanten!“. Woran haben Sie gedacht? Natürlich als Erstes an einen rosa Elefanten. So kann es auch vorkommen, dass Sie angesichts einer lauten Klasse an die Maßnahmen denken, die Ihre eigenen Lehrpersonen „zur Hand hatten“: „Hefte raus, wir schreiben einen Test!“ oder sich die Lautesten rauspicken und dann vor der Klasse vorführen.

Die Reflexion dieser Prägungen ermöglicht die von Heinrich Dauber und Witlof Vollstädt als gesundheitsförderlich beschriebene „Distanz zur eigenen Lernbiografie“ (Quelle: http://www.heinrichdauber.de). Durch die Bewusstwerdung von „vorgelebten“ Verhaltensmustern kann eine selbstbestimmte Auswahl stattfinden.

 Lernbiografie

„Es hat keinen Sinn die Kinder zu erziehen, sie machen einem doch alles nach.“

Jean Paul