Wahnsinnig nah -  - E-Book

Wahnsinnig nah E-Book

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Beschreibung

Wenn ein Partner, ein Kind oder Elternteil psychisch erkrankt, helfen Angehörige und Freunde gerne. Aber wie? Und wie viel Hilfe tut gut – dem Betroffenen und einem selbst? Was ist mit den eigenen Ängsten, Sorgen und vielleicht auch Scham- und Schuldgefühlen? Die Erfahrungen anderer Angehöriger bieten Entlastung und machen Mut. Expertinnen und Experten erklären, was Diagnosen bedeuten – und was nicht –, welche Hilfe- und Behandlungsangebote es gibt und wie man gut miteinander kommuniziert. Denn wer informiert ist, kann Grenzen setzen, Vorurteilen gelassen begegnen und sich selbst Hilfe holen. Zwischen Unterstützung und Selbstfürsorge »Meiner Erfahrung nach sind Angehörige irgendwann nicht mehr nur Angehörige, sondern rutschen zusätzlich in die Rolle einer Krankenschwester [...], in die Rolle eines Sozialarbeiters [...], in die Rolle einer Psychologin [...] und in noch viele andere Rollen. Nehmen Sie Ihre eigenen Grenzen wahr. Holen Sie sich für sich selbst Hilfe, wenn Sie mit der Situation überfordert sind.«

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Zwischen Unterstützung und Selbstfürsorge

»Meiner Erfahrung nach sind Angehörige irgendwann nicht mehr nur Angehörige, sondern rutschen zusätzlich in die Rolle einer Krankenschwester […], in die Rolle eines Sozialarbeiters […], in die Rolle einer Psychologin […] und in noch viele andere Rollen. Nehmen Sie Ihre eigenen Grenzen wahr. Holen Sie sich für sich selbst Hilfe, wenn Sie mit der Situation überfordert sind.«

BApK e.V. (Hg.)

Wahnsinnig nah

Ein Buch für Familien und Freunde psychisch erkrankter Menschen

B A L A N C E ratgeber

Fachbeiträge

Claudia Dahm-Mory, Diplom-Psychologin und systemische Einzel-, Paar- und Familientherapeutin; sie arbeitet als Supervisorin und ist selbstständig tätig in der psychotherapeutischen Praxis Mehrblick. Seit ihrem Psychologiestudium ist sie der Angehörigenbewegung in Österreich und Deutschland verbunden. Sie ist Mitglied im WEGE e. V. Leipzig.

Dr. Uta Gühne, Diplom-Psychologin, Therapeutin für systemische Therapie und wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Sozialmedizin, Arbeitsmedizin und Public Health (ISAP) der Medizinischen Fakultät der Universität Leipzig.

Dr. Friedrich Leidinger, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie. Er hat 40 Jahre in psychiatrischen Kliniken gearbeitet und ist Mitglied im Vorstand des Bundesverbandes der Angehörigen psychisch erkrankter Menschen (BApK).

Prof. Dr. Steffi G. Riedel-Heller, Psychiaterin und Direktorin des Institutes für Sozialmedizin, Arbeitsmedizin und Public Health (ISAP) der Medizinischen Fakultät der Universität Leipzig.

Dagmar Rubruck, Magister in Arbeits- und Organisationspsychologie und Master in Personenzentrierter Beratung; sie arbeitet freiberuflich als Supervisorin, Coachin, Beraterin, Trainerin und Dozentin.

Inhaltsverzeichnis

Liebe Leserin, lieber Leser

ERFAHRUNGEN

Wir bemerkten nicht, wie uns als Paar die Depression zu manipulieren begann

Stefan und Martina Körber

Manchmal hätte ich sie am liebsten angeschrien

Kerstin T.

Das war gar nicht meine Mama, sondern die Krankheit

Emma

Das hat mir Angst gemacht

Tom

Jetzt bin ich dran!

Dagmar Wiegel

Beunruhigt werde ich weiter bleiben

Ellen T.

WISSEN

Psychisch krank sein – was das wohl ist?

Friedrich Leidinger

Anlaufstellen und Unterstützungsmöglichkeiten bei psychischer Erkrankung

Uta Gühne und Steffi G. Riedel-Heller

Therapeutische Angebote

Uta Gühne und Steffi G. Riedel-Heller

Behandlung mit Medikamenten

Friedrich Leidinger

Was können Sie tun, um den anderen zu erreichen? Denkanstöße für eine gelingende Kommunikation

Claudia Dahm-Mory

Nein sagen und sich selbst Gutes tun Die Sache mit der Selbstfürsorge

Dagmar Rubruck

Weiterführende Informationen im Überblick

Liebe Leserin, lieber Leser,

fast jede und jeder hat schon einmal erlebt, dass eine nahestehende Person ein auffälliges Verhalten zeigt oder über besondere Sorgen klagt. Das kann besonders für die Familie und enge Freunde beunruhigend sein. Manchmal lässt sich das Problem relativ gut lösen oder in den Alltag integrieren, sodass es nicht mehr als störend wahrgenommen wird. Mitunter aber stellt sich die Frage nach den Auswirkungen auf die Beziehung und den Konsequenzen für das weitere Zusammenleben. Spätestens dann gehört man zu den »Angehörigen«.

Als Angehörige sprechen wir alle an, die einer Person mit einem erheblichen psychischen Problem nahestehen, die sich Sorgen machen oder sich verantwortlich fühlen. Angehörige sind Schwester und Bruder, Mutter und Vater, Tochter, Sohn, Onkel, Tante, Vetter, Cousine, Freundin, Freund, Geliebte und Geliebter, Ehegatte und Lebenspartnerin. Sie brauchen Respekt für ihre Rolle an der Seite der Erkrankten. Und manchmal benötigen sie auch Rat und Hilfe.

Was bietet Ihnen dieses Buch?

Im ersten Teil können Sie die authentischen Geschichten einiger betroffener Angehöriger lesen. Vielleicht können Sie beim Lesen erkennen, dass Sie in dieser Situation nicht allein sind, dass viele andere Familien in ähnlicher Weise wie Sie betroffen sind und dass Sie von den Erfahrungen anderer Angehöriger lernen können. Es folgt eine kurz gefasste Darstellung der Bedeutung psychischer Erkrankungen, der häufigsten Krankheitsbilder und der Grundlagen der Behandlung. Im letzten Teil gibt das Buch einen Überblick über verschiedene Hilfsangebote, das psychiatrische Hilfesystem und über Möglichkeiten der Selbsthilfe und der Hilfsangebote speziell für Angehörige.

Die Autorinnen und Autoren haben zum Teil selbst Erfahrung als Angehörige oder haben langjährig als Fachleute mit psychisch erkrankten Menschen und ihren Angehörigen wissenschaftlich, ärztlich oder therapeutisch zu tun.

Dieses Buch haben sie mit der Überzeugung geschrieben: Ohne Angehörige geht es nicht.

Für die Betroffenen gehören die Beziehungen zu ihren Angehörigen zum Wichtigsten, was sie haben. Oft sind Angehörige die Ersten, die psychisch gestörtes Verhalten wahrnehmen und ihnen rückmelden können. Angehörige sorgen für die Erkrankten, geben ihnen Halt und Sicherheit und schenken Solidarität.

Gegenüber der Gesellschaft übernehmen die Angehörigen oft die Rolle von Anwälten, treten für Gleichberechtigung und gegen Diskriminierung und Stigmatisierung ein, wenn die Erkrankten ihre Interessen nicht selbst vertreten können. Gegenüber den psychiatrischen Institutionen sind sie Sachwalterinnen für einen humanen, an den Bedürfnissen der Betroffenen orientierten Umgang mit den Erkrankten.

Der Bundesverband der Angehörigen psychisch erkrankter Menschen (BApK e. V.) vertritt die Erfahrung und das Wissen der Angehörigen in Deutschland gegenüber den Fachverbänden und der Gesundheitspolitik. Wir weisen auf Defizite, Mängel und Ungerechtigkeiten hin und treten für deren Beseitigung ein. Gemeinsam mit unseren Landesverbänden und den örtlichen Angehörigengruppen stärken wir das Netzwerk der Familienselbsthilfe in Deutschland. Wir laden Sie ein, sich daran zu beteiligen.

Rüdiger Hannig

Stellvertretender Vorsitzender

               Erfahrungen

Wir bemerkten nicht, wie uns als Paar die Depression zu manipulieren begann

Stefan und Martina Körber leben seit vielen Jahren mit der Depression. Beide erzählen abwechselnd aus ihrem Alltag.

Mein Morgen beginnt mit Nachdenken: Wie war meine Nacht? Bin ich ausgeschlafen genug, um flexibel auf all das, was der Morgen bringen wird, zu reagieren? Wecke ich meine Frau und wir beginnen den Tag gemeinsam? Oder soll ich sie lieber schlafen lassen? Was erwartet mich, wenn sie wach ist? Kommt sie gut in den Morgen oder benötigt sie ihre Zeit, um in den Tag zu starten? Und was bedeutet das, ihre Zeit? Wird sie um elf Uhr aufstehen oder um zwölf? Oder wird es bis zum Nachmittag dauern, ehe sie sich einbringen kann?

Vielleicht lasse ich sie doch besser noch schlafen, um selbst erst einmal in Ruhe den Tag zu beginnen, um den morgendlichen Verrichtungen in meinem Tempo und Rhythmus nachzugehen und das Nötigste in der Wohnung herzurichten. Ich überlasse es ihrer eigenen Verantwortung aufzustehen und all das zu erledigen, was für sie gut ist. Menschen mit Depression neigen dazu, lange zu schlafen. Meine Frau ist da keine Ausnahme. Vielleicht flüchtet sie so vor den nicht vorhandenen Gefühlen für den Tag.

Doch wenig später fange ich schon an, die ganze Situation zu hinterfragen: Kann ich sie überhaupt weiterschlafen lassen oder ist es besser, sie zu wecken, um den Blutzucker zu messen und nicht das Risiko einer Unterzuckerung einzugehen? Zum Teufel noch mal, wer bin ich, dass ich mir all diese Gedanken mache? Bin ich ihr Arzt oder ihr Therapeut? Natürlich nicht! Aber – wüssten die es besser?

Meine Frau wird schon seit langer Zeit von einer Depression begleitet, die ihren Ursprung in der Kindheit hat und im Laufe ihres Lebens durch verschiedene Ereignisse intensiver wurde. Außerdem leidet sie an mehreren gesundheitlichen Einschränkungen, unter anderem einem Diabetes Typ 1. Zunächst standen diese körperlichen Symptome im Vordergrund, erst später stellte sich heraus, dass meine Frau an einer schweren Depression erkrankt war.

Schon vor der Diagnose »Depression« hatten wir unseren Alltag so geregelt, dass meine Frau sich in der Hauptsache um sich, ihre Gesundheit und ihren Beruf kümmern konnte. War meine Frau zu erschöpft von ihrer beruflichen Belastung oder spielte ihr Diabetes nicht mit, sprang ich ein und übernahm die anfallenden Aufgaben.

Meine Frau konnte sich immer sicher sein, dass jemand an ihrer Seite ist, der sich um alles kümmert, wenn sie selbst nicht dazu in der Lage war. Das war für mich zunächst auch in weiten Teilen in Ordnung, ja sogar selbstverständlich, ich fühlte mich gut damit, flexibel zu sein. Wir waren beide stolz darauf, dass wir unseren Alltag so rücksichtsvoll, unkompliziert und jenseits der üblichen Rollenmuster gestalteten. Doch irgendwann kippte das.

Es hat alles schleichend begonnen: Anfänglich fühlte es sich noch normal an, die geänderten Abläufe, die Rücksichtnahme, das Mehr an Verantwortung waren spürbar, aber scheinbar kein Problem – jedenfalls keines, von dem wir glaubten, dass wir es nicht mit ein bisschen guten Willen in den Griff bekommen würden. Wir bemerkten nicht, wie uns als Paar die Erkrankungen meiner Frau zu manipulieren begannen. Ohne schon an eine Depression zu denken, waren die Weichen gestellt: Die Krankheit konnte kommen, sie würde sich hier bei uns wohlfühlen.

»Guten Morgen, Süße«, höre ich noch im Halbschlaf die Worte meines Mannes, der mit mir den Tag beginnen möchte. »Kommst du frühstücken?«

Langsam und mit steifem Nacken erwache ich und nuschle: »Nur noch fünf Minuten …« und sinke wieder in den Schlaf. Ich kann den Kopf kaum drehen, so verspannt bin ich. Nach kurzer Zeit schrecke ich hoch, jetzt sind es schon elf Uhr. Ich habe keine Ahnung, wie lange ich geschlafen habe. Und dabei habe ich mir doch gestern Abend noch vorgenommen, heute Morgen pünktlich aufzustehen. Das schlechte Gewissen, es wieder nicht geschafft zu haben, wird mich heute den ganzen Tag verfolgen.

Die Nacht war wieder sehr unruhig und von wirren Träumen begleitet. Dadurch bin ich mehrfach schweißgebadet aufgewacht, aber das ignoriere ich, denn das ist nahezu jede Nacht so. Es ist nichts Besonderes. Meine Therapeutin hat mir die Aufgabe gegeben, jeden Tag mit einem positiven Gedanken zu beginnen. Das gelingt mir heute wieder nicht! Im Gegenteil.

Stefan ist schon seit 7.00 Uhr auf den Beinen, hat die anfallenden Sachen im Haushalt erledigt und geht seinem Tagwerk nach. Und ich? Ich hab noch nichts geschafft, erledigt, getan, und mein Gedankenkarussell nimmt Fahrt auf: »Ich leiste nichts«, »Ich bin faul« und »Ich bin nichts wert«. Ich muss das stoppen! Ich frage mich, was ich denn heute machen könnte. Erst mal frühstücken.

In der Regel verbringe ich die ersten Stunden des Tages damit, im Haushalt die nötigsten Arbeiten zu erledigen. Doch schon mit dieser Entscheidung lege ich eine Struktur fest, die meine Frau nicht mehr beeinflussen kann. Nehme ich ihr damit vielleicht die Chance, sich auch anders wahrzunehmen? Nehme ich ihr das Gefühl der Zufriedenheit, das sich nach der erfolgreichen Erledigung einer Aufgabe einstellt? Vielleicht wäre heute so ein Tag gewesen, an dem sie motivierter und unbelasteter als sonst gerne selbst die Dinge in die Hand genommen hätte. Vielleicht wäre es ein Morgen geworden, an dem alles, was sie sonst hemmt – die Depression, die Zuckerwerte und auch die anderen Symptome –, zurückgetreten wäre und meine Frau die hätte sein können, die sie jenseits ihrer Erkrankungen ist.

Seit fünfzig Jahren bin ich Diabetikerin Typ 1. Daher beginnt mein Morgen, jeder Morgen, mit der Kontrolle meines Blutzuckers. Noch liegt der Wert im Normbereich, aber das ändert sich nach dem Frühstück. Der Blutzucker steigt rasant an. Ich muss mich entscheiden, gebe ich mir die normalen Einheiten oder setze ich gleich ein paar drauf? Ich entscheide mich für den normalen Bolus Insulin und verzichte auf zusätzliche Einheiten. Doch es geht mir nach dem Frühstück nicht gut. Meine Gedanken fließen zäh, mein Mund ist trocken, mein Herz rast und das Atmen fällt mir schwer: die typischen Anzeichen eines zu hohen Blutzuckers!

Ich könnte direkt wieder ins Bett gehen, die Decke über den Kopf ziehen und warten, bis es mir körperlich besser geht. Stattdessen sitze ich am PC und spiele Solitär bis zum Umfallen und warte, dass mein Zuckerwert wieder den Normwert erreicht. Hier geben sich Diabetes und Depression die Hand. Mittlerweile ist es halb eins und ich habe noch keinen Handschlag getan. Wie habe ich das früher nur geschafft, als ich noch arbeiten ging? Die Wahrheit ist: Ich habe damals nicht gut auf mich geachtet und mich dadurch in manch brenzlige Situation gebracht. Ich war in der ambulanten Pflege in leitender Position beschäftigt und musste funktionieren. Heute habe ich keine Aufgaben mehr, jedenfalls nicht so wie früher.

Ich dachte lange Zeit, es wäre eine Hilfe, sich Wissen über das Thema Depression anzueignen, ein Bewusstsein für unsere besondere Situation zu entwickeln. Ich erhoffte mir Hilfestellungen speziell auch im Hinblick auf mein Verhalten. Der Unterschied zu früher ist, dass wir jetzt wissen, warum wir was tun. Aber ob Wissen immer gut ist und vor allem, ob es allein ausreicht, um als Paar mit dieser Erkrankung fertig zu werden, bezweifele ich jetzt hin und wieder. Man muss sich vielmehr auch bemühen, dieses erworbene Wissen mit Vernunft einzusetzen. Das ist der schwierige Teil!

Wer Erfahrungen gesammelt hat, wird in der Regel immer versuchen, sein Wissen so einzusetzen, dass es zu einer Verbesserung der Situation kommt. Ich habe viele Erfahrungen sammeln können. Doch noch immer frage ich mich: »Wann und wie entscheide ich richtig?« Darauf kann mir niemand eine Antwort geben. Jeder Morgen ist ein Morgen, an dem ich für mich Dinge beschließe und nicht weiß, ob meine Entscheidung gut ist oder schlecht – für meine Frau und für mich. Manchmal höre ich den Rat: »Lass deine Frau doch einfach mitentscheiden. Sie wird schon sagen, was sie will!« Das hört sich vernünftig an, wäre eine Begegnung auf Augenhöhe. Aber so einfach ist es nicht.

Denn unweigerlich stellt sich schon die nächste Frage: Ist es meine Frau, meine Partnerin, die sich gerade äußert, oder ist es die Depression, die ihr mit negativen Gedanken und Selbstzweifeln im Nacken sitzt. Oder vielleicht ist es der Diabetes, der sie ausbremst und sie keinen klaren Gedanken fassen lässt.

Es gibt Morgen, da stürzt sich meine Frau voller Energie in den Tag, um später an den hohen Hürden zu scheitern, die sie selbst aufgelegt hat. An anderen Morgen kann sie sich kaum oder nur wenig einbringen. Manchmal braucht sie nur eine kleine Motivation, um den Tag zu beginnen. Bisweilen reicht eine kleine Korrektur, ein liebevoller Hinweis, um der Erschöpfung und Überforderung vorzubeugen. Auch das ist eine immerwährende Frage: Wann versuche ich sie zu motivieren, etwas mehr zu wagen, wann versuche ich zu bremsen und wann halte ich mich lieber im Hintergrund und lasse den Dingen ihren Lauf? Und so geht es weiter den ganzen Tag, mit ständigem Nachdenken, Strategien entwickeln und der Sorge, wichtige Signale zu spät zu erkennen, sodass die Dinge sich in eine falsche Richtung entwickeln.

Und es gibt ja noch genügend andere Dinge, die erledigt werden müssen: Sind noch ausreichend Lebensmittel im Haus oder muss eingekauft werden? Sind die Pflanzen im Garten versorgt und muss ein Arzttermin eingehalten werden? Wann ist die TÜV-Untersuchung für den Wagen fällig und wann muss die Steuererklärung gemacht werden?

Auch die Freizeitplanung will gut überlegt sein: Jemand, den eine Depression begleitet, wird sich selten von allein ins Wochenende stürzen oder wie gewohnt den Kontakt zum Freundeskreis halten. Auch hier muss ich mich entscheiden: Nehme ich allein die Einladung zum Essen wahr? Gehe ich zum Bogenschießen oder muss ich nicht noch dringend etwas erledigen? Eigentlich sind das alles nur Alltagsentscheidungen und -aufgaben, die in einer Partnerschaft gewöhnlich geteilt werden. Bei uns hängt es von der Depression ab, was meine Frau wie lange und verlässlich übernehmen kann.

Das Thema Depression nimmt viel Zeit in Anspruch. Wir informieren uns über die Krankheit mit allen ihren Herausforderungen: ihren Symptomen, ihren Behandlungsmöglichkeiten, ihren sozialrechtlichen Problemen – Reha, berufliche Wiedereingliederung, Rente – und vielem mehr. Es hört eigentlich nie auf. Darüber hinaus investieren wir viel Zeit in die Kontakte zu anderen Betroffenen, besuchen Selbsthilfegruppen, von denen ich mittlerweile eine leite. Das bringt schon etwas, aber was ist auf Dauer mein Ziel, unser Ziel?

Auch hier muss ich, müssen wir Entscheidungen treffen, nicht nur für den Tag, sondern für unsere Zukunft. Wollen wir uns in den Kreisen von Betroffenen einrichten? Oder versuchen wir wieder einen »normalen« Alltag zu leben? Will ich vielleicht noch einmal Anlauf nehmen, um mit der eigenen beruflichen Idee nach vorn in die erste Reihe zu kommen: Kundenkontakte pflegen, mich weiterbilden, kreativ Ideen umsetzen, die wichtig sind, um in meiner beruflichen Welt weiter wahrgenommen zu werden? Oder ist der Zug bereits abgefahren, weil ich meine Ziele zu lange hintangestellt habe?

Und dennoch gibt es sie, die Momente, in denen ganz viel »Normalität« vorhanden ist. Wenn wir es schaffen, uns auf diese Augenblicke zu konzentrieren und es uns in der von Depression geprägten Welt nicht »bequem« zu machen, dann haben wir gute Chancen auf Tage, an denen wir es uns richtig gut gehen lassen. Ich denke mal darüber nach.

Ich gehe in den Garten. Das Unkraut nennt mich schon beim Namen, da es so üppig wachsen konnte. Aber heute ist Schluss! Ich sage der Ackerwinde, den Gräsern und was sonst noch alles wuchert den Kampf an. Jede noch so kleine Unkrautwurzel fällt mir zum Opfer. Mir steht ein schönes Blumenbeet vor Augen, und das möchte ich jetzt haben! Also krieche ich weiter auf den Knien, die bald ebenso schmerzen wie mein Rücken. Und meine Hände sehen aus, als bräuchten sie ganz dringend eine Maniküre.

Stefan hat in der Zwischenzeit unsere große Wiese gemäht. Und ich? Nicht mal mein kleines Beet habe ich geschafft! Stefans Ergebnis sieht man sofort. Meins muss erst gesucht werden! Was mag Stefan wohl denken?

Zaghaft beginne ich ein Gespräch mit ihm, denn ich muss wissen, was er denkt und wie seine Laune ist. Stefan ist müde und verschwitzt und deshalb nicht so gesprächig und ausgeglichen wie sonst. »Was ist los?«, möchte ich wissen. »Habe ich was falsch gemacht?«

Dieser Gesprächsbeginn ist natürlich alles andere als gelungen. Und schon wieder mache ich mir Vorwürfe. Dabei wollte ich doch gar nicht so beginnen. Und natürlich verdreht Stefan die Augen, steht auf und sagt: »Ich geh mal duschen.« Uns beiden wird klar, dass meine Negativgedanken mir wieder im Weg stehen. Warum komme ich nicht drauf, dass sein Verhalten von der anstrengenden Arbeit kommt und nichts mit mir zu tun hat?

Voller Sehnsucht denke ich an frühere Zeiten, als ich noch arbeiten konnte. Wie ausgefüllt war mein Leben. Was habe ich nicht auch in der Freizeit alles gemacht? Wie viele Freunde, Kollegen und Bekannte ich hatte. Und heute? Heute bin ich ein langweiliger Mensch, der seinen Platz in der Gesellschaft sucht. Ich traue mir nichts mehr zu, meine Gedanken zermürben mich. Was ist bloß aus mir geworden?

Ich hoffe, dass ich irgendeinen Weg heraus aus diesem Tal finde.

Eigentlich war ich heute sogar richtig fleißig!

Stiftung Deutsche Depressionshilfe:www.deutsche-depressionshilfe.de.

BISCHKOPF, J. (2019): So nah und doch so fern. Mit depressiv erkrankten Menschen leben. 4., überarbeitete Auflage. Köln: BALANCE buch+medien verlag.

HAUTZINGER, M. (2017): Ratgeber Depression: Informationen für Betroffene und Angehörige. Göttingen: Hogrefe.

TEISMANN, T.; HANNING, S. (2020): Das Depressionsbuch. Informationen für Betroffene, Angehörige und Interessierte. Köln: BALANCE buch+medien verlag.

KIRST, M.; SCHMIDT, A. (2017): Die Mitte der Nacht ist der Anfang vom Tag. Dokumentarfilm und Informationen der Deutschen Depressionshilfe. Vertrieb: Psychiatrie Verlag.

Manchmal hätte ich sie am liebsten angeschrien

Kerstin T. hat ihre Freundin an die Depression verloren. Und wiederbekommen.

Wenn ich jetzt rückblickend sagen soll, wie es anfing, wann das gewohnte Gleichgewicht von Geben und Nehmen in unserer Freundschaft ins Wanken geriet, ab wann meistens ich diejenige war, die zuhörte, während Marie immer häufiger die war, die Rat suchte, so könnte ich es nicht sagen. Die Trennung von ihrem Mann war doch schon länger her und eigentlich war alles gut. Oder wollte ich nur, dass alles gut war? Wollte oder konnte ich nicht erkennen, dass aus der Missstimmung eine permanente Traurigkeit geworden war – und schließlich eine Depression? Vielleicht.

15 Jahre waren wir beste Freundinnen. Kinder waren dazugekommen und Männer gegangen, große und kleine Katastrophen hatten uns zusammengeschmiedet. Es war normal, dass eine mal nicht so gut drauf war wie die andere. Doch plötzlich war alles anders.

Lange Zeit hatte ich meiner Freundin Mut zugesprochen. Wir hatten uns doch gemeinsam schon durch so viele Schlamassel geredet, geheult und – wenn gar nichts half – auch getrunken. Doch während wir früher nach einem gemeinsamen Abend spätnachts mit einem Gefühl von »Das wird schon wieder« auf unseren Rädern dem Silberstreif am Horizont entgegenfuhren, verfiel Marie nun immer häufiger in tiefes Schweigen und ließ mich ratlos zurück. Manchmal hätte ich sie am liebsten geschüttelt und angeschrien, ihr gesagt, dass sie sich mal zusammenreißen soll, es anderen viel schlimmer geht! Ich bin froh, dass es dazu nicht gekommen ist, aber ich war manchmal sehr, sehr knapp davor. Wenn ich ehrlich bin, waren meine Bemühungen letzten Endes nur auf das eine ausgerichtet: Ich wollte meine schöne, starke, lustige Freundin wiederhaben.

Und dann kam der Tag, an dem es nicht mehr weiterging. Der Tag, an dem wir uns nach einem langen, zähen, irgendwie unwirklichen Spaziergang im Park trennten, um das Mittagessen für unsere Kinder vorzubereiten. Und genau das tat ich. Ich verdrängte das ungute Gefühl, die Ahnung, dass da etwas unaufhaltsam aus dem Ruder lief, und konzentrierte mich auf etwas, das wirklich und handfest war.

Als ich Marie Stunden später anrief, war sie nicht weiter als bis zur nächsten Parkbank gekommen. Sie habe einfach nicht die Kraft gehabt, nach Hause zu gehen.