Wahnsinnig schön! - Volker Rippmann - E-Book

Wahnsinnig schön! E-Book

Volker Rippmann

0,0
13,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Volker Rippmann, Facharzt für plastische und ästhetische Chirurgie, hat den Backstage-Blick auf eine Gesellschaft, die Schönheit als Garant für Erfolg und Glück sieht. Schönheitsoperationen sind längst in der Mitte der Gesellschaft angekommen – Nasenkorrektur, Fettabsaugung und Botoxspritzen gehören für viele genauso zur Normalität wie Strähnchen, Bleaching oder Tattoos. Oft ist der Leidensdruck hoch und ein ästhetischer Eingriff kann das Leben erleichtern. Doch wird der Chirurg zunehmend mit neuen Idealen und immer radikaleren Wünschen konfrontiert. Immer mehr junge Leute wollen unters Messer, auch unter dem Druck der sozialen Medien. Als Vertreter seiner Zunft steckt er in einem Dilemma: Wie weit kann ich, wie weit will ich gehen, wo sind die moralischen Grenzen? In seinem Buch wirft er einen neuen sozialkritischen Blick auf das Thema plastische Chirurgie. Dabei hinterfragt er den Wunsch, den Körper verändern zu wollen, räumt mit Vorurteilen auf und fordert einen ethischen Kodex für seine Berufsgruppe, um mir den durch Instagram-Filter und Selfies geprägten neuen Anforderungen besser umgehen zu können.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



INHALTSVERZEICHNIS

Vorwort

Warum gibt es dieses Buch?

Kapitel 1

Wie bekommen Sie mehr Likes? Wenn soziale Medien den Druck erhöhen

Kapitel 2

Grüßen Sie Ihren Schönheitschirurgen auf der Straße? Warum plastische Chirurgie immer noch ein Tabuthema ist

Kapitel 3

Gehen Sie noch zum Friseur oder schon zum Chirurgen? Warum wir unseren Körper verändern wollen

Kapitel 4

Finden Sie das auch so schön? Norm und Ästhetik verstehen

Kapitel 5

Woher kommen diese Wünsche? Aus dem Praxisalltag eines Schönheits(wahn)chirurgen

Kapitel 6

Am liebsten sofort alles ändern? Warum Sie sich nach der Scheidung nicht direkt auf den OP-Tisch legen sollten

Kapitel 7

Wie kann man Leidensdruck begegnen? Mein Weg in die Schönheitschirurgie

Kapitel 8

Was haben iranische Nasen und Blackfishing mit Identität zu tun? Kulturelle Unterschiede und Diskriminierung durch Schönheitsideale

Kapitel 9

Und wie verheimlichen Sie Ihr Alter? Warum unsere Haut nichts verraten soll

Kapitel 10

Sind Sie es sich wert? Die Risiken der Beauty-OPs

Kapitel 11

Wie weit würden Sie als Promi gehen? Der Schönheitskult im Showgeschäft

Kapitel 12

Was ist ganz praktisch wirklich wichtig? Hinweise zur Orientierung vor einer Operation

Kapitel 13

Grenzen setzen – ein ethischer Kodex zum Umgang mit dem Schönheitswahn

Nachwort

Wie kann es weitergehen?

Anhang

Quellen

VORWORT

Warum gibt es dieses Buch?

»Glaubst du mir das? Die Brust sollte exakt die Größe einer Honigmelone haben, die hatte sie sogar dabei!«, sagte Christian, mein Kollege, auf unserem Berliner Balkon mit Blick auf den Gendarmenmarkt. Er rückte seine Brille auf der Nase gerade und war sich mal wieder sicher, die außergewöhnlichste Patientengeschichte des Tages geliefert zu haben. Wann immer wir uns auf dem Balkon unserer Praxis in Berlin treffen, geht es darum, welchen skurrilen Anfragen wir uns heute schon gegenübersahen und wie mehr oder weniger geschickt wir mit ihnen umgegangen sind.

»Stell dir vor«, sagte ich, »eine Patientin wollte, dass ich ihre Brustwarzen komplett entferne.« Ich beobachtete Christians Reaktion, wie er scharf den Atem in die kühle Luft ausstieß, sodass es fast aussah, als würde er rauchen – wie die meisten, die sich auf diesem Balkon treffen. Nur wir beide kommen dorthin, um tatsächlich frische Luft zu schnappen, die wir oft so dringend brauchen.

»Es ist schon wahnsinnig«, erwiderte er, und für einen Moment beobachteten wir still, Seite an Seite, wie eine Mutter ihren kleinen Sohn über den Markt zog und sich eine Traube von Touristen geschlossen Richtung Konzerthaus bewegte. In der Adventszeit kann man von hier aus das Treiben des Weihnachtsmarktes beobachten und im Sommer Konzerten lauschen – ein Fenster zur Realität im Wahnsinn unserer Praxisalltagsblase. Zwar nutzen wir diese gemeinsamen Momente hier, um etwas Abstand zu gewinnen, aber vor allem, um kollegiale Unterstützung zu finden. Nichtsdestoweniger können wir das Dilemma nicht vermeiden, jeden Tag aufs Neue entscheiden zu müssen, was noch »normal« ist.

»Entfernung der Brustwarzen? Warum denn das?«, fragte Christian.

Ich lehnte mich an das hohe Geländer. »Sie findet Brustwarzen einfach nicht schön. Schon das Wort ›Brustwarze‹ ruft Ekel in ihr hervor«, sagte ich.

Wieder wurden wir beide still, denn wir wissen: Hinter jeder der bizarren Geschichten steckt ernst zu nehmender Leidensdruck. Je mehr eine Geschichte zunächst zum Lachen anmutet, umso trauriger ist meist der Hintergrund, vor dem sie entstanden ist.

Gemeinsam mit meinem Kollegen Christian Roessing leite ich unter dem Namen »Metropolitan Aesthetics« zwei Praxen für plastische und ästhetische Chirurgie in Köln und in Berlin. Wenn mich jemand fragt, was ich beruflich mache, und ich antworte, dass ich plastischer Chirurg bin, polarisiert diese Aussage enorm: Entweder wird die plastische Chirurgie als Teufelswerk verschrien oder als etwas Wunderbares anerkannt, das nicht mehr wegzudenken ist. Allein das Wort »Schönheitschirurgie« scheint quasi dazu aufzurufen, das Urteil, das jeder für sich im stillen Kämmerlein und vermutlich recht schnell über diese Disziplin der Medizin gefällt hat, auszusprechen. In meiner Karriere als plastischer Chirurg habe ich gelernt, dass das frühe Urteilen und das damit oft einhergehende Verurteilen nicht förderlich ist oder sogar Schaden anrichten kann. Es ist wichtig, Patienten zuzuhören und die Geschichte hinter ihrem Leidensdruck verstehen zu können oder zumindest verstehen zu wollen. Denn rein aus Spaß kommt sicherlich niemand zu mir in die Praxis, dafür sind die meisten Eingriffe mit zu vielen Unannehmlichkeiten und Aufwand verbunden, von der finanziellen Belastung ganz abgesehen. Dass der Leidensdruck unterschiedlich groß und die Motivation hinter einem Wunsch mal mehr, mal weniger nachvollziehbar ist, macht es für mich als Arzt und auch als Dienstleister, der ich als plastischer Chirurg bin, schwieriger als für andere Ärzte, angemessene Entscheidungen zu treffen.

Unser Praxisbalkon in Berlin-Mitte ist mittlerweile der ganz zentrale Ort unseres Austausches geworden, mit Rezeptionistinnen, Schwestern, Ärzten, manchmal auch nur mit sich selbst. Alle, die hier arbeiten, erleben im Praxisalltag die wildesten, verrücktesten und manchmal auch traurigsten Geschichten. Der Balkon hat sich von allein und ungeplant zu diesem Anker im betriebsamen Tagesgeschäft entwickelt. Die Treffen dort sind nicht verabredet, sondern immer spontan. Der Austausch hilft bei der Bewertung und Einordnung des jeweiligen Problems. Zudem beruhigt es zu wissen, dass ich nicht der Einzige bin, der solche Erfahrungen macht, denn ich frage mich nicht selten: Bin ich verrückt oder sind es die anderen? Manchmal stellen Christian und ich uns vor, wie einfach das Leben wäre, wenn wir nicht jeden Tag mehrere Male entscheiden müssten, ob ein Wunsch zu absurd ist, um ihn in die Realität umzusetzen.

Wenn ich ehrlich bin, wäre unser Job deutlich unkomplizierter, wenn es klare Regeln gäbe, wie zum Beispiel, dass eine Brust nicht größer als eine Honigmelone operiert werden darf. Aber für die plastische Chirurgie gibt es keinen Katalog, in dem man mal eben nachschlagen kann, wie viele Milliliter Filler in den Lippen jetzt in Ordnung sind oder ob man Rippen herausbrechen darf, wenn die Patientin den Wunsch hegt, eine superschlanke Wespentaille zu haben. Warum aber möchte sich jemand derart wehtun und dabei seine Gesundheit riskieren, nur für eine schmale Taille? Unsere Rippen sind keine Dekoration, sie sind essenziell, weil sie unsere Organe schützen. Trotzdem sehe ich mich als plastischer Chirurg in der Verantwortung, jeden Patienten absolut ernst zu nehmen und jeden einzelnen Patientenfall individuell zu bewerten: Kann und möchte ich diesen konkreten Wunsch umsetzen oder ziehe ich hier eine Grenze und nehme den Eingriff nicht vor? Genau das ist mein Dilemma: Wo ist diese Grenze? Welchen Wunsch kann ich persönlich nachvollziehen, auch wenn er medizinisch, wie die Wespentaille, ein gefährliches Unterfangen ist? Oder, was definitiv noch schwieriger zu entscheiden ist: Was ist medizinisch machbar, aber moralisch nicht mehr vertretbar, wie möglicherweise die Brust ohne Brustwarzen? Im Prinzip kommen wir als Handwerker – ausgestattet mit Skalpell, Schere und Faden – den aktuellen Veränderungen, besonders jenen in der virtuellen Welt, häufig gar nicht mehr hinterher.

Im letzten Sommer hatte ich eine Patientin, die sich für eine Oberschenkelstraffung interessierte. Als ich ihre Schenkel sah, wusste ich zwar, warum sie den Eingriff wünschte, aber mir fehlten danach kurz die Worte. Ihre Beine waren tätowiert, von den Knöcheln bis hoch zum Schambein. Auf dem einen Oberschenkel stand ein Männername, auf dem anderen waren die Worte »Not for Jack« mit einem Pfeil tätowiert, der zur Vagina zeigte. »Ich hab ein paar Jahre in Indonesien gelebt und mein Freund ist, nun ja, etwas ärgerlich geworden, als ich eine Affäre hatte«, begann die Patientin zu erzählen. »Können Sie die Straffung so machen, dass man die Tattoos nicht mehr sieht?« Natürlich konnte ich das, getan habe ich es aber nicht, da die Patientin zum geplanten Termin nicht erschienen ist. Aus der Dienstleisterperspektive kann ich so einiges machen: von Penisverlängerungen bis zu aufgespritzten Lippen, die wie Schlauchboote aussehen. Als Arzt und als Mensch möchte ich aber nicht alles machen. Deshalb gibt es einige Operationen, die ich nicht durchführe.

Aber viel mehr bereiten mir die Patientenwünsche Bauchschmerzen, die nicht so einfach zu bejahen oder abzulehnen sind. Wann sind Lippen durch das Aufspritzen attraktiv voluminös, wann übertrieben und sogar unpraktisch, weil man nicht länger aus einem normalen Glas trinken kann?

Mir fällt auf, dass die Anfragen in letzter Zeit immer absurder werden. Es ist eine Zeit des Umbruchs, das merkt man in der plastischen Chirurgie ganz deutlich. Wenn ich mir die Wünsche und die Leiden meiner Patienten anhöre, habe ich immer öfter das Gefühl, dass wir die meiste – oder besser gesagt: die wichtigere – Zeit offensichtlich in der virtuellen Welt verbringen. Wir wollen einen so tollen Po wie Kim Kardashian haben, die über 150 Millionen Follower auf Instagram hat, oder Selina Gomez’ volle Lippen, die sie in ihren Musikvideos in die Kamera hält. Wir folgen diesen Stars in den sozialen Medien, als wären sie unsere Freunde, nur dass wir sie nie, wirklich niemals, natürlich und das heißt unperfekt sehen. Selbst #nomakeup-Selfies, die die ungeschminkte Wahrheit zeigen sollen, das authentische Ich, sind nicht hässlich, sondern nur eine weitere Variante von schön – vielleicht ungeschminkt, dafür ebenso professionell ausgeleuchtet in Szene gesetzt. Als Model reicht es heute nicht mehr, auf der Sedcard die perfekten Maße stehen zu haben. Es muss nun auch vermerkt sein, wie beliebt man ist, sprich: wie viele Follower man hat. Während es in unserer Gesellschaft statistisch mehr alte als junge Menschen gibt, sieht man in der Werbung und in Filmen fast nur junge, attraktive Frauen und Männer, als könnte man mit Menschen jenseits der 50 keinen Blumentopf mehr gewinnen. Mit sich zufrieden zu sein wird immer schwieriger. Im Dschungel der perfekten Menschen, die uns von unseren Smartphones und Laptops anlächeln, fühlt man sich schnell falsch. All die Fotos und Videos suggerieren: Nur wenn ich perfekt aussehe, bin ich erfolgreich. Schönheit ist zum Statussymbol geworden und das erzeugt massiven Druck. Der Vergleich lauert überall, und bis man das Selfie ausreichend bearbeitet hat, um es mit der Welt zu teilen, ist wieder ein Nachmittag vorbei.

Der Optimierungswahn scheint uns alle überfallen zu haben: Ein schlanker, trainierter Körper, weiße Zähne und glatte, ebenmäßige Haut sind das Ideal von heute. Während Tattoos, Bleaching und Strähnchen nicht mehr wirklich schockieren, scheint es noch immer Aufruhr zu geben, wenn über Botulinumtoxin, Hyaluronsäure und Fettabsaugen gesprochen wird. Dabei können all diese Methoden helfen, unseren Körper zu verschönern. Es ist einfach, Menschen mit einem Stempel zu versehen, wenn sie sich kosmetischen Eingriffen unterziehen. Sie werden vielfach verdächtigt, wenig intelligent zu sein oder sich nur zu leicht von Celebritys beeinflussen zu lassen. Dabei geht dem Entschluss, sich operieren zu lassen, doch meist ein lange bedachter Wunsch voraus und nicht selten auch jahrelanges Leiden. Hinzu kommt eben auch eine Beeinflussung, der wir alle mehr oder weniger ausgesetzt sind. Wir gehen vielleicht unterschiedlich damit um. Aber letztlich möchten die meisten von uns schön aussehen und dabei trotzdem nicht aus der Reihe tanzen. Einfach »normal« sein, hübsch, aber im besten Fall eben auch ohne die störende Hakennase oder ausladende Reiterhosen, denn diese sieht man auf Instagram selten.

Auch wenn vielleicht nicht alle von uns dauernd im Wartezimmer eines plastischen Chirurgen sitzen, so stehen wir doch lange genug vor dem Spiegel, um das perfekte Selfie für unseren Account zu schießen. Achtundzwanzig Versuche braucht man laut aktuellen Studien im Durchschnitt, um eines zu finden, das man mag. Wenn man es hochgeladen hat, geht es erst richtig los: Man wartet verzweifelt auf die aufploppenden Benachrichtigungen, die einem sagen, wie beliebt man ist, wie »schön« man ist. Ein Like mehr als beim letzten Foto ist ein Erfolg. Selbst Freunde von mir, die sich früher nie besonders um ihr Aussehen geschert haben, posten sich jetzt jeden Tag auf Instagram. Wir haben den Zenit der Selbstdarstellung erreicht. Oder kann es noch extremer werden?

Auf dem Balkon begann es zu regnen. Ich dachte darüber nach, warum Christian und ich uns immer nur die absurden Fakten erzählen, aber nie die Geschichten dahinter. Es wurde Zeit, zurück in den OP zu gehen.

»Wir müssen die Geschichten aufschreiben«, sagte ich. Christian nickte. Um die Hintergründe zu verstehen, das große Ganze, bedarf es doch weit mehr als zehn Minuten auf dem Balkon.

In diesem Buch möchte ich Ihnen nun diesen Backstageblick ermöglichen, Sie mit hinter die Kulissen meines Praxisalltags nehmen. Ob Mutter, Restaurantbesitzer oder Promi, sie alle sitzen bei mir im Arztzimmer und leiden unter schlaffen Brüsten, Falten oder anderen vermeintlichen körperlichen Makeln. Was sie bewegt, welche Motivation sie zu mir führt und was der aktuelle Beautyhype über jeden von uns verrät, dem möchte ich in diesem Buch auf den Grund gehen.

Dabei werden wir uns ansehen, wie vor allem die sozialen Medien den Druck auf uns erhöhen (Kapitel 1), warum meine Patienten gern die Straßenseite wechseln, anstatt mich nett zu grüßen (Kapitel 2), wie selbstverständlich Menschen heute dem Schönheitschirurgen einen Besuch abstatten (Kapitel 3), was es mit dem aktuellen Optimierungswahn auf sich hat und woher wir eigentlich wissen, was ästhetisch und was normal ist (Kapitel 4). Dafür erzähle ich Ihnen die verschiedensten Szenen aus unserem skurrilen Praxisalltag (Kapitel 5), argumentiere, warum man sich in bestimmten Lebenslagen nicht auf den OP-Tisch legen sollte (Kapitel 6) und wann ich definitiv dazu rate (Kapitel 7). Ich erkläre, inwiefern Ideale auch eine Form der Unterdrückung sein können und dass Patienten, je nach Kultur, ganz andere Vorstellungen von Attraktivität und Schönheit haben (Kapitel 8). Außerdem geht es um das Wundermittel Botulinumtoxin und warum das Älterwerden in unserer Gesellschaft manchmal kein leichtes Unterfangen ist (Kapitel 9). Warum ein »Brazilian Butt Lift« tödlich enden kann und es deshalb enorm wichtig ist zu wissen, wie man einen Facharzt findet, erläutere ich ebenfalls (Kapitel 10). Danach dreht sich alles um Prominente und wie der Körper nicht nur zum Statussymbol, sondern auch zur Geldmaschine gemacht wird (Kapitel 11). Schließlich gebe ich allen, die über eine Operation nachdenken, einen Leitfaden mit praktischen Hinweisen an die Hand, um eine fundierte Entscheidung treffen zu können (Kapitel 12). Zu guter Letzt möchte ich einen ethischen Kodex für meine Zunft vorschlagen (Kapitel 13). Nicht um klare Regeln wie die Brustgröße »Honigmelone« aufzustellen, sondern um eine Orientierung zu bieten, welche prinzipiellen und moralischen Fragen wir uns stellen sollten, bevor wir die verrücktesten Trends des Beautyhypes und die absurdesten Wünsche mancher Patienten bald in die Wirklichkeit umsetzen. In der Hoffnung, dass die Menschen auf der Straße zukünftig nicht mit zu kleinen Nasen herumlaufen, die zwar gut auf Instagram aussehen, aber ihre Funktion, das Atmen, nicht mehr erfüllen.

Um eine bessere Lesbarkeit zu gewährleisten, verwende ich im Text häufig auch dann, wenn alle Geschlechter angesprochen sind, nur die männliche Form. Zum Schutz der Persönlichkeitsrechte meiner Patienten sind Namen und Berufe geändert, die Ausnahme bilden nur diejenigen Prominenten, die ich mit freundlicher Genehmigung mit vollem Namen nennen darf.

KAPITEL 1

Wie bekommen Sie mehr Likes? Wenn soziale Medien den Druck erhöhen

»Ich muss die 10 k knacken, verstehen Sie?« Die neue Patientin rutschte nervös auf dem Stuhl hin und her, ein Büschel blonder Haarextensions, das sich gelöst hatte, fiel ihr dabei ins Gesicht und dann auf meinen Schreibtisch. Sie hob es schnell wieder auf und stopfte es in ihre Handtasche. Ich schaute sie fragend an. »Noch mal von vorne, bitte«, sagte ich. »Erzählen Sie Ihr Anliegen ganz in Ruhe.«

»Ach, am besten ich zeigs Ihnen.« Sie entsperrte ihr Smartphone, das sie die ganze Zeit in den Händen hielt, schon als ich ihr die Tür zum Beratungszimmer aufgehalten hatte. Um mir die Hand geben zu können, wechselte sie es von der rechten in die linke Hand. Es schien, als hielte sie nicht einfach das Telefon, sie hielt sich daran fest. Auf dem Foto, das ich nun auf dem hellen Bildschirm betrachten konnte, sah ich die gleiche junge Frau oder besser gesagt: Ich nahm an, dass es die gleiche Frau war wie die, die mir gegenübersaß, denn ganz genau konnte ich es nicht sagen, so verfremdet wirkte das Selfie. Auf dem Bild waren ihre Augen riesig, blaue Kulleraugen, umrandet von einem dichten Wimpernkranz. Ihre Nase war so klein, dass ich kurz hochschaute, um mich zu vergewissern, dass sie in Wirklichkeit anders aussah. Ihr ganzes Gesicht schien schmaler als in der Realität und ihre Haut hatte einen Glow, sie schimmerte und war zudem aalglatt. Von Poren oder Pickeln keine Spur. Ihre Stirn war im Verhältnis zur unteren Gesichtshälfte überproportional groß. Ein Gesicht nach dem Kindchenschema. Studien haben gezeigt, dass wir diese Proportionen als besonders niedlich bewerten. Wir finden Tierbabys süßer als ausgewachsene Tiere und Kleinkinder schützenswerter als Erwachsene. Man nimmt an, dass die Natur das so eingerichtet hat, um sicherzustellen, dass wir für unsere Nachkommen sorgen und sie verteidigen. Auch für Kunstfiguren werden diese speziellen Proportionen genutzt: Disney zeigt es uns von Bambi bis zu Elsa, der Eiskönigin. Wir sind also an das Kindchenschema in unserem Alltag gewöhnt. Und seien Sie mal ganz ehrlich: Was empfinden Sie, wenn Sie Videos von tapsigen Katzenbabys mit süßen Knopfaugen auf YouTube sehen? Auch wenn Sie die Clips vielleicht nicht an Freunde weiterleiten, Sie werden sicher für einen kurzen Moment gerührt sein. Ob Sie das wollen oder nicht.

Mir dämmerte inzwischen, wie die junge Frau, die noch nicht das zwanzigste Lebensjahr erreicht hatte, versuchen wollte, an ihre zehntausend Follower zu kommen. Aber ich wollte es von ihr hören und bat sie, mir ihren Wunsch genau zu erklären. »Also, das bin ich, auf Snapchat«, fing sie an und zeigte über den Schreibtisch hinweg auf ihr Smartphone, das ich jetzt in den Händen hielt. »Bei Insta bin ich ziemlich erfolgreich, ich bin Influencerin.« Dabei schaute sie mich prüfend an. »Oder zumindest auf dem Weg dahin«, setzte sie etwas leiser nach. »Wissen Sie, wie lange es dauert, die Bilder so zu bearbeiten? Wenn ich gleich so aussehen würde, würde ich mir das sparen können«, erklärte sie und forderte ihr Handy zurück. »Ich möchte, dass mein Gesicht aussieht wie mit diesem Filter. Geht das?«

Während Personen im Fernsehen und in Magazinen schon immer auch als Idole fungierten und Einfluss auf die Menschen, ihr Aussehen und ihr Selbstwertgefühl hatten, steht genau dieser Aspekt in den sozialen Medien scheinbar heute im Vordergrund. Es geht offenbar weit weniger um Inhalte als vorrangig darum, sich von den eigenen Vorbildern Trends abzuschauen. Was die sozialen von den traditionellen Medien wie Büchern und Fernsehen zudem unterscheidet, ist bekanntermaßen das partizipative Element: Wir können Erlebnisse, die uns berühren oder begeistern, ganz einfach sofort mit Freunden, der Familie und einer selbst gewählten sozialen Gruppe teilen, der Community. Insofern sind wir weit stärker involviert und vermeintlich Teil dieser anderen Sphäre. Aber gehören wir wirklich dazu? Gleichzeitig entsteht nämlich das Phänomen, dass wir dauernd dazu angehalten werden, uns zu vergleichen. Die meisten Nutzer neigen dazu, Fotos von sich zu teilen, auf denen sie sich attraktiv und schön finden. Auf Instagram sehen viele Nutzer so aus wie die junge Patientin auf ihrem Selfie: Sie haben ein schmales Gesicht, eine schlanke, aber betont weibliche Figur, große Augen, volle Lippen und eine kleine, schmale Nase. Wenn ich ehrlich bin, erscheint mir das Frauenbild auf Instagram nicht besonders divers. Auch die Medienwissenschaftlerin Dr. Maya Götz hat dieses Phänomen untersucht und bestätigt: Die meisten Frauen präsentieren sich hübsch zurechtgemacht, sind schlank und jung. Der richtige Filter sorgt dann noch dafür, dass der Alltag in Szene gesetzt wird und die Nase noch etwas schmaler und die Lippen noch etwas voluminöser wirken. Die Themen? Oft schwer zu sagen. In jedem Fall weniger Politik, dafür mehr Schminke. Ich beobachte seit geraumer Zeit, dass Instagram nicht einfach in der virtuellen Welt bleibt, sondern massive Auswirkungen auf das wahre, nein, ich sollte besser sagen: das analoge Leben hat. Viele Menschen fühlen sich, wenn sie in den Spiegel schauen, nicht mehr gut genug, nicht schön genug. Der Anblick ist im Vergleich mit den perfekten, reichlich überarbeiteten Fotos oft frustrierend. Selbst Patientinnen, die über fünfzig Jahre alt sind, fragen mich oft, warum Celebritys in ihrem Alter oft so viel besser aussähen als sie. Bei diesen Gesprächen merke ich ganz konkret, dass die Konkurrenz mit virtuellen Identitäten ein großes und umfassendes Problem ist, das alle Altersklassen betrifft. Ich versuche meinen Patientinnen dann klarzumachen, dass die meisten Fotos, die im Internet kursieren, bearbeitet sind und die wenigsten Promis in der Realität so ebenmäßige Porzellanhaut haben. Auch wenn es schwierig ist, das zu glauben, weil die Gesichter und Körper auf den Fotos so echt wirken: Bei den meisten Fotos wird mit Photoshop und Filtern nachgeholfen, von chirurgischen Eingriffen ganz zu schweigen.

Haben wir uns möglicherweise bereits so sehr an Künstlichkeit gewöhnt, dass wir ein natürliches Gesicht nicht mehr als schön genug empfinden? Und hängen wir bereits in einem Teufelskreis fest?

Sehen wir uns zunächst an, wie wir heute konkret in den sozialen Medien interagieren und was uns dazu bewegt, vor allem unbewusst.

Die meisten Menschen, die Fotos von sich in die sozialen Netzwerke stellen, bearbeiten sie vorher eingehend. Erst dann werden sie mit einem zufriedenen Lächeln und einem Hauch Anspannung hochgeladen. Leider hält dieser Zustand der Zufriedenheit nur einen kurzen Moment an. Und genau das nutzen die sozialen Medien für ihre Zwecke.

Es ist Teil des Geschäftsmodells, die Aufmerksamkeit der Nutzer so lange wie möglich zu bündeln und sie dazu anzuregen, auf der Plattform zu verweilen. Je länger die User bleiben, desto mehr Daten hinterlassen sie und ihnen kann immer personalisiertere Werbung gezeigt werden. Instagram, Snapchat, Facebook – sie alle wollen das Gleiche: uns binden. Um es im Klartext zu sagen: uns süchtig machen. Denn dann bleiben wir, unbewusst und auch oft gegen unseren rationalen Willen. Oder können Sie genau sagen, wie oft und wie lange Sie Social Media täglich nutzen? Und wenn ja, möchten Sie das öffentlich zugeben? Die Bindung funktioniert, auch bei mir. Aber warum ist das so? Zum einen sind es die immer neuen Reize, die uns stimulieren. Egal ob es die Bilder und Kommentare sind, unsere eigenen Aktionen oder die anderer, ob es für uns angenehme oder weniger angenehme Reize sind: Das Gehirn gewöhnt sich an diese Stimuli und will mehr davon. Zum anderen empfinden wir jeden Like und jeden Kommentar, den wir bekommen, als pure Belohnung, denn unser Gehirn schüttet in dem Moment den Neurotransmitter Dopamin aus. Sofort sehnen wir uns dann nach einer neuen Ladung Glücksgefühl und können die Plattform nicht verlassen. Zudem zeigen Likes in dieser virtuellen Welt an, wie hoch man im Kurs steht, wenn man so will, wie viel Wert man hat.

Wir Menschen sind soziale Wesen, die sich nach Anerkennung sehnen, und Instagram und Co. scheinen uns genau diese zu geben, wenn wir nur aktiv genug sind. Aber wie erwähnt machen die sozialen Netzwerke auch passiv Spaß. Man scrollt sich von einem Account zum anderen, folgt der besten Freundin wie auch den größten Stars. Letztere sind häufig Influencer, so wie meine Patientin es von sich behauptete, nur mit teilweise mehr als 100 000 Followern. Diese beeinflussen uns im wahrsten Sinne des Wortes. Wir kaufen Dinge und probieren neue Stylings aus, manchmal ohne genau zu wissen, ob wir selbst darauf gekommen sind oder ob wir uns diese Sachen abgeguckt haben. Influencer arbeiten oft mit Firmen zusammen, die vor allem jüngere Zielgruppen nicht mehr anders erreichen können, und präsentieren ausgewählte Produkte inzwischen meist mithilfe ausgeklügelter Kampagnen. Influencer sein, sofern man eine große Reichweite hat und die Werbepartner gut zahlen, ist ein Vollzeitjob. Inzwischen kann man den sogar lernen, zum Beispiel bei der »Influencer Marketing Academy« in Berlin. Das Ziel: Die Follower langfristig an die eigene Marke binden. Das klappt meist gut, wenn man ein bestimmtes Thema hat, zum Beispiel Fitness oder Ernährung. Die Influencer auf Instagram scheinen zudem sehr nahbar, als wären sie wie Sie und ich, nur haben sie häufig ein für ihre Follower perfekt erscheinendes Leben, sehen immer top aus und reisen an die schönsten Orte der Welt.

Die Trends, die Influencer heute zum Teil verbreiten, werden für mich als plastischen Chirurgen manchmal zu einer immensen Herausforderung. Einigen Menschen scheint der Unterschied zwischen virtueller und realer Welt immer weniger bewusst zu sein. Oft hängt daher die plastische Chirurgie den Ansprüchen der Patienten hinterher. Ich erfahre manchmal erst durch meine Patienten, was gerade hip ist. Eine solche Situation ergab sich letztes Jahr, als eine Patientin in mein Büro kam und ganz selbstverständlich sagte: »Ich möchte einen Toblerone-Tunnel.« Die knusprige Dreiecksschokolade aus der Schweiz kannte ich, aber beruflich war ich – außer dass sie bei übermäßigem Genuss bestimmt auch zu vermehrten Fettpölsterchen führt – noch nicht damit konfrontiert worden. Ich wollte mir aber auf keinen Fall anmerken lassen, dass ich weder den Begriff noch den neuen Trend kannte, also entschied ich mich, meine Patientin souverän anzuschauen, zu nicken und so zu tun, als würde ich diesen Wunsch auf dem Laptop vermerken. Schnell ging ich heimlich ins Internet und googelte »Toblerone Tunnel«. Mit wenigen Klicks fand ich heraus: Die Bezeichnung meinte die Lücke, die sich bei manchen Frauen ganz oben zwischen den Oberschenkeln auftut und durch die im Idealfall, wie heutzutage viele meinen, eine Toblerone-Schokoladen-Schachtel passen sollte. Eine Erscheinung, die bei Frauen schon länger beliebt und chirurgisch durchaus leicht herzustellen ist, das konnte ich auf den ersten Blick sehen. Es handelt sich um eine präzise Fettabsaugung, also besprach ich mit meiner Patientin die Risiken eines solchen Eingriffs. Dass ich zunächst nicht wusste, wovon die Patientin sprach, hat sie nicht gemerkt. Über den neuen Trendnamen muss ich noch heute schmunzeln.

Influencern wurde seit Längerem vorgeworfen, Schleichwerbung zu betreiben, also für das Bewerben von Produkten und Marken bezahlt zu werden, ohne es zu kennzeichnen. Dagegen werden inzwischen in Deutschland rechtliche Schritte eingeleitet. Unter Posts liest man daher jetzt häufig, dass es sich um Werbung handelt. Obwohl das Bild dazu so aussieht, als säße zum Beispiel ein Mann einfach so, ganz entspannt, zufällig und spontan in einem Café. Dabei ist auf so einem Foto nichts dem Zufall überlassen. Vom Milchschaum bis zur Mütze auf dem Kopf, alles wurde perfekt inszeniert. Tatsächlich kann auch schon mal ein ganzer Tag vergehen, bis ein Foto von Influencern hochgeladen wird, so aufwendig ist die Nachbearbeitung.

Die sozialen Medien sind der Traum aller Marketinggurus, aber sie können zum Albtraum für das Selbstwertgefühl werden. Denn warum wollte sich meine Patientin ein Filtergesicht nach dem Kindchenschema operieren lassen? Meine These: Wenn man für die gefilterten und bearbeiteten Fotos Tausende von Likes mehr bekommt als für das gleiche unbearbeitete Bild, ist es nicht verwunderlich, dass man daran zweifelt, ob man für sein natürliches Aussehen überhaupt noch Anerkennung bekommen würde.

Das Muster hinter dem Sog der sozialen Netzwerke zu verstehen ist hilfreich, aber das tat in dem Moment, als ich meiner neuen Influencerpatientin gegenübersaß, nicht viel zur Sache. Sie erwartete eine Antwort. Dennoch hatte ich erst mal noch einige wichtige Fragen. Zunächst interessiert mich immer die Motivation des Patienten. Wie stark ist der Wunsch ausgeprägt? Ist der Patient sich ganz sicher, dass er diese Veränderung wirklich mit allen Konsequenzen durchdacht hat? Ist ihm bewusst, wie er den Eingriff in einigen Jahren wahrnehmen wird? Das ist insbesondere bei einem so jungen Menschen wie jener Frau, mit der ich gerade sprach, ein wichtiger Aspekt. Im weiteren Gespräch mit der Patientin fand ich heraus, dass sie schon länger mit dem Wunsch spielte, ein Filtergesicht zu bekommen, es ihr absolut ernst damit war und sie eine Karriere als Influencerin als realistisch einstufte. Influencerin war ihr Traumberuf, von dem sie nicht abrücken wollte.

Zunächst war also für mich wichtig festzustellen: Kann ich den Eingriff als Arzt durchführen, ohne dem Patienten Schaden zuzufügen? In gewisser Hinsicht war es tatsächlich möglich, das Idealbild, das die junge Patientin von sich hatte, in die Realität umzusetzen. Es wäre möglich, dass sie sich einem sogenannten »Chemical Eyebrow Lift« unterzieht. Dabei wird eine kleine Dosis Botulinumtoxin unterhalb der Augenbraue eingespritzt. Die Braue wird dadurch angehoben und das Auge optisch vergrößert. Falls ihr dies nicht genug wäre, könnte sie auch eine Oberlidstraffung machen lassen, bei der Oberlidhaut entfernt wird, was ebenfalls zu einer optischen Vergrößerung der Augen führt. Um ihren Schmollmund zu betonen, hatte sie bisher meist Lippenstift oder Lipgloss verwendet. Da sie sich die voll wirkenden Lippen aber nun dauerhaft wünschte, wäre ein »Lippenshaping« durch Hyaluronsäure möglich. Eine Methode, die inzwischen zu einem bewährten Klassiker in der plastischen Chirurgie geworden ist. Mit besonderen Unterspritzungsmethoden können selbst schmallippige Frauen volle Lippenformen bekommen. In dieses Schema passt auch die Betonung der Wangenknochen, die vor dem Spiegel gern mit Rouge in Szene gesetzt werden. Durch eine dezente Auffüllung des Areals oberhalb der Wangenknochen kann dieser Effekt mit einem Filler langfristig erzielt werden. Auch die Nase könnte ich durch eine OP verkleinern. Hier lag allerdings der Knackpunkt. Jede Nase wirkt auf einem Selfie, aufgenommen mit einem Abstand von circa dreißig Zentimetern, um 30 Prozent größer, als sie tatsächlich ist, ganz anders, als sie im Spiegel oder auf einem traditionellen Foto wirkt. Eine Selfienase, die aus diesem Abstand stupsig wirkt, wäre in der Realität vermutlich zu klein, um ihre eigentliche Aufgabe zu erfüllen, das Atmen. Ich zweifelte stark daran, dass ich all diese Eingriffe, insbesondere die extreme Nasenoperation, persönlich als Mensch nachvollziehen und verantworten könnte.

Wir alle haben eine Vorstellung davon, wie sich gesellschaftlicher Druck anfühlt, denn wir erleben ihn jeden Tag. Wurde man früher von der Großmutter gemaßregelt, wenn man am Kaffeetisch nicht mit geradem Rücken saß, erstreckt sich der soziale Druck heute nicht nur über unser direktes Umfeld, sondern vor allem über den virtuellen Raum. Unsere emotionale Angriffsfläche hat sich somit vervielfacht. Positives wie negatives Feedback lauert nicht nur in der Schule, in der Bahn, an Supermarktkassen und am Telefon, sondern genauso – und oft auch noch verstärkt – auf Plattformen wie Instagram, Facebook, Snapchat, in den professionellen Karriereportalen Xing und LinkedIn und natürlich in Dating-Apps wie Tinder und Lovoo, die explizit auf die Bewertung anderer ausgelegt sind. Dabei stellt sich die Frage: Wie weit treibt uns der Druck der sozialen Medien? Und inwieweit möchte ich als plastischer Chirurg ein Teil der Maschinerie oder Erfüllungsgehilfe sein?

Dass die mit Filter veränderten Selfies der Patientin bei Instagram und Snapchat Erfolg haben, war für mich nicht unverständlich. Genauso rational nachvollziehbar war für mich ihr Wunsch, denn warum sollte sie sich täglich mit einem Filter bearbeiten, wenn man den Filter in die Realität umsetzen und das gewünschte Gesicht tagtäglich tragen kann? Trotzdem: Ihre Anfrage verwunderte mich. Sich von einem Filter und Menschen, die andere anhand von Likes bewerten, vorgeben zu lassen, wie man im Idealfall aussehen sollte, erschien mir extrem.

Ich erinnerte mich in diesem Moment in der Praxis an eine Situation mit einer guten Freundin. Wir saßen damals in einer Berliner Bar, in deren hinterem Teil sich ein Tattoostudio befand. Ich versuchte die Geräusche der Tätowiermaschine zu ignorieren, als sie sagte: »Jetzt schau doch mal hin!« Anne, eine meiner ältesten Freundinnen, zog ihr Kinn noch etwas tiefer zur Brust hin.

»Dieses Doppelkinn meine ich.«

»Fast jeder hat ein Doppelkinn, wenn man das Kinn auf die Brust drückt«, entgegnete ich und nahm einen Schluck aus meinem Glas, in der Hoffnung, wir könnten bald zum nächsten Thema übergehen.