Wahre Wirtschaft - Vandana Shiva - E-Book

Wahre Wirtschaft E-Book

Vandana Shiva

0,0
17,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Von der Ausplünderung zur Regeneration Rechtzeitig zum 70. Geburtstag dieser weltbekannten Wissenschaftlerin und Aktivistin (am 5. November) erscheint ihr neuestes Werk, in dem sie ihre Themen mit Nachdruck und im Lichte der aktuellen Ereignisse vorträgt. Und sie macht deutlich, dass es nicht damit getan ist, das derzeitige Wirtschaftssystem zu reformieren. Denn was wir derzeit haben, ist keine Ökonomie im Sinne von Oikos, dem gemeinsamen »Haus« unserer Erde, dem Haushalt der Natur, den die Ökologie beschreibt. Was »Wirtschaft« und »Wachstum« genannt wird, ist Extraktivismus, Plünderung der Lebensgrundlagen, ein Zehren von der Substanz. Im Geiste Gandhis plädiert sie für ein einfaches Leben in der Gemeinschaft aller Lebewesen in einer Erddemokratie. Es geht ihr nicht allein um Nachhaltigkeit, sondern um die Wiederbelebung des Lebenserhaltungssystems der Erde und eine Wiedereingliederung in die Kreisläufe des Lebens. Das BIP ist ein falsches Maß, welches auf dem Geldumlauf beruht. Doch was das Leben ausmacht, ist weder Geld noch Konsum, noch viel weniger Krankheit und Naturzerstörung, die jedoch ebenfalls das BIP erhöhen. Unsere »Wirtschaft« baut auf falschen Paradigmen auf, die vom Kolonialismus herrühren und Technologie, Digitalisierung und Innovation vergöttern. Gewalt und Apartheid wohnen unserer Art des Wirtschaftens inne, und die Globalisierung führt zu einer Enteignung der 99 Prozent, damit das 1 % der Multimilliardäre ihre Agenda umsetzen kann. Dem stellt Vandana Shiva ihren Entwurf einer wahren Wirtschaft gegenüber: Fürsorge kultivieren und Fülle und Wohlergehen für alle Lebewesen schaffen: auf dem ökologischen Weg der Gewaltlosigkeit.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 389

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Vandana Shiva

WahreWirtschaft

Von der Geldgier zu einerÖkonomie der Fürsorge

Die Wirtschaftsrevolution zurRegeneration des Planeten,unseres Lebens und unserergemeinsamen Zukunft

Bücher haben feste Preise.

1. Auflage 2022

Vandana Shiva

Wahre Wirtschaft

Der Titel des englischen Originals lautet »From Greed to Care«.Erschienen bei: Editrice Missionaria Italiana srl, Verona© Vandana Shiva

Übersetzt aus dem Englischen von Andreas Lentz

© für die deutsche Ausgabe Neue Erde GmbH 2022

Alle Rechte vorbehalten.

Umschlag:

Fotos: Romolo Tavani (Hintergrund), kram-9,

Roman Samborskyi, alejandro piorun, alle shutterstock.com

Gestaltung: Dragon Design, GB

Lektorat: Laura Spies

Satz und Gestaltung:

Dragon Design, GB

eISBN 978-3-89060-381-0

ISBN 978-3-89060-820-4

Neue Erde GmbH

Cecilienstr. 29 · 66111 Saarbrücken

Deutschland · Planet Erde

www.neue-erde.de

Vandana Shiva in einem Vortrag an der Uni Hamburg am 20. Februar 2022:

Wie misst man das BIP (Bruttoinlandsprodukt)? Die Definition des UN-Rechnungslegungssystems lautet: »Wenn man das, was man produziert, verbraucht, produziert man nicht.« Mit dieser einen Definition wurden alle Kreislaufwirtschaften auf Null reduziert. Mit dieser einen Definition wurde die gesamte Arbeit der Frauen auf Null reduziert. Alle Arbeit der Bauern wurde auf Null reduziert. Die Selbstversorgung wurde ausradiert. Für das BIP musste man also verkaufen, was man produzierte, und kaufen, was man brauchte, erst dann spiegelte es sich im BIP wider. Und an beiden Enden des Systems werden Profite gemacht.

Inhalt

Vorbemerkung des Übersetzers und Herausgebers

Kapitel 1: Das Virus der Gier hat mehrere Notlagen geschaffen: Ein Paradigmenwechsel ist zu einem Gebot des Lebens geworden

COVID und der Krankheitsnotstand

Die Krise der biologischen Vielfalt und der Aussterbenotstand

Der Klimanotstand

Wirtschaftliche Notlage durch Hunger und Zerstörung der Existenzgrundlagen

Ökologische Apartheid: Die falschen Annahmen von Trennung und Überlegenheit

Erddemokratie: Auf der Erde als eine Erdenfamilie zusammenleben, lebendige Ökonomien der Fürsorge kultivieren

Grundsätze der Erddemokratie

Kapitel 2: Die Rückgewinnung der lebendigen Wirtschaft von der Dys-Ökonomie der Gier, des Extraktivismus und des Geldmachens

Gier und Geldmacherei ist Chrematistik, nicht Oikonomia

Diagramm zur Rohstoffwirtschaft

Die Wirtschaft der Gier und des Extraktivismus wurde durch den kolonialen Handel, die Globalisierung und den Freihandel der Konzerne geformt

Koloniale Invasionen und Einhegungen der Allmende zur Schaffung von Privateigentum für den Extraktivismus

Die Fiktion von Egoismus und die falsche Prämisse, dass Gier und Wettbewerb zur »menschlichen Natur« gehören

Kapitel 3: Wissen zurückerobern: Episteme und Techne für Gewaltlosigkeit, Mitgestaltung und Fürsorge anstelle von Gewalt, Herrschaft und Gier

Von der gewalttätigen Erkenntnislehre des mechanistischen Reduktionismus zur gewaltfreien Erkenntnislehre der Vielfalt und Fürsorge

Von Techniken der Gewalt, Gier und Rücksichtslosigkeit zu Techniken der Gewaltlosigkeit, Fürsorge und Regeneration

Diagramm: Technologischer Wandel

Vier industrielle Revolutionen zur Kolonialisierung der Welt, zur Gewinnung von Profiten und zur Ausweitung der Macht sind vier Wellen der Externalisierung und ökologischer und sozialer Zerrüttung

Die erste industrielle Revolution: Industrie auf Basis fossiler Brennstoffe, Klimazerrüttung, Zerstörung der Lebensgrundlagen

Die zweite industrielle Revolution: Kriegschemikalien, die zu Agrarchemikalien wurden

Die dritte industrielle Revolution: Die Industrialisierung des Lebens durch Gentechnik zur Durchsetzung von GVO und Patenten auf Saatgut

Die vierte industrielle Revolution: Digitale Technologien und das Giftkartell schaffen eine Dystopie: Landwirtschaft ohne Bauern, künstliche Nahrungsmittel und Überwachungskapitalismus

Kapitel 4: Fürsorge kultivieren, die Erde regenerieren

Covid-Lektionen über Fürsorge und die Anerkennung und Respektierung ökologischer Grenzen und der Integrität des Lebens – Der Weg der industriellen Landwirtschaft als Gewalt wider die Erde und die Menschen

Fürsorge kultivieren, Fülle und Wohlbefinden für alle Lebewesen schaffen: Der ökologische Weg der Gewaltlosigkeit

Diagramm: Ökonomien der Fürsorge

Kapitel 5: Zusammenfassung: Rückkehr zur Erde

Anhang

Die Bedeutung zurückgewinnen: Ein Wörterbuch der wichtigsten Wirtschaftsbegriffe

Glossar

Endnoten

Vorbemerkung des Übersetzers und Herausgebers

Es ist manchmal ein schmaler Grat zwischen allgemeiner Verständlichkeit und dem, was eine Autorin meint und sagen will. Dies betrifft hier besonders bestimmte Begrifflichkeiten, die Vandana Shiva benutzt und die im englischen Sprachgebrauch durchaus eingeführt und in ihrer Bedeutung fest umrissen sind.

Im Sinne der Übersetzungstreue haben wir uns entschieden, die Begriffe so zu verwenden, wie sie im Original vorkommen, werden sie jedoch bei ihrem ersten Vorkommen stets in einer Fußnote erklären. Weitere Vorkommen wenig geläufiger Begriffe werden durch eine andere Schriftart hervorgehoben. Sie alle sind im Glossar ab Seite 285 genau erklärt.

Vorweg möchte ich auf einige Schlüsselbegriffe eingehen, die häufig vorkommen. So spricht die Autorin mehrfach von der »enclosure of the commons«. Im Englischen ist es bekannt als die Aneignung des Gemeindelandes durch die Großgrundherren, was zur Vertreibung der Landbevölkerung (konkret zuerst in Schottland) führte. Die fachlich richtige Übersetzung ist »Einhegung der Allmende«. Allmende ist Gemeingut im Sinne von »gehört keinem«, ist also auch nicht Besitz der Gemeinschaft, sondern gehört sich selbst; es ist ein Lehen, ist »Gottes Erde«.

So war es die längste Zeit der Menschheitsgeschichte: Die Erde konnte nicht Besitz sein, genauso wenig wie das Wasser oder die Luft. Erst im (noch sehr jungen) Zeitalter des Patriarchats kam es zur »Einhegung«, zur Inbesitznahme, Aneignung, Privatisierung, also zu einem Alleinverfügungsrecht.

Ein weiterer, häufig vorkommender Begriff ist »extractivism«, den wir mit Extraktivismus übersetzt haben. Hier hätten sich auch Begriffe wie Ausbeutung oder Ausplünderung angeboten, die uns im Zusammenhang dieses Buches jedoch als viel zu schwach erschienen: Extraktivismus ist eine Einstellung, mit der alles bis auf den letzten Rest extrahiert, bis zum Letzten ausgesaugt wird – zurück bleibt eine leere Hülle.

Weitere – auch mir bis anhin unbekannte – Begriffe werden im Textzusammenhang erklärt. Sie werden von der Autorin ganz bewusst eingeführt, weil andere Bezeichnungen nicht genau treffen, was sie sagen will. In diesem Sinne hoffe ich auf Verständnis der Leserschaft und die Bereitschaft, sich diese Begrifflichkeiten anzueignen. Es lohnt sich!

Andreas Lentz

Kapitel 1

Das Virus der Gier hat mehrere Notlagen geschaffen: Ein Paradigmenwechsel ist zu einem Gebot des Lebens geworden

Wir befinden uns in einer existenziellen Krise mit mehreren Notlagen: der Krankheitspandemie, der Hungerpandemie, der Armutspandemie, der Pandemie der Angst und Hoffnungslosigkeit, dem Klimanotstand, dem Notstand durch Artensterben und der Notlage durch Ungerechtigkeit, Ausgrenzung und Ungleichheit sowie durch Enteignung großer Teile der Menschheit, die damit »überflüssig« gemacht werden.

Die Notlagen sind miteinander verknüpft und haben gemeinsame Wurzeln in einem Wirtschaftsparadigma, das auf Extraktivismus1 (Ausplünderung, extreme Ausbeutung) und grenzenlosem Wachstum beruht. Es wird von grenzenloser Gier angetrieben und kennt keine ökologischen und ethischen Grenzen. Die Integrität und die Rechte der Erde und der Menschheit werden mit Füßen getreten. Dieses Paradigma2 der Wirtschaft beruht auf Gefühllosigkeit und Verantwortungslosigkeit. Es übernimmt keine Verantwortung für die Schäden und die Zerstörung, die durch Extraktivismus und Gier verursacht werden, und verlagert (externalisiert) die ökologischen und sozialen Kosten auf die Natur und die menschliche Gesellschaft.

Gier und Extraktivismus wurden »naturalisiert«:3 durch die Errichtung von Illusionen der Trennung und Überlegenheit, welche die Verbundenheit und Einheit allen Lebens leugnen. Es ist ein militaristisches, mechanistisches, reduktionistisches4 Wissensparadigma, denn es leugnet, dass die Erde, ihre biologische Vielfalt, ihr Land und ihr Wasser lebendig sind.

Die Schädigung der Erde und ihrer ökologischen Prozesse bedeutet auch eine Schädigung der Menschen, insbesondere der schwächsten Mitglieder der menschlichen Gemeinschaft.

Wir sind Teil der Natur, nicht getrennt von ihr. Wir sind eine Erdenfamilie auf einem Planeten, gesund in unserer Vielfalt und Verbundenheit. Die Gesundheit des Planeten und unsere Gesundheit sind untrennbar verbunden. Das Wohlergehen der anderen Weltgegenden, der anderen Menschen und aller anderen Arten beeinflusst unser eigenes Wohlergehen. Es gibt kein abgetrenntes, unverbundenes »Anderes« in einer vernetzten Welt.

COVID und der Krankheitsnotstand

Die Jahre 2020 und 2021 waren geprägt von COVID-19. Weder die Pandemie noch der Lockdown sind vorbei. COVID-19 ist das Symptom einer lebensfeindlichen, naturfeindlichen Weltanschauung, die auf Trennung, Ausbeutung, Unterdrückung, Gewalt gegen die Natur und die Frauen sowie auf der Missachtung ihres Lebens, ihrer Integrität, ihrer Freiheit und ihrer Souveränität beruht. Das kartesianische (von Descartes eingeführte) Weltbild, das unser Denken beherrscht, leugnet, dass die Natur lebendig ist. Es spaltet und trennt, was miteinander verbunden ist. Es ist blind für Zusammenhänge und tiefere Ursachen.

Neue Krankheiten entstehen, weil das globalisierte, industrialisierte, ineffiziente Nahrungsmittel- und Landwirtschaftsmodell in den ökologischen Lebensraum anderer Arten eindringt und Tiere und Pflanzen ohne Rücksicht auf ihre Integrität und Gesundheit manipuliert werden. Die Illusion, dass die Erde und ihre Lebewesen ein Rohstoff sind, der für Profite ausgebeutet werden kann, schafft eine durch Krankheit verbundene Welt.

In dem Maße, in dem Wälder abgeholzt und zerstört werden, in dem unsere landwirtschaftlichen Betriebe zu industriellen Monokulturen werden, um giftige, nährstoffarme Waren zu produzieren, und in dem unsere Ernährung durch die industrielle Verarbeitung mit synthetischen Chemikalien und Gentechnik in Labors entwertet wird, sind wir durch Krankheiten miteinander verbunden.

In den letzten 30 Jahren sind 300 neue Krankheitserreger aufgetaucht, weil die Agrarindustrie aufgrund von Gier und Globalisierung in die Wälder, die Heimat unterschiedlichster Arten und Kulturen, eingedrungen ist, den Lebensraum von Arten zerstört und sie manipuliert hat.

Ebola, die Vogelgrippe, das H1N1-Grippevirus (oder Schweinegrippe), das Nahost-Atemwegssyndrom (MERS), das Rifttalfieber, das schwere akute Atemwegssyndrom (SARS), das West-Nil-Virus, HIV, das Zika-Virus und jetzt das neuartige Coronavirus COVID-19 wurden alle durch das Eindringen in Waldökosysteme verursacht und haben die Integrität von Arten und Ökosystemen verletzt. Millionen von Menschen sind gestorben und sterben noch immer. Milliarden von Menschen haben ihre Lebensgrundlage und ihren Anspruch auf Nahrung verloren. Die gleichen Invasionen verletzen die Rechte der indigenen Völker, die die Wälder und ihre biologische Vielfalt über Jahrtausende hinweg bewahrt und die kulturelle Vielfalt der indigenen Kulturen entwickelt haben.

Ein UNEP5-Bericht hat festgestellt, dass die Welt nur die Symptome behandelt, nicht die Ursache der Pandemie. Prof. Delia Grace, Hauptautorin des UNEP-Berichts, sagte: »Es gab viele Reaktionen auf COVID-19, aber die meisten haben es als medizinische Herausforderung oder wirtschaftlichen Schock angesehen. Die Ursachen liegen jedoch in der Umwelt, den Nahrungsmittelsystemen und der Tiergesundheit. Es ist so, als würde man jemanden krank machen und nur die Symptome behandeln, nicht aber die eigentliche Ursache angehen. Die Regierungen müssen sich mit der Zerstörung der natürlichen Umwelt befassen, um künftige Pandemien zu verhindern.«1

Die Arbeit von Navdanya6 zum Thema Ernährung und Gesundheit zeigt, dass wir mehr Nahrungsmittel anbauen können, wenn wir die biologische Vielfalt schützen und regenerieren. Wir müssen aufhören, in die Wälder einzudringen.2

Wir sind gesünder, wenn wir uns um den Boden kümmern und für biologische Vielfalt sorgen, wenn wir Gifte und Chemikalien vermeiden.3

Wir können durch die Ausbreitung von Krankheiten wie dem Corona-Virus weltweit miteinander verbunden sein, wenn wir in die Lebensräume anderer Arten eindringen, Pflanzen und Tiere aus Profitgier manipulieren und Monokulturen und Gifte verbreiten.

Oder wir können durch Gesundheit und Wohlbefinden für alle verbunden sein, indem wir die Vielfalt der Ökosysteme und die biologische Vielfalt, Integrität und Selbstorganisation (Autopoiesis7) aller Lebewesen, einschließlich der Menschen, schützen.

Die Krise der biologischen Vielfalt und der Aussterbenotstand

Der Gesundheitsnotstand, den uns das Corona-Virus vor Augen führt, hängt mit dem Notstand des Artensterbens zusammen, der wiederum mit dem Klimanotstand verknüpft ist. Alle diese Notlagen wurzeln in einer mechanistischen, militaristischen, anthropozentrischen Weltsicht, die den Menschen als von anderen Wesen getrennt und ihnen überlegen ansieht und glaubt, sie besitzen, manipulieren und kontrollieren zu können. Und diese Notlagen wurzeln in einem Wirtschaftsmodell, das auf der Illusion von grenzenlosem Wachstum und grenzenloser Gier beruht und systematisch die Grenzen des Planeten sowie die Integrität von Ökosystemen und der sie bewohnenden Arten verletzt.

Die biologische Vielfalt ist die Grundlage der Gesundheit des Planeten ebenso wie unserer eigenen Gesundheit. 80 Prozent der weltweit verbleibenden biologischen Vielfalt der Wälder befinden sich in den Gebieten indigener Völker und auf dem Land indigener und kommunaler Gemeinschaften.4

Die IUCN (Weltnaturschutzunion) erklärt: »Die Welt wartet darauf, dass die Pandemie vorüber ist, damit die Wirtschaft wieder wachsen kann und das Leben wieder normal wird. Was aber, wenn die Normalität das eigentliche Problem wäre? […] Kann uns die Pandemie dazu bringen, uns radikale Veränderungen vorzustellen, die aus der Abhängigkeit von einem endlosen Wirtschaftswachstum herausführen und eine gerechtere und regenerative Welt hervorbringen?« Sie betont, dass »das mechanistische Streben nach Wirtschaftswachstum, das die grundlegende Basis der globalen kapitalistischen politischen Ökonomie ist, weitgehend für den gegenwärtigen Zustand der Welt verantwortlich ist – ein Zustand, in dem sich geballter Reichtum konzentriert, die ökologische Integrität und das Wohlergehen der Menschen jedoch stetig verarmt«.

Klar ist: Der Weg, den die Menschheit derzeit geht, ist nicht nachhaltig, denn er zerstört das Leben auf der Erde. Er beruht auf einem mechanistischen Paradigma, das Ausbeutung und Gier begründet. Die fehlende Nachhaltigkeit und die zahlreichen Notlagen, welche die Infrastruktur des Lebens zerstören, stellen eine Bedrohung für das Überleben der menschlichen Spezies dar: Auch der Mensch ist eine bedrohte Art.

Nach Angaben des Inter Governmental Panel on Biodiversity and Ecosystem Services (IPBES) sind heute rund eine Million Tier- und Pflanzenarten vom Aussterben bedroht, viele davon innerhalb weniger Jahrzehnte – mehr als je zuvor in der Geschichte der Menschheit.5 Tag für Tag sterben 200 Arten aus. Insekten und Vögel verschwinden immer schneller. Wir erleben gerade das sechste Massenaussterben. Und wir könnten zu den Millionen von Arten gehören, die verschwinden, wenn wir in unserem Denken und Handeln nicht vom Extraktivismus und einem schweren ökologischen Fußabdruck zu einer Wirtschaft der Fürsorge übergehen, wenn wir nicht von der Gier zum Teilen und von Gewalt zu Gewaltlosigkeit gelangen.

Die Artenvielfalt geht zurück – über und unter der Erde. In einem Artikel aus dem Jahr 2021 mit dem bezeichnenden Titel »Underestimating the Challenges of Avoiding a Ghastly Future« (Unterschätzung der Herausforderungen für die Vermeidung einer fürchterlichen Zukunft) warnten siebzehn renommierte Ökologen, dass allein in den letzten 500 Jahren etwa 600 Pflanzenarten und mehr als 700 Wirbeltierarten ausgestorben sind.6

Die Verbundenheit mit der Erde zu pflegen, führt zu einer lebendigen Kultur. Die biologische Vielfalt – die Vielfalt der Arten in wechselseitiger Abhängigkeit und Vernetzung – schafft das Netz des Lebens, erhält den lebendigen Planeten und die Infrastruktur des Lebens. Ich nenne dies die Wirtschaft der Natur, die Wirtschaft der biologischen Vielfalt, die lebendige Kohlenstoffwirtschaft. Pflanzen nutzen durch Photosynthese die Energie der Sonne, um das Kohlendioxid in der Atmosphäre in lebendigen Kohlenstoff umzuwandeln, von dem alles Leben abhängt.

Die Klimazerrüttung ist eine Folge der Unterbrechung der ökologischen Kreisläufe und Ernährungszyklen des Lebens. Er ist die Folge des Übergangs von einer lebendigen Kohlenstoffwirtschaft, die für die Biosphäre sorgt, zu einer toten Kohlenstoffwirtschaft der Industrie, die fossile Brennstoffe abbaut, die von der Natur im Laufe von 600 Millionen Jahren unter der Erde eingelagert wurden, und die so Schadstoffe als Treibhausgase in die Atmosphäre pumpt.

Der Klimanotstand

Dieselben rücksichtslosen und gewalttätigen Techniken, die zu Pandemien und Krankheiten führen, den Boden degradieren, zum Verlust der biologischen Vielfalt beitragen und das Artensterben verursachen, verschmutzen auch die Atmosphäre und treiben die Klimazerrüttung voran. 20 Prozent der Treibhausgasemissionen, die zur Klimazerrüttung führen, werden durch die Abholzung von Wäldern für eine globalisierte Wirtschaft verursacht.

Wie mein Buch Soil not Oil (Leben ohne Erdöl) und das Navdanya-Manifest »Climate Change and the Future of Food« (Klimaveränderungen und die Zukunft der Ernährung) zeigen, stammen 50 Prozent der Treibhausgasemissionen, die das Klimachaos verursachen, aus einem industrialisieren Nahrungsmittelsystem, das auf fossilen Brennstoffen und Chemikalien beruht und von Gier getrieben ist.7 Die fossilen Brennstoffe, die von den Reichen im Globalen Norden verbrannt werden, verursachen das Abschmelzen der Gletscher im Himalaya, Wirbelstürme im Golf von Bengalen und den Anstieg des Meeresspiegels, der das Leben der Bewohner kleiner Inseln bedroht.8 Der IPCC (Intergovernmental Panel on Climate Change, Zwischenstaatlicher Ausschuss für Klimaänderungen) hat uns gewarnt, dass wir wahrscheinlich nur noch zehn Jahre Zeit haben, um die Klimakatastrophe zu begrenzen.

Der neue Oxfam-Bericht »Confronting Carbon Inequality« (Konfrontation mit der Kohlenstoff-Ungleichheit) kommt zu dem Schluss, dass in den vergangenen drei Jahrzehnten der Globalisierung und der beispiellosen Zunahme der Emissionen das reichste 1 % der Weltbevölkerung mehr als doppelt so viel zur CO2-Belastung beigetragen hat wie die 3,1 Milliarden Menschen, die fast die ärmste Hälfte der Menschheit ausmachen.9 Eine von Jason Hickel verfasste Studie, die in der Zeitschrift »Lancet: Planetary Health« veröffentlicht wurde, zeigt, dass die reichen Länder ihre Kohlenstoffvorgaben nicht einhalten und die größten Verschmutzer sind. Im Jahr 2015 waren die USA für 40 Prozent der globalen CO2-Emissionen verantwortlich, die EU für 29 Prozent, die G8-Gruppe der reichen Länder insgesamt für 85 Prozent des Ausstoßes und der globale Norden für 90 Prozent.10

Hier geht es um Klimagerechtigkeit. Es geht um die Kolonialisierung8 des Planeten auf Kosten der Armen. Der Schrei der Erde und der Schrei der Armen sind ein Schrei.

Wirtschaftliche Notlage durch Hunger und Zerstörung der Existenzgrundlagen

Dem Schrei der Erde und dem Schrei der Armen Gehör schenken.

Laudato Si’

Wir sind Zeugen mehrerer gleichzeitiger Pandemien. Die erste ist die Corona-Pandemie. Die zweite ist die Hungerpandemie. Die dritte ist die Pandemie der Zerstörung der Lebensgrundlagen.

Das als SARS-CoV-2 bekannte Virus hatte bis zum 14. Mai 2021 zu mehr als 161 Millionen Infektionen und mehr als 3,3 Millionen Todesfällen geführt.11

Das Welternährungsprogramm hat die Weltgemeinschaft vor einer drohenden »Hungerpandemie« gewarnt, die mehr als eine Viertelmilliarde Menschen erfassen könnte, deren Leben und Lebensunterhalt unmittelbar gefährdet seien. Nach Angaben des Welternährungsprogramms sind mehr als eine Million Menschen vom Hungertod bedroht, und 300.000 könnten in den nächsten drei Monaten jeden Tag verhungern.12

Es gibt auch einen pandemischen Verlust der Existenzgrundlage. Nach Angaben der IAO (Internationale Arbeitsorganisation der UNO) haben infolge der durch die Pandemie ausgelösten Wirtschaftskrise fast 1,6 Milliarden Beschäftigte der informellen Wirtschaft (die die Schwächsten auf dem Arbeitsmarkt darstellen) bei einer weltweiten Gesamtzahl von zwei Milliarden und einer globalen Erwerbsbevölkerung von 3,3 Milliarden massive Einbußen an ihrem Lebensunterhalt erlitten. Dies ist auf die Abschottungsmaßnahmen zurückzuführen und/oder darauf, dass sie in den am stärksten betroffenen Sektoren arbeiten. Guy Ryder, Generaldirektor der IAO, wies darauf hin: »Für Millionen von Arbeitnehmern bedeutet kein Einkommen, nichts zu essen, keine Sicherheit und keine Zukunft. […] Je weiter die Pandemie und die Beschäftigungskrise voranschreiten, desto dringender wird die Notwendigkeit, die Schwächsten zu schützen.«13

Wir alle sind Zeugen einer Pandemie der Ungleichheit, die zu einer weiteren Polarisierung zwischen den 1 %9 und den 99 Prozent führt. Während die arbeitenden Menschen ihre Existenzgrundlage verlieren, sind die nicht arbeitenden Milliardäre noch reicher geworden. Während die Reichen reicher wurden, verloren die arbeitenden Menschen immer mehr und rutschten in die Armut ab. 8 Millionen Amerikaner sind im reichsten Land zu den Armen hinzugekommen, weil Unternehmen geschlossen wurden und Arbeitsplätze verschwanden.14 Für Milliardäre wie Jeff Bezos von Amazon und Elon Musk von Tesla war die Pandemie gut fürs Geschäft.

Diese beiden Milliardäre sind, wie viele der reichsten Menschen der Welt, seit dem Ausbruch des Coronavirus noch reicher geworden, wie aus einem veröffentlichten Bericht hervorgeht.

Ein Bericht von Oxfam mit dem Titel »The Inequality Virus« zeigt, dass »die zehn reichsten Milliardäre der Welt – darunter Bezos, Bill Gates von Microsoft und Bernard Arnault, CEO des Luxuskonzerns LVMH – in diesem Zeitraum zusammen einen Vermögenszuwachs von 540 Milliarden Dollar verzeichnen konnten.«15

Die zahlreichen Krisen und Pandemien, mit denen wir heute konfrontiert sind – die Gesundheitspandemie, die Hungerpandemie, die Armutspandemie, der Klimanotstand, der Ausrottungsnotstand – haben alle ihre Wurzeln in einer Weltsicht, die von der Trennung von der Natur ausgeht und andere Wesen und die meisten Menschen darauf reduziert, von ihr manipuliert und ausgebeutet zu werden.

Alle diese Pandemien haben ihre Wurzeln in einem auf Profit, Gier und Extraktivismus beruhenden Wirtschaftsmodell, das die ökologische Zerstörung beschleunigt, den Verlust von Lebensgrundlagen verschärft, die wirtschaftliche Ungleichheit vergrößert und die Gesellschaft in das 1 % und die 99 Prozent polarisiert und aufgespalten hat.

Ökologische Apartheid: Die falschen Annahmen von Trennung und Überlegenheit

Das Leben auf der Erde und die Freiheit aller Lebewesen, einschließlich der 99 Prozent der Menschheit, sind durch die Konstruktionen, Abstraktionen und Illusionen der Mitglieder des 1 % bedroht, die durch ihr Handeln und das Betreiben des vorherrschenden ökonomischen Systems den realen Reichtum und die realen Ressourcen der realen Menschen an sich reißen und sie verarmt und enteignet zurücklassen. Armut ist kein Zustand, der in der Natur oder in indigenen Kulturen vorkommt. Sie ist das Ergebnis der Ausbeutung und des Raubbaus am realen Reichtum. Armut ist eine Folge von Gier.

Falsche Annahmen von Trennung und Überlegenheit sind die Wurzeln des Paradigmas von Gier und Extraktivismus. Ich habe diese Illusion der Trennung als ökologische Apartheid bezeichnet (Apartheid ist das Wort für Absonderung und Getrenntsein in der Sprache Afrikaans). Wissenschaftler wie Liebig haben sie auch »Riss im Stoffwechsel« genannt, den Bruch in den organischen Prozessen des freien Fließens der Energien, die für das Leben notwendig sind.

Die falschen Annahmen von Trennung und Überlegenheit, die Gier und Extraktivismus fördern, sind:

1. Die Verwandlung von Terra Madre, Mutter Erde, die schöpferisch, lebendig und integer ist, in Terra Nullius, die leere Erde. Die Leugnung, dass die Erde lebendig ist und als Mutter Erde Rechte hat, führt zu der Annahme, dass die Natur tote, träge Materie sei, Eigentum, das man besitzen, und Rohmaterial, das man zur Erzielung von Profiten abbauen kann. Terra Nullius hebt alle ökologischen und ethischen Grenzen auf und verleiht die Macht, absolut auszubeuten und zu dominieren, was zu wirtschaftlichem Autoritarismus und Totalitarismus führt. Die Leugnung der Integrität der Schöpfung ist die Wurzel sowohl der ökologischen Zerstörung als auch der Versuche, sich die Erde und ihre Lebewesen mit Hilfe von Ausbeutung und Gewalt untertan zu machen und zu kontrollieren.

2. Anthropozentrismus, die Annahme, dass die Menschen anderen Wesen, die zu Objekten herabgewürdigt werden, überlegen sind. Terra Nullius führt zu Bio Nullius, der falschen Annahme, dass die Vielfalt der Lebewesen auf der Erde keine Intelligenz, keinen intrinsischen Wert und keine Rechte hat, sondern aus Objekten besteht, die man besitzen und patentieren, manipulieren und für Profite und Kontrolle ausbeuten kann. Der Anthropozentrismus beruht auf der Leugnung, dass wir Mitglieder einer einzigen Erdenfamilie und alle Lebewesen empfindungsfähige Wesen mit Integrität, Eigenwert und angeborenen Rechten sind.

3. Öko-Apartheid, die Annahme, dass der Mensch von der Natur getrennt ist, dass er ihr Eroberer, Beherrscher und Besitzer ist, und die Leugnung der Tatsache, dass wir ein Teil der Natur sind und nicht von ihr getrennt. Diese gedankliche Trennung führt zur gewaltsamen Trennung indigener Völker und Kleinbauern von ihrem Land. Sie macht alle auf dem Planeten Erde, unserem gemeinsamen Zuhause, heimatlos. Die Reichen trennen sich ab und entwurzeln und enteignen Menschen, vertreiben sie gewaltsam aus ihrer Heimat, indem sie Ressourcen an sich reißen und die Umwelt zerstören. Sie zerstören deren Lebensgrundlage und machen so Millionen von Menschen aus wirtschaftlichen und ökologischen Gründen zu Flüchtlingen.

4. Menschliche Apartheid, die Annahme, dass der kolonialisierende Mensch anderen Kulturen und den meisten Menschen überlegen ist, besonders Indigenen und Menschen mit anderer Hautfarbe, Frauen, Bauern und Landarbeitern und Arbeitern generell. Apartheid verbindet Herrschaft und Diskriminierung auf der Grundlage von ethnischer Zugehörigkeit, Geschlecht und Religion mit der Einhegung von Gemeingütern, die sich alle Mitglieder einer Gemeinschaft teilen, und der Ausbeutung und Aneignung von Ressourcen, die alles Leben, einschließlich des menschlichen Lebens, erhalten. Gewalt gegen die Erde geht Hand in Hand mit Gewalt gegen Menschen, insbesondere gegen diejenigen, die für die Erde sorgen. Eine Wirtschaft, die auf dem grenzenlosen Abbau von Ressourcen zu einer grenzenlosen Anhäufung beruht, schafft neue Einhegungen und neue Hexenjagden.

Wenn die Natur für nicht lebendig, also für tot erklärt wird, haben die Natur und die Erde keine Rechte. Dann gibt es keine ökologischen Grenzen und keine Grenzen für die Extraktion (Ausbeutung bis auf das Äußerste) der Natur. Dies ist die Wurzel der Nicht-Nachhaltigkeit.

Die Weltanschauung, dass wir uns von der Natur getrennt haben, und die Annahme, dass die Natur tote, träge Materie sei, haben gewalttätige Wissenschaften und Technologien hervorgebracht, die auf Reduktionismus, Gleichförmigkeit und Linearität beruhen, welche Ausbeutung und Gier begünstigen, das fragile Lebensnetz der Natur zerstören und ökologische Krisen, Armut, Ungleichheit und Hunger verursachen.

Die anthropozentrische Annahme, der Mensch sei von der Natur getrennt und anderen Arten, die keine Rechte haben, überlegen, ist nicht nur eine Verletzung der Rechte unserer Mitmenschen, sondern auch eine Verletzung unserer Menschlichkeit und der Menschenrechte. Wir sind Mitglieder einer einzigen Erdenfamilie, und unser Menschsein beruht auf unseren Beziehungen zur biologischen Vielfalt und zum lebendigen Saatgut, zum Land und zum lebendigen Boden, zu den lebendigen Gewässern und zur lebendigen Nahrung. Menschenrechte, die auf der Grundlage von Trennung und Überlegenheit definiert werden, lassen »Dominanz« und »Ausbeutung« als natürliche Eigenschaften des Menschen erscheinen, obwohl sie in Wirklichkeit Konstruktionen sind, die auf der Illusion von Trennung und Überlegenheit beruhen. Der Natur ihre Rechte zu verweigern, führt zu ihrer Zerstörung und bedroht die Grundlagen des menschlichen Überlebens. In einer ökologisch vernetzten Welt bedeutet, der Natur ihre Rechte zu verweigern, auch den Menschen ihre Rechte vorzuenthalten. Die gleichen Konstrukte, die zur Gewalt gegen die Natur und letztlich zu ihrer Zerstörung führen, werden zur Grundlage von Gewalt gegen Mitmenschen. Nicht-Nachhaltigkeit und Ungerechtigkeit sind Teil desselben Vorgangs.

Die Weltsicht der Trennung erzeugt Hierarchien und die Illusion der Überlegenheit – der Mensch sei anderen Spezies überlegen, Männer seien Frauen überlegen, Weiße seien Menschen anderer Hautfarbe überlegen, ein einziger Glaube sei der Vielfalt der Glaubenssysteme überlegen, die die unterschiedlichen Kulturen hervorgebracht haben. Trennung und Überlegenheit schaffen Strukturen der Gewalt – Gewalt gegen die Natur, Gewalt gegen Frauen, Gewalt gegen alle »Anderen«, die als minderwertige Wesen definiert und damit zum Ziel der Kolonialisierung werden. Ungleichheit und Ungerechtigkeit wurzeln in der falschen Annahme von Abgrenzung und Überlegenheit.

Die ökologische Apartheid, die falsche Annahme, dass der Mensch von der Natur getrennt sei, ermöglicht die Entstehung der rassischen Apartheid gegenüber der einheimischen Bevölkerung wie in Südafrika, die Entstehung des Rassismus in der ganzen Welt und die damit verbundene Annahme, dass die kolonialisierende Rasse der einheimischen Bevölkerung des Landes überlegen ist. Es hat die Entstehung des kapitalistischen Patriarchats ermöglicht, das auf der Annahme beruht, dass die Natur tote Materie ist und Frauen passive Objekte sind.

Diese Illusionen haben Gewalt gegen die Erde und die unterworfenen Menschen ausgelöst. Und sie haben eine extraktive Wirtschaft geschaffen, die auf der Annahme beruht, dass die Natur und die Menschen bloß Rohmaterial sind, das für den Profit ausgebeutet werden darf. Dieser »Riss im Stoffwechsel« führt dazu, dass Gier, Ausbeutung und Ausnutzung als naturgegeben, als unvermeidlich und als menschlicher Fortschritt dargestellt werden.

Um die Saat für eine Zukunft nach Covid zu legen, jenseits von Krankheit, Trennung und Gewalt, Ungleichheit und Gefühllosigkeit, hin zu Einheit, Verbundenheit, Gewaltlosigkeit, Liebe, Fürsorge und Mitgefühl, Gesundheit und Wohlbefinden für alle, ist die Entkolonialisierung unseres Geistes, unseres Lebens und unserer Kulturen das Gebot der Stunde.

Eine Post-Covid-Welt braucht einen Paradigmenwechsel: weg von jener Weltsicht, die Covid und die vielfältigen, miteinander verknüpften Notlagen, die unser Überleben bedrohen, hervorgebracht hat. Diese verschiedenen Notlagen sind nicht voneinander getrennt. Sie sind miteinander verknüpft. Und sie haben die gleichen Wurzeln. Auch ihre Lösungen sind miteinander verknüpft. Doch obwohl die Krisen miteinander verbunden sind, wird jede Krise so behandelt, als hätte sie nichts mit den anderen zu tun. Man konzentriert sich auf die Symptome und nicht auf die tieferen Ursachen.

Die Notlagen, die die Zukunft unserer Spezies bedrohen, können nicht mit der gleichen Denkweise angegangen werden, die sie verursacht hat. Oder, wie Einstein sagte: »Wir können unsere Probleme nicht mit demselben Denken lösen, mit dem wir sie geschaffen haben.«

Die Mentalität der Trennung, der Überlegenheit und der Gier ist zu einer Bedrohung für das Überleben unserer Spezies geworden. Noch mehr Gier, noch mehr Trennung, noch mehr Zentralisierung, noch mehr Hierarchien können die vielfältigen Notlagen, mit denen wir konfrontiert sind, nicht lösen. Die Sucht nach Mehr ist jedoch schwer zu überwinden. Die Milliardäre sind bereits auf der Suche nach neuen Möglichkeiten der Ausbeutung und des Geldverdienens. Die Umstellung des Planeten und der Menschheit auf neue Imperien, die auf den alten kolonialisierenden Paradigmen von Wissen und Wirtschaft basieren, wird die Krise vertiefen und beschleunigen.

Wir brauchen eine neue Art zu denken und zu leben, damit die Menschheit – ebenso wie jede andere Art – weiterleben und gedeihen kann.

Erddemokratie: Auf der Erde als eine Erdenfamilie zusammenleben, lebendige Ökonomien der Fürsorge kultivieren

Erddemokratie ist eine Weltanschauung, ein neues Paradigma und eine Praxis, die auf der Anerkennung der Integrität der Schöpfung beruhen – demzufolge die Erde lebt und sie und ihre vielfältigen Lebewesen einen intrinsischen Wert haben und alles durch Mitgefühl und Fürsorge, durch den Fluss des Lebens miteinander verbunden ist. Wir sind Teil dieses Kreislaufs der Fürsorge und des Lebensflusses.

Erddemokratie begreift Menschen als lebendige Wesen, als Geschöpfe und Bewohner dieser Erde. Wir sind Teil der Erde und mit anderen Lebewesen verbunden, die alle ein Recht auf die Gaben der Erde haben.

Als Wesen der Erde hat der Mensch ein natürliches Recht auf Leben, Wohlbefinden und Gesundheit. Das Recht auf Leben beinhaltet das Recht, saubere Luft zu atmen, und das Recht auf Wasser und Nahrung, statt Hunger und Durst zu erleiden, das Recht auf ein Zuhause, auf Zugehörigkeit, auf Land, auf Lebensunterhalt und eine Existenzgrundlage, die der Boden und das Land bieten.

Da wir für unseren Lebensunterhalt von der Natur abhängig sind, bedeutet die Zerstörung der Natur eine Verletzung des Menschenrechts auf Nahrung und Wasser, Leben und Lebensunterhalt. Die Menschenrechte sind daher untrennbar mit den Rechten der Erde und den Rechten der anderen Arten verbunden. Die Menschenrechte entspringen der Pflicht, für die Erde und unsere Mitmenschen zu sorgen. Sie sind eine Quelle des Lebens.

Grundsätze der Erddemokratie10

1. Die Erde ist lebendig. Die lebendige Erde ist unsere Mutter. Sie ist Terra Madre, Mutter Erde, Gaia, Pachamama, Vasundhara, um nur einige ihrer vielen Namen zu nennen. Mutter Erde hat Rechte.

2. Wir sind alle Mitglieder der einen Erdenfamilie. Wir sind Teil der Erde, nicht von ihr getrennt und nicht ihre Beherrscher. Wir sind durch das Leben mit den nicht-menschlichen Arten und der menschlichen Familie verbunden. Wir sind miteinander verbunden durch die lebendigen Ströme von Energie und Atem, Wasser und Nahrung. Wir haben die Pflicht, die lebenden Systeme der Erde und die Infrastruktur des Lebens zu schützen, die uns Leben, saubere Luft, klares Wasser und gesunde Nahrung bieten. Alle Lebewesen haben ein Recht auf die Gaben der Erde. Sie alle haben ein Recht auf Leben, auf ihren Anteil am ökologischen Raum.

3. Wir sind eine Menschheit auf einem Planeten. Alle Menschen sind gleich. Unsere Vielfalt bereichert das Leben und darf nicht als Rechtfertigung für Ungleichheit und Ungerechtigkeit herhalten. Zukünftige Generationen haben ein Recht darauf, die Gaben der Erde zu genießen. Heutige Generationen haben die Pflicht, für künftige Generationen zu sorgen. In vielen Kulturen wird dies als »Ethik der sieben Generationen« bezeichnet – was bedeutet, den sieben Generationen, die vor einem da waren, dankbar zu sein und so zu handeln, dass die sieben kommenden Generationen nicht geschädigt werden. Die Fürsorge für künftige Generationen ist die Fürsorge für die Erde, die Gaben der Natur in ihrer ganzen Vielfalt, Unversehrtheit und Reinheit zu bewahren, so dass sie an noch nicht geborene Generationen weitergegeben werden können.

4. Die Erddemokratie beruht auf der lebendigen Ökonomie der Fürsorge für die Erde und unsere Gemeinschaften. In lebendigen Ökonomien wird das Netz des Lebens durch die Sorge für die Vielfalt des Lebens gewoben. Jede Lebensform unterstützt und erhält alle anderen: durch Austausch, Kooperation und Harmonie. Alle Lebewesen sind fühlende Wesen und haben Rechte. Gewaltfreie Erkenntnistheorien und -methoden sowie gewaltfreie Techniken entwickeln sich, wenn wir anerkennen, dass alle Lebewesen kreativ und intelligent sind und als Erdenwesen eigene Rechte haben. Multidimensionalität tritt an die Stelle von Eindimensionalität und Linearität. Die Vielfalt des Geistes ersetzt die Monokulturen des Geistes. Das Geben und Erhalten der Lebenszyklen ersetzt den Extraktivismus. Durch gemeinsame Kreation und Koproduktion haben wir das Potential, Ökonomien der Fürsorge zu schaffen, die Überfluss und Wohlbefinden für alle hervorbringen.

Die Erddemokratie erkennt an, dass alle Menschen gleich sind und die gleichen Rechte haben, wie sie in der UN-Menschenrechtserklärung und anderen Konventionen zum Schutz der Rechte der Frauen, der Rechte der indigenen Völker, der Rechte der Bauern und der Rechte des Kindes verankert sind.16

Die Erddemokratie erkennt an, dass alle Menschen die gleichen Rechte haben: Auch wenn sie sich in Bezug auf ihre ethnische Herkunft und Religion, ihr Geschlecht und ihre Kultur unterscheiden, sind sie ökologisch gleich. Vielfalt ist nicht Ungleichheit. Das Aufzwingen von »Gleichförmigkeit« und »Uniformität« in einer biologisch und kulturell vielfältigen Welt beruht auf der Illusion von Überlegenheit, die Gewalt gegen die Natur, ihre Arten und die verschiedenen Kulturen entfesselt.

Die Erddemokratie begreift, dass die MenschenTeil der Erde und mit anderen Lebewesen verbunden sind. Die Menschenrechte sind daher mit den Rechten der Erde und den Rechten der anderen Arten verbunden. Wir haben alle das gleiche Recht auf Nahrung und Wasser, saubere Luft und eine sichere und gesunde Umwelt.

Alle ökologischen Probleme haben ihre gemeinsame Wurzel in der Leugnung der Erde als lebendes System. Die Bedrohung der Arten und die Verletzung der ökologischen Integrität und der ökologischen Grenzen, der kulturellen Integrität und der Vielfalt sind die Wurzel mehrerer ökologischer Notlagen, mit denen die Erde konfrontiert ist, und bedingen die sozialen und wirtschaftlichen Notlagen, denen die Menschheit gegenübersteht.

Lebendige Ökonomien beruhen auf Ko-Kreativität und Ko-Produktion der Menschen, die als Teil der Erdgemeinschaft die Rechte und die Integrität aller respektieren und sich um alle unsere Verwandten kümmern. In der Erddemokratie ist die Wirtschaft eine Teilmenge der Ökologie, die auf den Gesetzen von Mutter Erde beruht. Wir teilen die Gaben der Erde mit anderen. Saatgut, biologische Vielfalt, Wasser und Nahrung sind Gemeingüter. Uns als Mitschöpfer an den ökologischen Prozessen der Erde zu beteiligen, um Gemeingüter zu schützen und das Gemeinwohl zu verteidigen, ist gelebte Demokratie.

Die Notlagen, denen die Menschen in Form von Hunger und Durst, Krankheiten und Pandemien ausgesetzt sind, haben ihre Wurzeln in den ökologischen Krisen und den Krisen der Ungerechtigkeit, Ungleichheit und Unmenschlichkeit.

Überall auf der Welt entstehen Bewegungen zur Entkolonialisierung, um Hierarchien in Bezug auf Geschlecht, ethnische Herkunft, Kultur und Religion abzuschaffen. Die Bewegung zur Anerkennung der Rechte von Mutter Erde begann nach dem Scheitern des Klimagipfels in Kopenhagen. Evo Morales organisierte einen Volksgipfel, aus dem der Entwurf einer Erklärung der Rechte von Mutter Erde hervorging, um die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte zu ergänzen und zu vervollständigen.17

Wir »geben« der Natur keine Rechte. Mutter Erde gibt uns das Leben und das natürliche Recht, an ihren Gaben teilzuhaben, und die ökologische Pflicht, sie zu schützen und zu regenerieren.

Erddemokratie als Weltanschauung und Praxis ermöglicht es uns, die Verbindungen zwischen den Rechten von Mutter Erde und den Menschenrechten zu erkennen. Sie zeigt uns einen Weg, beide zu schützen und die Freiheit und das Wohlergehen aller zu gewährleisten.

Es wächst eine Bewegung, die Gewalt gegen die Natur, die Schädigung und Zerstörung von Ökosystemen, die Beeinträchtigung der Gesundheit und des Wohlergehens von Arten, einschließlich des Menschen, und die Verletzung von Grundsätzen der ökologischen Gerechtigkeit im internationalen Recht als Ökozid brandmarkt und damit als ein Verbrechen des Ökozids definiert.18

Dr. Martin Luther King erinnert uns daran: »Wir sind unentrinnbar in ein Netz der Gegenseitigkeit eingebunden, in einem einzigen Gewebe des Schicksals verbunden. Was immer einen direkt betrifft, betrifft indirekt alle.«

Nach Covid-19 sollten wir die Wirtschaft in dem Bewusstsein umgestalten, dass alles Leben gleichwertig ist und dass wir als ökologische, biologische Wesen Teil der Erde sind, dass Arbeit unser Recht ist und zum Wesen des Menschseins gehört, und dass die Sorge für die Erde und füreinander die wichtigste Aufgabe von uns Menschen ist. Es gibt keine entbehrlichen oder nutzlosen Menschen. Wir sind eine Menschheit auf einem Planeten. Autonomie, Sinn, Würde, Arbeit, Freiheit und Demokratie sind unser Geburtsrecht.

Neue Ökonomien der Fürsorge auf der Grundlage von Erddemokratie und Wirtschaftsdemokratie zum Schutz der Erde und der Menschheit zu entwickeln und umzusetzen, ist für die Menschheit zu einer Überlebensfrage geworden. Wir können die vielfältigen Krisen durch demokratische Teilhabe und Solidarität bewältigen. Durch Mitgefühl, Kreativität und Mut können wir sicherstellen, dass niemand hungern muss. Durch Solidarität und Demokratie können wir an der Gestaltung der künftigen Wirtschaft mitwirken, damit keine Hände ohne Arbeit sind, kein Mensch ohne Stimme ist und keine biologische Art und kein Mensch vom Aussterben bedroht wird.

Auch Wissenschaft und Technologie wurden im Dienst der Profitgier vereinnahmt. Ökonomien der Fürsorge brauchen ein entsprechendes Wissensgebäude, damit sie sich entwickeln, ohne zu schaden. Sie brauchen Techniken der Gewaltlosigkeit und des Mitgefühls. Die Natur wirtschaftet nach ihrer eigenen Intelligenz und ihren Methoden. Wir benötigen einen Paradigmenwechsel von Gewalt zu Gewaltlosigkeit, von Gier zu Fürsorge, von Öko-Apartheid zu Erddemokratie, von Anthropozentrismus zu einem Leben als die eine Erdenfamilie.

Die zahllosen Krisen sind ein Weckruf, dass die von dem 1 % betriebene Wirtschaft der Gier für die Menschen und die Natur nicht funktioniert. Das 1 % nennt die 99 Prozent »nutzlose Menschen«, die in ihrer Vorstellung künftig von künstlicher Intelligenz und Robotern ersetzt werden können: Digitalisierte Landwirtschaft funktioniert ohne Bauern, Nahrungsmittel werden ohne Bauernhöfe produziert und automatisierte Fabriken produzieren ohne Arbeiter.

Wir haben die Pflicht, eine Wirtschaft zu schaffen, die die Natur nicht zerstört, die die natürlichen Lebensgrundlagen und die Freiheit, die Würde und das Recht auf Arbeit nicht zerstört, eine Wirtschaft, die unsere Gesundheit nicht durch die Verbreitung von Krankheiten und Pandemien, Hunger und Unterernährung zerstört. Lasst uns eine lebendige Ökonomie ohne Hunger schaffen, indem wir die biologische Vielfalt erhalten und die Erzeugung von Lebensmitteln an den ökologischen Gesetzen der Natur ausrichten, indem wir die Existenzgrundlage der Kleinbauern schützen, die 80 Prozent der Nahrungsmittel liefern, indem wir eine Ökonomie der Fürsorge praktizieren. Stellen wir um auf eine giftfreie ökologische Landwirtschaft, um die menschliche Gesundheit und die biologische Vielfalt zu schützen. Errichten wir auf lokaler Ebene eine lebendige, solidarische Kreislaufwirtschaft, die den Lebensunterhalt sichert und Gemeinschaften fördert, die unseren Herz-, Kopf- und Handabdruck vergrößert und gleichzeitig den ökologischen Fußabdruck verringert. Rufen wir lokale lebendige Demokratien ins Leben, um unsere Pflichten und Rechte als Erdenwesen und als Erdenbürger einzufordern.

1Durch diese andere Schriftart hervorgehobene Begriffe werden im Glossar ab Seite 285 ausführlich erklärt. Hier die Kurzfassung: Extraktivismus ist ein Vorgang, bei dem Rohstoffe für den Weltmarkt ausgebeutet werden, in der Regel durch transnationale Konzerne und ohne dass die einheimische Bevölkerung davon einen Nutzen hat. Vielmehr bleiben oft nur verwüstete Landstriche zurück. In weiterem Sinn ist hier jedwede Form der Ausbeutung gemeint, die nur »totes Gerippe« hinterlässt, Land, das sich kaum oder gar nicht mehr regenerieren lässt.

2 Paradigma ist eine grundsätzliche Denkweise, die Gesamtheit von Grundauffassungen, die in einer bestimmten Epoche eine wissenschaftliche Disziplin oder eine grundlegende Weltsicht ausmachen; ließe sich auch mit »Denkungsart« übersetzen.

3 Naturalisiert heißt hier, dass Gier und Extraktivismus eingebürgert wurden, sie wurden als »ganz natürlich«, als etwas Selbstverständliches hingestellt.

4 Reduktionismus ist eine Wissenschaftsauffassung, nach der sich das Ganze aus der Kenntnis seiner Teile erschließen lässt.

5 United Nations Environment Programme, Umweltprogramm der Vereinten Nationen

6 Navdanya bedeutet »neun Samen« und ist die von Vandana Shiva begründete Saatgutbank und eine Farm mit angeschlossener Ausbildungsstätte für biologischen Landbau.

7 Autopoiesis, autopoietisch: Dieser im Buch immer wiederkehrende Begriff steht für Selbststeuerung, Selbstorganisation, für etwas, was das Lebendige ausmacht. Leben heilt und erneuert sich aus sich heraus – das ist etwas, das keine Maschine kann.

8 In diesem Buch wird der Begriff Kolonialisierung im Sinne einer Übernahme (des Landes, der Bodenschätze usw.) gegen den Willen der einheimischen Bevölkerung verwendet. Im Gegensatz dazu wäre Kolonisierung die friedliche Besiedelung mit Einverständnis der heimischen Lebewesen.

9 Wenn in diesem Buch von den 1 % gesprochen wird, ist das nicht als faktische Zahl gemeint. Das 1 % steht für die wenigen Multimilliardäre. Die Statistik zeigt die Verteilung des Reichtums auf der Welt zum Ende des Jahres 2020. Da besaß 1,1 Prozent der Weltbevölkerung 45,8 Prozent des weltweiten Vermögens. Rund 55 Prozent der Weltbevölkerung besaßen hingegen lediglich 1,3 Prozent des weltweiten Vermögens. Wenn hier vereinfacht oder überzeichnet wird, dann um klarzumachen, welchen immensen Einfluss eine kleine Anzahl überaus reicher Menschen auf die Geschicke der Welt hat. Mehr hierzu in Vandana Shiva: »Eine Erde für alle! – Einsssein versus das 1 %«, Neue Erde 2021.

10 Siehe auch: Vandana Shiva, Erd-Demokratie – Alternativen zur neoliberalen Globalisierung, Zürich 2008

Kapitel 2:

Die Rückgewinnung der lebendigen Wirtschaft von der Dys-Ökonomie11 der Gier, des Extraktivismus und des Geldmachens

Gier und Geldmacherei ist Chrematistik, nicht Oikonomia

Aristoteles nannte die Kunst des Lebens »Oikonomia«. Das Wort »Ökonomie« leitet sich von zwei griechischen Wörtern ab, oikos, »Öko«, das ist der Haushalt im Sinne eines Hausstandes, und nomos, »Ordnung«, »System«, »Gesetz«, »Muster«, »Management«, »Buchhaltung«. Als Lebenskunst und Kunst des Haushaltens ist Wirtschaft auf die lebensspendenden Prozesse und Abläufe in der Natur und der Gesellschaft ausgerichtet. Sie beruht auf der Anerkennung und Respektierung der ökologischen Grenzen der Natur und der Rechte aller Menschen. Lebendiges Wirtschaften trägt die Infrastruktur des Lebens für Natur und menschliche Gesellschaft.

Aristoteles unterschied »Oikonomia«, die natürliche Art und Weise des Wirtschaftens, von der »Chrematistik«, der Kunst des Geldmachens und der Kapitalanhäufung, die auf der unbegrenzten Aneignung von Ressourcen der Natur und des Reichtums beruht, der von Bauern, Arbeitern und Frauen geschaffen wurde. Für Aristoteles ist die bloße Anhäufung von Geld eine unnatürliche Tätigkeit, die auch jene entmenschlicht, die sie ausüben. Zu einer echten und realen Wirtschaft, die den Lebensunterhalt der Menschen sichert, gehört der direkte Austausch zwischen Erzeuger und Verbraucher zu fairen Bedingungen als Teil einer Gemeinschaft. Wenn der Handel jedoch zum Selbstzweck und zur Triebfeder von Produktionssystemen wird, führt er zu Wertabschöpfung und Ausbeutung sowohl der Erde als auch der menschlichen Gesellschaft.

Inspiriert von Aristoteles’ Vorstellungen über den Tausch, entwickelte Karl Marx in Das Kapital eine Arbeitswertlehre und zeigte, wie Handel und Gewerbe den Produzenten Mehrwert entziehen. Unter Berufung auf den lateinischen Klassiker Virgil sprach Marx von auri sacra fames (Verfluchter Hunger nach Gold, Leidenschaft für das Geld um des Geldes willen).1

Wenn Chrematistik die Oikonomia verdrängt, dann herrscht Gier statt Fürsorge, und Wegnehmen und Abgreifen ersetzen die Kunst des Gebens. So wird die Natur ärmer. Die ökologische Krise ist die Armut der Natur, die entsteht, weil wir der Erde nichts zurückgeben. Die Menschen werden arm und leiden Mangel. Die Armut der Menschen, die sich in zunehmendem Hunger und Krankheiten, Obdachlosigkeit, Vertreibung und Flucht äußert, ist eine Folge des Nichtzurückgebens an die Natur und die Gesellschaft.

Die von Gier getriebene Chrematistik hat die Menschheit blind gemacht für die Ökonomien des Lebens und die Ökonomien, die die Infrastruktur des Lebens schaffen, erhalten und regenerieren.

Die Natur hat ihre eigene Ökonomie für das Wachstum und die Erneuerung des Lebens. Die Menschen haben sich über Jahrtausende hinweg durch verschiedene Versorgungswirtschaften, die auf das Gemeinwohl ausgerichtet waren, ernährt. In den letzten Jahrhunderten jedoch hat der Kolonialismus die Wirtschaft auf Gier und Geldmacherei reduziert. Die Ökonomien der Natur und der Menschen wurden unsichtbar gemacht und zerstört. Die Wirtschaft wieder als Kunst des Lebens zu etablieren, ist nicht nur für die Zukunft der Menschheit, sondern für alles Leben auf der Erde unerlässlich geworden.

Die derzeit vorherrschende Wirtschaftsweise, die von und für das 1 % betrieben wird, wurde auf »Chrematistik« oder die Produktion von Geld durch eine Geldmaschine reduziert. Schlimmer noch, dieses enge Konstrukt von »Wirtschaft« als Extraktivismus (rücksichtslose Entnahme von natürlichen und menschlichen Ressourcen), Handel und Kommerzialisierung wurde zur neuen Religion erhoben. Doch sie ignoriert die lebendige Ökonomie der Natur und sie zerstört die Lebensgrundlagen der Menschen und den wahren Reichtum der Natur und der Gesellschaft.

In Evangelii Gaudium, das im November 2013 veröffentlicht wurde, schreibt Papst Franziskus:

»Manche verteidigen nach wie vor Trickle-down-Theorien,12 die davon ausgehen, dass das durch den ›freien Markt‹ geförderte Wirtschaftswachstum unweigerlich zu mehr Gerechtigkeit und Inklusion in der Welt führen wird. […] Diese Meinung ist Ausdruck eines simplen und naiven Vertrauens in die Güte derjenigen, die wirtschaftliche Macht ausüben, und in die sakralisierte Funktionsweise des vorherrschenden Wirtschaftssystems […] Die Ausgeschlossenen warten immer noch […] und es hat sich eine Globalisierung der Gleichgültigkeit entwickelt.«

Papst Franziskus spricht von einem »vergötterten Markt« und einem System, »das dazu neigt, alles zu verschlingen, was dem Wachstum der Märkte im Wege steht«.2

Das Geldmachen wurde zu dem einen menschlichen Ziel, nach dem wir alle streben müssen. Die Reichen werden immer reicher. Der Rest verliert auf der Jagd nach Geld seine Ressourcen, seinen Lebensunterhalt, sein Leben. Die mechanistische Grundhaltung in Verbindung mit der Geldmaschine saugt der Natur und der Gesellschaft jedes bisschen Leben und echten Reichtum aus. Sie kennt keine Grenzen der Gewalt gegen die Natur und die unterschiedlichen Kulturen, gegen die Rechte der Menschen und die Rechte der Natur. Der berechnende Verstand übt Gewalt gegen das Potential der Natur und der Menschen, schöpferisch zu sein, zu arbeiten und etwas zu erschaffen. Die Welt des 1 % ist eine Welt ohne Leben, die auf der Auslöschung und Vernichtung der Oikonomia, der Lebens- und Haushaltskunst, beruht.

Die ursprüngliche Bedeutung von »Wohlstand« ist Wohlbefinden und Glück, nicht Geld. Und Geld ist nicht das Finanzwesen und schon gar nicht das digitale Finanzwesen, das es Milliardären ermöglicht, aus Geld noch mehr Geld zu machen, indem sie lokale, selbstorganisierte Volkswirtschaften kolonialisieren.

Covid-19 verstärkt den Hunger nach Geld bei denjenigen, die Chrematistik praktizieren. Für die gewöhnlichen Menschen besteht die dringende Notwendigkeit, Oikonomia als die verlorene Kunst des Lebens und des Überlebens wiederzuentdecken, als die Kunst des Haushaltens und des Teilens und der Schaffung von Überfluss, damit die Grundbedürfnisse aller erfüllt werden und gleichzeitig unser gemeinsames Haus geschützt wird.

Sowohl Ökologie als auch Ökonomie haben ihre Wurzel in »Oikos«, dem griechischen Wort für Haus und Haushalt. 1866 leitete Ernst Haeckel, der führende deutsche Schüler Darwins, die neue Bezeichnung »Ökologie« ab (vom gleichen Wortstamm oikos), und bezeichnete damit die Wissenschaft von den Beziehungen der lebenden Organismen zur Außenwelt – ihrem Lebensraum, ihren Gewohnheiten, ihren Energien und so weiter. Ökonomie dagegen war die Verwaltung und Pflege des gemeinsamen Hauses, Haushalts und Staates.

Die Enzyklika von Papst Franziskus, Laudato Si: Über die Sorge für unser gemeinsames Haus (2015) befasst sich mit der Verflechtung mehrerer Krisen, mit denen wir konfrontiert sind, da unser gemeinsames Haus, die Erde, durch die überbordende Gier und den Egoismus einiger weniger verunstaltet, ausgebeutet, verschmutzt und geschädigt wurde.

Papst Franziskus verbindet, was als getrennte Probleme angesehen wird: Ungleichheit und Nicht-Nachhaltigkeit. Durch eine integrale Ökologie verbindet er den »Schrei der Armen mit dem Schrei der Erde«. Die Enzyklika untersucht »die enge Beziehung zwischen den Armen und der Zerbrechlichkeit des planetaren Gleichgewichts und die Überzeugung, dass alles in der Welt miteinander verbunden ist. Das schließt die Kritik an neuen Paradigmen und Formen der Macht ein, die sich aus der Technik ableiten, und propagiert andere Wege zum Verständnis von Wirtschaft und Fortschritt. Sie betont den Wert, der jedem Geschöpf eigen ist, die menschliche Bedeutung der Ökologie, die Notwendigkeit einer offenen und ehrlichen Debatte und die schwere Verantwortung der internationalen und lokalen Politik; sie wendet sich gegen die Wegwerfkultur und befürwortet einen neuen Lebensstil« (LS 16).

Das vorherrschende Modell von »Wirtschaft«, das auf kolonialem Handel und Extraktivismus beruht, hat seine Wurzeln nicht mehr in der Ökologie, sondern existiert außerhalb derselben und erhebt sich über sie, indem sie die ökologischen Systeme und Prozesse zerstört, die das Leben in der natürlichen und menschlichen Welt ermöglichen. Die unkontrollierte Aneignung von Ressourcen führt zum Aussterben von Arten und zum Zusammenbruch von Ökosystemen und verursacht unumkehrbare Klimakatastrophen.