Wahrheit oder Pflicht - Cardeno C. - E-Book

Wahrheit oder Pflicht E-Book

Cardeno C.

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Beschreibung

Ben Forman ist so damit beschäftigt, allen Leuten zu gefallen, dass er sogar seine eigene Homosexualität verleugnet. Und zwar seit so langer Zeit, dass er sich fast selbst überzeugt hat, hetero zu sein. Bis der heiße Anwalt Micah Trains in sein Leben tritt. Micah ist brillant, lustig und ehrgeizig. Da er davon ausgeht, dass Ben schwul ist, beginnt er, ihn zu daten. Zum ersten Mal in seinem Leben ist Ben wirklich glücklich, daher hat er nicht die Kraft, Micah zu widerstehen. Jetzt muss er sich der Wahrheit stellen und herausfinden, wer er wirklich ist. Wahrheit oder Pflicht ist ein Titel der Home Storys Reihe.

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Seitenzahl: 359

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Cardeno C.

Wahrheit oder Pflicht

Impressum

© dead soft verlag, Mettingen 2016

http://www.deadsoft.de

© Cardeno C.

http://www.cardenoc.com

Titel der Originalausgabe: Just What The Truth Is

(Home Stories)

Aus dem Amerikanischen von Simon Rhys Beck

Cover: Irene Repp

http://www.daylinart.webnode.com/

Bildrechte: © Lopolo – shutterstock.com

1. Auflage

ISBN 978-3-96089-009-6

Kapitel 1

Ich bin nicht schwul. Ich bin nicht schwul. Ich bin nicht schwul.

Ich weiß, ihr denkt, das ist ein ziemlich verrücktes Mantra für jemanden, der hetero ist. Aber vielleicht wird es wirklich wahr, wenn ich es ständig denke. Ich meine, ich sehe nicht schwul aus oder so. Ich bin 1,90m groß, muskulös und habe breite Schultern. Das ist wirklich nicht schmal oder mädchenhaft. Und ich bin sportlich. Ich habe in der Schulauswahl der Highschool gespielt, in der Uni-Auswahl auf dem College und spiele noch immer Baseball. Ich habe eine tiefe, kräftige Stimme. Kein Lispeln in Sicht. Außerdem – Frauen mögen mich. Ich hatte immer Freundinnen. Immer.

Also, ich bin nicht schwul, korrekt? Es muss eine andere logische Erklärung geben, warum ich in den Toilettenräumen stehe, meinen harten Schwanz in der Hand habe und an den neuen Typen auf meiner Arbeit denke. Zum dritten Mal an diesem Tag. Und es ist nicht einmal Mittag.

Vielleicht hat Schwulsein auch nichts zu tun mit all diesen Stereotypen. Vielleicht meint ‚Schwulsein‘ auch, dass egal, wie sehr ich es mir wünsche, ich niemals so auf eine Frau reagieren würde. Mit Herzklopfen, Schweißausbrüchen, Atemlosigkeit und einer Erektion. Denn genau das passiert, wenn ich Micah Trains ansehe und er seine Finger durch sein sehr kurz geschnittenes braunes Haar gleiten lässt.

Mist. Mist. Mist. Vielleicht bin ich wirklich schwul.

„Ben, bist du hier?“

Ich stopfte meinen Schwanz rasch wieder zurück in meine Hose.

„Ja, ich bin in einer Sekunde draußen.“

Meine Stimme klang atemlos und ich fragte mich, ob das auch jemand anderes erkennen konnte. Meine Hände zitterten, als ich zum Waschbecken ging und den Hahn aufdrehte. Ich weiß, ich weiß, das ist jämmerlich.

Okay, du musst aufhören, dich wie ein Teenager zu verhalten, der gerade von seiner Mutter beim Wichsen erwischt wurde. Kein Mensch weiß, was du hier drin gemacht hast. Und selbst wenn es jemand vermuten würde, niemand würde wissen, an wen du gedacht hast. Also komm runter und versuch ganz normal zu wirken.

Aber ich wusste, es war nicht normal, sich selbst gut zuzureden, während ein Arbeitskollege vor der Tür stand und auf mich wartete. Ich wusste auch, dass es nicht normal war, solche Dinge über den neuen Anwalt im Büro zu denken. Das musste aufhören. Die Fantasien, die Tagträume, die Bilder. Okay, das war alles das Gleiche, aber es musste jetzt aufhören.

Ich zog einige Papiertücher aus dem Spender und trocknete langsam meine Hände ab. Als ich sicher war, dass meine Hose wieder flach anlag, alle Beweise meiner Erregung verschwunden waren, trat ich durch die Tür. Tucker Jones, einer der Partner in meiner Arbeitsgruppe, wartete auf mich. Und ich wandte instinktiv meine Augen ab, als ich an ihm vorbeiging.

„Was ist los, Tucker? Brauchst du etwas?“

Ich hörte, wie er hinter mir seufzte und wusste, dass er bemerkt hatte, dass ich ihm nicht in die Augen sah. Wieder einmal. Und mir wurde klar, dass er glauben musste, ich wäre nicht ganz klar im Kopf, da ich immer wie auf der Flucht war, sobald er in der Nähe auftauchte. Aber ich hatte keine Alternative. Ich hatte die Befürchtung, dass er es herausfinden würde, sobald ich zu viel sagte oder ihn näher kennenlernte.

Es ist nämlich so, Tucker ist schwul. Und mein Bruder Noah sagt immer, dass er weiß, ob andere Typen schwul sind oder nicht. Mein Bruder, der größer ist als ich, stärker, noch sportlicher, zur Hölle, er ist sogar männlicher als ich. Und er ist so schwul, dass mir kein Vergleich einfällt, und hat nichts Besseres zu tun, als es jedem auf die Nase zu binden. Während er Händchen hält mit meinem ehemaligen Mitbewohner. Sogar, wenn jeder es sehen kann.

Lustig, ich habe seit Ewigkeiten nicht mehr über Clark, meinen Mitbewohner, nachgedacht. Nicht seit ich wieder angefangen habe, Zeit mit ihm und Noah zu verbringen, nachdem ich mich für Jahre von ihnen entfremdet hatte. Die beiden zusammen zu sehen, hat Clarks Status in meinem Kopf geändert – erst war er mein Freund, jetzt ist er der von Noah. Oder sein Partner?

Wie auch immer sie es nennen, es gibt keinen Zweifel darüber, was sie füreinander sind. Wenn man sieht, wie sie sich anhimmeln, aufeinander achtgeben, ein Blinder würde sehen, dass sie sich lieben. Zehn Jahre. So lange sind Noah und Clark schon zusammen. Noch länger, wenn man die Zeit hinzurechnet, die sie als Freunde zusammen waren. Die Zeit, in der sie abgewartet haben, bis Noah seine Highschool beendet hatte.

Und ich habe die gleichen Jahre damit verbracht, mich zu fragen, warum ich den Drang nicht unterdrücken konnte, Clark nackt zu sehen, ihn anzufassen, ihn zu schmecken. Egal, wie viele Frauen ich gedatet habe oder mit wie vielen ich geschlafen habe, ich konnte diesen Wunsch niemals unterdrücken. Nichts hat geholfen. Erst als ich wieder anfing, mit beiden Zeit zu verbringen. Als ich damit anfing, wurde es klar, dass Clark und Noah zusammengehören. Ich hätte keine Chance gehabt, und zur Hölle, ich wollte sie auch gar nicht mehr. Wer möchte sich schon in den Weg stellen bei so einer Art der Beziehung?

Also hörten die „nackter Clark“-Fantasien auf und ich dachte, vielleicht wäre es jetzt okay. Vielleicht wäre ich jetzt endlich fähig, eine Frau zu finden für eine längere Beziehung, wie Noah es immer so eloquent formuliert: für länger als eine Tube Zahnpasta. (Unter uns, das ist eine passende Beschreibung, denn meine Tube Zahnpasta ist länger bei mir als jede Freundin. Sogar ohne dass man die Tube bis zur Falz aufrollt, um auch noch das letzte bisschen herauszuquetschen.)

Aber dann kam Micah Trains in unser Büro, trug ein scharfes weißes Hemd, eine rot-blau gestreifte Krawatte, enge Chinos und einen navyblauen Blazer, und ich war verloren. Komplett und total verloren. Meine alten Clark-Fantasien haben nichts gemeinsam mit den Dingen, zu denen mich Micah inspiriert. Was darauf folgte, waren die Wichssessions, die nicht einmal den Ansatz meiner Bedürfnisse befriedigten.

Wie auch immer, weil Tucker Jones, der Partner, der noch immer vor der Toilette auf mich wartete, selbst schwul ist, vermutete ich, dass er auch so ein „Gaydar“ hatte wie Noah. Und dann könnte er es herausfinden. Ich meine, wahrscheinlich nicht, weil ich mich völlig normal verhielt. Aber ich wollte das Schicksal nicht herausfordern, daher versuchte ich, Tucker so weit zu meiden, wie es möglich war.

„Ich habe eine Konferenzschaltung mit einem neuen Klienten in ein paar Minuten.“ Tucker hörte sich frustriert an. „Randy sagte, er würde ebenfalls dabei sein können, aber sein Meeting dauert länger als gedacht, daher schafft er es nicht.“

Tucker folgte mir in mein Büro. Ich setzte mich an den Tisch, schob einige Papiere hin und her und gab damit vor, eine Menge zu tun zu haben, während er von einem Fuß auf den anderen trat. Ich konnte das sehen, da ich meinen Augen nicht erlaubte, höher zu wandern als bis zu den Knien des Mannes. Weil ich nichts erwiderte, sprach er weiter.

„Ich würde es auch allein machen, aber das ist ein wichtiger Klient und ein ziemlich komplizierter Sachverhalt, ich würde mich besser fühlen, wenn einer der anderen Partner anwesend wäre, um mich zu unterstützen. Kannst du das machen? Es wird nur etwas Zeit kosten und du kannst es abrechnen.“

Ich sah keinen Weg, da herauszukommen, also zwang ich mich zu einem Nicken und sah zu ihm auf. „Klar. Ich freue mich, wenn ich dir helfen kann mit dem Gespräch. Sollen wir es in meinem Büro machen oder in deinem?“

Ich wurde sofort rot, als diese Worte meinen Mund verlassen hatten. Hörte sich das etwa so an, als würde ich ihm einen unsittlichen Antrag machen? Das war nicht meine Intention gewesen. Ich meine, Tucker sah gut aus, aber er hatte einen festen Freund und nebenbei war er auch nicht mein Typ. Ich zog Männer vor, die etwas älter waren als ich, nicht jünger. Jemanden mit Selbstbewusstsein und Ausstrahlung. Jemanden mit rauen Kanten. Jemanden wie … Frauen. Ich zog Frauen vor.

Ja, richtig. Habt ihr das begriffen? Und es wird schwerer und schwerer, mich selbst zu überzeugen, dass das jemals wahr sein könnte.

***

Ich arbeitete lange am Freitag, nicht, weil ich etwas Zeitaufwendiges zu tun hatte, was fertig werden musste, sondern weil ich nichts anderes zu tun hatte. Meine Freundin wollte, dass ich sie zu einer Dinnerparty bei ihren Freunden begleitete, aber ich lehnte höflich ab. Das war eine lange Woche und das Letzte, was ich wollte, war der Stress, die ganze Nacht über unterwegs zu sein.

Ich entschied mich, mir eine Limo zu holen und dann den Feinschliff an dieser Verkaufsvereinbarung zu erledigen. Als ich den Gang in die Halle nahm, war ich vollkommen fokussiert auf den Fall, dachte noch einmal genau über die Entschädigungsklauseln nach und ob eine verpflichtende Schlichtung Sinn ergab in diesem speziellen Fall. (Ich habe niemals behauptet, ich wäre interessant. Ich bin Anwalt für Gesellschafts- und Körperschaftsrecht. Das ist nicht der Job, mit dem man sich Kronleuchter aufhängen könnte, aber man kann damit die Rechnungen bezahlen.) Als ich also aus der Küche herauskam, sah ich einen Mann dort stehen, und alle Gedanken, die sich auf meine Arbeit bezogen, flohen aus meinem Kopf, während mein Blut beschloss, südwärts zu fließen.

Micah Trains lehnte sich gegen die Ecke, direkt vor der Mikrowelle, und las in einem Dokument. Seine Nase war etwas größer als durchschnittlich und ein wenig krumm, als wäre sie öfter als zwei Mal gebrochen gewesen. Sein kurzes braunes Haar zog sich an den Seiten bereits ein wenig zurück, ein Bart bedeckte einen Teil seines Gesichts. Er trug weder Krawatte noch Jackett, sein Hemd war zerknittert und aufgekrempelt bis zu den Ellbogen und da waren kleine Fältchen in den Winkeln seiner blauen Augen, da er diese ein wenig zusammenkniff in der schlechten Beleuchtung. Und jedes einzelne Detail summierte sich für mich zu einem unfassbar sexy Gesamtpaket. Ich hasste mich für diese Gedanken, aber genau so war es: Micah Trains war höllisch sexy.

Ich hatte gar nicht wahrgenommen, dass ich stehen geblieben war, bis Micah von seinen Papieren aufsah und den Blick seiner stahlblauen Augen auf mich richtete. Ich konnte nur versuchen, einfach gerade stehen zu bleiben. Ich fühlte mich, als würden meine Knie einknicken und mein Kopf ganz leicht werden.

Was war nur los mit mir? Vielleicht hatte ich mir etwas eingefangen, eine Erkältung oder sogar die Grippe. Oder unterdrückte Homosexualität. Ich konnte die Stimme meines Bruders in meinem Kopf hören, den sarkastischen Tonfall, aber ich schüttelte das ab. Ich konnte nicht schwul sein, das würde meine Eltern total vernichten. Ein schwuler Sohn war schlimm genug, aber zwei? Hm, vielleicht könnte ich das Beerdigungsinstitut anrufen, um zu sehen, ob ich einen Mengenrabatt bekam, wenn ich gleich beide damit umbringen würde.

Micah räusperte sich und leckte über seine Lippen. Es war eine unschuldige, unbewusste Geste seinerseits, aber ich konnte meine Augen nicht mehr von seinem Mund abwenden. Wie würde es sein, wenn diese Zunge über meine Lippen leckte? Ich hoffte inständig, dass die Geräusche der Mikrowelle laut genug waren, um das Stöhnen zu übertönen, das meinen Körper reflexartig verließ.

„Ben Forman, richtig?“, fragte Micah, während er auf mich zuging und seine Hand ausstreckte.

Ich konnte nicht einen Muskel bewegen.

„Wir sind uns letzten Monat schon begegnet, bei diesem Interview mit allen Partnern. Aber ich glaube, Randy Desai hat das Gespräch so dominiert, dass wir fast gar nicht miteinander gesprochen haben. Ich hatte vorgehabt, mich noch einmal richtig bei jedem vorzustellen und hallo zu sagen, aber mit dem Herüberholen all meiner Dateien, dem Kennenlernen des neuen Computersystems und den Vorbereitungen für die Verhandlungen in ein paar Monaten war ich mit Arbeit überflutet. Daher dauert es ein bisschen länger, als ich gehofft habe, meine Runde zu machen.“

Ich hörte die Worte. Ich verstand sie sogar. Aber ich hatte immer noch nicht herausgefunden, wie ich meinen Mund wieder zum Arbeiten brachte, sodass ich antworten konnte. Micah hatte O-Beine. Ich hatte das noch nie vorher bemerkt, wahrscheinlich, weil er immer saß oder hinter einem Tisch stand, wenn ich ihn gesehen hatte. Aber jetzt war ich fixiert auf die Art, wie er lief. Verdammt, das war so heiß.

Ich seufzte innerlich. Jetzt war ich an einem Punkt angelangt, an dem ich die Art, wie ein Mann lief, attraktiv fand. Ich brauchte Hilfe.

Zum Glück führte mein innerer Kampf dazu, dass ich aus der von Micah hervorgerufenen Geistesschwäche herausfand und es schaffte, ihm die Hand zu geben, ohne zu kippen oder hinzufallen. Ich habe meinen Abschluss mit summa cum laude an einer der Top Ten Universitäten gemacht und gab mir selbst einen inneren Klaps als Lob dafür, dass ich wieder die Kontrolle über meine grundsätzlichen körperlichen Funktionen hatte. Großartig.

„Hi, Micah. Schön, dich wiederzusehen. Hat der Umzug reibungslos geklappt?“

Drei Sätze, und ich hatte sie herausgebracht, ohne zu stammeln. Das ist nicht schlecht, würde ich meinen. Ich war sicher, dass Micah es nicht bemerkte.

Die Mikrowelle piepte.

Ich lächelte.

Micah zog eine Augenbraue nach oben und eine Seite seines Mundes verzog sich zu einem Grinsen, das augenblicklich meinen Magen in Aufruhr brachte. „Ich müsste meine Hand wiederhaben, die brauche ich nämlich, um das Popcorn aus der Mikrowelle zu holen.“

„Oh, ja klar, sorry.“

Ich ließ seine Hand los und ging hinüber zum Kühlschrank, in den ich meinen Kopf steckte. Natürlich unter dem Vorwand, nach der Limo zu suchen, aber faktisch wollte ich warten, bis das Rot aus meinem Gesicht verschwunden war. Hatte ich seine Hand zu lange festgehalten? Ich glaubte nicht, aber auf der anderen Seite schien alles so zähflüssig gewesen zu sein wie in Zeitlupe.

„Soll ich dir eine Limo mitbringen, Micah?“

Da, das hörte sich gut an. Gleichmäßige Stimme, kein Zittern, kompletter Satz. Ja, ich weiß, jetzt seid ihr beeindruckt!

„Das wäre super, danke.“

Ich holte die Getränke aus dem Kühlschrank, kehrte damit zu Micah zurück und ich hatte den Eindruck, nun ein wenig mehr Kontrolle über meinen Körper und meine Gefühle zu haben. Er saß am Tisch, kaute Popcorn und machte sich einige Notizen in dem Dokument, das er las. Es wäre unhöflich gewesen, sich nicht dazuzusetzen und etwas mit ihm zu sprechen. Er war neu in der Firma und einer der Partner. Ich sollte mich bemühen, ihn etwas näher kennenzulernen.

Ich wusste nicht, warum ich das Bedürfnis hatte, mich vor mir selbst zu rechtfertigen. Es war nicht unüblich, die Pause mit einem anderen Anwalt zusammen zu verbringen. Aber natürlich war es nicht ganz üblich, wie ich auf Micah Trains reagierte. Okay, klar, vielleicht wusste ich doch, warum ich mich innerlich rechtfertigte.

„Erzähl mir was von dir, Ben. Ich weiß, du bist in der Transaktionsgruppe, dass du gerade Partner geworden bist und dass Blau deine Lieblingsfarbe ist. Aber das ist alles, was ich weiß.“

Mein Kiefer klappte nach unten. „Warum kennst du meine Lieblingsfarbe?“

„Ich habe dich im Büro gesehen und bemerkt, dass über siebzig Prozent deiner Hemden irgendeine Blauschattierung haben, oder eine Variation in Blau, wie Schachbrettmuster oder Streifen.“

„Deine Beobachtungsgabe ist bemerkenswert“, sagte ich.

Er zuckte mit den Schultern. „Ich kann gut beobachten, wenn es wichtig ist.“

Er schob die Popcorntüte in meine Richtung. Dann öffnete er die Limo, legte den Kopf zurück und trank einige Schlucke. Ich betrachtete seinen Hals, während er schluckte.

Ich wollte ihn. Da gab es keine Zweifel. Mein ganzer Körper war angespannt und pochte vor Verlangen.

Warum konnte ich das nicht fühlen, wenn ich mit einer Frau zusammen war? Ich fürchtete die Nächte, wenn ich keinen hochbekam und mich bei der Frau entschuldigen musste, mit der ich gerade ins Bett ging. Ich wurde älter und es wurde immer schwieriger, Interesse vorzutäuschen. Und ich war es so satt, es zu probieren.

Vielleicht wäre es besser gewesen, mal eine Weile kein Date zu haben. Niemand hätte sich etwas dabei gedacht, wenn ich ein paar Monate lang Single gewesen wäre. Das war keine rote Flagge oder so etwas. Viele Typen hatten Monate, in denen sie keine Freundin an ihrer Seite hatten.

Ein Popcorn flog gegen meine Stirn und erschreckte mich.

„Erde an Ben.“ Micah grinste breit.

„Hast du gerade Popcorn auf mich geworfen?“ Ich versuchte, nicht zu lachen.

Das war total unpassend für einen Prozessanwalt mit einem solch mörderischen Ruf. Dieser Mann war Typ A, ein brillanter Stratege und absolut bissig im Gerichtssaal. Und hier saß er und alberte herum wie ein Teenager.

„Hey, ich musste etwas tun, um deine Aufmerksamkeit zu bekommen.“

Oh, er hatte meine Aufmerksamkeit. Das war nicht das Problem. Das Problem war eher, wie sehr meine Aufmerksamkeit auf diesen Mann fixiert war. Mit Betonung auf „Mann“ in diesem Satz.

Kapitel 2

„Okay, du hast meine Aufmerksamkeit und eine 1 für Kreativität. Was kann ich für dich tun, Micah?“

Eine einzelne Augenbraue wanderte erneut nach oben, und dann bogen sich Micahs Lippen zu einem Lächeln. Ich hätte schwören können, dass er mehr lüstern aussah, als dass er grinste. Ich schüttelte die Gedanken ab. Das war unmöglich.

Micah Trains war einer der besten Prozessanwälte in Emile City. Das war nicht meine persönliche Meinung. Er wurde zurzeit in den Top 50 aller Prozessanwälte des Landesanwaltsverbands gelistet, die alle zwei Jahre erneuert wurde. Wenn man bedachte, dass er noch keine 40 Jahre alt war, war das wirklich ein Erfolg. Egal, denn der Punkt war, dass ein Mann wie er nicht schwul war. Und daher würde er mich auch nicht lüstern ansehen.

„Ich nehme an, du hast keinen Abgabetermin, der eingehalten werden muss. Denn jetzt ist Wochenende. Ist das richtig oder hast du einen ätzenden Klienten, der erwartet, dass du auch samstagmorgens arbeitest?“, fragte er.

Ich lachte. „Ich habe eine Menge ätzender Klienten, aber keinen Abgabetermin, der mich zwingt, jetzt weiterzuarbeiten.“

Micah lächelte breit. Er stand auf, warf die Popcorntüte quer durch den Raum und in den Mülleimer. Clark und ich hatten dieses Spielchen gespielt, als wir in der Highschool waren. Ich lächelte, als ich mich daran erinnerte. „Zwei Punkte, gut geworfen“, sagte ich.

„Zwei Punkte? Auf keinen Fall! Das war ein verfickter Drei-Punkte-Wurf. Komm schon!“

Ich lachte unwillkürlich. Ein Staranwalt mit einem schmutzigen Mundwerk. Natürlich fand ich das auch sehr attraktiv. Vielleicht hätte er besser in der Nase bohren oder etwas ähnlich Ekelhaftes tun sollen, das hätte mich befreit von der nervigen Anziehungskraft, die er auf mich ausübte. Ich folgte ihm aus der Küche, bevor ich es überhaupt realisierte.

„Warte. Wo gehen wir hin?“

Er ging einfach weiter, den Gang entlang in Richtung seines Büros. Mein Büro war auf der gegenüberliegenden Seite des Flurs. Ich wusste das, weil es für mich ein Kraftakt gewesen war, mir Entschuldigungen auszudenken, warum ich ihn aus den Augenwinkeln beobachtete, ein Mal am Tag, okay, fein, drei Mal am Tag, seit er hier arbeitete.

„Wir gehen was essen. Ich sterbe vor Hunger und Popcorn hilft da auch nicht. Da du keinen wichtigen Abgabetermin hast, gehe ich davon aus, dass du mich begleitest.“

Wir waren bei seinem Büro angekommen und er ließ sich auf seinen Stuhl gleiten, um den PC herunterzufahren. Dann nahm er seine Brieftasche und sein Smartphone und steckte beides in die Tasche.

„Musst du dich noch abmelden?“, fragte er mich.

Ich wusste nicht, dass ich zugestimmt hatte, mit ihm essen zu gehen, aber ich ging davon aus, dass dies alles einen Sinn ergab. Wir hatten beide lange gearbeitet, es war Freitagabend … Nein, genau betrachtet ergab das keinen Sinn! Ich ging niemals spontan essen am Wochenende mit einem der Partner. Allerdings hatten die meisten von ihnen auch Familie zu Hause oder planten etwas mit ihren Freunden.

Ich war ziemlich sicher, dass Micah Trains Single war. Ich wusste nicht viel über ihn, aber er trug keinen Ring und es gab auch keine Hochzeitsbilder oder Bilder seiner Kinder im Büro. So erfolgreich, wie er war, vermutete ich, dass er einer der Typen war, die mit ihrer Karriere verheiratet waren. Wahrscheinlich hatte er eine Ex-Frau oder zwei, die genau das bezeugten.

„Ja, okay, gib mir eine Minute. Wir treffen uns am Aufzug“, sagte ich.

Ich drehte mich um und verließ Micahs Büro, hörte jedoch augenblicklich Schritte hinter mir. Ich sah über meine Schulter. Er war direkt hinter mir, die Anzugjacke und die Krawatte über seinen Arm drapiert.

„Ich gehe mit dir. Gib mir die Chance, mich mal auf der anderen Seite umzusehen. Ich war noch nie auf der Transaktions-Seite des Flurs.“

„Das ist nicht sehr aufregend“, teilte ich ihm mit, während wir über den stillen, dunklen Flur gingen. „Nur das Spiegelbild der Prozess-Seite. Wir haben vermutlich weniger Geschrei den Tag über, aber das ist der einzige Unterschied.“

Und ich sollte genau wissen, wo die Unterschiede lagen zwischen dem Transaktions- und dem Prozessflügel, wenn man mein stalking-ähnliches Herumgeschleiche auf dieser Seite des Flures in Betracht zog, das nicht rein zufällig an dem Tag begonnen hatte, an dem er in dieser Kanzlei anfing.

Als wir mein Büro erreichten, begann Micah sofort die Bilder zu betrachten, die auf meinem Sideboard standen. Ich hatte nur ein paar: eines meiner Eltern, schick angezogen für ein Charity Event vor ein paar Jahren, eines von uns vieren – ich, meine Eltern und mein Bruder –, als ich noch ein Kind war. Und ein ziemlich neues Bild, ein Schnappschuss von Clark, der Noah und mich zeigte.

Das Bild an sich war nichts Besonderes. Wir saßen auf der Couch in seinem Wohnzimmer, in Jeans und T-Shirt. Aber es hatte einige Jahre gegeben, in denen ich dachte, dass ich niemals so eine Beziehung zu meinem Bruder haben könnte, daher bedeutete das Bild mir viel. Und noch mehr, weil Clark es nicht nur gemacht hatte, sondern es ausgedruckt und gerahmt und mir geschenkt hatte. Ich hatte über die Jahre hinweg eine Menge Fehler gemacht, wenn es um Clark ging, daher fühlte sich das Bild an wie ein Vergeben von seiner Seite.

„Hey, ich kenne diesen Typen. Noah, richtig? Noah Forman.“ Micah machte eine Pause, einen Herzschlag lang, ich sah seine Augen flackern, als ihm ein Licht aufging. „Du bist Noah Formans Bruder?“

Ich war überrascht, weil Micah Noah kannte. Sie waren nicht im selben Alter – Noah war siebenundzwanzig und damit zehn Jahre jünger als Micah. Und sie arbeiteten auch nicht gerade in derselben Branche – Noah besaß ein Kickboxing Studio.

„Ja, bin ich. Woher kennst du Noah?“

„Wir haben einen gemeinsamen Freund, daher treffe ich Noah und seinen Partner Clark recht häufig. Sie sind großartig. Auch wenn dein Bruder manchmal etwas … ähm … anstrengend ist, was Clark betrifft.“

Ich lachte über diese sehr diplomatische Beschreibung von Noahs Besitzanspruch, wenn es um Clark ging. „Ja, er kann sehr anstrengend sein. Aber es scheint Clark nicht zu stören, also …“ Ich zuckte mit den Schultern und ließ den Rest offen. Es hatte eine Zeit gegeben, da hatte mich allein der Gedanke an meinen Bruder und Clark wütend gemacht. Ich hatte meinen Bruder davor bewahren wollen, ein Leben zu führen, was ich für falsch gehalten hatte. Ich dachte wirklich, dass, wenn ich ihn von Clark fernhielt, er ein nettes Mädchen träfe, sesshaft und glücklich würde. Das ist doch, wie es laufen soll, richtig? Nun, es stellte sich heraus, dass Noah tatsächlich sesshaft und glücklich ist mittlerweile. Mit Clark. Ich, auf der anderen Seite, hatte eine Menge netter Mädchen getroffen – und ich war weder sesshaft noch glücklich.

Ich fuhr meinen PC herunter und wollte gerade mein Büro verlassen. Gut, dass ich vor Micah lief, denn so konnte er nicht sehen, dass ich fast meine Zunge verschluckte, als ich den nächsten Satz hörte.

„Schwule Brüder, hm? Habt ihr euch schon mal angesehen, wie hoch die Chancen dafür sind? Ich wette, das ist ziemlich ungewöhnlich.“

Ich wollte es abstreiten. Ich wollte ihm sagen, dass ich nicht so war wie Noah. Ich wollte ihm sagen, dass ich hetero war. Aber ich war zu beschäftigt, mich auf das Laufen und das Atmen zu konzentrieren, dass ich es nicht schaffte, auch nur ein Wort herauszubringen. Und dann sprach er einfach weiter und der Moment verstrich. Es war zu spät, um ihn zu korrigieren.

„Was hältst du von indisch? Bombay Palace ist ziemlich gut, es ist nur die Straße runter, da könnten wir zu Fuß hinlaufen. Ich meine, in der letzten Woche ist es nun doch endlich warm genug geworden, sodass man auch nach Sonnenuntergang nach draußen gehen kann.“

„Oh, hm, sicher. Klingt gut.“

In meinem Kopf herrschte Chaos. Warum dachte Micah, ich sei schwul?

„Also bist du hier aufgewachsen in Emile City?“ Micah fragte das, als würde die Welt um uns herum nicht gerade untergehen. Diese normale Frage beruhigte mich ein wenig. Am Ende konnte ich sogar vernünftig antworten.

„Ja, bin ich, in EC Nord. Ich lebe noch immer da.“

Es half, dass wir weitergingen, während wir sprachen, denn so musste ich ihm nichts ins Gesicht sehen. Ich wollte nicht wissen, was er wirklich über mich dachte. Seine Stimme war völlig ruhig, als würde es ihn gar nicht stören, mit einem schwulen Typen zum Essen zu gehen. Nein, nicht mit einem schwulen Typen, sondern mit jemandem, von dem er dachte, dass der schwul sei. Der es aber faktisch nicht war. Ja, genau.

Auf jeden Fall war Micah Trains nicht durch Zufall an seinen Ruf als erstklassiger Rechtsanwalt gekommen. Er hatte sicher ein Talent, seine wahre Meinung zu verstecken und den Leuten ein gutes Gefühl zu vermitteln, damit sie sich ihm anvertrauten. Natürlich war ich kein renitenter Zeuge und es gab keinen Grund für ihn, mich so zu beeinflussen, dass ich mich ihm öffnete.

„Das ist eine ziemliche Strecke jeden Tag“, sagte er.

Ich zuckte mit den Schultern. „Etwas unter einer Stunde. Das ist nicht schlimm. Ich habe darüber nachgedacht, eine Wohnung zu suchen, die näher am Büro ist, aber meine Eltern mögen es, wenn ich in ihrer Nähe bin.“

Da gab es nicht mehr drüber zu sagen. Ich besaß eine schöne Einzimmerwohnung in einem nichtssagenden Wohnkomplex. Ich liebte die Wohnung nicht, hasste sie aber auch nicht. Und bis zur Wohnung meiner Eltern waren es weniger als zehn Minuten, was ziemlich praktisch war, da meine Mutter mich gern zum Essen einlud. Zu oft, wirklich, aber ich fuhr jedes Mal hin, wenn sie fragte. Ich fühlte mich manchmal, als müssten meine Besuche für zwei Söhne reichen, da Noah sich weigerte, sie mit seiner Anwesenheit zu beehren.

„Ich bin in L.A. aufgewachsen. Und als ich wegzog, habe ich mir geschworen, dass ich niemals wieder etwas mit so einem Verkehr zu tun haben wollte“, sagte Micah. „Ich fahre ungefähr fünfzehn Minuten während der Hauptverkehrszeit, weniger als zehn, wenn ich ganz früh zum Büro oder sehr spät nach Hause fahre.“

„Oh, du bist grausam, mir das unter die Nase zu reiben. Ich werde mir diesen Abend etwas Kreatives einfallen lassen, um dir das heimzuzahlen.“ Ich versuchte drohend zu klingen, aber wahrscheinlich funktionierte das nicht allzu gut. Ich war nicht der angsteinflößende Typ.

Micah lachte nur. „Alles klar, hübscher Junge. Dann gib dein Bestes.“

***

Das Abendessen machte richtig Spaß. Wir sprachen über unsere Arbeit. Micah arbeitete an verschiedenen Fällen, doch der eine, der die meiste Zeit beanspruchte, war auf September terminiert. Ich hatte ein paar Verkaufstransaktionen und einige Firmengründungen auf meinem Schreibtisch.

„Was ich mag an der Arbeit mit Gesellschaften und Firmen, ist, dass alle nach dem gleichen Ziel streben. Ich meine, ich muss natürlich mit dem Rechtsbeistand der Gegenseite zurechtkommen und wir versuchen beide das Beste für unsere Klienten zu erreichen. Aber am Ende des Tages wollen wir alle einen Abschluss. Daher haben wir alle ein starkes Interesse daran, fair zu spielen und dass Dinge funktionieren“, erklärte ich.

„Das ist nicht immer so im Prozessrecht“, sagte er. „Leute spielen eine Menge Spiele. Sie versuchen Sachen in die Länge zu ziehen und das Geld der anderen Leute zu verschwenden und deren Zeit. Ein Beispiel – als ich zu eurer Kanzlei wechselte: Ein Arschloch der Gegenseite versuchte einen Antrag einzureichen, um mich vom Jones Fall abzuziehen, weil es da plötzlich irgendeinen Konflikt gäbe. Obwohl wir die Streitigkeiten überprüft hatten, bevor ich herübergekommen bin. Das war totaler Bullshit, eine Verzögerungstaktik, weil der Gerichtstermin näherrückte und er dachte, wenn er ihn noch weiter nach hinten schiebt, würde mein Klient zahlen.“

Ich verstand nicht die Hälfte davon, weil diese Rechtsstreits völlig außerhalb meines Arbeitsgebiets waren, aber ich hatte eine generelle Idee davon, was er meinte. „Also, was hast du gemacht? Du arbeitest noch immer an dem Fall, richtig?“

Er nahm sich etwas Naan, riss ein Stück davon ab und steckte es in seinen Mund. „Oh, zur Hölle, ja. Ich bin immer noch dran. Ich habe dem gegnerischen Anwalt geschrieben, dass er sich selbst ficken soll, seine Mutter, seinen Hund und den Hund seiner Mutter.“

Ich zog die Augenbrauen nach oben. „Das hat funktioniert?“

Er lächelte spöttisch. „Nun, ich habe es etwas freundlicher formuliert, aber die Aussage war dieselbe. Und ja, es hat funktioniert. Ich kann sehr überzeugend sein.“

Ja, darauf würde ich wetten. Ich hatte das Gefühl, Micah Trains könnte mich davon überzeugen, alles zu tun. Es würde nicht viel brauchen, wirklich, nur dass er mich fragte mit seiner höllisch sexy Stimme, die immer ein wenig rau klang. Verdammt, jetzt war ich schon wieder an diesem Punkt. Meine Gedanken waren völlig außer Kontrolle.

Wir sprachen auch über unsere Familien. Micah hatte eine jüngere Schwester, die zusammen mit seinen Eltern in L.A. lebte. Meine Eltern und mein jüngerer Bruder lebten in Emile City.

„Hast du engen Kontakt zu deiner Familie?“, fragte ich ihn.

„Auf jeden Fall. Ich besuche sie alle paar Monate oder meine Mutter ruft mich an und hinterlässt Nachrichten, die immer vorwurfsvoller werden.“ Er machte ein lustiges Gesicht und begann mit hoher, nasaler Stimme zu sprechen: „Micah, hier ist deine Mutter, Deborah Stern Trains. Ich denke, ich sollte meinen vollen Namen verwenden, falls du ihn vergessen hast. Ich weiß, wie beschäftigt du bist und mit wie vielen verschiedenen Leuten du jeden Tag sprichst. Ich möchte dich auch nicht belästigen, aber ich denke, du solltest wissen, dass dein kleiner Neffe dich vermisst. Ich habe versucht ihm zu sagen, dass sein Onkel ein sehr wichtiger Mann ist und sehr wichtige Männer haben nicht immer Zeit, ihre Familien anzurufen, nicht mal ihren einzigen Neffen, der denkt, sein Onkel könnte sogar den Mond stehlen. Aber er ist erst fünf, daher hat er das nicht verstanden. Mach dir keine Sorgen. Ich werde weiterhin versuchen, es ihm zu erklären.“

Ich musste so heftig lachen während seiner Vorstellung, dass ich mir die Tränen aus den Augenwinkeln wischen musste. „Du übertreibst!“, keuchte ich.

Er schüttelte den Kopf. „Ich würde es mir wünschen. Das war praktisch wortwörtlich wiedergegeben. Und so geht es, wenn ich mal eine Woche lang nicht anrufe. Wenn ich es noch länger versäume, ruft sie wieder an und trägt noch dicker auf.“

Er räusperte sich und imitierte wieder seine Mutter. „Micah, hier ruft dich deine Mutter an. Wieder einmal. Ich wollte dir nur mitteilen, dass meine Telefonnummer sich nicht verändert hat und wir noch immer am selben Ort wohnen. Ich weiß, du machst dir Sorgen, weil ich mir Sorgen mache und nachts nicht schlafen kann. Dein Vater meint, ich sollte ein Beruhigungsmittel nehmen, aber du weißt, wie mein Magen darauf reagiert, wenn ich Medikamente nehme. Mach dir keine Sorgen, ich bin es gewöhnt, wenig Schlaf zu haben. Als ich mit dir schwanger war, hast du mich die ganze Nacht über wachgehalten. Aber für den Fall, dass ich es körperlich nicht mehr schaffe, jetzt, wo ich alt bin, bitte stell sicher, dass dein Vater keine Bank überfällt für die Beerdigung. Ich bin nicht die Queen von England. Hoffentlich hast du Zeit, zu meiner Beerdigung zu kommen, aber ich kann verstehen, wenn du zu viel zu tun hast. Ich werde jetzt mit deinem Vater sprechen, er wird es auch verstehen. Wir vermissen dich. Du kannst anrufen, jederzeit, wenn du frei hast. Ich werde sofort mit allem aufhören, was ich gerade mache, weil ich ja weiß, wie wertvoll deine Zeit ist und dass meine nicht so wichtig ist.“

Wir sprachen über Religion. Er war jüdisch und gehörte einer kleinen Synagoge an, die er wirklich mochte. Ich war mit einer nichtkonfessionellen christlichen Kirche aufgewachsen, war jedoch nur dorthin gegangen, wenn meine Eltern mich fragten, ob ich mitging.

„Ich weiß nicht, ob ich an etwas glaube oder ob ich überhaupt glaube.“ Ich zuckte mit den Schultern. „Ich denke fast nie darüber nach, schätze ich.“

„Für mich hat es eher was mit Kultur zu tun als mit Gott“, erklärte er. „Es ist wichtig, die Traditionen zu erhalten. Ich mag die Rituale, weißt du? Ich mag es zu wissen, dass meine Großeltern und deren Großeltern alle die gleichen Gebete gelesen und die gleichen Feiertage gefeiert haben und dass meine Nichten und Neffen und zukünftige Generationen das auch tun werden. Ob es nun eine höhere Macht gibt oder nicht, ein Teil dieser Traditionen zu sein, ist für mich so, als wäre ich ein Teil von etwas, das wichtiger ist als ich selbst.“

Wir sprachen auch über Hobbys.

Und ich hatte recht, was seine Arbeitsmoral betraf. Es hörte sich so an, als würde Micah ausnahmslos lange arbeiten. Wenn er mal Freizeit hatte, mochte er es zu wandern und Rad zu fahren. Ich erzählte ihm von der Herren Baseball Liga, bei der ich spielte, und meiner Begeisterung für das Emile City’s Major League Baseballteam, The Glory.

„Also hast du ein Saison Ticket für The Glory?“, fragte er.

Ich schüttelte den Kopf und trank einen Schluck Wasser. Das Tikka Masala war sehr gut gewürzt. „Wäre schön. Aber ich kann es mir nicht leisten, ein Saison Ticket zu kaufen. Nicht, dass ich die Zeit hätte, um mir einundachtzig Spiele anzusehen, wenn ich es könnte. Und gute Plätze zu bekommen, ist nahezu unmöglich. Wenn jemand mal einen guten Sitz hat, muss er schon umziehen oder sterben, bevor er ihn wieder abgibt.“

„Ja, stimmt. Obwohl das Glück sie bald mal wieder auf die Spur bringen müsste, sonst wird sich das ändern. Wenn Glory allerdings ein Spiel gewinnt, sollten die Jungs lernen, wie sie das Problem mit den Tickets lösen.“

***

Als die Rechnung kam, griff ich nach meiner Brieftasche, aber Micah winkte ab, nahm seine Kreditkarte und legte sie auf das Tablett, das der Kellner mitnahm.

„Du musst das nicht tun, Micah. Wir können die Rechnung teilen.“

„Nein. Ich habe dich zum Dinner eingeladen, also ist das meine Sache.“

Seine Stimme war sanfter, als sie den Abend über gewesen war. Er lächelte und da war etwas in seinen Augen, das mich in meiner Brust berührte. Ich hatte das seltsame Gefühl in diesem Moment, dass ich ein Date hatte anstatt eines gewöhnlichen Essens mit einem Arbeitskollegen.

Ich wusste, das stimmte nicht. Ich wusste, dass Micah den Abend nicht als Date betrachtete. Aber meine verwirrten Gedanken hörten nicht auf, auf dieser Bahn zu laufen, und ich hasste mich dafür.

Kapitel 3

Ich war still, als wir nach dem Essen zurück zum Parkhaus liefen.

Warum musste mein Gehirn alles falsch interpretieren? Warum konnte ich nicht einfach Zeit mit einem attraktiven Mann verbringen, ohne dass sich alles falsch und schmutzig anfühlte? Und wie konnte ich endlich aufhören, Micah oder irgendeinen anderen Mann attraktiv zu finden?

„Hast du spannende Pläne für das Wochenende?“, fragte Micah und unterbrach damit meine geistige Qual.

Ich zwang mich, meine Stimme ruhig zu halten, als ich antwortete. Das Letzte, was ich wollte, war, dass der neue Staranwalt in unserem Büro bemerkte, dass ich nur einen Schritt von einem kompletten Zusammenbruch entfernt war. „Nicht wirklich. Wahrscheinlich werde ich etwas arbeiten und morgen meine Eltern besuchen. Am Sonntag werde ich meinen Hintern vor dem Fernseher parken und das Glory Spiel ansehen. Ich hoffe, es wird spannend und nicht so ein Desaster in den letzten Runden.“

Ich ließ das Date aus, dass eigentlich für den nächsten Abend mit meiner Freundin geplant war. Aus irgendeinem Grund fühlte es sich falsch an, mit Micah über sie zu sprechen. Nicht dass es was ausgemacht hätte, denn wenn mein Streckenrekord hielt, würden Jill und ich uns innerhalb der nächsten Woche trennen. Und einen Monat danach müsste ich mir eine neue Tube Zahnpasta kaufen.

Micah hatte direkt am Eingang des Parkhauses geparkt. Als wir an seinem Wagen ankamen, hielt er inne und drehte sich zu mir um. Plötzlich standen wir so nah beieinander, dass ich seinen Atem auf meinem Gesicht fühlen konnte. Seine Hitze strahlte auf meine Haut aus. Und gleichzeitig wuchs mein Schwanz in meiner Hose.

Ich musste unbedingt hier weg, bevor Micah herausfand, was er für einen Einfluss auf mich hatte. Ich drehte auf dem Absatz um und ging rasch in Richtung Stufen. „Danke für das Essen, Micah. Wir sehen uns am Montag“, rief ich ihm über die Schulter zu, während ich davonlief. Ich war so schnell, dass ich fast die Tür zum Treppenhaus erreicht hatte, bis er mir antwortete.

„Hey, Ben.“

Ich stoppte, atmete tief ein, bevor ich mich umdrehte. Aus der Entfernung und bei dem schwachen Licht im Parkhaus würde er meine Erregung nicht sehen können.

Als ich in sein Gesicht sah, sprach er weiter: „Es war schön heute Abend. Danke, dass du mir mir ausgegangen bist.“

Ich konnte nicht antworten. Mein Hirn interpretierte wieder jedes Wort falsch, wollte mich davon überzeugen, dass ich wirklich ein Date gehabt hatte mit dem attraktivsten, erotischsten und witzigsten Mann, den ich jemals getroffen hatte. Ich hob die Hand in einem stillen Abschiedsgruß und verschwand im Treppenhaus.

***

Am nächsten Abend, als ich mich gerade für das Date mit Jill fertig machte, piepte mein Telefon, um mir mitzuteilen, dass ich eine Textnachricht bekommen hatte. Ich war weder überrascht noch enttäuscht, als ich es aufnahm und die Nachricht las. Sie war von Jill. „Ben, ich denke nicht, dass das alles noch Sinn hat. Ich hoffe, wir können Freunde bleiben. Wir sehen uns.“

Ihr könntet denken, es war unhöflich von ihr, mich mit diesem Text abzuservieren, aber wir waren weniger als zwei Wochen zusammen gewesen. Und nebenbei, ich zog diesen Text einem persönlichen Gespräch vor. Jetzt musste ich mich nicht mehr durch ein Date quälen mit einem Lächeln im Gesicht und mir die ganze Zeit überlegen, wie ich aus der Nummer herauskam, die Nacht bei ihr zu verbringen.

Ich dachte darüber nach, meine Freunde anzurufen, um herauszufinden, was die an diesem Abend machten, aber was würde das bringen? Wir würden wahrscheinlich am Ende die Bars abklappern und Frauen aufreißen. Ich hatte das so verdammt satt, ständig zu versuchen, dieser Typ zu sein. Ihr wisst, was ich meine – der gute Sohn, der Spaßfreund, der anbetungswürdige Partner. Der Typ, den meine Eltern und alle anderen von mir erwarteten. Offen gesagt, ich war völlig erschöpft.

Und ich konnte nicht aufhören, über Micah Trains nachzudenken. Er war unerwartet lustig gewesen bei unserem Abendessen am Vorabend. Ich kannte seinen Ruf, er war intelligent und rabiat. Aber ich hatte nicht erwartet, dass er so nett sein könnte, dass er so an seiner Familie hing und dass er mitten im Restaurant seine Mutter mit dieser witzigen Stimme nachahmen würde. Ich hatte ebenso wenig erwartet, dass er mir geduldig zuhörte, als wenn ihn die Details aus meinem Leben wirklich interessieren würden.

Und – da war diese Chemie zwischen uns. Ja, sie war einseitig. Ich log mich nicht selbst an und behauptete etwas anderes. Aber da war etwas. Das konstant warme Gefühl in meinem Bauch, als ich in seiner Nähe war. Die Art, wie die Teelichter auf dem Tisch seine blauen Augen funkeln ließen, immer wenn er mich ansah, was er quasi die ganze Zeit getan hatte. Das eine Mal, als wir beide nach dem Naan gegriffen und unsere Hände sich berührt hatten – ich schwöre, das war wie ein Funke gewesen, der in meinen Finger startete und durch meinen ganzen Körper gerauscht war, bis in meinen Schoß hinein und dort eine sofortige Erektion verursacht hatte.

Ich setzte mich auf meine Couch und ließ meinen Abwehrschild für einen Moment sinken. Erlaubte mir, die Schuld, die mich ständig begleitete, auszuschalten. Ich ließ meinen Gedanken freien Lauf über Micah Trains. Ich dachte an sein Lächeln und die Art, wie er lief. Ich dachte über die lustigen Geschichten nach und daran, wie seine Stimme fast sanft wurde, wenn er mit mir sprach. Ich dachte daran, wie nah sich unsere Körper gekommen waren am Ende des Abends.

Ich erschauderte leicht und seufzte. Es fühlte sich so unfassbar gut an, jemanden so sehr zu mögen, jemanden wirklich zu wollen. Diese Gefühle waren so stark, so intensiv, und ich wusste nicht, wie ich fähig sein sollte, sie zu vermeiden. Nein, ich wollte noch mehr davon. Ich wollte sie gar nicht vermeiden. Ich wollte endlich fähig sein, sie zuzulassen. Das war so viel besser als die permanente Angst und der Ärger über mich selbst, wegen dem ich mich die meiste Zeit so schlecht fühlte.

Ich dachte darüber nach, was passieren würde, wenn ich mir erlaubte, immer so zu fühlen, wenn ich aufhörte zu versuchen, der Junge zu sein, den meine Eltern sehen wollten. Meine Eltern. Es würde meiner Mutter den Rest geben, wenn ich ihr sagte, dass ich … Ich konnte das Wort nicht einmal denken.

Nein, Noah war genug. Es war immer genug gewesen mit Noah. Mein Bruder hatte so eine Präsenz, dass er, obwohl er ein paar Jahre jünger war als ich, immer im Vordergrund gestanden hatte. Meine Eltern hatten in unserer Kindheit alle Hände voll zu tun gehabt, Noah ruhig und sicher und unter Kontrolle zu halten, dass da nie genug Raum für mich gewesen war, nicht perfekt zu sein.

Dann, als Noah uns über seine Beziehung zu Clark informierte, wurden die Dinge noch schlimmer. Zuerst warfen meine Eltern mir vor, Clark in unser Leben gebracht zu haben. Denn er war schließlich mein Freund.

Sie hatten recht und das wusste ich. Ich fühlte mich, als müsste ich Noah vor dem Fehler bewahren, vor allem weil ich wusste, wie verlockend Clark sein konnte. Immerhin hatte ich bis dahin fast zehn Jahre damit verbracht, meine eigenen Gefühle für meinen Freund zu verdrängen.

Und mein Bruder? Der war so konsequent wie immer in seinem Leben und kam uns keinen Zentimeter entgegen. Er bestand darauf, dass Clark bei jedem Familientreffen dabei sein musste, sonst würde er ebenfalls nicht auftauchen. Er wurde wütend und aufbrausend, wenn einer von uns fragte, ob er es nicht doch noch mal mit einer Frau versuchen wollte. Und das heißt wirklich was, da mein Bruder schon vor diesen Auseinandersetzungen aggressiv und streitsüchtig war.

Noah war so verdammt jung zu der Zeit, gerade 22, und er lebte mit Clark zusammen, seit er 18 war, offiziell als Zimmernachbarn. Wir waren sicher, dass er seine Situation anders sehen würde, wenn er von Clark getrennt wäre. Also, meine Eltern waren sicher. Die Entfernung zwischen Clark und mir hatte meine Sichtweise nicht geändert, was meine eigenen Gefühle für diesen Mann betraf. Daher war ich alles andere als sicher, dass das bei Noah funktionieren würde. Aber ich wollte, dass er es versuchte. Ich wollte nicht, dass mein jüngerer Bruder so ein miserables Leben führte wie ich, permanent von diesem Begehren und den Gedanken geplagt, von denen ich wusste, dass sie falsch waren.