Tasten, streicheln, kuscheln: Nichts verbindet uns inniger mit anderen Menschen als Körperkontakt. Wir besitzen dafür sogar fest eingebaute "Zärtlichkeitsleitungen". Besonders viel über unseren Tastsinn lernen Forscher auch von Menschen, die zu intensiv spüren. Und beim Versuch, Robotern das Fühlen beizubringen. Die großen Themen der Zeit sind manchmal kompliziert. Aber oft genügt schon eine ausführliche und gut recherchierte GEO-Reportage, um sich wieder auf die Höhe der Diskussion zu bringen. Für die Reihe der GEO-eBook-Singles hat die Redaktion solche Einzeltexte als pure Lesestücke ausgewählt. Sie waren vormals Titelgeschichten oder große Reportagen in GEO.
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Seitenzahl: 24
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Herausgeber:
GEO
Die Welt mit anderen Augen sehen
Gruner + Jahr GmbH & Co KG,
Am Baumwall 11, 20459 Hamburg
www.geo.de/ebooks
eISBN: 978-3-65200-813-6
Warum Berührung unter die Haut geht
Von Ines Possemeyer
Zusatzinfos
Der Sinneswandel
Von Florentin Schumacher
Warum …? Antworten auf Fragen zur Wahrnehmung
Tasten, streicheln, kuscheln: Nichts verbindet uns inniger mit anderen Menschen als Körperkontakt. Wir besitzen dafür sogar fest eingebaute »Zärtlichkeitsleitungen«. Besonders viel über unseren Tastsinn lernen Forscher auch von Menschen, die zu intensiv spüren. Und beim Versuch, Robotern das Fühlen beizubringen
Von Ines Possemeyer
Ihre Mutter glaubte, sie sei von Geistern besessen. Ihr Expartner nannte sie „übersensibel“. Und bei unserem Treffen in einem Café in Liverpool würde sie am liebsten immerzu gegen die Wand schauen: um bloß niemanden ansehen zu müssen. Denn Menschen kommen der zierlichen Fiona Torrance, 44, immer zu nah.
Wie dieser massige Mann da drüben, an dem ihr Blick jetzt haften bleibt. Er streift sich gerade seinen Pullover über. „Ich spüre die Wolle auf meiner Haut“, sagt Torrance. „Die Riemen seiner Sandalen drücken an meinen Füßen.“
Oder das Mädchen am Nachbartisch. Ihr Pferdeschwanz kitzelt Torrance am Hals. Und als sich der Kellner über den Bart streicht, spürt sie seine Hand an ihrem Kinn.
Halluziniert sie? Wie kann sie diese Berührungen spüren – ohne berührt zu werden? Verblüfft fahre ich mir mit einer Hand über den Nacken.
„Können Sie das noch einmal machen?“, fragt Torrance. „Das fühlt sich interessant an!“
Für Fiona Torrances Symptome gibt es einen Namen: Berührungssynästhesie.
Ich hielt bisher Synästhetiker für Menschen, die etwa Farben sehen, wenn sie Musik hören oder Buchstaben und Zahlen lesen. Bei Torrance aber geht Sehen mit Fühlen einher: Wenn sie bei einem anderen Menschen eine Berührung wahrnimmt, empfindet sie diese auf ihrem eigenen Körper – an gleicher Stelle. Immerhin einer oder zwei von 100 Menschen teilen diese Symptome.
Torrance hat einen besseren Tastsinn als ich, ihre Hände registrieren feinere Unterschiede in Texturen. Sie ist also besonders feinfühlig. Und das nicht nur taktil, sondern auch im emotionalen Sinn: Sie erkennt die Gefühlslagen anderer Menschen überdurchschnittlich genau. Sie kann sich in deren Haut hineinversetzen – im wahrsten Sinne des Wortes. Eine klinische Störung sehen Forscher darin nicht, sondern eine Steigerung von Eigenschaften, die alle Menschen teilen.
Was also erzählt Fiona Torrances Fall über uns? Wie spüren wir Berührungen, nicht nur auf unserer Haut, sondern auch in unserem Herzen? Wie können wir mit anderen Menschen mitfühlen? Woher überhaupt rührt unser elementares Bedürfnis danach, zu berühren und berührt zu werden?
Fragen wie diese werden derzeit so intensiv erforscht wie nie zuvor. In Liverpool zum Beispiel. Dort habe ich am eigenen Leib erlebt, wie meine Haut „Zärtlichkeitsbotschaften“ ans Gehirn sendet – über eine exklusive Nerven-Hotline. Diese Entdeckung gilt als Sensation. Sie zeigt, dass unser Tastsinn menschlichen Berührungen besondere Beachtung schenkt: Ihre Wahrnehmung ist eigens in uns verdrahtet.