Walking on the wild side - Marc Tornow - E-Book

Walking on the wild side E-Book

Marc Tornow

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Beschreibung

Bei seinen Spaziergängen durch Großbritannien erkundet Marc Tornow auch das Umfeld bekannter Wahrzeichen. Mit journalistischem Blick ist er auf den Nebenstraßen des Landes unterwegs. In abgelegenen Dörfern, entlang rauer Küsten und im Labyrinth mondäner Städte mit ihrem imperialen Erbe begegnen dem Autor sehr eigenständige Menschen. Sie meistern ihren Alltag mit scheinbar stoischer Gelassenheit und Humor - und das angesichts des Brexits und den damit verbundenen Ungewissheiten. In dem Essayband sind 30 bebilderte Geschichten von rund einem Dutzend Besuchen im Vereinigten Königreich und seinen "Vorhöfen", den assoziierten Inselstaaten, geschickt miteinander verwoben. In einem Land, dessen bekannteste Unbekannte noch das rechtsseitig eingebaute Lenkrad ist, dessen Regionen jeweils über eigene Banknoten verfügen, ist das Staunen nie sehr weit.

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Seitenzahl: 161

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Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Favourite Things

Raue Schale, weicher Kern

Unikate am Irwell

Brexit-Bingo am Mersey

Mystisches Cumbria

Ritt auf dem Kondensstreifen

Shakespeare im Schieferabraum

Untertagewerk

Bristol Britannia

The Roman Baths

Bilderbuch England

Miserables am Cromwell's Castle

Englands Ende

Vom Regen in die Traufe

Burgen im Nebelspuk

Das Finanz-Perpetuum

Windsors Windschatten

The Queen of Everything

Imperiale Ruinen

Geh'n sie weg!

Neue und alte Gräben

Das grüne Kronjuwel

Island Life

Parteitage zwischen Zuckerwatte und Gay-Parade

Trainspotting

Golden Star

Schäbiges Sheppey

Paisley Now

Sturm und Drang

On the run

Vorwort

Stilecht – an Bord einer Nordseefähre – begann meine erste Reise nach Großbritannien. Die Passage führte von Hoek van Holland hinüber nach Harwich. Drei 16-jährige Grünschnäbel, unterwegs im Sommer 1989 auf die britische Insel. Die erste Auslandsreise. Allein. Vom kolonialen Erbe des Britischen Empires hatten wir, meine Freunde und ich, vielleicht eine Vorstellung, von Maria Stuart eine vage Ahnung, von einem Hadrianswall noch nie zuvor gehört. Stattdessen spülten uns Glück und die Großzügigkeit von über fünf Ecken bekannten Gastgebern nach Wandsworth Common. Kostenlos durften wir im gänzlich konventionell britischen Londoner Vorort bei einem gastlichen Asylrechtsanwalt und seiner Frau nächtigen. Doch erst einmal war das teuer erstandene Interrail-Ticket wertlos: die südenglischen Eisenbahnen streikten. So rafften wir im Gedränge der gestrandeten Pendler an der Victoria Station unsere Pfundnoten für eine unnötig luxuriöse Taxifahrt zusammen und fuhren das letzte Stück im „Black Cab“, über die Themse hinweg und bis in jene Straße mit Reihenhäusern des immer gleichen Typs und den exakt gleich gerasterten Schornsteinen.

Rund 30 Jahre später – nach vielen Reisen, manchmal sogar mehrmals jährlich in Richtung England, Wales oder Schottland sowie der im Besitz der Krone befindlichen vorgelagerten Inseln – ist mir dieses Land jenseits von Nordsee und Ärmelkanal ans Herz gewachsen. Vertraut von beruflichen und privaten Aufenthalten, bei denen sich der Vorhang jeweils immer ein Stück weiter öffnete. Zurück „auf den Kontinent“ – wie der restliche Großteil Europas schon zu Zeiten der ersten Visite genannt wurde, ganz so, als lebte man im Vereinigten Königreich am anderen Ende der Welt, auf einem eigenen Kontinent – habe ich Momentaufnahmen mitgenommen, die im vorliegend Band gesammelt sind und keinesfalls den Anspruch auf Vollständigkeit erheben. So und so ist Großbritannien nicht, sondern so und so habe ich es wahrgenommen – abseits von weltbekannten Postkartenmotiven. In manch scheinbar unspektakulärer Seitenstraße, teilweise nur einen Steinwurf von den Wahrzeichen entfernt, ergeben sich spannendere Eindrücke als sich auf den ersten Blick vermuten lässt. Es sind diese abgewandten, weniger heimeligen Seiten des Landes, die eben besonders viel über seinen Charakter verraten. Genau diese Facetten sollen hier in 30 Impressionen vorgestellt werden. Charakteristika eines Landes, das sich aufmacht, künftig ohne eine Mitgliedschaft in der Europäischen Union auszukommen.

Bei dieser Reise in kleinen Geschichten, die unter anderen vom Süden in den mittleren Westen Englands, hinüber nach Wales, auf die Kanalinseln, zurück nach England, durch London und in seine Umgebung sowie schließlich hoch nach Schottland führt, schieben sich persönliche Eindrücke übereinander. Pittoreske Landschaften sind die Kulissen oder besser noch die Bühnen für skurrile Begebenheiten, die ganz und gar den Eigenarten der auf „der Insel“ lebenden Menschen entspringen. Ihre liebenswerte Kultur und ihre kauzigen Eigenarten, der überwältigende Humor und die damit verbundene angenehm leichtfüßige Gangart – sie treten bei einem Rundgang auf der wilden, der von vielen Reisenden abgewandten Seiten des Königreichs in Erscheinung. In einem Land, dessen bekannteste Unbekannte noch das rechtsseitig eingebaute Lenkrad ist, dessen Regionen jeweils über eigene Banknoten verfügen, ist das nächste Staunen nie sehr weit. Und so liegen natürlich längst schon die Pläne für weitere Reisen in der Schublade: nach Stoke-on-Trent, Lee-on-Solent oder Henley-on-Thames. Warmly welcome.

Ankunft in Großbritannien

Favourite Things

Woking, Süd-England, 2011

„Metro Inn?“, fragt ein Kollege und hebt kritisch eine Augenbraue. Natürlich war es genau dieses Hotel und natürlich beflügelte die plötzlich im Raum stehende Skepsis die Neugier auf das, was sich bald als eine Portion rustikale englische Lebensart herausstellen sollte. Schon steckte der Gast vom Kontinent mitten im britischen Alltag. Einer Melange, Pardon: Mixtur, die reichlich Plastik und verkappten Punk enthalten sollte. Durchschnittliche Verhältnisse, ließe es sich auch charmant umschreiben. Trash, um nicht zu sagen Kitsch. Doch noch war es nicht soweit.

Wieder mal war eines zum anderen gekommen, und als Teilnehmer für eine Medienkonferenz führt mich diese Dienstreise über Nordsee und Ärmelkanal hinweg ins englische Woking südlich von London. Ein ehrenvoller wie spannender Auftrag, immerhin ging es „drüben“ um die Abstimmung einer internationalen Kommunikationsstrategie für die nächsten Jahre in einer global vernetzten Organisation. Und endlich bot sich dabei eine Gelegenheit, vor den Toren Londons – sozusagen im Windschatten weltbekannter Sehenswürdigkeiten – Einblicke in die Berufs- und Arbeitswelt bei unseren britischen Freunden zu gewinnen. Großartig die Aussichten, aber groß auch die Nervosität kurz vor dem Abflug: Ein isländischer Vulkan war plötzlich ausgebrochen und spie fortwährend flockige Asche in die Atmosphäre. Stündlich flimmerten die aktuellsten Nachrichten zur veränderlichen flugtechnischen Katastrophe über die Bildschirme zwischen Neufundland und Sardinien. Auf der Nordhalbkugel befanden sich nahezu alle Länder in Alarmbereitschaft, ebenso der Norden des Vereinigten Königreichs. Dort waren – abhängig von der Windrichtung – etliche Flughäfen bereits geschlossen worden, Tausende Passagiere saßen im schottischen Aberdeen, Edinburgh, Glasgow und Inverness fest. Eine tolle Situation.

Doch jetzt, da die Motoren sonor arbeiten, glänzt unter der Tragfläche des Jets die Nordsee. Darüber schillert im abendlichen Sonnenuntergang der Himmel in kräftigen Farben – alles wird gut.

Die eng bestuhlte Maschine nimmt pünktlich Kurs auf die Insel. Nein, die Vulkanasche beträfe diesen Teil Europas derzeit nicht und die „distinguished guests“ – die verehrten Gäste – sollen sich bitte keine Sorgen über die Sicherheit dieses Airbus machen, verkündet der Kapitän, gewinnende Autorität ausstrahlend, über Lautsprecher. Unten flammen an Frachtschiffen und Fähren Lampen auf. Aber von maritimem Flair ist auf 10.000 Metern nichts zu spüren: Im Minutentakt preist die Besatzung ihre Waren aus dem Bordshop an. Neben vakuumverpackten Broten mit Schinken oder Schmelzkäse, die wochenlang liegenbleiben und fortwährend irgendwohin weitergeschafft werden können, ohne dabei etwas an ihrer Konsistenz einzubüßen, gibt es in der Mikrowelle liebevoll zerlassene Pizzateile und eine Auswahl an Getränken. Für klingende Pfund und Euro werden auch Zeitungen, Zugfahrkarten, Hotelgutscheine oder Lotterielose verkauft. In bestem Oxford-Englisch verwandelt sich die Kabine der britischen Billigfluglinie zu einer Art Krämerladen, mit einem erstaunlichen Sammelsurium an nützlichen und überflüssigen Artikeln, also Trash, unnützem Zeug, welches ob seiner opulenten Kunststoffverpackungen bald schon für ein allgemeines Knistern und Rascheln sorgt. Die Flugreise gerinnt zu einer furiosen Verkaufsshow und mittendrin, ohne eine Chance auf ein Entrinnen, die werten Passagiere.

Irgendwie geht dieses Programm auch gleich nach der Ankunft auf dem Flughafen Gatwick weiter: Ein Gigant aus Beton in allen möglichen Facetten von Grau und in der wunderschönen Natur der Grafschaft West Sussex gelegen. Drogerien verkaufen hier belegte Brote in Cellophanfolie, Zeitschriftenläden Drogerieartikel und Bücher sind aus Automaten erhältlich. Die Flure dazwischen behütet die neueste Sicherheitselektronik. Kameras überall samt spitzfindigem Personal, das rasch zur Stelle ist, wenn irgendwo ein Fotoapparat klickt. Es bedürfe einer „permission“, einer Genehmigung, die eben gelandete Maschine im Bild festzuhalten, lautet die wenig herzliche Eröffnung. Das Fragezeichen im Kopf wird größer. Wen könnten schon die Aufnahmen eines unterdurchschnittlichen britischen Billigfliegers auf einem jährlich von Hunderttausenden Passagieren frequentierten Flughafen interessieren oder diesbezüglich Anstoß erwecken? Denn zeitgleich stand bis eben noch die Annahme im Raum, dies sei nicht nur Europa, die Europäische Union, sondern auch die Heimat der Magna Charta, einer Art Grundrechtskatalog, der 1215 das Fundament für eine der ältesten Demokratien der Welt legen sollte.

„Warum dürfen hier denn keine Aufnahmen gemacht werden?“ hinterfragt der ertappte Reisende die aus untergegangenen Ostblock-Staaten bekannte Gangart. „Weil es die Regel ist“, schnaubt eine ungeduldig auf Beendigung dieser Situation wartende Uniformierte. Den Einwand, dass es doch meist „die“ Deutschen seien, die „crouts“, denen der Hang zu Recht und Ordnung voraneile, schenke ich mir, sondern lenke meine schnellen Schritte zur Einreise – und ins Nichts.

Warum klappt eigentlich niemals eine vorbestellte Abholung an den großen internationalen Flughäfen, so wie verabredet und bezahlt? Nie war bisher auf Anhieb der bestellte Chauffeur zur Stelle, wenn das Flughafengebäude erreicht war. Ob in Neu-Delhi, Moskau oder nun London. Nirgendwo konnte ich nach der Landung sogleich ein Schild mit meinem Namen in der Menschenmenge ausmachen. So auch jetzt in London Gatwick Airport nicht. Eine ehrliche Entschuldigung vortäuschend, reißt der telefonisch erreichte Business-Coordinator der Firma Woking Taxi schließlich seinen vorfristig in die Nachtruhe gesunkenen Fahrer aus dem Schlaf. Der Wagen sei in Wahrheit vor Ort, lügt die Stimme mit stark südasiatischem Akzent am Apparat. Und tatsächlich – knapp eine Stunde nach der verabredeten Zeit taucht ein älterer Herr in grauem Parka unter dem grellen Flutlicht des Ankunftsbereich von LGW auf. For heaven's sake!

Durch Tunnel und Gänge, im Umbau befindliche Treppenhäuser – irgendwo ist hier immer ein Gebäudeteil unter Plastikplanen verschwunden – geht es im Stechschritt weiter ins Parkhaus, wo die „Limousine“ wartet, ein umgebauter Vauxhall. Hinaus in die Nacht jagt der Schlitten. Mit ansehnlichen 95 mph, rund 150 km/h und damit 40 km/h zu schnell, sucht der redselige Pakistani die Verspätung wieder wettzumachen. Was am Ziel selbstverständlich zum Anlass genommen wird, um ein ordentliches Trinkgeld einzufordern.

Draußen fliegen die historischen Cottages von Surrey wie Schatten vorüber. Gärten mit akkurat gestutzten englischen Rasen vor mondänen Häusern, an deren Toren bisweilen britische Nobelautos parken. Durch eine hügelige Landschaft windet sich bald der Motorway M21. Die vierspurige Autobahn verläuft südlich der Hauptstadt, deren schillernde Skyline aus gläsernen Bürogebäuden am Horizont wie Diamanten an einer Kette blitzt. Die Türme funkeln deutlich sichtbar in der Distanz, da quert das Fahrzeug schon eine breite Brücke; die opulente Hauptstadt-Autobahn mündet unvermittelt in einer Gasse. Die Vororte von Woking entpuppen sich als beengte Arbeiterviertel: Zweigeschossige schmucklose Blöcke mit den obligatorischen Schiebefenstern, wie sie überall im Vereinigten Königreich zu finden sind. Die menschenleeren Straßen mit ihrer inzwischen aufgeflammten gelben Beleuchtung verleihen dem Ort etwas Unheimliches. Bis das „Metro Inn“ erreicht ist, grell ausgeleuchtet wie Windsor Castle selbst. Abendliche Sperrstunde draußen und Kehraus in allen Kneipen. Auch gegenüber. Schwankende Skinheads verlassen den Pub durch eine Flügeltür mit Messing beschlagenen Griffen und Scharnieren. Der goldene Schein der Applikationen lässt ihre Glatzen kurz aufleuchten. Ich wende mich ab und blicke in das lächelnde Gesicht eines Mannes mit offensichtlich afrikanischen Wurzeln: „Welcome to the UK“, lächelt der Hotelier, „Willkommen in Großbritannien“.

Alles ist bereits vorbereitet. Eine Projektmappe wandert mit dem Zimmerschlüssel über das braune Funierholz des Tresens. Zusammen mit einem Pappbecher für einen kostenlosen Umtrunk: Orangenlimonade aus dem öffentlich zugänglichen Zapfhahn neben dem Fahrstuhl. „Auf Kosten des Hauses“, lächelt der Nachtportier. Das mag die fleckigen Teppiche in Fluren und auf Treppenabsätzen erklären, wie auch oben im muffigen Zimmer selbst. Dort pfeift durch fingerbreite Spalten am Fenster der Wind. Dabei hängt dahinter noch eine zweite Reihe Schiebefenster, deren Mechanismus es aber nicht zulässt, für echte Offenheit zu sorgen. Eine der zwei Rahmenhälften rutscht bei jeder Bewegung automatisch vor die andere, sodass weder richtig gelüftet, noch eine der vielen Scheiben sauber gemacht werden kann.

Einen Speisesaal hat das „Metro Inn“ nicht. Natürlich nicht, sonst hätte der Portier sich am Abend nicht nach der gewünschten Frühstückszeit erkundigt. Und so schiebt der Zimmerkellner – im Gegensatz zum örtlichen Taxiunternehmen pünktlich zur verabredeten Stunde – nach respektvollem Anklopfen und mit gehöriger Diskretion ein üppig beladenes Tablett durch die halb geöffnete Türe. In aller Schnelle und in aller Bescheidenheit: Croissants einzeln in Cellophan, Chester-Käse, jede Scheibe einzeln verschweißt, Plastikbesteck, das wiederum in Plastikfolie steckt. Instanthappen zum selbst anrichten also, auf den Schreibtisch damit. Da brodelt es unten schon im Wasserkocher. Der steht denkbar ungünstig an die einzig frei zugängliche Steckdose im Zimmer angeschlossen auf dem fleckigen Teppichboden. Der Wasserdampf zieht über den riskant dicht installierten Fernseher, auf dem die BBC World News laufen. Aus einem dünnen Plastikbriefchen rieseln die angebotenen Cappuccino-Flocken in einen weißen Becher. Einfach heißes Wasser drüber, umrühren, fertig. Der Trunk schmeckt haargenau wie der Kakao, den ich noch nachts aus einem ganz ähnlich aussehenden Plastikbriefchen befreit und aufgebrüht hatte.

Hinter den verklemmten Schiebefenstern wird so etwas wie ein altmodischer Stadtkern sichtbar. Mit „Fish&Chips“-Buden, gut besuchten Pubs und Läden wie Heather's Bakery. In der Backstube gibt es nur eine sehr übersichtliche Auswahl an Pies und daher kaum Kundschaft. Gleichwohl ein liebenswertes Kleinstädtchen, mit Kanälen, Schleusen und umringt von soliden Bürowürfeln aus der Zeit von Margaret Thatcher, über dem jetzt die Sonne lacht. Beim zweiten Croissant berichtet BBC live von der vertrockneten Apfelernte rund um Newport. Der Flughafen Gatwick stellt in diesen Minuten wegen der Vulkanasche seinen Betrieb ein. Hoher Staatsbesuch ist trotzdem eingetroffen: Irgendeine Eskorte mit Cadillac hält soeben vor dem House of Parliament in London. Doch da rufen schon die Kollegen MacDonald, Hamilton und Daynes, das Meeting zur globalen Kommunikationsstrategie und weitere Gäste warten, in einem der klotzigen 1980er-Jahre-Bauten.

Wohn- und Industriegebiet in Manchester

Raue Schale, weicher Kern

Manchester, Nordwest-England, 2012

Es trifft wie ein Schock, überraschend und im herrlichsten Abendlicht, als der Zug durch eine sanfte Hügellandschaft rollt und schließlich die Vororte von Manchester erreicht. Es ist einer der rumpelnden Triebwagen mit den markant leuchtend gelb lackierten Steuerkabinen, dessen Motor dröhnend in Richtung Piccadilly Station befördert, dem örtlichen Hauptbahnhof. Schon die Außenbezirke der einstigen Arbeitermetropole bieten frappierende Aussichten auf ihre Ruinen: Gewaltige Backsteinkompositionen, Lagerhallen und Fabrikgebäude. Die Kathedralen der Industrialisierung hatten größtenteils im 19.-Jahrhundert ihre Hochzeit und sind – wie die vernagelten Bretter vor hohlen Fenstern verraten – schon lange geschlossen. Als Spiegel eines wirtschaftlichen Niedergangs klaffen diese ehedem prächtigen Mauern der Montan- und Textilindustrie nun wie morsche Fremdkörper in der Stadtlandschaft. Überwältigend wirkt der Gegensatz von dem, was offensichtlich einst war, und dem, was heute geblieben ist. Denn ringsum reihen sich gleichzeitig die von vielen Adressen im ganzen Königreich bekannten Wohnviertel. Wie mit dem Lineal gezogen erstrecken sie sich Meile um Meile, auf der britischen Insel in scheinbar immer gleichem Grundriss, gedrungene Häuser. Geschachtelt stehen sie Seite an Seite, wie am Reißbrett entworfen auch ihre Schornsteine immer in einer Achse, unter denen jeweils ein Gas- oder Kohleofen steckt. Jene Bauten mit einfacher Verglasung und den dürftig isolierten Backsteinfassaden, die kaum Behaglichkeit in einem nasskalten Winter bieten. Es sei denn, die Menschen im Haus haben ausreichend Ein-Pfund-Münzen zur Hand, die seitlich an den in den Zimmern aufgebauten Gasöfen in ein Zählwerk eingeworfen werden müssen, um für eine begrenzte Zeitspanne eine bläulich flackernde wärmende Gasflamme zu entfachen. Eine eigenwillige Monotonie entfaltet dieses Bild entlang enger Straßen, die noch im sommerlichen Schein und umgeben von blühenden Obstbäumen eine düstere Note haben.

Vor der grandiosen Landschaft der Grafschaft Derbyshire, deren von Moosen und Flechten bewachsene Hügelketten wie ein bläuliches Band am östlichen Horizont schimmern, heben sich erloschene Fabrikschlote ab. „Klein“ ist das Prädikat der hier durchfahrenen Viertel. Es trifft auf die Nettowohnfläche desselben Typs Behausung zu, seiner Fenster und Vorgärten. Unisono haben die Eigentümer die kleinen straßenseitigen Grundstücke mit Betonplatten oder Asphalt auslegen lassen. Zwischen Mülltonnen bleibt Platz für das Familienleben: Im Schein der untergehenden Sonne schießen sich tätowierte Väter mit ihren Kindern über kurze Distanz einen Fußball zu, genießen kurz geschorene Kumpel in den Trikots des örtlichen Fußballclubs auf Campingstühlen sitzend ein kühles Ale, und lehnen sich Mütter in geblümten Kitteln auf einen Schwatz am Zaun zur ähnlich bekleideten Nachbarin herüber. Keiner nimmt Notiz von einem Pärchen, das sich mit klöternden Tüten bepackt laut grölend den Alkoholnachschub für das eben angebrochene Wochenende sichert. Hinter dieser Kulisse ragen die grau lackierten Gerüste eines Gasometers Dutzende Meter hoch in den Himmel. Wie ein stählernes Nest. So konventionell diese Viertel auch wirken mag – eine oberflächliche Betrachtung – es stellt sich als aufgeräumter heraus, als so manche Ecke der City. Im Gegensatz zur Innenstadt liegt hier nirgends Papier herum und die Grünanlagen entlang des Rochdale Kanals sind ordentlich. Verstörend da der Anblick einer Anzahl Wohntürme, die auf diese Vorstadt ihre Schatten werfen: Die 15-Geschosser stehen allesamt leer. Irgendwer hatte vom Fußboden bis zum Dach alle Fenster herausbrechen lassen. Über die Jahre war mit dem Wechsel der Witterung die Bausubstanz von Grund auf verkommen. Der Schwamm sitzt nun überall.

In Manchester war der als herzlos verschriene Kapitalismus geprägt worden. Skrupellose Industriebarone nutzten um 1900 die allgemeine wirtschaftliche Not der Bevölkerung aus und pressten ihr extreme Arbeitsleistungen unter extremen Bedingungen ab. Ein Zentrum dieser Form der Ausbeutung war eben Manchester – damaliger Standort eines Großteils der englischen Textil- und Baumwollindustrie. Dampfmaschinen trieben die Webstühle an, die vormals noch mit Wasserkraft liefen. 1910 wurde hier mit Trafford Park die erste eigens zu diesem Zweck geschaffene Industriezone der Welt eröffnet. Unter anderem produzierten dort zu Dumpinglöhnen auch Automobilhersteller und Elektroanlagenbauer. Der Boom der Stadt reichte bis ins Jahr 1931, als dort mit rund 766.000 Einwohnern die größte Bevölkerungszahl „aller Zeiten“ registriert wurde. Aus dieser Periode stammen auch die gedrungenen Wohnsiedlungen, die eben noch aus der sicheren Warte einer Zugfahrt zu sehen waren. Rings um diese einst als technische Meisterleistung gefeierten Quartiere hatten diverse Wirtschaftskrisen viele Firmen in den Ruin gerissen. Ihre Gelände verfielen – und bisweilen auch die Nachbarschaft.

Die opulente Bahnhofshalle, die Manchester Piccadilly Station, atmet noch den Stolz, den dieser Landesteil vor etwa 100 Jahren einmal besessen hatte. Unter einer feingliedrigen Gewölbekonstruktion aus bunt lackierten Stahlträgern – einem Relikt aus jener Epoche, in der die Industrialisierung Britanniens noch immer durch neue Absatzmärkte in fernen Kolonien beflügelt wurde – hatte sich heute allerdings der Betrieb und damit der Bedarf an Gleisen deutlich ausgedünnt. Sowohl rund um die imposante Station als auch in den Straßen der Innenstadt lässt der Trubel nach, kaum dass es Abend wird. Dennoch bleibt das Publikum nicht unbeaufsichtigt. Der Handvoll allein reisender Damen in grauen Mänteln, blass geschminkter Mädchen mit pinken Haaren sowie Burschen mit Baseballkappen und Trainingshosen folgen wie im fernen London auch in Manchester Tausende virtuelle Augen. Videokameras und Bewegungsmelder registrieren nicht nur am und im Bahnhof alle Schritte. Selbst die Rückseiten kleiner Restaurants werden ebenso überwacht wie zentrale Kreuzungen. Auf diese Weise hält sich anscheinend der Vandalismus im öffentlichen Raum in Grenzen. Dennoch stehen die Passanten der pauschalen Unterstellung gegenüber, es auf die Unversehrtheit dieses Landes abgesehen zu haben. Das ungewohnt gesteigerte Bedürfnis nach Sicherheit erklärt sich Außenstehenden beim Blättern im Geschichtsbuch: 1996 explodierte ein eineinhalb Tonnen Sprengsatz in der Corporation Street. Die IRA – die Irisch-Republikani