Wanderer durch die Zeiten - Anja Buchmann - E-Book

Wanderer durch die Zeiten E-Book

Anja Buchmann

3,9

Beschreibung

Die Bruderschaft aller Zeitenwanderer sieht sich erstmals mit einer weiblichen Zeitreisenden konfrontiert, der Studentin Marie, die im Berlin der Gegenwart lebt. Viel Zeit bleibt ihr nicht, sich mit ihrer Gabe vertraut zu machen, denn schon findet sie sich in einem Kampf um die Zukunft der Welt wieder. Welche Opfer ist sie bereit, für die Menschheit zu bringen?

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Inhaltsverzeichnis

Wanderer durch die Zeiten

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Die Autorin

Impressum

Wanderer durch die Zeiten

Fantasyroman

von

Anja Buchmann

1

Lateinisches Königreich Jerusalem, ein heißer Sommertag im Jahr 1113

»Gideon, komm essen.«

Der hagere Junge erhob sich von dem Schemel, auf dem er im Schatten des Hauses gesessen hatte. Er legte das Schnitzwerk beiseite, klopfte sich die Späne vom Gewand und trat in das Haus, in dem seine Mutter mit dem Essen wartete.

Kaum hatte er Hände und Gesicht gewaschen und sich an den Tisch gesetzt, klopfte es an der Tür. Seine Mutter ging, um zu öffnen. Ein junger Mann stand in der Tür, hochgewachsen, mit heller Haut und dunklem Haar. Definitiv kein Einheimischer, eher ein Franke. Auch in Gideons Adern floss fränkisches Blut, dennoch hasste er alle Franken. Sie waren hierher gekommen und hatten sich das Land einfach genommen. Und dabei war es nicht geblieben, auch vor den einheimischen Frauen hatten sie keinen Halt gemacht. Seine Existenz legte Zeugnis darüber ab. Nur einmal hatte er seine Mutter nach den Umständen seiner Zeugung gefragt. Ihr trauriger Blick hatte ihn, trotz der ausbleibenden Antwort, von weiteren Nachfragen absehen lassen.

Seine Mutter sprach leise mit dem Fremden, bat ihn schließlich herein. Offenbar kannte sie ihn nicht erst seit eben. Andernfalls hätte sie ihn nicht einfach so eintreten lassen. Gideon spürte, wie sein Körper sich anspannte. Irgendetwas sagte ihm, dass der Besuch des Mannes ihm galt. Und das behagte ihm in keinster Weise. Er wollte nichts mit diesem Franken zu tun haben.

Der Mann kam auf ihn zu und sprach ihn an: »Darf ich mich dir vorstellen, Gideon? Mein Name ist Alexander und ich bin Händler. Ursprünglich komme ich aus Griechenland.«

Dieser Mann war also kein Franke. Seine Anspannung ließ etwas nach. Der Mann sprach weiter, erklärte ihm, er habe auf dem Markt seine Schnitzereien bewundert und Gideons Mutter nach dem Künstler gefragt, der diese erschuf. Er selbst sei ebenfalls Künstler und sehr interessiert daran, Gideon in verschiedenen Gebieten der Kunst auszubilden.

Gideons Interesse war geweckt. Die Schnitzerei war für ihn mehr als ein Mittel, den Marktstand seiner Mutter um weitere Produkte zu ergänzen – seine Mutter war Schneiderin –, er liebte es, dem Holz immer wieder neue Formen zu geben. Oft war er dabei an seine Grenzen gestoßen, hatte nicht gewusst, wie er seine Idee am besten umsetzen konnte. Ein Lehrmeister käme ihm gelegen. Er tauschte Blicke mit seiner Mutter, wollte erfahren, was sie davon hielt. Sie deutete ein Nicken an, sagte aber nichts. Mit seinen dreizehn Jahren war er alt genug, für sich selbst zu sprechen. Und so begann er, Alexander bezüglich seiner Kunst auszufragen. Er wollte genau wissen, was der nur wenige Jahre ältere Mann ihn zu lehren gedachte. Anfangs war sein Gegenüber mitteilsam, aber irgendwann verlor Alexander wohl die Geduld. Er sprach: »Ich kann dich Dinge lehren, von denen du nicht einmal zu träumen wagst. Hast du nun Interesse oder nicht?«

Gideon fühlte sich überrumpelt. Einerseits wollte er diese Chance nicht ungenutzt verstreichen lassen, andererseits hatte der Mann etwas Seltsames an sich. Schlussendlich überwand er seine Vorbehalte und sagte zu.

Und so wurde er Alexanders Lehrling. Damit brachen drei Jahre harter Arbeit an, denn die Ausbildung umfasste weit mehr als eine Unterweisung in den unterschiedlichsten künstlerischen Gewerken.

2

Zwischenspiel

Das Laub riesiger Bäume raschelte im Wind. Ein großer Schatten fiel auf den Boden und sie blickte auf. Ein Vogel, nein, ein Flugsaurier kreiste über ihr. Hatte dieser sie als Beute auserkoren? Sie begann zu laufen. Farnähnliche Gewächse streiften ihre nackten Beine. Das übergroße T-Shirt blähte sich wie ein Segel. Der Boden war uneben, aufgewühlt von den Füßen unzähliger Tiere. Hätte sie Augen dafür gehabt, sie hätte nicht weniger als zehn verschiedene Dinosaurierabdrücke entdecken können. Sie stolperte, fiel. Der Schatten war noch immer über ihr, wurde größer. Ein heiserer Schrei erscholl. Sie musste fort von hier, doch es gab scheinbar kein Entrinnen. Sie schloss die Augen, kauerte sich zusammen und wartete darauf, dass der Saurier herabstieß.

Berlin, Gegenwart

Schweißgebadet wachte Marie auf. Sie setzte sich auf, schwang die Beine aus dem Bett.

Das Bett war eines ihrer wenigen Zugeständnisse an Komfort. Der Rest ihrer kleinen Einraumwohnung war praktisch und platzsparend eingerichtet, das schmiedeeiserne Bett mit seinen fast zwei Metern Breite hingegen war für eine Person mehr als überdimensioniert. Doch das war ihr egal, es war ein Erbstück, dem sie mit viel Mühe und einer neuen, superbequemen Matratze neuen Glanz verschafft hatte. Sie liebte ihr Bett, es war fast so etwas wie ihr Lebensmittelpunkt. Hier schlief sie nicht nur, hier las sie, sah fern, nutzte ihren Laptop oder hing einfach ihren Tagträumen nach. Kurzum, das Bett war ihr sicherer Hafen, ihr Rückzugsort.

Umso ärgerlicher waren diese Albträume. Sie traten zwar nicht regelmäßig auf, aber immerhin häufig genug, als dass sie sich schon fast daran gewöhnt hatte. Die ersten paar Mal hatte sie sich noch Gedanken darüber gemacht, doch da es immer andere Träume waren, glaubte sie nicht mehr daran, dass sie eine Bedeutung hatten. Lästig waren sie dennoch. Marie konnte nicht verstehen, woher diese nächtlichen Auswüchse ihrer Fantasie stammten. Schließlich war sie alles andere als ein Geschichtsfreak, ihre Träume aber führten sie in die unterschiedlichsten Epochen der Erdgeschichte. Dabei hieß es, Träume hätten stets einen Bezug zur eigenen Erlebenswelt. Was hatte sie mit Dinosauriern zu tun?

Jetzt grübelte sie wieder! Sie verbot sich dies und ging ins Bad, wo sie eine lange, heiße Dusche nahm. Während sie mit geschlossenen Augen dastand, rann das Wasser an ihr herab und als kleines erdbraunes Rinnsal, auf dem einige grüne Pflanzenreste trieben, in den Abfluss.

Sie griff nach einem Handtuch und schlang es sich wie einen Turban um ihren Kopf. Mit einem zweiten Handtuch trocknete sie sich ab. Nur mit dem Handtuchturban bekleidet ging sie ins Zimmer zurück, öffnete ihren Kleiderschrank und stand eine Weile unschlüssig davor. Irgendwie war ihr heute nicht nach Kleid, doch da Samstag war und sie den ganzen Tag im Café kellnern würde, wäre es wohl die bessere Wahl. Sie hatte es ausprobiert, im Kleid erhielt sie mehr Trinkgeld als in Jeans. Und da sie jeden Euro gebrauchen konnte, entschied sie sich schließlich für ein schlichtes schwarzes Jerseykleid. Es war zwar kein besonders aufregendes Kleidungsstück, aber der Schnitt schmeichelte ihrer femininen Figur, kaschierte das ein oder andere Fettpolster und setzte ihr Dekolleté in Szene. Außerdem konnte man mit Schwarz nichts falsch machen, es war also ideal für Tage wie heute, an denen ihr nicht der Sinn nach modischen Höchstleistungen stand. Bald hatte sie aus der Kommode alles zusammengesucht, was sie sonst noch für ihr Outfit brauchen würde. Draußen war es noch immer dunkel. Sie konnte sich also Zeit lassen, musste sie erst um neun im Café sein.

Nachdem sie gefrühstückt hatte, putzte sie sich die Zähne und legte ein dezentes Make-up auf. Ihr kurzer brauner Haarschopf war inzwischen getrocknet, sodass sie nicht würde zum Föhn greifen müssen. Sie warf einen letzten prüfenden Blick in den Spiegel, zupfte einige Strähnen ihres Bobs zurecht. Diese Frisur erforderte zwar regelmäßige Friseurbesuche, dennoch war sie froh, sich dafür entschieden zu haben, verhinderte sie das tägliche Einerlei eines langweiligen Pferdeschwanzes; der Bob sah schon durch die naturgegebene Störrischkeit ihres Haars jeden Tag ein bisschen anders aus.

Um halb neun schwang sie sich auf ihr Fahrrad, um die wenigen Kilometer bis zu ihrem Arbeitsplatz zurückzulegen. Am Samstag war der Verkehr weniger schlimm als in der Woche, doch Berlin war für Radfahrer ein gefährliches Pflaster, sie musste sich aufs Fahren konzentrieren, wollte sie heil ankommen. Das war immer noch besser, als den Weg aufs Umständlichste mit dem öffentlichen Nahverkehr zurückzulegen. Die Busse und Bahnen fuhren so ungünstig, da wäre es fast schneller gewesen zu laufen. Nicht, dass Marie das beinahe lückenlose Netz aus S- und U-Bahnen, Straßenbahnen und Bussen nicht zu schätzen wusste, prinzipiell war sie sehr glücklich über dessen Möglichkeiten. Nur das kleine Café in Köpenick, in dem sie neben ihrem BWL-Studium arbeitete, um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten, war damit schlecht zu erreichen.

Zehn vor neun erreichte sie das Café. Ihre Chefin Simone und die Küchenkraft Tanja waren schon da und bereiteten alles für den Ansturm der Frühstücksgäste vor. Simone begrüßte sie: »Guten Morgen Marie. Siehst müde aus, wieder die ganze Nacht gefeiert?«

In ebenso scherzhaftem Ton gab sie zurück: »Aber sicher, du kennst mich doch.«

Tatsächlich kannte ihre Chefin sie nach den vier Jahren, die sie hier arbeitete, gut genug, um zu wissen, dass derlei Eskapaden nicht zu Maries Verhalten gehörten. Zwar ging sie gelegentlich abends aus, doch nie, wenn sie am nächsten Morgen arbeiten musste. Simone wusste diese Zuverlässigkeit zu schätzen. Über die Zeit hatten die beiden ein freundschaftliches Verhältnis entwickelt. Als Marie sich vor drei Monaten von ihrem langjährigen Freund getrennt hatte, hatte Simone ihr von sich aus einen kurzfristigen Urlaub angeboten. Letztendlich hatte Marie keinen Gebrauch von dieser großzügigen Geste gemacht. Die Arbeit war ihr eine willkommene Ablenkung gewesen, Wohnungssuche und Umzug waren durch die tatkräftige Mithilfe von Freunden schnell erledigt gewesen.

Das Wortgeplänkel ließ sie ihre Pflichten nicht vergessen: Sie band sich ihre Schürze um und verteilte Vasen mit frischen Blumen auf den Tischen. Noch ein paar Momente der Ruhe, dann begann der übliche samstägliche Serviermarathon.

Die nächsten drei Stunden arbeitete sie ohne Pause, bediente junge und ältere Pärchen ebenso wie komplette Familien oder Grüppchen von Freundinnen, die sich hier zum Frühstück trafen. Es war ein buntes Treiben.

Gegen Mittag kehrte etwas Ruhe ein, bevor ab zwei Uhr nachmittags kamen die ersten Gäste, die sich am reichhaltigen Kuchenangebot laben wollten. Bis zur Schließung um sechs ebbte der Zustrom nicht ab. Obschon es anstrengend war, so genoss sie ihre Arbeit dennoch. Sie liebte es, wenn die Gäste ihr ihren Service mit einem Lächeln vergalten, sie mochte das rege Treiben, und das Zischen der Kaffeemaschine vermittelte ihr ein Gefühl von Heimat. Dabei war sie anfangs skeptisch gewesen, ob sie dem Job als Kellnerin gewachsen wäre. Nur der Wunsch nach finanzieller Unabhängigkeit von ihren Eltern hatte sie ihn annehmen lassen. Damals hielt sie sich für zu schüchtern, um ihn wirklich gut zu machen. Für sie war es einem Wunder gleichgekommen, dass Simone sie eingestellt hatte.

Als die Tageseinnahmen gezählt waren und sie ihren Anteil des Trinkgelds erhalten hatte, machte sie sich auf den Heimweg. Unterwegs kaufte sie noch ein: eine Tiefkühlpizza für den Abend, dazu eine Packung Eis. Für den Sonntag hatte sie sich vorgenommen zu kochen, also fanden Zucchini, Tomaten und Paprika den Weg in ihren Einkaufskorb, dazu Käse, Eier und Milch. Alles andere hatte sie noch zu Hause. Eigentlich liebte sie Kochen und Backen, doch sie hatte sich noch nicht daran gewöhnt, es für sich alleine zu tun. Als sie noch mit Mike zusammengewohnt hatte, hatte sie jeden Tag für ihn und sich gekocht. Nicht, dass ihr Freund dies zu schätzen gewusst hätte. Letztendlich war das einer der vielen Gründe gewesen, sich von ihm zu trennen. Sie hatte sich immer mehr wie seine Haushälterin und immer weniger wie seine Partnerin gefühlt. Dabei hatte sie so viel für die Beziehung getan. Seinetwegen war sie zum Studium nach Berlin gezogen, dabei hätte ihr eine kleinere Stadt wie Leipzig, die zudem noch näher an ihrer erzgebirgischen Heimat lag, mehr zugesagt. Mike wollte keine Fernbeziehung. Im Nachhinein hatte sie oft überlegt, ob sie nicht zu viele Zugeständnisse gemacht hatte. Nun war es ohnehin egal, sie hatte sich gut in ihr Singledasein eingefunden, hatte sich im letzten Jahr ihrer Beziehung immer stärker emotional von ihrem Freund gelöst. Die Freundschaften, die sie in dieser Phase geschlossen oder vertieft hatte, waren ihr nach der Trennung zugutegekommen. Entgegen ihren Erwartungen hatte sie sich niemals einsam gefühlt.

Als sie in ihrer Wohnung angekommen war und die Einkäufe verstaut hatte, überlegte sie kurz, ob sie ihre beste Freundin anrufen sollte, entschied sich dagegen. Sie hatte an diesem Tag genug Menschen um sich gehabt. Lieber wollte sie den Abend allein mit einem guten Buch verbringen. Während die Pizza im Ofen backte, inspizierte sie ihr Bücherregal. Mit Pizza und Liebesroman ausgerüstet zog sie sich ins Bett zurück.

3

Raum der Nichtzeit

Zunächst war es nur ein schwaches Flimmern der Zeit gewesen, doch nachdem es immer häufiger aufgetreten war, sah Alexander sich gezwungen, der Sache nachzugehen. Seine sorgfältigen Beobachtungen ließen seinen Blick auf das Berlin der Gegenwart fallen. Das war beruhigend, denn es bedeutete, sie hatten in der Vergangenheit keinen der ihren übersehen. Jetzt mussten sie den Jungen nur noch ausfindig machen. Aber so sehr er und seine Brüder sich mühten, der, den sie suchten, entzog sich ihren Blicken. So etwas war noch nie geschehen, zumindest nicht in Alexanders Zeit als Oberhaupt der Bruderschaft. Er sah sich daher gezwungen, einen der Brüder auszusenden, um denjenigen zu finden, der für die Fluktuationen im Zeitgefüge verantwortlich war.

Er zögerte, den Jüngsten in ihren Reihen mit dieser Aufgabe zu betrauen. Andererseits, James war derjenige, der sich am besten mit den Gegebenheiten der Jetztzeit auskannte. Alexander und die anderen zehn Brüder würden ihn im Auge behalten und ihm Hilfe senden, so er ihrer bedurfte. Also war es entschieden, James würde sich auf die Suche nach dem potenziellen neuen Bruder machen.

Der Gedanke an die bevorstehende Reise versetzte ihn in Aufregung. Es war das erste Mal, dass er sich alleine auf den Weg durch die Zeit machen würde. Bisher war er auf all seinen Reisen von einem seiner Mitbrüder begleitet worden, jeder Ritt auf den Wogen der Zeiten war eine Lektion, die ihn tiefer in die Mysterien der Geschichte und die Beherrschung seiner Gabe einführen sollte. Und auf die Sensation der Reise folgte stets eine ungleich längere Phase des Beobachtens und Analysierens aus dem Schutz des Raums der Nichtzeit heraus. Über seine Ausbildung war die Weltgeschichte annähernd hundert Jahre vorangeschritten, was die Reise in die Jetztzeit umso verlockender machte. Voller Ungeduld lauschte James daher den Ausführungen und Ermahnungen des Obersten Bruders Alexander. Sie erschienen ihm nutzlos, er war sich sicher, seine Aufgabe mit Leichtigkeit erfüllen zu können.

Endlich war es so weit! Seine Suche konnte beginnen.

Aus den Beständen der Bruderschaft hatte er die modernste Kleidung ausgesucht, die er hatte finden können, ein weißes Hemd sowie eine Jeans, dazu eine schwarze Lederjacke und ausgelatschte Turnschuhe. Zum Glück hatte er die gleiche Größe wie Bruder Thomas, der vor Kurzem New York im Jahr 2001 besucht hatte. Ein schwarzer Rucksack mit einigen weiteren Sachen komplettierte sein Outfit. Mit dieser Ausstattung würde er nicht weiter auffallen und das war wichtig. In seiner Situation war es klüger, keine Aufmerksamkeit zu erregen. War es in früheren Epochen der Geschichte noch einfach, sich eine Identität zuzulegen, so war es in der Gegenwart ein schwieriges Unterfangen. Weder war es ihm möglich, an einen Ausweis zu kommen noch an andere Dokumente. Zumindest besaß er eine größere Menge Bargeld. Alexander hatte die Euro besorgt, indem er in das Versteck eines Drogendealers eingedrungen war und das Geld entwendet hatte. Aus seinen Studien wusste James, dass Geld so manche Tür öffnete, das war eine der wenigen Konstanten in der menschlichen Geschichte.

James konzentrierte sich auf sein Ziel. Der Vorhang, der den Raum der Nichtzeit umgab, entstand vor seinen Augen und er schritt hindurch. Umfangen vom bunten Strudel der Zeiten brauchte er einen Moment, um sich zu orientieren. Dann hatte er Bestimmungsort und -zeit entdeckt und griff danach.

Berlin, Gegenwart

Er hatte gut gezielt, sein plötzliches Erscheinen schreckte nur einige Vögel auf, der kleine Wald am Rand der Stadt war menschenleer.

Es war noch früh am Morgen, die Sonne war noch nicht vollends aufgegangen. Noch einmal streckte er seine Sinne nach dem Gefüge der Zeiten aus und versicherte sich so, wirklich in der Gegenwart angekommen zu sein. Zeitreisen waren eine diffizile Sache. Der Strudel der Zeit bewegte sich in einem unfassbaren Tempo, das kaum beherrschbar war. Die Mitglieder der Bruderschaft waren nur deshalb in der Lage dazu, weil sie stets vom Raum der Nichtzeit aus starteten oder diesen als Ziel hatten. Im Gegensatz zu allen anderen Orten und Zeiten lag er vollkommen bewegungslos im Zentrum des Strudels. Er war der Fixpunkt, der Anker, ohne den sich jeder Zeitreisende wohl hoffnungslos im Chaos verloren hätte.

Er folgte einem ausgetretenen Pfad. Zahlreiche Spuren von Fußgängern und Radfahrern verrieten ihm, dass dieser irgendwohin führen musste. Bevor er nicht ein Straßenschild erreichte, war der Stadtplan, den er mitführte, reichlich nutzlos. Er hoffte, in die richtige Richtung zu gehen. Noch konnte er die Schwingungen im Gewebe der Zeit nicht spüren, die von dem, den er suchte, ausgingen. Nicht allzu fern vernahm er das Rattern von Stahlrädern auf Schienen, vielleicht fände er bald einen Bahnhof.

Der Weg hatte ihn zunächst in eine Einfamilienhaussiedlung und schließlich zu einem Bahnhof der S-Bahn geführt. Nach einigem Kampf war es ihm gelungen, das Liniennetz zu deuten und einen Fahrschein für den ganzen Tag zu erwerben. Glücklicherweise hatte ihm ein junger Mann bei der Bedienung des Automaten geholfen. In dieser Situation hatte James spontan entschieden, sich als englischer Reisender auszugeben, denn dies erklärte seine mangelnde Ortskenntnis ebenso wie sein schlechtes Deutsch. Außerdem war es nicht wirklich gelogen, da er aus London stammte, wenn auch aus dem London des beginnenden 20. Jahrhunderts.

Wenn er den Plan richtig gelesen hatte, befand er sich am südöstlichen Stadtrand. Er würde mit der S-Bahn bis ins Zentrum fahren, um dort mit seiner Suche zu beginnen. Es waren weniger praktische Erwägungen als pure Neugier, die seine Entscheidung für dieses Vorgehen bedingte. Obwohl er fest entschlossen war, seine Aufgabe zur Zufriedenheit der gesamten Bruderschaft zu erfüllen, so wollte er dennoch keine Möglichkeit zum Sammeln neuer Erfahrungen ungenutzt lassen. Er wusste, Alexander würde den Kopf über so viel Entdeckerdrang schütteln, doch dieser hatte mehr als ein Jahrtausend gehabt, seine Neugierde zu befriedigen.

In der S-Bahn kam er aus dem Staunen kaum heraus. Er musste sich zusammenreißen, um die Leute nicht allzu offensichtlich anzustarren. Deren Kleidung war genauso bunt und vielfältig wie ihr ethnische Herkunft. Nicht, dass ihm dies fremd gewesen wäre. Das London seiner Zeit war ein Anziehungspunkt für Menschen aus der ganzen Welt gewesen. Die Atmosphäre hier war dennoch eine andere, wiewohl er sie noch nicht zu beschreiben wusste. Besonders faszinierend fand er, wie viel Aufmerksamkeit die Menschen um ihn herum ihren technischen Geräten widmeten, kaum einer schaute aus dem Fenster, dafür tippte fast ein jeder auf irgendeinem Gerät herum, hatte Kopfhörer auf den Ohren oder telefonierte. Wie gut, dass James so viel Zeit mit der Beobachtung der Gegenwart verbracht hatte, so wusste er wenigstens im Groben, womit er es hier zu tun hatte. Er stellte sich vor, wie wohl seine Mitbrüder, die ihre Aufmerksamkeit auf die Erforschung vergangener Zeiten richteten, bei diesem Anblick reagiert hätten. Sie wären wohl vollkommen ratlos und überfordert gewesen. Die Vorstellung ließ ihn schmunzeln. Wahrscheinlich war deshalb er mit diesem Auftrag betraut worden.

Er stieg am Alexanderplatz aus. In einem Buchladen im Bahnhofsgebäude kaufte er sich einen englischen Reiseführer. Dann beschloss er, aus luftiger Höhe einen Blick auf die Stadt zu werfen. Er bezahlte den geforderten Eintritt und fuhr mit dem Fahrstuhl hinauf in die sich drehende Kugel des Fernsehturms. Er ließ die Stadt an sich vorbeiziehen und überlegte, wie er weiter vorgehen sollte. Es würde schwierig werden, ohne Ausweis ein Zimmer für die Nacht zu mieten, also musste er versuchen, den potenziellen Zeitenwanderer noch vor Einbruch der Dunkelheit zu finden und sein Vertrauen zu gewinnen. Ein anspruchsvolles Unterfangen, das keine weitere Verzögerung zuließ. Er streckte seine Sinne aus, versuchte, die Schwingungen des anderen zu erspüren. Da war nichts. Wie nah er ihm wohl sein musste, um ihn wahrzunehmen? Anders als im Raum der Nichtzeit waren die Schwingungen hier durch das ständige Voranschreiten der Zeit beeinträchtigt und geschwächt.

Er verließ den Aussichtspunkt, um wieder in die S-Bahn zu steigen. Eine Fahrt auf dem Ring würde ihn innerhalb einer Stunde einen großen Bereich durchqueren lassen. Wenn er aufmerksam wäre, würde er vielleicht etwas spüren.

Es fühlte sich seltsam an, dieses Handeln unter Zeitdruck. Das Denken in Minuten und Stunden war ihm fremd geworden. Im Raum der Nichtzeit spielten derlei Dinge kaum eine Rolle. Dass Zeit verging, konnte man lediglich wahrnehmen, wenn man seinen Blick konstant auf die Gegenwart richtete. Traf der Blick hingegen auf einen Punkt in der Vergangenheit, so konnte man selbst bestimmen, in welcher Geschwindigkeit die Ereignisse dort voranschritten, zumindest, wenn man etwas Übung im Beeinflussen des Zeitenstroms hatte.

James hatte eine Weile gebraucht, bis er mehr als Standbilder oder Ereignisse in Originalgeschwindigkeit wahrzunehmen vermochte. Innerhalb des Raums der Nichtzeit gab es streng genommen keine Zeit. Der Taktgeber waren nur die Tätigkeiten der Menschen. Selbst die Körper stellten keinerlei Ansprüche, die ihre Besitzer in irgendeiner Weise an das Verstreichen der Zeit erinnert hätten: Weder verspürte man Hunger noch Durst, noch musste man schlafen. Haare und Nägel wuchsen nicht, der Körper war keinerlei Alterung unterworfen. Deshalb konnten die Angehörigen der Bruderschaft theoretisch unendlich alt werden. Dass sie es nicht wurden, lag an ihren Ausflügen in Vergangenheit und Gegenwart. Waren sie in eine Zeit eingetaucht, so waren ihre Körper wieder den natürlichen Gesetzmäßigkeiten unterworfen. Seit er im Alter von sechzehn in die Bruderschaft eingetreten war, hatte er insgesamt ungefähr acht Jahre in Vergangenheit und Jetztzeit verbracht, sodass sein Körper der eines Vierundzwanzigjährigen war. Ein angenehmes Alter, wie er fand. Der Körper war beweglich und kraftvoll, die Gesichtszüge waren nicht mehr kindlich, aber dennoch von einer gewissen Weichheit.

Während seiner neuerlichen S-Bahn-Fahrt versuchte er, seine Aufmerksamkeit ganz auf die Wahrnehmung der Zeit zu richten und sich nicht von den Menschen um sich herum ablenken zu lassen. Dies war schwierig, ließen es manche an jedem Benehmen fehlen. Sie unterhielten sich in einer solchen Lautstärke, dass man sie noch am anderen Ende des Zuges hören konnte. Auch der Hund, groß wie ein Kalb, der sich vom Besitzer scheinbar unbeachtet unmittelbar vor James' Füßen niedergelassen hatte und nun auf seine Schuhe sabberte, war seiner Konzentration nicht eben zuträglich. Am Ostkreuz stieg er in die Ringbahn um, in der es ebenso turbulent zuging. Deswegen war es sich nicht sicher, als er nach einer Station eine schwache Erschütterung der Zeit zu verspüren glaubte. Er wollte schnell aussteigen, aber die Türen schlossen sich schon wieder. Da er die Schwingungen einmal aufgefangen hatte, konnte er sie fast bis zur nächsten Station, Sonnenallee, wahrnehmen. Nur langsam wurden sie schwächer.

Er nahm den Zug in Gegenrichtung und stieg am Treptower Park aus. Direkt am Bahnhof begann der namensgebende Park. James folgte den Vibrationen der Zeit, die ihn in den Park hineinführten. Es war fast Mittag und da es ein sonniger Sonntag im September war, pulsierte der Park vor Leben. Überall liefen Grüppchen von Leuten umher oder saßen im Gras. Nicht wenige hatten ein Picknick mitgebracht. Kindergeschrei erfüllte die Luft. Einmal musste er einem Ball ausweichen, der direkt auf ihn zugeflogen kam.

Die Sonne wärmte ihn und er begann zu schwitzen. Er zog seine Jacke aus und setzte sich auf eine Bank, um diese im Rucksack zu verstauen. Plötzlich kam es zu einer wahren Explosion im Gefüge der Zeit. Er blickte sich nach der Quelle um. In seinem näheren Umkreis war niemand. Das Einzige, was er entdecken konnte, war eine leere Decke, auf der ein Buch und eine Tasche lagen. Deren Besitzer war nirgends zu sehen. Wer wäre so dumm, seine Tasche unbeaufsichtigt zurückzulassen? Es war wirklich seltsam. Erst diese Empfindung und jetzt dieser Platz, der in aller Eile verlassen worden war. Da er ohnehin einen Moment verweilen musste, um der Sache auf den Grund zu gehen, konnte er ebenso gut die Sachen bewachen, bis ihr Besitzer zurückkehrte. Als er näher heranging, musste er feststellen, dass es sich wohl eher um eine Besitzerin handelte, eine Damenhandtasche und ein Liebesroman waren klare Indizien. Die Ballerinas sprachen ebenfalls eine eindeutige Sprache.

Wohin deren Eigentümerin verschwunden sein mochte, sie stand wohl nicht im Zusammenhang mit der Erschütterung der Zeit. Frauen verfügten nicht über die Gabe, den Zeitenstrom zu beeinflussen.

Es war kalt, furchtbar kalt. Ihre Füße standen im Schnee, da half die Strumpfhose nicht. Ihr Kleid flatterte im Wind. Es fühlte sich so real an, dabei wusste Marie sicher, dass dies alles nur ein Traum war. Sie war offenbar eingeschlafen, während sie im Treptower Park in der Sonne gelegen hatte. Sie schaute sich um. Um sie herum erstreckte sich eine endlose Schneewüste, scheinbar völlig unberührt. Warum kamen in ihren Träumen niemals Menschen vor, dafür umso mehr unwirtliche Landschaften und wilde Tiere? Zum ersten Mal überhaupt war sie in der Lage, ihren Traum kritisch zu betrachten, noch während sie ihn träumte. Möglicherweise lag es daran, dass sie nicht so fest schlief wie des Nachts. Ihre Neugier gebot ihr diesen Umstand zu nutzen und sich noch eine Weile in dem Traum umzusehen, doch das Gefühl der Kälte war stärker. Welche Kraft eine pure Einbildung haben konnte.

'Marie, wach auf!', sagte sie zu sich selbst. Eine Wiederholung der Worte brachte nicht den erhofften Erfolg. Inzwischen zitterte sie am ganzen Körper. Traum oder nicht, sie musste fort aus dieser eisigen Umgebung.

Es war offenbar jener Gedanke, der sie in die Realität zurückbrachte. Unversehens fand sie sich auf ihrer Decke wieder, noch immer vor Kälte schlotternd. Ein junger Mann saß dicht neben ihr, starrte sie an. Einen Moment lang war sie zu perplex, um etwas zu sagen, dann fuhr sie ihn an. »Was gucken Sie so? Wollten mich wohl beklauen, während ich geschlafen habe. Machen Sie, dass sie fortkommen.«

Die Nachwirkungen des Traumes ließen sie heftiger reagieren als es sonst ihre Art gewesen wäre. Der Mann hob beschwichtigend die Hände. Seine Antwort klang etwas holprig, er hatte einen deutlichen Akzent. »Bitte beruhige dich. Ich habe auf deine Sachen achtgegeben, während du ...«

Er suchte offenbar nach Worten, streckte ihr dann jedoch die Hand entgegen und stellte sich vor: »Mein Name ist James.«

Sein Lächeln hatte etwas Gewinnendes und sie entschied, dass von ihm keine Gefahr ausging. Daher beschloss sie, die Gelegenheit zu nutzen und eine neue Bekanntschaft zu machen. Sie hoffte, dadurch den Alptraum schnellstmöglich zu vergessen. Noch immer kribbelten ihre Füße, ganz so, als würden sie sich langsam erwärmen. Gedankenverloren rieb sie sie, während sie James ihren Namen verriet und ihm anbot, die Unterhaltung auf Englisch fortzuführen.

Bald plauderten sie munter über dies und das, wobei sie sich eines bunten Mixes aus Englisch und Deutsch bedienten. James erzählte, dass er aus London stamme und erst seit diesem Morgen in Berlin sei. Daraufhin überhäufte Marie ihn mit Sightseeing-Tipps. Er hörte geduldig zu, stellte Fragen, zeigte Interesse an Marie. Schon lange hatten sie keinen so aufmerksamen und höflichen Gesprächspartner mehr gehabt. Das nette Lächeln gehörte offenbar einem freundlichen, offenen Menschen.

Normalerweise war Marie kein Mensch, der schnell Freundschaften schloss. Fragte man ihre Bekannten, so beschrieben diese sie eher als schüchterne, zurückhaltende Person. Die wenigen echten Freunde wussten ihre stille, nachdenkliche Art zwar zu würdigen, rieten ihr bisweilen dennoch, mehr aus sich herauszugehen. Marie mühte sich diesbezüglich redlich, konnte zumeist aber nicht aus ihrer Haut. Mit James war es anders, zwischen ihnen stimmte die Chemie. Sie vermochte nicht zu erklären, woran dies lag.

Es war schwer zu glauben, aber er hatte es mit eigenen Augen gesehen. Urplötzlich war das Mädchen aufgetaucht, zitternd und etwas verstört. Und ihr Erscheinen war von einer weiteren Explosion im Gefüge der Zeit begleitet gewesen.

Es bestand kein Zweifel daran, sie war soeben durch die Zeit gereist, offenbar ohne es zu wissen. Obschon sie, aufgeregt wie sie war, etwas zu schnell gesprochen hatte, hatte er etwas von Schlafen verstanden. Hätte sie gewusst, dass sie soeben aus dem Nichts erschienen war, sie hätte sicher anders reagiert. War dies wirklich möglich, unternahm sie unwissentlich Zeitreisen? Er hatte noch nie davon gehört, dass dies einem der Brüder passiert wäre. Aber das bedeutete in diesem speziellen Fall nicht das Geringste. Schließlich war sie eine Frau. Bisher hatten alle angenommen, dass die Gabe des Zeitreisens einzig Männer vorbehalten war. Deshalb hatte der Oberste Bruder sie nicht entdecken können; er hatte nach einem Jungen gesucht, der nicht älter als vierzehn war. Dieses Mädchen war sicher schon über zwanzig Jahre alt. Normalerweise trat die Begabung schon viel früher zutage und war in Form von Unregelmäßigkeiten im Zeitenfluss für die Bruderschaft spürbar.

Auf ihn waren die Brüder aufmerksam geworden, als er vierzehn war. Das war überaus spät gewesen, weshalb Alexander persönlich James' Ausbildung übernommen hatte. Für gewöhnlich waren die Jungen erst zehn oder elf, wenn sie von einem der Brüder in Obhut genommen wurden. Als Sechzehnjährige mussten sie dann zum ersten Mal in den Raum der Nichtzeit reisen. Glückte dies, was eigentlich immer der Fall war – der Oberste schätzte die Stärke der Begabung stets richtig ein –, so wurde man damit automatisch Mitglied der Bruderschaft. Da die Begabten schon in jungen Jahren entdeckt wurden, erhielten sie alle die nötige Unterweisung. Somit hatte noch keiner selbstständig und unwillkürlich die Fähigkeit zum Zeitreisen entwickelt, wie es offensichtlich bei diesem Mädchen der Fall gewesen war. Wie oft sie wohl schon gereist war?

James hatte so viele Fragen an die junge Frau, die, wie er zwischenzeitlich erfahren hatte, Marie hieß und vierundzwanzig Jahre alt war. Zunächst musste er ihr Vertrauen gewinnen. Was er ihr zu sagen gedachte, würde im ersten Moment Angst hervorrufen, gepaart mit dem Verlangen, die Wahrheit zu leugnen. Daher war es gut, wenn eine gewisse Vertrauensbasis bestand. Also gab James sich alle Mühe, die vielen Fragen, die ihn beschäftigen, beiseitezuschieben und sich auf die Plauderei mit Marie zu fokussieren.

Soweit er es beurteilen konnte, funktionierte die Annäherung. Als es Nachmittag wurde, schlug Marie vor, er solle sie in ihre nahegelegene Wohnung begleiten. Sie würde etwas zu essen kochen und sie könnten sich weiter unterhalten. Er wusste nicht, ob eine solche Gastfreundschaft in dieser Zeit und Gegend üblich war, letztendlich war es egal, solange er nur in Maries Nähe bleiben konnte. Der Zeitpunkt für die Offenlegung war noch nicht gekommen. Ferner war er sich unsicher, wie er es anstellen sollte. Vielleicht sollte er diesbezüglich Rücksprache mit seinen Mitbrüdern halten.

Ein Gedankenkontakt zu jenen, die sich im Raum der Nichtzeit aufhielten, war jederzeit problemlos möglich, etwas Konzentration auf den bloßen Wunsch genügte. Die, die im Raum der Nichtzeit weilten, konnten ihn auf gleich Weise kontaktieren. Jetzt, da er daran dachte, wunderte es ihn, dass dies noch nicht geschehen war, wo sie ihn gewiss alle gespannt beobachteten und somit über seine schier unglaubliche Entdeckung im Bilde waren. Möglicherweise wollte der Oberste Bruder testen, wie er mit der Situation umgehen würde, und hatte daher Schweigen angeordnet. Folglich war es angebracht, mit seinem Bericht noch eine Weile zu warten.

Ihre Einladung zum gemeinsamen Essen in ihrer Wohnung war für Marie selbst überraschender gewesen als für James, neigte sie für gewöhnlich mitnichten zu solch Unvorsichtigkeiten. Nun, da James ihr Angebot akzeptiert hatte, konnte sie es nicht mehr zurücknehmen. Sie konnte nur inständig hoffen, dass ihre Menschenkenntnis sie nicht getrogen hatte und James wirklich ein anständiger Kerl war, der sie weder überfallen noch ihre Gutmütigkeit ausnutzen würde. Sie beruhigte sich selbst, indem sie sich sagte, dass sie jederzeit eine ihrer Freundinnen anrufen konnte, wenn sich die Sache in eine seltsame Richtung entwickelte.

James vermittelte den Eindruck, als habe er noch nie ein Küchenmesser in der Hand gehabt. Beim Versuch, die Zucchini klein zu schneiden, hatte er sich schon zwei Mal fast in die Finger geschnitten. Sie konnte sich das nicht länger ansehen und beschloss, den Rest alleine zu erledigen. Mit höflichen Worten komplimentierte sie ihn aus der ohnehin für zwei Leute viel zu engen Küche. Er solle in ihrem Zimmer warten, bis das Essen fertig wäre. Und ja, er dürfe sich ruhig umsehen. Insgeheim hoffte sie, seine Höflichkeit würde ihn von einer allzu gründlichen Inspektion abhalten. Obgleich oberflächlich alles aufgeräumt wirkte, so durfte man auf keinen Fall eine der Schranktüren oder die Schubladen der Kommode öffnen, denn dahinter herrschte das Chaos. Dabei war es keineswegs so, dass Marie keine Ordnung zu halten vermochte, sie hatte einfach bloß zu viele Kleidungsstücke. Dadurch verlor sie immer mal wieder den Überblick über den Inhalt des Schrankes und der Kommode, was dazu führte, dass sie beides von oben bis unten durchkämmte, in dem festen Glauben, irgendwo ein Teil dieser oder jener Art zu haben. Selbst wenn sie jede Woche von Neuem begonnen hätte, alles wieder ordentlich zu falten und zu sortieren, es wäre ein Kampf gegen Windmühlen gewesen, unversehens stellte sich die Unordnung wieder ein.

Während das Gemüse in der Pfanne brutzelte, warf sie daher einen etwas ängstlichen Blick in ihr Zimmer. Zu ihrer Erleichterung inspizierte James den Inhalt ihres offenen Bücherregals und dort war alles in bester Ordnung. Zwar verfügte sie nicht über eine Sammlung der sogenannten Klassiker, aber anspruchsvolle Literatur, Fachbücher und leichte Unterhaltung hielten sich die Waage. Hätte sie mehr Platz für Lesestoff gehabt, das Verhältnis wäre ein anderes gewesen, doch so war sie gezwungen, jene Romane, die sie ob ihrer mangelnden Komplexität ohnehin nur ein Mal lesen würde, schnell wieder auszusortieren. Glücklicherweise bot das Internet Möglichkeiten, gebrauchte Bücher, wenn auch für einen geringen Preis, ohne großen Aufwand wieder zu verkaufen. Nie hätte Marie es übers Herz gebracht, ein Buch wegzuschmeißen, mochte es wirklich schlecht sein. Dem Internet sei dank stand nur wirklich Lesenswertes, fein säuberlich nach Themen unterteilt und Autoren sortiert, in ihrem deckenhohen Regal. Ein halber Meter war noch frei, dann würde sie wieder aussortieren müssen.

James hatte ihre Anwesenheit nicht wahrgenommen, so vertieft war er in seine Lektüre. Aus ihrem Blickwinkel konnte sie nicht erkennen, welches Buch seine Aufmerksamkeit dermaßen gefangen nahm. Der Lücke nach, die auf dem Regalbrett entstanden war, musste es sich um einen Fantasyroman handeln. Sie war keine eingefleischte Leserin dieses Genres, las nur, was ihr von Freunden empfohlen wurde, oder was dem Klappentext nach eine interessante Figurenkonstellation aufwies. Sie bevorzugte im Allgemeinen Charaktergeschichten mit einem mehr oder minder starken Einschlag ins Romantische. Um ihr wirklich zu gefallen durften selbst Liebesromane nicht allzu flach daherkommen.

Sie ging zurück in die Küche, rührte in der Gemüsepfanne und setzte Wasser für den Couscous auf. Noch zehn Minuten, dann wäre alles fertig. Sollte sie versuchen, ihren Schreibtisch zu einem provisorischen Esstisch zu machen? Nein, sie hatte nur einen Stuhl. Wie ihre Freundinnen würde James sein Essen auf dem Fußboden oder Bett sitzend einnehmen müssen. Sie stellte Teller und Besteck bereit und dachte endlich daran, ihrem Gast etwas zu Trinken anzubieten. Wie als wolle er das Klischee des Engländers bedienen, bat er um Tee, eine Bitte, die sie ihm nur allzu gerne erfüllte. Alternativ hätte sie ohnehin nur Kaffee, Milch oder Leitungswasser anzubieten gehabt. Es war ihr meist zu mühsam, Getränke jedweder Art in den vierten Stock des Miethauses zu schleppen, nur selten gönnte sie sich den Luxus von Saft oder Softdrinks. Milch bildete die einzige Ausnahme, war mehr Nahrungsmittel denn Getränk und für ihr Frühstücksmüsli unerlässlich. Und so brühte sie eine Kanne Pfefferminztee.

Das Essen war gerade fertig, als James wieder in der Küche erschien. Bereitwillig half er ihr, die gefüllten Teller und den Tee ins Zimmer zu tragen, stand dann etwas ratlos mit vollen Händen da, wusste nicht, wo er seine Fracht abstellen sollte. Sie nahm ihm die Tassen ab, stellte sie auf den Rand des Schreibtischs. Ihr Teller fand kurzerhand auf dem Papierstapel daneben Platz, während sie die Tassen füllte. Dann nahm sie den Teller wieder auf und setzte sich aufs Bett, nicht ordentlich auf die Bettkante, sondern mitten auf die Matratze. Mit einer Handbewegung lud sie James ein, es ihr gleichzutun, doch sein Zögern war unübersehbar. Etwas steif ließ er sich schließlich auf dem Schreibtischstuhl nieder, bemüht, auf dem Schreibtisch noch einen Platz für seinen Teller zu finden. Er musste jedoch einsehen, es war ein aussichtsloses Unterfangen. Die beiden Teetassen und die Kanne belegten den Platz, der auf dem kleinen Tisch – er war kleiner als ein A2-Blatt – neben Laptop und einem Stoß Papier noch verblieben war. Ihm blieb also nichts anders übrig, als den Teller weiter in der Hand zu halten. An ein Essen mit Messer und Gabel war daher nicht zu denken. Sie hatte ihm in weiser Voraussicht ohnehin nur eine Gabel gegeben. Sie aßen schweigend, James mit leicht gerunzelter Stirn, ob es am Essen oder der Art der Einnahme lag, konnte Marie nicht sagen. Die Stille wurde ihr langsam unangenehm. Sie brachte die leeren Teller in die Küche und stellte sie in die Spüle. Mit einer Tafel Schokolade kehrte sie ins Zimmer zurück. James saß noch immer auf der Kante des Schreibtischstuhls, seine Körperspannung hatte sogar noch zugenommen. Seine Teetasse hielt er fest umklammert. Wie ein Raubtier vor dem Sprung, dachte sie kurz, korrigierte sich sogleich, eher wie ein schockstarrer Hase beim Anblick der Schlange.

»Was ist los? Hat dir das Essen nicht geschmeckt?« Sie hatte die Frage auf Deutsch gestellt, vermeinte daher, das Ausbleiben der Antwort läge an fehlendem Verständnis. Gerade als sie es mit Englisch probieren wollte, schüttelte er den Kopf.

»Das Essen war gut. Danke dafür. Ich habe lange nicht mehr gegessen.«

»Ich kenne das. Wenn ich auf Reisen bin, vergesse ich vor Aufregung manchmal das Essen.«

»Es ist nicht die Reise«, begann er. Und was sie dann über seine Herkunft erfuhr, ließ sie abwechselnd vor Staunen die Luft anhalten und vor Unglaube den Kopf schütteln. Zeitreisen, das war einfach unmöglich, genauso absurd wie die Behauptung, der junge Mann, der hier in ihrem Zimmer saß, sei im Jahr 1899 geboren. Obgleich James' Miene größte Ernsthaftigkeit spiegelte, sobald sie zu erkennen gäbe, dass sie ihm glaubte, würde er zu lachen beginnen und von selbigem geschüttelt vom Stuhl fallen.

»Du glaubst mir nicht«, bemerkte er nicht ohne Bedauern in der Stimme.

»Es tut mir leid, ich kann nicht.«

»Please, Marie, believe me!« Ein Flehen war in seine Stimme getreten. Jetzt, da er sich seiner Muttersprache bediente, war die Aufrichtigkeit hör- und spürbar. Er glaubte an das, was er ihr erzählt hatte. War er verrückt, hatte er Wahnvorstellungen? Sie konnte es sich nicht vorstellen. Er machte einen klaren und psychisch stabilen Eindruck, auch jetzt.

Sie war hin- und hergerissen. Sollte sie sich auf ihr Gefühl verlassen und seinen Worten Glauben schenken, oder sollte sie ihrem Verstand den Vorrang geben, der immer wieder schrie, dass dies alles nur eine Lüge sein konnte.

Er sah ihre übermächtigen Zweifel, konnte sie nachfühlen. Als wäre es gestern gewesen, stiegen die Erinnerungen an den Tag in ihm auf, an dem Alexander ihm die Wahrheit enthüllt hatte. Er war damals ein Knabe von fünfzehn Jahren gewesen. In diesem Alter ist man seinem kindlichen Wesen und dessen Fähigkeit zum Staunen noch nah genug, um schier Unglaublichem einen Platz im Leben zuzugestehen. Auch hatte er Alexander damals schon einige Monate gekannt, hatte Vertrauen zu seinem Lehrer aufbauen können. Und dennoch hatte er lange gebraucht, bis er die Wahrheit hatte akzeptieren können.

Wie viel schwerer musste es für Marie sein. Ein fast vollkommen Fremder stellte ihre schon gefestigte Trennung zwischen Realität und Fiktion nicht nur infrage, sondern sagte ihr, diese sei schlichtweg falsch. Wer wäre unter diesen Umständen nicht verwirrt? Dabei hatte er ihr bisher nur einen winzigen Teil des Ganzen offengelegt. Bisher wusste sie lediglich, dass er ein Zeitreisender war und dass es noch andere wie ihn gab. Mit keinem Wort hatte er erwähnt, dass sie über die gleiche Befähigung verfügte wie er, sie sogar schon unbewusst eingesetzt hatte. Angesichts der Fassungslosigkeit, die noch immer die ebenmäßigen Züge ihres Gesichtes verzerrte, war er froh, nicht gleich mit der Tür ins Haus gefallen zu sein.

»Brauchst du Zeit, um darüber nachzudenken? Soll ich später wiederkommen?«

»Wiederkommen? Du kannst dahin gehen, wo der Pfeffer wächst.«

Er verstand nicht, was sie ihm mit diesen Worten sagen wollte. Es war wohl so etwas wie ein Sprichwort. Er wagte jedoch nicht nachzufragen, wollte ihre Aufregung nicht noch steigern. Ihre nächsten Worte klang fast hysterisch, die Stimme drohte zu kippen: »Gib endlich zu, dass dies ein schlechter Scherz ist. Tell me, that it's a joke. It has to be one.«

Obwohl ihre Tonlage etwas anderes vermuten ließ, sie begann, es zu akzeptieren. Sein ruhiges Beharren auf die Wahrheit hatte ihr kaum eine andere Wahl gelassen. Die Erkenntnis, dass jedes seiner Worte wahrhaftig war, hatte offenbar Eingang in ihren Geist gefunden. Es war ihr Verstand, der sich noch immer dagegen wehrte. Ihm entsprang ihre englische Bitte nach der Negierung des Gesagten.

Und wirklich, einige Atemzüge später hatte sie sich kraftlos auf das Bett fallen lassen, bereit, die Tatsachen anzuerkennen. Er gab ihr etwas Zeit, sich zu sammeln, bevor er behutsam begann, ihr mehr über das Reisen durch die Zeit und die Bruderschaft zu erzählen.

4

Raum der Nichtzeit

Alexander hatte die Geschehnisse im Berlin der Gegenwart aufmerksam verfolgt. Als es James so schnell gelang, den Urheber des Zeitenflimmerns zu finden, war er stolz auf seinen Schützling gewesen.

Dieses Gefühl wurde schnell verdrängt durch die zahlreichen Fragen, die die Entdeckung dieser Frau mit sich brachte. Noch nie in der Geschichte hatte es eine Frau gegeben, die über die Befähigung zum Zeitreisen verfügte. Es war einfach ungeheuerlich. Wiewohl