Ein echter Traumtyp - Anja Buchmann - E-Book

Ein echter Traumtyp E-Book

Anja Buchmann

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Beschreibung

Die schüchterne 15-jährige Aurora ist verwirrt, als sich der Neue aus der Parallelklasse ausgerechnet für sie interessiert. Wie soll sie mit dieser Aufmerksamkeit umgehen? Und was hat es mit der Vertrautheit auf sich, die sie vom ersten Moment an Ciaran gegenüber verspürt? Während Ciaran zarte Bande zu ihr knüpft, droht sein Geheimnis sie sogleich wieder zu zerreißen. Eine Geschichte über Träume, Vertrauen und eine außergewöhnliche Liebe für LeserInnen ab 12 Jahre.

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Ein echter Traumtyp

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Ein echter Traumtyp

Romantic Fantasy von Anja Buchmann

1

Montag

»Kann ich mal bitte! He, lasst mich durch!« Als der Pulk der Schüler nicht reagierte, nahm Helene die Arme zur Hilfe und drängelte sich durch die Menge. Aurora beeilte sich, der schwarzgewandeten Gestalt der Freundin zu folgen. Dabei hätte sie zu gerne gewusst, was den Auflauf im Schulflur verursacht hatte. Als sie einige Mädchen aus ihrer Klasse in der Meute entdeckte, legte sie ihre Neugierde sofort in Ketten. So spannend war es sicher nicht. Sie zog den Kopf ein und eilte in Richtung Klassenzimmer. Aurora war stets darauf bedacht, als Erste den Raum zu betreten. Sie hasste es, wenn sie eintrat und dabei angestarrt wurde. Heute war ihr das besonders wichtig, denn nach den Ferien empfand sie das erneute Aufeinandertreffen mit alten Feinden und all jenen, denen sie bestenfalls egal war, als besonders belastend. Die Erholung der Sommerferien wäre sofort verpufft, sobald die erste dumme Bemerkung in ihre Richtung flöge. Als sie neben Helene in der Bank saß, fühlte sie sich gleich viel wohler. Sie gestattete sich, in den Erinnerungen an die wundervollen sechs Sommerwochen zu schwelgen. Vier davon hatte sie bei ihren Großeltern im Mecklenburgischen verbracht. Obgleich das Dorf, in dem die Eltern ihres Vaters lebten, noch weniger zu bieten hatte als die heimatliche Kleinstadt, genoss sie Besuche dort stets in vollen Zügen. Keine nervigen Brüder, keine Eltern, keine Schule, nur Bücher, Ruhe und Omas gute Küche. Herrlich. Wobei die Woche Mallorca mit ihren Eltern zu Ferienbeginn auch schön gewesen war, lediglich ein bisschen heiß für ihren Geschmack.

»Hast du gesehen, was da los war?« Helene riss sie aus ihren Gedanken.

»Nein. Ist auch egal.« Die versammelten Schülerinnen – Schüler waren, soweit ich es gesehen habe, keine darunter – waren zu ruhig gewesen, als dass sie sich um ein neues Lästeropfer geschart haben könnten. Bestimmt trägt eines der Mädels einen ultrakurzen Rock oder eine neue teure Handtasche. Aurora hatte nie verstanden, warum solchen Banalitäten irgendeine Bedeutung zukam. Wahrscheinlich war dies mit ein Grund für ihre Beliebtheit.

Eindeutig zu viel Aufmerksamkeit. Warum nur hatte die Co‑Rektorin ausgerechnet diese schwatzhafte Göre Lydia – oder hieß die Blonde mit dem D-Körbchen Lisa? – mit der Schulführung betraut? Ciaran hätte sich lieber in Ruhe umgesehen, statt gleich mit der gesamten Clique seiner zukünftigen Klassenkameradin konfrontiert zu werden. Er zwang sich zu einem Lächeln und dazu, jedes der Mädchen zu betrachten. Keine von ihnen war es wert, dass er sich ihren Namen merkte. Ciaran verspürte eine gewisse Enttäuschung. Dabei war es dafür noch viel zu früh. Geduld gehörte nicht zu seinen hervorstechenden Eigenschaften. Und was die Sache betraf, die ihn hierher geführt hatte, so war sie für ihn von solch enormer Wichtigkeit, dass ihm die Nerven zum Abwarten gänzlich abgingen. Das Wort überlebenswichtig war ihm im Zusammenhang mit dieser Angelegenheit ebenso in den Sinn gekommen wie Besessenheit.

Lydia zupfte am Ärmel seiner Lederjacke. »Wir müssen in die Klasse.« Schon zog sie ihn hinter sich her. Ciaran gelang es erst kurz vor dem Klassenzimmer, ihre lackierten Nägel aus dem knautschigen Material zu lösen. Wenn diese dumme Kuh mein Lieblingskleidungsstück ruiniert hat …

Neben ihm plapperte Lydia munter auf ihn ein. Er hörte nicht zu, ignorierte den Hofstaat der offenbar unumschränkten Königin der zehnten Klassen, welcher ihnen noch immer folgte. »Nach den Ferien gibt es keinen festen Sitzplan. Du könntest dich also neben mich setzen.« Lydia klimperte mit den übermäßig getuschten Wimpern, die an Fliegenbeine erinnerten.

Jetzt sah er sich zu einer Antwort genötigt. »Danke, ich sitze lieber alleine.«

Ein verächtliches Schnauben folgte ihm auf seinem Weg in die letzte Reihe. Er ließ seinen Rucksack auf den Nachbarstuhl fallen.

Eine hagere Frau um die vierzig betrat den Raum und mit dem Stundenklingeln ebbte der Lärm allmählich ab.

»Wie ich höre, haben wir einen neuen Schüler.« Die Stimme der Lehrkraft war melodiös und wohlklingend. Ciaran wusste so etwas sehr zu schätzen. Er liebte Dinge, die schön und harmonisch waren. Und jene, die nur abstoßend und totales Chaos waren, nicht minder. Nichts war öder als nichtssagende Mittelmäßigkeit. Wobei es gerade die unaufgeregte Durchschnittlichkeit war, um die Ciaran bisweilen rang. Allerdings nur im Bezug auf sein gesellschaftliches Leben, nicht in seinem wirklichen.

Die bebrillten Augen der Lehrkraft schweiften durch den Raum, blieben an ihm hängen. »Du musst Ciaran sein. Ich bin Frau Dorn, deine Klassenlehrerin. Möchtest du nicht nach vorne kommen und dich kurz vorstellen?«

Mochte er nicht, aber das war nicht von Belang. Er erhob sich von seinem Stuhl und ging in Richtung Tafel, sich der ihm folgenden Blicke bewusst. Als er zu sprechen begann, zwang er sich, in die Klasse und nicht auf die Spitzen seiner schwarzen Sneaker zu schauen. Der grüngraue Plastikboden, der trotz des dezenten Geruchs von Scheuermittel, der von ihm aufstieg, nicht sauber wirkte, machte ihm das Aufschauen leichter. »Mein Name ist Ciaran. Ich bin im Sommer hierher gezogen.« Er war mitnichten schüchtern, doch solche Situationen hasste er wie die Pest. Er hatte das zu oft durchmachen müssen. Ständig war er »der Neue«. He, vielleicht sollte ich meinen Namen entsprechend ändern. Bei dem Gedanken musste er kurz lächeln.

Alle schauten ihn an. Einen Augenblick war es still, bevor Frau Dorn der allgemeinen Erwartung, das möge noch nicht alles gewesen sein, Ausdruck verlieh. »Wo hast du davor gelebt? Vielleicht kannst du uns ein bisschen was über deine Familie erzählen. Hast du Geschwister?«

»Nein.« Die Antwort bezog sich nicht auf seine Geschwister, sondern vielmehr auf seinen Unwillen, weiter über sein Leben zu berichten. »Vorher habe ich lange im Ausland gelebt«, rang er sich einen weiteren Satz ab. Er sah Interesse in den Augen seiner Mitschüler aufflackern. Mist, das war eindeutig die falsche Antwort. Sie zöge nur noch mehr Fragen nach sich.

Er war Frau Dorn dankbar, als sie ihn erlöste. »Danke Ciaran, du kannst dich wieder setzen. Herzlich willkommen in der 10 b. Ich hoffe, du lebst dich hier schnell ein. Sollte es irgendwelche Probleme geben, kannst du jederzeit zu mir kommen.«

»Danke, ich werde es mir merken«, erwiderte er auf das nette Angebot einer anscheinend wohlmeinenden Person, auf das er nicht zurückkäme. Bei den Sorgen, die ihn umtrieben, war eine Außenstehende definitiv die falsche Ansprechpartnerin. Aber das konnte sie nicht wissen. Für Frau Dorn war er nur ein normaler Fünfzehnjähriger. Ciaran würde alles daran setzen, dass diese Illusion Bestand hatte. Er erwiderte ihr aufmunterndes Lächeln, bevor er sich erleichtert auf seinen Platz fallen ließ. Zumindest für den Rest der Schulstunde hätte er seine Ruhe.

2

Vollkommene Dunkelheit umschloss sie. Einen ruhigen Atemzug später lichtete sich die Schwärze. Sie trat hinaus in einen Garten. Überbordendes Grün hieß sie willkommen. Äste mit zartgrünen Blattspitzen beugten sich zu ihr hinab, strichen durch das lange blonde Haar, welches wie ein seidener Wasserfall über ihren Rücken und ihre Schultern floss. Die Luft war angefüllt mit dem Gesang zahlloser Vögel und dem Wispern der Pflanzen im lauen Wind. Ein himmlischer Ort, wie geschaffen, um Kraft zu sammeln für neue Kämpfe. Sie löste den Waffengurt, welcher um ihre Hüften geschlungen war.

Die Sonne wärmte das schwarze Leder ihres hautengen Kampfanzugs. Sie setzte sich in das weiche Gras, zog die klobigen Stiefel aus, öffnete die obersten Knöpfe ihres Oberteils, damit die Sonnenstrahlen nicht nur die nackten Arme, sondern ebenso das ansehnliche Dekolleté streicheln konnten. Dann streckte sie sich aus, schloss ihre von dramatisch langen Wimpern umrahmten Augen. Bunte Lichter tanzten hinter ihren Lidern, während ihr Atem ruhig und gleichmäßig ein- und ausströmte. Ihre Gedanken wanderten zurück zu den prunkvollen Kuppeln und Türmen von Königsburg, die im Schein der aufgehenden Sonne glänzten. Sie hatte ihnen nur kurz ihre Aufmerksamkeit geschenkt, war im Geiste schon bei ihrem bevorstehenden Besuch bei Hofe gewesen. Nichtsdestotrotz hatte sich das Bild eingebrannt, ließ sie Ehrfurcht empfinden vor den Erbauern dieser großartigen Gebäude. Ohnehin schien ihr alles in der Stadt der Könige von so erlesener Schönheit, dass sie sich deplatziert vorkam. Die Menschen, die durch die breiten, sauberen Pflasterstraßen flanierten, waren sämtlich schön und groß, die bunten Gewänder schwangen bei jeder eleganten Bewegung. Und erst die Prinzessin. Das elfengleiche Wesen hatte sie regelrecht geblendet und das nicht nur wegen der Edelsteine, die zu Hunderten auf das elfenbeinfarbene Kleid aufgenäht waren. Der Anblick hatte ihr nicht nur die Sprache, sondern fast den Atem verschlagen. Als sie wieder halbwegs klar denken konnte, war die Verleihungszeremonie vorbei und die Prinzessin schwebte aus dem Saal.

Ihre Hand tastete nach dem Orden, der vom engen Leder an die zarte Haut ihres Busens gedrückt wurde. Die seidene Schnur war so fein, dass sie nicht zu spüren war. Es war nur ein Stück Metall, wahrscheinlich nicht einmal genug wert, um eines der einfachsten Kleider zu erstehen, die sie in der Königsstadt gesehen hatte. Dennoch bedeutete es ihr etwas. Endlich eine Anerkennung für die vielen Kämpfe, die sie ausgefochten, für die vielen Monster, die sie erschlagen hatte. Nun durfte sie sich Heldin des Reiches nennen, war zur Bürgerin von Königsburg ernannt worden. Sie als einer dieser schönen, perfekten Menschen …

Ein Kitzeln im Gesicht weckte sie. Ein Schatten lag auf ihr. Mit geschlossenen Augen streckte sie den rechten Arm aus, tastete nach ihrem Waffengurt, packte den Schwertgriff, zog daran. Die Waffe rührte sich nicht, steckte fest. Der Schreckensmoment fand durch ein wohltönendes Lachen ein rasches Ende.

Lächelnd öffnete sie die Augen. Schön wie immer stand ER da, die Sandale auf der Schneide ihres Schwertes.

»Du sollst dich nicht anschleichen!«

»Ich habe mich nicht angeschlichen. Du hast tief und fest geschlafen«, erwiderte er auf ihren Tadel.

Er gab ihr Schwert frei und sie führte einen halbherzigen Schwung in Richtung seines nackten Beines aus. Sie hätte ihn nicht getroffen, selbst wenn er nicht flink und kraftvoll nach hinten gesprungen wäre. »Zu langsam«, feixte er.

Sie nahm es ihm nicht übel. Ganz im Gegenteil. Diese Neckereien gehörten dazu, waren Teil der Dynamik ihrer Beziehung. Wobei sie sich schwer damit tat, die Natur dieser Beziehung zu beschreiben. ER war da, wo sie war – nicht immer, aber oft genug –, stand ihr in schwierigen Situationen bei, kämpfte an ihrer Seite. Er hatte ihr diesen Garten gezeigt mit den Worten, dass sie ihn hier immer fände. Oft saßen sie unter einem der Bäume und redeten. Bisweilen sagte er ihr, dass sie schön sei. Wenn er ihre Hand hielt, breitete sich ein flaues Gefühl in ihrem Magen aus. Selbstverständlich gäbe sie das nie zu, doch sie hatte sich in ihn verliebt. Und manchmal glaubte sie, im Blick seiner zumeist blauen Augen – als sie ihn fragte, welche Farbe seine Iriden hätten, hatte er »Regenbogen« geantwortet – etwas aufblitzen zu sehen, was diesbezüglich Hoffnungen weckte.

Er hatte sich neben sie ins Gras fallen lassen. »Und, wo kommst du her?«

»Königsburg.«

»Welchen Drachen gab es da wieder zu erschlagen?«

Sie verdrehte die Augen. Er wusste genau, dass es in der Hauptstadt keine Ungeheuer gab. »Die Prinzessin wollte mich sehen«, sagte sie mit einer wegwerfenden Handbewegung. Insgeheim wusste sie, dass es ihr schon etwas bedeutete, dass ihre Heldentaten Beachtung fanden.

Er lächelte wissend. Manchmal hatte sie das Gefühl, er kenne sie ebenso gut oder gar besser als sie sich selbst. »Erzähl mir davon. Und von Königsburg. Ich war noch nie dort.«

»Dann begleite mich das nächste Mal.«

»Vielleicht. Jetzt beschreib es mir.« Sein Ton hatte fast etwas Drängendes. Er strich ihr eine Haarsträhne aus dem Gesicht, was tief in ihr etwas zum Klingen brachte. Sie brauchte einen Augenblick, um sich zu sammeln, dann kam sie seiner Bitte nach.

3

2 Tage später, Mittwoch

Das allgegenwärtige Summen und die Aufregung, welche die Stimmung nach den Ferien prägte, war am Abflauen. Allmählich gingen die Dinge wieder ihren gewohnten Gang. Aurora hatte es geschafft, im Hintergrund zu bleiben und so Zusammenstöße mit den Beliebten und all jenen, die es gerne sein wollten, zu vermeiden. Sie erlag diesbezüglich jedoch keinen Illusionen: Früher oder später fiele Veronika oder einem der anderen Mädchen ein, dass es Aurora gab und dass man wunderbar auf der kleinen Streberin herumhacken konnte. Mal war es ihr geflochtener Zopf, mit dem sie ihr welliges, mittelbraunes Haar einigermaßen in Form brachte, dann wieder ihre Kleidung, die sie zur Zielscheibe machte. So ging es seit der fünften Klasse. Aurora hatte längst aufgegeben, sich dagegen zu wehren. Wobei, tatsächlich Kontra hatte sie den Mobberinnen nie gegeben. Ihr Weg war der verzweifelte Versuch der Anpassung gewesen. Die Experimente mit Schminke und Markenklamotten waren dabei ebenso grandios gescheitert wie ihr geheucheltes Interesse an Klatsch, Tratsch und angesagten Filmen und Serien. Übrig geblieben war nur die Begeisterung fürs Kino.

Es klingelte zur großen Pause. Noch zwanzig Minuten Gnadenfrist, dann nähme das Desaster seinen Lauf: Sportunterricht. Ob ich irgendeine Krankheit erfinden kann? Nein, ich bin eine miserable Lügnerin.

Helene lief neben ihr die Treppe hinunter. »Hast du den Neuen aus der b schon gesehen?«

Aurora schüttelte den Kopf.

»Die anderen Mädchen machen ein ziemliches Aufheben um ihn. Angeblich sieht er verdammt gut aus. Veronika hat damit angegeben, dass sie ein Date mit ihm hat. Beim Sport sehen wir ihn vielleicht.«

Aurora zuckte mit den Achseln. Es gab kaum etwas, was sie weniger interessiert hätte als der Tratsch um einen neuen Schüler aus der Parallelklasse. Selbst wenn die Mädchen seinetwegen reihenweise in Ohnmacht fielen.

»Willst du mein Schinkenbrot?«, fragte Helene.

»Nein, danke. Vielleicht nach dem Sport.« Aurora war ohnehin schon übel genug. Sie steuerte auf eine ruhige Ecke des Schulhofs zu, bemüht, dabei keinem anderen Schüler in die Quere zu kommen.

Viel zu rasch verging die Pause und das Klingeln mahnte zum Aufbruch in Richtung Turnhalle.

Die Umkleide roch nach Schweiß und – mindestens genauso eklig – einer Mischung der angesagtesten Deodorants. Während die Mehrzahl der Mädchen in knappe Shorts und enge Tops schlüpfte, zog Aurora eine Jogginghose und ein T-Shirt an. Die Sportschuhe hatten schon bessere Tage gesehen. Vielleicht hätte sie das Angebot ihrer Mutter, in den Ferien mit ihr shoppen zu gehen, annehmen sollen. Allerdings hätten Schuhe für ihr Hassfach wahrscheinlich nicht auf der Liste gestanden.

Helene zupfte an Auroras Shirt. »Wir müssen runter! Frau Müller lässt jeden, der zu spät kommt, eine Extrarunde laufen.«

Daran brauchte die Freundin sie nicht erinnern. Sie schnürte ihre Schuhe und lief mit dem Pulk der anderen Mädchen die Treppe hinunter. Jemand rempelte sie an. Eine Verwünschung kam ihr in den Sinn, hätte fast ihre Lippen verlassen. Dann schaute sie zur Seite. Diese Augen. Blau und doch nicht. Eine Haarsträhne, blond, ein Stückchen Sonne.

Sie fiel.

Aurora hatte eine Stufe verpasst. Panisch griff sie nach dem Handlauf. Jemand packte ihre andere Hand. Mit wackligen Knien kam sie zum Stehen.

»Alles okay?« Die Stimme zu den Augen war irritierend.

Sie nickte, wich dem Blick des Jungen aus. In ihren Ohren rauschte es. Ihr Herz wummerte. Angst. Aufregung. Ich muss hier weg!

Sie entriss ihm ihre Hand, rannte die letzten Stufen der Treppe hinab, die sich inzwischen geleert hatte.

Ein Pfiff ertönte. Gerade noch rechtzeitig hatte sie sich auf die Bank neben Helene fallen lassen.

Die Köpfe der Mädchen drehten sich zur Tür. Die Blicke galten nicht der Sportlehrerin, sondern dem Jungen, der eintrat. Aus dem Tuscheln konnte sie einen Namen heraushören: Ciaran.

Auroras Herz begann erneut zu rasen. Was ist das nur? Reiß dich zusammen, Aurora! Du schwärmst nie, niemals für einen Jungen!

Sie zwang sich, den Blick abzuwenden. Frau Müller pfiff ein weiteres Mal. »Warmlaufen, jetzt!«

»So gut sieht der Neue jetzt auch wieder nicht aus«, raunte Helene, welche neben Aurora in einen leichten Trab gefallen war. »Oder?«

Als eine Antwort ausblieb, fügte sie hinzu: »Mein Geschmack ist er jedenfalls nicht.«

Das kann ich mir vorstellen. Für dich dürfen die Typen gerne etwas dunkler sein. Aurora verstand Helenes Faszination für den Gothikstil nicht, störte sich aber nicht an der schwarzen Kleidung, den Nieten und dem rabenschwarz gefärbten Schopf. Sie kannte den Sonnenschein, der unter dieser Schale steckte.

Er hätte wesentlich schneller laufen können, doch er hielt sich bewusst hinter den beiden Mädchen, die nicht allzu viel Eifer beim Einlaufen zeigten. Ist sie diejenige, welche? Kann das sein? Die braunen Haare, spindeldürr, keine nennenswerten Kurven. Nichtsdestotrotz war da dieses Prickeln, der Moment des Erkennens. Irgendwie habe ich mir das alles leichter vorgestellt. Bin ich hier wirklich am richtigen Ort? Wie oft habe ich mir diese Frage in den letzten drei Tagen schon gestellt?

Ciaran erhöhte das Tempo, lief an dem Mädchen vorbei, versuchte, ihr dabei ins Gesicht zu schauen. Durchschnittlich, aber in den Augen glaubte er das gewisse Feuer zu sehen, welches ihm beim Zusammenstoß auf der Treppe schon aufgefallen war. Ein kleines Stückchen Hoffnung, vielleicht sogar Sicherheit hielt Einzug in sein Herz.

Die Sportlehrer beendeten das Einlaufen und trennten Jungen und Mädchen für den Rest der Stunde. Nur selten gelang ihm ein Blick auf das noch namenlose Mädchen.

4

»Ciaran, ich rede mit dir!«

»Entschuldige, ich war in Gedanken.« Er bemerkte, dass er die Nudelportion auf seinem Teller noch nicht einmal angerührt hatte. Dabei hatte Mel sogar seine Lieblingssoße – Tomaten mit Oliven – gekocht oder vielmehr das entsprechende Glas geöffnet. Wenn es sich vermeiden ließ, verwendete sie nicht viel Zeit auf die Zubereitung von Mahlzeiten. Dabei war sie eine gute Köchin, wie er von den wenigen Feiertagsmenüs, die sie ihm zuliebe zubereitet hatte, wusste. Hastig nahm er eine Gabel voll in den Mund.

»Sag bloß.« Mels perlendes Lachen währte nur kurz. »Wie heißt sie?«

Er öffnete den Mund, nur um augenblicklich die Lippen fest aufeinanderzupressen.

Beinahe hätte sie mich gehabt, fast wäre mir Auroras Name herausgerutscht. Es wäre nicht weiter schlimm, aber die Genugtuung will ich ihr nicht verschaffen. Es reicht, dass sie mir mein Befinden an der Nasenspitze ansehen kann – konnte sie schon immer. Glücklicherweise ist sie die Einzige mit diesem Talent.

»Ich weiß nicht, was du meinst«, erwiderte er und konzentrierte sich auf seinen Löffel.

»Sag Bescheid, bevor es ernst wird. Es gibt da ein paar Dinge, die du wissen musst.«

»Was für Dinge? Du willst mich jetzt hoffentlich nicht aufklären.« Der Gedanke ließ ihn unruhig auf seinem Stuhl herumrutschen.

»Also doch! Ein Mädchen!« Ein selbstzufriedenes Grinsen huschte über ihre Züge, wurde jedoch von schlecht verhüllter Sorge verdrängt. Ciaran nahm die kleinen Fältchen auf der Stirn wahr. »Selbstverständlich muss ich dich nicht mehr aufklären. Ist es eine deiner Klassenkameradinnen?«

»Nein.« Ciaran verschränkte die Arme vor der Brust. »Was wolltest du mir erzählen?«

Sie schüttelte den Kopf. »Vergiss es. Ich habe es mir anders überlegt. Du bist zu jung. Ich sollte dich nicht mit solchen Sachen belasten. Versprich mir nur, dass du dich an die Maxime hältst. Du weißt, wovon ich rede.«

»Ich weiß: Keine Vermischung von Traum und Realität.«

»Das gilt besonders in Herzensangelegenheiten. Wenn du dich nicht danach richtest, schwebst du in großer Gefahr.«

Ciaran richtete sich auf und sah sie an. »Was für eine Gefahr?«

»Das musst du nicht wissen. Halte dich einfach dran.« Ein untypischer Hauch von Schärfe hatte sich in Mels Stimme geschlichen.

»Warum?«

»Weil ich es dir sage!« Sie blickte ihn ernst an.

Das war Mels Totschlagargument. Er wusste, es war zwecklos, ihr weitere Informationen entlocken zu wollen. Früher oder später verriete sie es ihm ohnehin. Ihrem Blick nach schien es von großer Wichtigkeit zu sein. Im Augenblick gab es genug, was ihm im Kopf herumging. Seit er Aurora gesehen hatte, schwankte er permanent zwischen der absoluten Sicherheit, dass sie die Eine war, und den Zweifeln, die ihr Aussehen geweckt hatte. Sie war so anders, als er sie sich vorgestellt hatte.

Ich muss herausfinden, welches dieser Gefühle echt ist. Danach kann ich mich um Mels Andeutungen kümmern. So wichtig wird es schon nicht sein. Immerhin denkt sie, ich hätte mich in eine meiner Klassenkameradinnen verknallt. Als ob ich ein normaler Teenager wäre. Sie schaut mich immer noch so an. Es ist besser, wenn ich das Thema wechsele.

»Wie ist die Jobsuche gelaufen?«