Wanderlust mit Mister Parkinson - Pamela Spitz - E-Book
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Wanderlust mit Mister Parkinson E-Book

Pamela Spitz

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Beschreibung

»Ich habe nichts mehr zu verlieren und bin heute ein glücklicherer Mensch.« Wie umgehen mit der Nachricht, dass das eigene Leben kürzer sein wird als gedacht? Ehrlich und humorvoll erzählt die Fotojournalistin, Globetrotterin und Wanderliebhaberin Pamela Spitz von ihrem Leben mit Parkinson, nimmt uns mit auf ihre zahlreichen Reisen rund um den Globus – und steckt uns an mit ihrem Optimismus und ihrer Lebensfreude. Pamela Spitz ist Anfang Vierzig und gerade glücklich geschieden, als sie erfährt, dass sie Morbus Parkinson hat, eine unheilbare, langsam fortschreitende neurologische Erkrankung. Anfangs stürzt sie sich in das Klubleben Berlins, atemlos und exzessiv, doch schnell merkt sie, dass sie sich ab jetzt nur noch auf die Dinge konzentrieren sollte, die sie wirklich glücklich machen: auf das Reisen und das Schreiben. Und dass sie nur noch das tun sollte, was sie schon immer tun wollte. Unter dem Motto: Noch zehn gute Jahre, dann ist eh Schluss ... Aber wie lernt man, wahrhaft im Moment zu leben? Auf der Suche nach Antworten durchstreift Pamela Spitz das Hinterland Portugals, lernt Surfen im Atlantik, wandert durch den Dschungel Costa Ricas und die Wüste Negev in Israel, stellt sich ihren jüdischen Wurzeln, lernt Arabisch in Ramallah, macht eine außergewöhnliche Kur in Indien, besucht ihre Schwester in Brasilien – und begibt sich auf die Spuren ihrer Kindheit in Ecuador und auf Formentera. In einem erfrischend lässigen und humorvollen Ton nimmt uns Pamela Spitz mit auf ihre Reisen in die Ferne und zu sich selbst.

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Seitenzahl: 395

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Pamela Spitz

Wanderlust mit Mister Parkinson

Meine Reisen in die Ferne und zu mir selbst

Kurzübersicht

> Buch lesen

> Titelseite

> Inhaltsverzeichnis

> Über Pamela Spitz

> Über dieses Buch

> Impressum

> Klimaneutraler Verlag

> Hinweise zur Darstellung dieses E-Books

Inhaltsverzeichnis

WidmungDie DiagnoseAllein und unter SurfernDrei SchwesternJudentum, Koryphäen und PrinzessinnenMeine erste Ayurveda-KurEin Bänderriss und zwei BabysJakobsmuscheln, ein Segelboot und »Thelma & Louise«Die Liebe zur NaturRippenbruch im ParadiesWüste, Joints und MilitärdienstMein gescheiterter Versuch, Arabisch zu lernenWilde Jugend auf einer InselParki-BuddiesDas VirusBöhmische Dörfer, Corona-Dates und eine Kommune im polnischen WaldEin Haus am AtlantikHeimwehBildteil
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Für Mama

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Die Diagnose

An das Gespräch selbst erinnere ich mich kaum noch. Mir kommt es so vor, als hätte es höchstens zehn, fünfzehn Minuten gedauert – aber das kann eigentlich nicht sein, bei all den Untersuchungen, die die Neurologin mit mir gemacht hat. Ich erinnere mich auch nicht mehr daran, wie sie es mir letztlich gesagt hat. Oder an meinen ersten Gedanken, nachdem sie die Diagnose ausgesprochen hatte.

Dafür erinnere ich mich ganz deutlich an alles, was danach passierte. Wie ich die Haustür des Gebäudes, in dem sich die Arztpraxis befand, hinter mir zuzog und dann einfach nur dastand auf einer Straße in Berlin-Mitte. Wie sich mein Blick auf die Sonnenblumen heftete, die in einem riesigen Eimer vor dem Blumenladen nebenan standen. Die anderen Passanten nahmen sie nur flüchtig wahr – wenn sie nicht eh gerade auf ihre Smartphones starrten. Ich hingegen war überwältigt von der sattgelben Blumenpracht. Eine junge Frau blieb stehen und zog zwei lange Stiele mit besonders großem Blütenkorb aus dem Eimer, drückte dem Verkäufer einen Schein in die Hand und lief, die Blumen vor sich her tragend, mit strahlendem Gesicht an mir vorbei. Wie einfach es doch manchmal sein kann, glücklich zu sein. Wie wichtig kleine Details sind, um sich den Tag zu verschönern. Was sollte ich nun bloß mit meinem Detail des Tages machen? Mit dieser Neuigkeit, die wahrscheinlich mein Leben komplett verändern würde? Wie soll ich damit umgehen? Ich wischte mir erst einmal die langen blonden Haare aus dem vom Schweiß klebrigen Gesicht.

 

Es war ein heißer Sommertag im Jahr 2016, die Mittagssonne brannte. Ich trug Shorts und ein T-Shirt und blieb eine Weile einfach so stehen, während sich die Menschen an mir vorbeidrückten. In diesem belebten Kiez habe ich viele Jahre gelebt. Ich kannte jede Straßenecke, jedes Graffito, jeden Gemüseverkäufer und Barkeeper, hatte mich viele Jahre über wohl hier gefühlt. Bis ich vor Kurzem beschlossen hatte wegzuziehen, weil ich mich nach einem kompletten Neuanfang gesehnt hatte. Nachdem ich mich von meinem Mann getrennt und den Arbeitgeber gewechselt hatte, wollte ich auch Abwechslung in meiner Umgebung, wollte Berlin neu für mich entdecken, ich brannte geradezu nach Aufregung.

Tja, nun würde ich tatsächlich mit einem kompletten Neuanfang konfrontiert sein. Nur ungewollt. Und auf einen Schlag. So was nennt man, glaube ich, wohl Schicksalsschlag. Es war, als hätte ich mir ganz tief in den Finger geschnitten, aber der Schmerz noch nicht richtig da wäre, weil die Schmerzrezeptoren die Information noch nicht an das Gehirn weitergeleitet hatten. Ich glaube, ich befand mich genau in diesem Zwischenzustand, während ich immer noch regungslos auf der Straße stand.

Erst ein lautes Quietschen riss mich aus diesem Zustand. Die Straßenbahn hatte eine Vollbremsung machen müssen, weil ein Fahrradfahrer beim Überqueren der Schienen ausgerutscht und gestürzt war. Schnell kamen Passanten zu Hilfe. Aber ihm war glücklicherweise nichts passiert; der Fahrradfahrer konnte seinem Schicksalsschlag gerade noch entgehen. Er stieg wieder auf, fuhr etwas wackelig davon und der Verkehr nahm seinen Lauf, als wäre nichts geschehen.

Es dauerte noch eine Weile, bis auch ich mich wieder in Bewegung setzen konnte. Schliesslich ging ich zu meinem Fahrrad, band mir das Schloss um die Taille und fuhr los. Komischerweise spürte ich jetzt, als ich mich bewegte, fast so etwas wie Erleichterung. Mir schoss durch den Kopf, dass es mir nun tatsächlich erspart bleiben würde, mich um diese dämliche Altersvorsorge zu kümmern, von der immer mehr Leute in meinem Freundes- und Bekanntenkreis sprachen und mit der ich mich als Freiberuflerin eigentlich dringend hätte beschäftigen müssen. Was für ein Glück es doch war, dass ich keine Kinder hatte, dachte ich. Und auch, wie gut es war, dass die Trennung von meinem Mann schon seit einem halben Jahr durch war. Mit dem, was mir die Neurologin gerade eröffnet hatte, wäre ich wahrscheinlich doch zurück ins wohlbehütete Ehenest gekrochen, wenn wir noch in der Trennungsphase gewesen wären. Zumal diese Zeit auf eine sehr respektvolle Weise verlaufen war, ohne Streitereien oder Schuldzuweisungen. Sie hatte einfach nur wehgetan, denn die Liebe zueinander hatte nicht nachgelassen, sie war nur einfach anders geworden, geschwisterlich, würde ich sagen.

Aber ich hatte eben schon seit einiger Zeit den großen Wunsch, wieder allein zu sein, unabhängig, auf mich selbst gestellt. Und so war ich seit etwa einem halben Jahr glücklicher, abenteuerlustiger Single, sicher, die richtige Entscheidung getroffen zu haben. Und nun? Wollte ich immer noch allein sein? Wäre es jetzt nicht doch besser, einen Partner zu haben, der einen auffangen könnte? Der es zumindest versuchen würde? Nein! Auf gar keinen Fall, beschloss ich, während ich durch Berlin radelte. Ich würde mir doch von so einer Diagnose nicht diktieren lassen, was ich vom Leben will. Und in einer festen Beziehung sein wollte ich nun einmal nicht mehr. Und es würde bestimmt auch eh jetzt alles noch komplizierter machen!

Ich versuchte, mich auf das Kopfsteinpflaster zu konzentrieren und nicht so viel zu denken. Dachte dann aber doch an den Reisepass, den ich erst kürzlich hatte erneuern lassen, und daran, dass er zehn Jahre gültig war.

Noch zehn Jahre, dachte ich, zehn gute Jahre.

Dann ist wahrscheinlich eh Schluss.

 

Vor der Redaktion einer deutschen Tages- und Wochenzeitung, in der ich freiberuflich als Fotoredakteurin arbeite, stellte ich mein Fahrrad ab und kramte nach meinem Handy. Zuerst rief ich in der radiologischen Abteilung der Universitätsklinik an und machte einen Termin für die Computertomografie, die die Neurologin noch zur Bestätigung ihrer Diagnose brauchte. In drei Wochen hatten sie einen Termin frei. Dann wählte ich die Nummer meiner Mutter. Sie ging sofort dran.

Ich atmete tief durch.

»Mama, bei mir wurde gerade Morbus Parkinson diagnostiziert.«

Meine Mutter war klug genug, nicht panisch zu reagieren. »Alles klar«, sagte sie nur, »ich recherchiere, was das bedeutet.«

Wir verabredeten uns für den Abend, um ausführlicher zu sprechen, und ich ging zurück in die Redaktion. Meine Mittagspause war vorbei.

 

Im Newsroom war es angenehm kühl. Ich lief zu meinem Platz, legte den kleinen Rucksack ab und tippte mein Passwort in die Tastatur, um den Rechner zu reaktivieren. Ich sah mich um. Die meisten Kolleginnen und Kollegen schauten konzentriert auf ihre Bildschirme oder telefonierten. Andere standen in kleinen Gruppen zusammen und tauschten sich über Themen ihres Ressorts aus. Ich arbeitete erst seit Kurzem hier, kannte aber ein paar Kolleginnen und Kollegen schon aus anderen Verlagshäusern, für die ich in den vergangenen Jahren tätig gewesen war. Ich mochte sie, hatte zu allen eine professionell freundliche Beziehung, war aber im Moment heilfroh, dass alle zu beschäftigt waren, um mich anzulächeln oder gar anzusprechen. Als ob sie mir ansehen würden, dass ich in Ruhe gelassen werden wollte.

Ich fühlte mich seltsam entrückt von der Realität um mich herum. Alles erschien mir irgendwie unwirklich. Und unwichtig. Trotzdem wollte ich mich in die Arbeit stürzen. Die Fotos der Nachrichtenagenturen aus aller Welt, die ununterbrochen auf dem Redaktionsserver landeten und die ich normalerweise sichtete, aussortierte und den Kolleginnen und Kollegen zur Verfügung stellte, sollten mich davon abhalten, über meine Situation nachzudenken. Mechanisch scrollte ich die Bilderflut rauf und runter, versuchte, Foto-Rechercheanfragen aus der Textredaktion zu beantworten, die neuesten Nachrichten zum jüngsten terroristischen Anschlag in einer europäischen Stadt zu lesen und mir Gedanken zur Bebilderung eines komplexen Wirtschaftsthemas zu machen. Aber in Wahrheit war ich nicht zu viel zu gebrauchen …

 

Die Welt des Journalismus hatte mich schon von klein auf fasziniert. Früh las ich Bücher von berühmten Journalistinnen und Journalisten wie Oriana Fallaci oder Norman Mailer, irgendwann verschlang ich jedes Magazin und jede Zeitung, die mir in die Hände kamen. Vor Kurzem habe ich in meinem Tagebuch geblättert, das ich mit sechzehn Jahren geschrieben hatte, und war erstaunt, wie inbrünstig mein Wunsch damals war, Journalistin zu werden. Aber ich machte kein Abitur und mit Anfang zwanzig hatte ich das Selbstwertgefühl eines Teenagers, der unbedingt eine Zigarette rauchen wollte, um erwachsener zu wirken. Selbst zu schreiben, traute ich mir nicht zu. Um ehrlich zu sein, hatte ich mir in meiner pubertierenden Schwärmerei für den Journalismus gar keine Gedanken gemacht, dass irgendjemand all diese Zeitungs- und Magazinseiten, die ich verschlang, ja auch schreiben musste. Und dass man das lernen musste. Aber ganz von meinem Vorhaben lassen wollte ich auch nicht. Also versuchte ich es Ende der 1990er-Jahre mit einem Praktikum in der Fotoredaktion der Zeit. Die Aufbruchstimmung und der Enthusiasmus, der damals in der neu gegründeten Hauptstadtredaktion und im neuen Ressort »Leben« herrschten, rissen mich mit. Mit Haut und Haaren stürzte ich mich ins Redaktionsleben, begeistert und glücklich, dass ich auf diesem Weg doch noch meinen Traum verwirklichen konnte – und nach drei Monaten Praktikum bot man mir eine Festanstellung an. Ich weiß, das klingt unglaublich heutzutage, aber so etwas gab’s damals noch. Und so nahm meine Karriere im Fotojournalismus ihren Lauf.

Nach relativ kurzer Zeit begann ich, auch selbst zu fotografieren, erlernte das Handwerk bei professionellen Fotografen, denen ich nach Feierabend oder am Wochenende assistierte, und verstand immer mehr, welch große Rolle gute Bilder im Journalismus spielen und wie viel Verantwortung man durch die Macht der Bilder hat. Dass man schnell sein musste in der Reportagefotografie, dass man Situationen im Vorfeld kommen sehen, die Augen überall haben und dabei versuchen musste, so unauffällig wie möglich zu bleiben, um Situationen nicht zu vereiteln. Kurzum: Es eröffnete sich mir eine neue Welt, die es zu entdecken galt und in der ich unfassbar viel lernen konnte. Es machte mir Spaß, meinen Wissensdurst zu befriedigen. Gerade auch was den technischen Teil der Fotografie anging.

Als ich dann im Herbst 2000 nach Madrid zog, mit einer neu gekauften Mittelformatkamera aus den 1960er-Jahren im Gepäck, begann ich mich auch mit der Porträtfotografie auseinanderzusetzen, und lernte sehr viel von einem ziemlich berühmten spanischen Großmeister seines Faches, dem ich zweieinhalb Jahre lang assistierte. Ich arbeitete für das Beilagen-Magazin von El País, für das Rolling-Stone-Magazin, auch für unterschiedliche Plattenfirmen wie Universal, Sony BMG oder spanische Independent Label – aber das ist eine andere Geschichte. Die Mischung war jedenfalls genau das Richtige für mich, weil sie meine Neugierde befriedigte und es nie langweilig wurde. Als Fotografin war ich oft unterwegs, lernte viele Menschen unterschiedlicher sozialer und kultureller Herkunft kennen. Als Fotoredakteurin wiederum vergab ich Aufträge an Fotografen, die es schätzten, dass ich wusste, welche Tücken und Schwierigkeiten es oftmals gab, einen Auftrag fotografisch umzusetzen.

 

Aber zurück nach Berlin in den Newsroom. Nach dem vergeblichen Versuch, mich auf die Arbeit zu konzentrieren, starrte ich einfach nur noch regungslos auf meinen Bildschirm, der in der Ruhephase eine Linie über die gesamte Fläche zog: von links nach rechts, von oben nach unten und wieder von vorne. Vor der Mittagspause hatte ich noch an einem Beitrag über ein modernes Braunkohlekraftwerk in der Lausitz gearbeitet, nun, nur zwei Stunden später, war an Arbeit nicht mehr zu denken. Von einer Minute auf die andere war alles infrage gestellt: mein Leben, meine Arbeit, einfach alles.

Irgendwann begann ich »Morbus Parkinson« zu googeln. Ich stieß auf YouTube-Videos von Menschen, deren ganze Körper zitterten, die weder ein Glas Wasser halten noch Schnürsenkel zubinden konnten. Daraufhin holte ich mir aus der Redaktionsküche eine Flasche Sprudelwasser und trank sie in einem Zug aus. Ich suchte weiter, wollte mehr über die Symptome erfahren, vor allem über den Verlauf dieser degenerativen neurologischen Krankheit. Was bedeutete das für meine nähere Zukunft und wie konnte ich mich darauf vorbereiten? Fragen über Fragen.

Ich wusste kaum etwas über Parkinson. Nur dass die Krankheit unheilbar war und dass ich dafür ungewöhnlich jung war mit meinen einundvierzig Jahren. Bei den meisten Patienten beginnen die Symptome der Krankheit erst, wenn sie über sechzig oder sogar siebzig Jahre alt sind.

Mein erstes Symptom war bereits vor Jahren der Verlust des Geruchssinns. Ähnlich wie bei einem Hörsturz verlor ich von einem Tag auf den anderen achtzig Prozent meiner Fähigkeit, zu riechen. Die Hals-Nasen-Ohren-Ärzte, die ich deshalb besucht hatte, konnten mir keine Antwort auf das Warum geben, entnahmen mir die Polypen und gaben mir den Ratschlag, meinen Geruchssinn mit täglichem Riechen an ätherischen Ölen zu trainieren. Letztendlich hatten sie keine Ahnung, was los war. Und ich sowieso nicht. Jetzt las ich, dass der Verlust des Geruchssinns ein erstes Anzeichen für Parkinson ist. Ich trug das also schon seit fast zehn Jahren mit mir herum – ohne einen Schimmer davon zu haben! Verdammt.

Vor ein paar Monaten dann war mir plötzlich aufgefallen, dass meine linke Hand unbeweglicher wurde. Wenn ich sie bewegte, spürte ich immer eine Art Widerstand, so als würde ich sie langsam durch Wasser ziehen. Zunächst schenkte ich der Sache nicht viel Aufmerksamkeit. Wie gesagt: Ich war gerade glücklicher Single geworden, wollte meine neu gewonnene Freiheit genießen – und dachte einfach nur, ich hätte die Hand wohl beim Tindern überlastet. Als ich noch mit meiner Hasselblad-Mittelformatkamera fotografierte, hatte ich schließlich auch hin und wieder Sehnenscheidenentzündungen im linken Handgelenk gehabt, weil die linke Hand das gesamte Gewicht der ziemlich schweren Kamera tragen musste, während die rechte scharfstellte und den Auslöser drückte. So ähnlich, hoffte ich, war es wohl auch mit meiner Tinderhand …

Dann aber war ich eines Abends bei Freunden zum Essen eingeladen, und als ich ein Glas Wein in der linken Hand hielt, begann sie, stark zu zittern. Ich hatte keine Kontrolle mehr über sie. Meine Reaktion? Ich versteckte die Hand unter dem Tisch, weil ich befürchtete, die anderen könnten wegen des Zitterns denken, ich sei Alkoholikerin. Noch immer versuchte ich zu ignorieren, dass mit mir etwas nicht stimmte.

Als ich dann ein paar Wochen später auch beim Laufen nicht mehr geschmeidig abrollen konnte, machte ich mir endlich einen Termin beim Arzt. Es fühlte sich an, als ob mein linker Fuß platt auf den Boden fallen würde. Bei jedem Schritt musste ich mich konzentrieren, um den natürlichen, wellenartigen Bewegungsablauf, vom Sprunggelenk ausgehend, irgendwie hinzukriegen. Jetzt war’s vorbei mit irgendwelchen abstrusen Erklärungsversuchen, mit den »Das wird schon wieder«-Sprüchen, mit denen ich versucht hatte, mich zu beruhigen.

Dabei hatte ich in Wahrheit schon seit Monaten dieses Gefühl, dass mir irgendetwas bevorstehen würde. Ich wusste, dass ich meinen Körper überforderte. Zu wenig Schlaf, zu viel Arbeit, viel zu viel Party. Ich lebte mein neues Single-Dasein auf Kosten meiner Gesundheit aus. Ich wollte Abenteuer, Feiern, Dating, Sex. Suchte immer wieder nach dem Unvorhersehbaren, ließ mich auf abenteuerliche Aktionen ein und genoss den Frühling und Sommer in vollen Zügen. Ich hatte das Gefühl, Verpasstes nachholen zu müssen, und ließ nichts aus, im Job, beim Sport, beim Feiern. Und auch wenn eine Herausforderung mal eindeutig zu viel für mich und meinen Körper war: Ich sagte trotzdem nicht Nein. Man könnte mein Verhalten wohl auch als klassische Midlife-Crisis bezeichnen …

Allerdings bin ich schon immer ein ziemlich ungeduldiger Mensch gewesen und hatte bereits früher oft das Gefühl, etwas zu verpassen. Ich bekam schlechte Laune, wenn meine Tage nicht genug ausgefüllt waren, sei es mit Nützlichem oder mit Vergnügen. Müßiggang, Langeweile, Routine – das war nichts für mich. Ich spreche auch oft ziemlich schnell und es hat mich lange Zeit verrückt gemacht, jemandem zuzuhören, dessen Gedanken nur langsam aus seinem Kopf fielen. Nicht sehr sympathisch, ich weiß, aber irgendetwas in mir wollte schon immer dieses »Schneller, Höher, Weiter«, war süchtig nach immer neuen Herausforderungen und Abenteuern.

However: Je länger es ging mit dieser Ausbeutung meines Körpers, desto öfter hatte ich ein mulmiges Gefühl, diesen Hauch einer Ahnung. Es war, als hätte ich unbewusst nur darauf gewartet, dass mein Körper endlich reagiert. Tja. Nun wusste ich wenigstens, wie – auch wenn die Krankheit selbst natürlich schon seit Jahren in mir schlummerte. Wieder empfand ich eine Art Erleichterung. Jetzt wusste ich immerhin, woran ich war.

 

Am frühen Nachmittag fand wie immer die Konferenz statt, in der es um die Bebilderung der Seite eins für den nächsten Tag ging. Ich zwang mich, an ihr teilzunehmen, und versuchte, mir gegenüber den Kolleginnen und Kollegen nichts anmerken zu lassen. Ich blendete die Nachricht über meinen Gesundheitszustand aus und wandte mich den alltäglichen Nachrichten über Politik und Wirtschaft zu. Zurück an meinem Schreibtisch, wollte ich mich endlich an die Arbeit machen, aber meine Gedanken schweiften doch wieder ab. Ich googelte weiter und stieß auf ein interessant klingendes Buch eines Kollegen, der für ein deutsches Nachrichtenmagazin tätig war und der über seine Erfahrung mit Parkinson geschrieben hatte. Er hatte die Diagnose ebenfalls in meinem Alter erhalten. Ich bestellte das Buch und schrieb ihm eine Mail mit der Bitte, ihn treffen zu dürfen.

Dann wollte ich nicht mehr. Ich zwang mich, doch noch die wichtigsten redaktionellen Arbeiten abzuschließen, packte meine Sachen, schlich mich aus dem Newsroom – froh, nicht mehr unter Leuten sein zu müssen – und radelte nach Hause.

Die kleine Wohnung, in der ich damals lebte, bewohnte ich nur zur Untermiete. Nach der Trennung von meinem Mann hatte ich begonnen, immer mehr meiner bescheidenen Besitztümer loszuwerden. Möbel, Bücher, Klamotten – sogar Erinnerungsstücke aus meiner Kindheit. Mein Auto hatte ich schon vorher verkauft und mich schnell an das ganzjährige Fahrradfahren gewöhnt. Ich wollte einfach so frei und unabhängig sein, wie es nur ging. Den Besitz von zu vielen Dingen empfand ich als hinderlich und unpraktisch in meiner neuen Situation. So hatte ich meine eigene inzwischen fast leere Wohnung an einen Jugendfreund untervermietet, der sich ebenfalls getrennt hatte und vorübergehend eine Bleibe benötigte, und zog – mit nur wenigen Taschen, die mit ein paar Anziehsachen, Aktenordnern mit persönlichen Unterlagen, meinem Laptop und ein paar Büchern gefüllt waren – von Wohnung zu Wohnung. Wie gesagt: Ich hatte die Idee, möglichst viele Stadtteile Berlins neu kennenzulernen, indem ich dort für eine Zeit wohnte. Frei wie ein Vogel, der sich immer wieder neue Nester sucht.

Gerade war ich in Kreuzberg. Die Wohnung lag im obersten Stockwerk eines Altbaus und hatte noch eine Ofenheizung, was mir vertraut war aus meiner Anfangszeit im Berlin der 1990er-Jahre. Im Treppenhaus roch es nach Pisse, aber das störte mich nicht. Ich roch ja sowieso kaum noch etwas. Der Briefkasten quoll über mit Post für Leute, die längst in die ganze Welt weitergezogen waren. Für manche von ihnen scannte ich die Briefe ein und schickte sie ihnen per Mail.

Iván, ein Freund aus Valencia, teilte sich mit mir die Wohnung. An jenem warmen Augustnachmitttag 2016 war er gerade auf der verzweifelten Suche nach einer möglichst großen Reisetasche, die er für seine Reise zum Burning-Man-Festival in der Wüste Nevadas nehmen konnte. Ich gab ihm eine von meinen, und als er mich fragte, wie es mir gehe und wie mein Tag so gewesen sei, da hörte ich mich nur sagen: »Sehr gut, alles wunderbar.«

Dann zog ich mich in mein Zimmer zurück. Endlich allein. Ich hängte ein großes Tuch vor das Fenster, durch das die strahlende Nachmittagssonne schien, und schmiss den Laptop an. Ich setzte mich damit aufs Bett, schob mir drei große Kissen hinter den Rücken und sah mir einen total kitschigen amerikanischen Film an. Bei einer eigentlich harmlosen Szene, die mich emotional aber völlig aus der Bahn warf, kamen die Tränen. Plötzlich ließ ich alles raus, heulte meinen Schmerz in die Kissenstapel und schlief irgendwann vor Erschöpfung ein.

 

Abends fuhr ich zu meiner Mutter. Wir fielen uns in die Arme. Und ja, wir lachten auch viel an diesem Abend. Versuchten, die Krankheit wegzulachen, auszulachen. Währenddessen bereitete sie das Abendbrot zu, das aus einer fantasievollen Mischung aus Resten, die sie in ihrer Küche gefunden hatte, bestand. Salat aus Weintrauben und Kirschtomaten, Schwarzbrot belegt mit Quark und Marmelade – und die letzten sauren Gurken aus dem Glas im Kühlschrank. Ich hatte plötzlich einen Erinnerungsflash aus meiner Kindheit in München und sah förmlich, wie meine Mutter ein großes Glas in Essig eingelegter Heringsfilets auf einen Teller packte und diese abwechselnd zu von Schokolade ummantelten Geleebananen aß, während sie sich zum hundertsten Mal den Film »Leoparden küsst man nicht« mit Katherine Hepburn und Cary Grant ansah. Es war ihr Entspannungsritual nach einem langen Arbeitstag im Büro gewesen. Bis heute kann ich fast sämtliche Dialoge dieser berühmten Schwarz-Weiß-Filme aus den 1930er- und 1940er-Jahren, die wir uns damals immer und immer wieder ansahen, mitsprechen.

Nach meinem Anruf mittags hatte sich meine Mutter sogleich an die Recherche zum Thema Parkinson gemacht und den Essenseinkauf einfach links liegen lassen. Sie sagte, dass sie das mit mir gemeinsam durchstehen werde, dass wir das mit Pragmatismus und positiver Herangehensweise schon alles hinbekommen würden. Sie steckte mich an mit ihrem Optimismus und ihrer zupackenden Art. Schließlich sterbe ich noch nicht, dachte ich, meine Mutter hat recht: Ich muss einfach nur mein Leben umstellen. Ich kann etwas tun. Sie wusste um meinen Lebensstil der letzten Monate und bat mich inständig, endlich damit aufzuhören. Und ich versprach ihr, gleich morgen anzufangen mit dem Aufhören.

 

Von da an recherchierte sie tagtäglich. Kaufte alle möglichen Naturheilprodukte und klärte mich über alles Mögliche auf, was die Krankheit betraf. Sie sandte mir täglich E-Mails mit Links zu Artikeln über Parkinson. Es ging um die richtige Ernährung, um Nahrungsergänzungsmittel, alternative Heilmethoden, der ein oder andere Tipp eines Scharlatans war auch dabei. Brav druckte ich alles aus, aber anstatt die Artikel zu lesen, um zu überlegen, ob ich von den Tipps etwas umsetzen konnte, legte ich sie ungelesen beiseite, auf einen Stapel, der immer höher wurde.

Die Wahrheit war: Ich wollte mein Leben nicht ändern. Ich hatte überhaupt keine Lust, aufzuhören mit Party und Sorglosigkeit. Wenn meine Mutter nachfragte, ob ich die Artikel gelesen hätte, erwiderte ich immer unwirscher: »Ja, ja, lese ich noch.«

Ich weiß nicht mehr genau, ob es schon an dem Abend bei meiner Mutter angefangen hatte, aber die nächsten Wochen waren geprägt davon, die ganze Sache möglichst zu verdrängen. Außer mit meiner Mutter sprach ich mit niemandem über die Diagnose. Das Thema erschien mir zu schwer, zu unangenehm, um jemandem einfach so davon zu erzählen. Ich wusste nicht, wie ich das anstellen sollte. »Ach übrigens, ich muss dir was sagen: Ich habe Parkinson«? Wie sollte man denn darauf reagieren? Ich wollte niemanden in Verlegenheit bringen. Zumal ich selbst auch nicht darüber reden wollte – solange ich nicht darüber sprach, konnte ich mir zumindest in manchen Momenten einbilden, alles sei normal.

Ich recherchierte auch nicht mehr selbst im Internet, und als ich drei Wochen nach der Diagnose in der CT-Röhre lag, stellte ich mir vor, das Klopfen und Rattern und Dröhnen der Maschine seien die Musik aus dem Berghain. Das gefiel mir. War ich doch schon lange nicht mehr im Klub aller Berliner Klubs gewesen, seitdem er so berühmt geworden war, dass das feierwütige Volk aus aller Welt angeflogen kam, um dort stundenlang anzustehen, in der vagen Hoffnung, irgendwann doch noch in den Tempel der Ekstase eingelassen zu werden. Früher bin ich öfters an Sonntagnachmittagen hingegangen, allein, ohne anzustehen – um dann stocknüchtern bis Mitternacht durchzutanzen. So konnte ich am nächsten Morgen einigermaßen frisch und ausgeruht zur Arbeit fahren. Damals war ich noch um einiges disziplinierter und vernünftiger.

Ins Berghain ging ich zwar nicht, aber im Grunde blieb mein Leben dasselbe – selbst nach dem Befund der CT-Aufnahmen, der die Diagnose meiner Neurologin bestätigte: Morbus Parkinson. Die Dopamin produzierenden Nervenzellen in meinem Gehirn starben einfach so weg.

Wahrscheinlich wurde mein Leben sogar noch schneller. Noch mehr Party. Noch mehr oberflächliche Jungs- und Männergeschichten. Noch mehr Ablenkung. Jeden Tag und jeden Abend war ich unterwegs, machte zwar Sport, nahm aber auch Drogen, besuchte Musikfestivals, auf denen ich vorher noch nie gewesen war, begann eine Liaison mit einer Frau, hing ständig in Bars herum und wollte einfach weiterhin alles ausprobieren, was ich nicht kannte. Meine körperlichen Symptome waren noch relativ zurückhaltend und ich fühlte mich stark und gut. Ich genoss die Intensität des Augenblicks und hatte keine Lust, mir ernsthafte Gedanken über die Zukunft zu machen, mir von der Diagnose meinen Lebensstil verändern zu lassen.

 

Anders war nur dieses eine Gefühl. Es tauchte gleich am Tag der Diagnose auf, als ich mit meinem Fahrrad über das Kopfsteinpflaster Berlins fuhr; ich hatte es in der Redaktion, als ich meine Kollegen beobachtete; ich hatte es, als ich meinem Mitbewohner beim Packen zusah. Immer wieder schlich es sich in meine Seele, tagsüber in der S-Bahn, abends in Bars, nachts auf dem Heimweg.

Am stärksten war es vielleicht, als ich auf diesem Festival für elektronisch-experimentelle Musik in Polen war. Meine jüngere Schwester Deborah, die ebenfalls in Berlin lebte, hatte es mitorganisiert. Wir waren eine ziemlich große Gruppe von Freunden, die gemeinsam die Tage dort verbrachten und in Zelten oder gemieteten Wohnwagen schliefen. Das Festivalgelände lag an einem See und sah ein bisschen aus wie ein verwunschener Märchenwald durch die liebevoll gestaltete aufwendige Dekoration. Alles kam mir vor wie eine riesige Spielfläche für Erwachsene, die für ein paar Tage keine Lust auf das Erwachsensein hatten. Ich tanzte das ganze Wochenende, aber immer ein bisschen abseits. Denn wenn ich mich mitten in einer Menschenmenge befand, ging mir schon damals manchmal das Gleichgewicht verloren – ein weiteres Symptom der Krankheit.

Am letzten Spätnachmittag kletterte ich allein auf einen Heuballen und beobachtete das Geschehen um mich herum. Ich hatte halluzinogene Pilze genommen und meine Wahrnehmung war intensiviert. Ich sah mir die Menschen an, wie sie lachten und Spaß hatten. Zwischen mir und ihnen war auf einmal eine unüberwindbare Distanz. So als würde ich sie aus der Vogelperspektive betrachten. Mir war es unangenehm, den anderen emotional nah zu sein, denn ich fühlte mich angreifbar und verletzlich. Ich wollte allein sein. Wollte nicht, dass irgendjemand mitbekam, was ich empfand oder dachte.

Plötzlich war dieses Gefühl wieder da, diese alles vereinnahmende Melancholie. Für die anderen war der Moment selbstverständlich, aber ich konnte sehen, wie kostbar das war, was sie hatten. Es war wohl eine Art Trauer. Trauer um die Zeit, die ich nicht haben werde. Also verkroch ich mich irgendwann in mein Zelt und schlief ein, während alle anderen weit über den Sonnenaufgang hinaus weiterfeierten und nackig in den See sprangen. In dieser Nacht begriff ich, dass ich die verbleibende Zeit, die guten vielleicht zehn Jahre, anders nutzen sollte als nur mit Party, Spaß und Verdrängung. Ich musste dem Ganzen ein Ende bereiten. Ich musste weg, raus aus der Stadt. Allein sein.

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Allein und unter Surfern

Portugal

Das Abendlicht am Strand war atemberaubend, die Wellen des Atlantiks waren spektakulär. Seit Stunden joggte ich eine Bucht an der Südwestküste Portugals entlang. Von links nach rechts. Von rechts nach links. Kein Mensch weit und breit. Nur die Möwen, die sich auf dem Sand niedergelassen hatten und jedes Mal wieder hochflogen, um mich passieren zu lassen. Ich war glücklich. Ich war am Meer.

Das Meer hatte schon immer eine besondere Bedeutung für mich. Vielleicht weil ich es bereits als Kind lieben gelernt hatte, war ich doch zwischen meinem zweiten und sechsten Lebensjahr direkt am Pazifik aufgewachsen. Nicht irgendwo an der kalifornischen Küste, nein: in einem kleinen Dorf in Ecuador, direkt am Strand. Außer meiner Familie und einigen anderen Ausländern hatten dort vor allem ecuadorianische Aussteiger in einer Art Kommune gelebt. Es war ein Paradies. Jeden Tag kletterten meine jüngere Schwester Deborah und ich aus unserem Holzhaus auf Stelzen, zogen zu zweit los und verbrachten unzählige Stunden direkt am Strand. Bei Ebbe rannten wir den Krebsen hinterher, versuchten, Sandflöhe zu fangen, oder sammelten Strandgut, um daraus provisorische Hütten zu bauen. Andere Kinder aus dem Dorf kamen hinzu und halfen mit. Die Flut nahm zwar alles wieder mit ins Meer, aber am nächsten Tag bauten wir die wackligen Hütten mit neu gefundenem Treibholz, Plastikmüll, Algenresten oder Muscheln einfach wieder auf.

Unsere Mutter musste sich nicht viel kümmern, das ganze Dorf passte auf uns zwei Mädchen auf, so verwurzelt waren wir irgendwann dort. Hatten wir Hunger, gab uns jemand etwas ab von seinem Fisch, hatten wir Läuse, kämmten die Dorfbewohner sie aus unseren blonden Haaren. Wir sprachen damals kein Wort Deutsch miteinander, nur Spanisch. Daher wussten wir genau, wie wir den Verkäufer in der Tante-Emma-Lehmhütte dazu brachten, uns Süßigkeiten zu schenken. Abends lagen wir in einer der Lehmhütten im Dorf und sahen den Erwachsenen beim Salsatanzen zu. Wir Kinder hatten alles, was wir brauchten, und wir waren zu zweit. Es war die absolute Freiheit. Mein ganzes Leben habe ich immer wieder brennende Sehnsucht nach dieser absoluten Freiheit gespürt, wie ich sie damals als Kind erlebt habe – oder auch später als Teenager auf Formentera, als ich mit meiner Familie fünf Jahre auf dieser kleinen Mittelmeerinsel leben durfte.

Hier am Strand an der Küste Portugals wurde diese Sehnsucht wieder gestillt. Plötzlich war da wieder die Sicherheit, niemals, von nichts und niemandem eingezwängt werden zu können. Nicht von einer Ehe, nicht von einem Festangestelltenvertrag – und auch nicht von einer noch so schlimmen Krankheit.

Der Tag in der neurologischen Praxis lag nun zwei Monate zurück und es kam mir vor wie eine Ewigkeit. So viel war in der Zwischenzeit passiert. Ich ließ die letzten Wochen in Berlin wie im Zeitraffer an mir vorbeiziehen und war so froh, dass ich mich entschieden hatte, alles hinter mir zu lassen und diese Wanderung durch Portugal zu machen. Ich wäre wahrscheinlich umgeknickt wie ein Streichholz, hätte ich diesem selbstzerstörerischen Berliner Leben nicht Einhalt geboten. Portugal war in gewisser Hinsicht meine Rettung.

In den letzten Tagen hatte ich zig Kilometer zu Fuß hinter mich gebracht, mich fast nur von Beeren, Nüssen, Feigen und Weintrauben am Wegesrand ernährt und so langsam die Kontrolle über meinen Körper zurückgewonnen. Die Hand war nicht mehr so steif, der Fuß rollte besser ab. Ich konnte so lange laufen, schwimmen und joggen, wie ich wollte. Was für eine Freude! Wenn ich auf diese Art Einfluss auf den Verlauf der Krankheit nehmen konnte, vielleicht würde dann alles gar nicht so schlimm? Vielleicht könnte ich Mister Parkinson in den Griff bekommen? Sogar beherrschen? Ich war zum ersten Mal voller Zuversicht, während ich immer weiter am Strand auf und ab lief und das Meer, den Abendrothimmel, das Geräusch der Wellen genoss.

 

Dass es vor allem die Natur war, die ich so dringend nach dem Schock der Diagnose brauchte, war mir ein paar Tage nach dem Musikfestival in Polen endgültig klar geworden. Meine Schwester Deborah, der ich inzwischen von meiner Diagnose erzählt hatte, hatte mich zu einer Ayahuasca-Zeremonie überredet – einem alten indigenen Ritus aus dem Amazonasgebiet, der heute von Schamanen auch in vielen westlichen Ländern praktiziert und dem eine heilende und reinigende Kraft zugeschrieben wird. Unter Einfluss einer psychedelisch wirkenden Flüssigkeit aus Urwaldpflanzen soll man sich selbst und die eigenen Wurzeln besser kennenlernen.

Schon früher hatte mich meine Schwester immer mal wieder gefragt, ob ich nicht mitkommen wolle, aber bis jetzt hatte mich eine gewisse Ehrfurcht davon abgehalten, an so einer Zeremonie teilzunehmen. Was, wenn ich die Kontrolle verlieren würde? Was, wenn mich irgendetwas Unangenehmes aus meiner Vergangenheit einholen würde? Ich hatte eigentlich nie viel Lust auf Selbstreflexion. Und irgendein spirituelles Gerede über Achtsamkeit, Finde-dich-selbst, Finde-dein-Urkind et cetera war mir eh fremd.

Sollte ich mich jetzt der Sache doch mal aussetzen? »Was ist falsch mit mir?«, »Bin ich etwa selbst schuld?« – auch wenn ich nicht wollte: Diese Fragen schwirrten seit der Diagnose hin und wieder in meinem Kopf herum. Vielleicht konnten mir dieser Schamane und sein Getränk helfen, Antworten zu finden? Oder zumindest diese Gedanken zum Verschwinden bringen? Ich blieb unsicher. Am Ende ließ ich mich aber doch – wenn auch immer noch ein bisschen widerwillig – von Deborah überreden. Meine Neugierde hatte gewonnen, denn ich wollte dann doch wissen, was es auf sich hatte mit dieser Ayahuasca-Therapie.

Die Zeremonie fand in Brandenburg auf dem Grundstück eines Freundes statt. Wir versammelten uns nach Sonnenuntergang um ein Feuer und der Schamane, der aus Peru angereist war, begann mit einer Einführungsrede. Doch ich hörte nicht richtig zu. Ich war nicht sonderlich gut darin, mich der Gruppendynamik anzupassen, und auch das spirituelle Gerede lag mir fern. Deshalb entging mir der praktische Hinweis, dass wir uns nicht von der Gruppe entfernen sollten. Und so machte ich mich, nachdem wir im Tipizelt die präparierte Flüssigkeit getrunken hatten, schnurstracks auf den Weg und lief trotz Dämmerung allein in den nahe gelegenen Wald. Ziemlich schnell begann die Droge ihre Wirkung zu entfalten und ich ließ mich an einem Baum nieder und von der Dunkelheit einnehmen. Ich weiß nicht mehr, wie lange ich unter dem Baum lag, der Schamane suchte schon nach mir, aber eins weiß ich: Auf der modrigen Erde liegend, meinen Körper in Fötusstellung zusammengerollt, fühlte ich mich von der Natur beschützt. Es kamen weder Dämonen noch irgendwelche schlechten Erinnerungen auf, sondern nur die Gewissheit, dass alles gut ist. Ich fühlte mich rundum wohl und in Frieden mit mir selbst unter diesem Baum mit der Nase in der dunklen, feuchten Erde. Wähnte mich wie in Watte gehüllt, wohlig warm, aufgehoben, beschützt. Ich hörte damals auch alle möglichen Tiere zu mir sprechen. Wildschweine, Füchse und Greifvögel, die über den Bäumen ihre Kreise zogen, selbst Wölfe sprachen zu mir. Keine Ahnung, ob sie wirklich da gewesen waren oder ob das die halluzinogene Wirkung der Droge war: Ich merkte, wie in mir eine Art Urvertrauen in die Natur wiederbelebt wurde. Zwar kotzte ich mir irgendwann am nächsten Baum die Seele aus dem Leib, da der Körper die Substanzen der Pflanze nicht bei sich behalten wollte, aber selbst das fand ich toll. Es tat gut, sich buchstäblich auszukotzen.

Und ich wusste instinktiv, jetzt war es wirklich so weit. Ich musste weg aus der Stadt. Sofort. Schluss mit der Midlife-Crisis. Schluss mit dem Verdrängen. The party is over. Ich musste in die Natur. Nur dort kann mir nichts passieren.

 

Ein paar Tage später saß ich im Flieger nach Barcelona. Nach dem Brandenburg-Trip hatte ich innerhalb kürzester Zeit eine Wanderroute im Süden Portugals recherchiert, meinen Rucksack gepackt und alle anderen Dinge in Windeseile und mit riesiger Vorfreude erledigt. In Barcelona blieb ich zwei Tage bei meiner besten Freundin Tamsin, mit der ich auf Formentera aufgewachsen war und die gerade ihr zweites Kind bekommen hatte. Das normale Familienleben tat mir gut. Dann flog ich weiter nach Sevilla. Dort stieg ich in einen Überlandbus, der mich bis zur portugiesischen Grenze brachte, wo ich in einem kleinen Fischerstädtchen übernachtete. Am nächsten Tag machte ich noch eine kurze Einkaufstour für die Dinge, die ich in der Eile in Berlin vergessen hatte, ein Taschenmesser zum Beispiel und eine Gaskartusche, kaufte allerhand Nüsse und getrocknete Früchte. Dann fuhr ich mit dem Regionalbus hinauf in die Berge und stieg nachmittags in einem Bergdorf aus.

Da war ich nun. Endlich »on the road«, im herrlichen Hinterland der Algarve. Allein mit meinem Rucksack, unterwegs auf einer dreihundertdreißig Kilometer langen Wanderroute vom Südosten Portugals bis ans Südwestkap Europas. Ich lief bis Sonnenuntergang und baute mein Zelt in einem Olivenhain auf. Viel zu müde, um noch etwas zu essen, kroch ich in der Dämmerung in mein wunderbar leichtes Zelt und schlief sofort ein.

Tag für Tag wachte ich mit der aufgehenden Sonne auf, nahm den Schlafsack aus dem Zelt, hängte ihn zum Lüften entweder auf einen dicken Ast in der Sonne oder legte ihn auf die Isomatte daneben, setzte mich im Schneidersitz auf den Boden und genoss das Alleinsein. Meistens baute ich mein Nachtlager etwas abseits des markierten Wanderweges auf, folgte aber mehr oder weniger den vorgegebenen Tagesetappen. So musste ich mir keine großen Gedanken über Wasser- oder Essensnachschub machen, da ich rechtzeitig in Berg- oder Küstendörfer gelangte und in kleinen Tante-Emma-Läden oder Bars etwas Brot und Käse einkaufen konnte. Ich hatte einfach keine Lust, mich mit zu viel Essen abzuschleppen, ärgerte mich ein wenig über den mitgebrachten Gaskocher und die volle Gaskartusche, die ich sowieso nicht nutzte. Der Hunger ließ eh nach, nachdem der Körper sich an weniger Nahrung gewöhnt hatte. Ich hatte alles, was ich benötigte, mir fehlte es an nichts und niemandem. Außer einem französischen Pärchen an einer Wasserquelle traf ich keine Wanderer, nur hin und wieder alte Bäuerinnen und Bauern, die noch in den zum größten Teil verlassenen Bergdörfern lebten.

Eines Mittags ruhte ich mich in einem dieser Dörfer unter einem riesigen Schatten spendenden Baum aus und füllte meine zwei Wasserflaschen am Brunnen des Dorfplatzes auf, als ein uralter Mann auf mich zukam und mir eine große Tomate aus seinem Garten überreichte. Ich war gerührt von dieser Geste und bedankte mich auf Portañol, einer Art Mischung aus Spanisch und Portugiesisch, die ich einigermaßen beherrschte, jedoch verstand ich den alten Mann kaum ob der fehlenden Zähne in seinem Mund. Also schwiegen wir, unter dem Baum sitzend, vor uns hin. Ich versuchte, mir vorzustellen, was es wohl bedeutet, in diesem Dreißig-Seelen-Dorf zu leben, sich von den Erträgen des eigenen Gartens zu ernähren, vielleicht ein paar Kilo Kartoffeln gegen Schweinefleisch eines anderen Bauern zu tauschen, mit dem gesammelten Feuerholz den Kamin oder die Kochstelle zu beheizen. Wie alt mochte dieser Mann neben mir wohl sein mit seinem von der Sonne gegerbten Gesicht unter dem alten Filzhut? Ob ich selbst so alt werden könnte? Ob mir überhaupt genug Zeit bleiben würde, meine Zähne aus Altersgründen zu verlieren? Und in welchem Zustand wäre ich dann? Irgendwann hörte ich auf nachzudenken und folgte einfach nur dem Blick des Mannes in die Ferne, auf die andere Seite der Hügel. Es war windstill und ruhig, kein Laut zu vernehmen. Ich genoss diesen Moment und schloss die Augen.

Als mein Schweiß auf dem Rücken getrocknet war, sattelte ich meinen Rucksack wieder auf, verabschiedete mich mit einem festen Händedruck von dem alten Mann und lief, mit der wunderschön deformierten Tomate im Gepäck, den nächsten Hügel hinauf.

Nach etwa einer Stunde bemerkte ich, dass ich meine Wasserflaschen vergessen hatte. Abgesehen davon, dass mit ihnen viele schöne Erinnerungen verbunden waren, weil ich sie schon seit mehr als fünfzehn Jahren besaß und damals aus dem Bestand der Nationalen Volksarmee der DDR aufgekauft hatte – ich konnte nicht weiter ohne Wasser. Also lehnte ich meinen Rucksack gegen einen Baum und lief zurück ins Dorf. Der alte Mann war nicht mehr da. Aber meine Wasserflaschen waren es glücklicherweise noch. Ich nahm sie und machte mich auf den Rückweg. Während ich so vor mich hin stapfte, wurde mir plötzlich klar, dass ich nicht unbedingt einem Ziel folgen musste. Es ging nicht darum, irgendwo anzukommen, nicht darum, die Strecke hinter sich zu lassen. Sondern um den Weg an sich. Ich musste nicht auf Teufel komm raus das Tagespensum erfüllen oder der Wegmarkierung folgen, sondern konnte Pausen machen, wo ich wollte, konnte Abweichungen folgen und später zurück auf den Hauptpfad kommen und einfach das Laufen selbst genießen. Das Eintauchen in die Bewegung. Das hatte ich verstanden während der zwei Stunden, die ich ins Dorf und wieder zurück brauchte.

Eigentlich wusste ich schon lange, dass dieser Satz »Der Weg ist das Ziel« beim Wandern wirklich stimmt. Jedoch war mir das noch nie so klar wie in diesem Moment in Portugal. Ja, tatsächlich hatte ich schon sehr viele Trekkingtouren mit meinem Mann unternommen in den vergangenen zwanzig Jahren, und das auf der ganzen Welt. Der Unterschied zu meiner Wanderung durch Portugal bestand aber darin, dass ich diese hier ganz allein unternahm. Das hatte ich schon so lange gewollt. Jetzt war ich also hier und konnte es kaum fassen, wie glücklich ich darüber war, auf mich gestellt zu sein. Ich versuchte, über meine Krankheit nachzudenken, was sie für mich bedeuten würde, und holte immer mal wieder die mittlerweile völlig zerknitterten Blätter aus dem Rucksack heraus, die ich von meiner Mutter in den letzten Wochen per E-Mail zugeschickt bekommen und ausgedruckt hatte. Es waren Anleitungen zur Ernährungsumstellung und Zusammenstellungen zu alternativen Heilmethoden für Parkinsonkranke. Aber irgendwie lag die Vorstellung, dass ich richtiggehend krank war, noch so weit weg für mich, dass ich an Heilmethoden nicht wirklich denken konnte. Ich befasste mich demnach eher mit dem, was ich sowieso schon von früher gut kannte: und zwar mit der Entgiftung und Entschlackung meines Körpers und der Wiedererlangung der körperlichen Fitness.

 

Das Meer hatte ich ganz unverhofft nach einem Aufstieg aus dem Pinienwald gesehen. Plötzlich lag es vor mir. Zwar noch in der Ferne, aber mir fehlte nur eine Stunde Marsch, um es zu erreichen. Vorher musste ich noch die Gesteinswüste durchqueren, die hinab in ein kleines Städtchen führte. Rechts neben dem Weg erstreckte sich das sattgrüne Flusstal, welches in den Atlantik mündete und an dessen Ufer ich campen würde.

Nach ein paar Tagen beschloss ich dann aber doch, mir ein Gästezimmer in einem kleinen Ort in der Nähe zu mieten. Ich gab meiner Sehnsucht nach einem Bett und einer heißen Dusche nach. Nicht nur, dass meine Klamotten inzwischen ziemlich dreckig waren und an meinem Körper schlabberten, weil ich wahrscheinlich erheblich abgenommen hatte. Ich hatte mir auch seit fast drei Wochen meine langen Haare nicht mehr gebürstet, die Beine nicht rasiert, geschweige denn in den Spiegel gesehen. Ich muss ganz schön verwildert ausgesehen haben. Der Surfer, dem das Gästehaus gehörte, wirkte anfangs ziemlich angewidert von mir, nahm aber naserümpfend meine Klamotten entgegen und stopfte sie in die Waschmaschine, die sich in seiner Garage befand. Ich sah mich in der Garage um und bemerkte die vielen Surfbretter in allen Größen und Formen. Manche waren kurz mit spitzer Nase, andere ganz lang mit rundem Ende. Was der Unterschied war? Keine Ahnung. Ich wusste auch nicht, warum sie so viele unterschiedliche Flossen hatten, und war neugierig, darüber zu erfahren.

Ich hatte die letzten Tage am Strand vor allem damit verbracht, den Surfern dabei zuzusehen, wie sie mit einer unglaublichen Eleganz und Leichtigkeit durch die brechenden Wellen hinaus auf das Meer paddelten, umdrehten, irgendwann geschickt auf ihrem Surfbrett standen und parallel zur anschwellenden Welle entlangglitten. Kurz bevor diese brach, ließen sie sich kopfüber ins Wasser fallen, um erneut zurück ins Meer zu paddeln.

Das wollte ich auch lernen! Warum kam ich erst jetzt auf die Idee? Als absolute Wasserratte hätte mir das doch viel früher einfallen müssen! Und erst jetzt, mit einundvierzig Jahren, also viel zu spät und außerdem noch mit Mister Parkinson beziehungsweise Mr P – wie ich ihn mittlerweile nannte – an meiner Seite, beschloss ich, hier an der portugiesischen Atlantikküste Surfunterricht zu nehmen. Das konnte ich beim besten Willen nicht allein hinbekommen. Die weitere Wanderung gen Norden musste warten, ich wollte jetzt endlich surfen lernen! Damals wollte ich mir auch noch beweisen, dass ich trotz Mr P noch alles schaffen würde. Ich wollte meinen Ehrgeiz herausfordern – und außerdem war ich natürlich beeindruckt von der souveränen Coolness der Surfer.

Es gab in der Nähe zwei junge und hübsche Portugiesen, die vor Kurzem eine kleine Surfschule gegründet hatten. Ich fragte sie, ob sie mir Unterricht geben könnten. Und so holten sie mich jeden Morgen in ihrem VW-Bus vom Gästehaus ab und fuhren mit mir an den Strand. Erst mal gab’s Trockenübungen. Trotz meiner neu gewonnenen körperlichen Fitness fiel es mir zunächst schwer, in einem Satz auf das im Sand liegende Brett zu springen und die richtige Position zu finden, derer es bedurfte, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Irgendwann klappte es und es ging ins Wasser, um das Aufstehen auf dem Brett zu üben. Puh, was war das schwierig. Ich sprach mit meinen Surflehrern nicht über meine bis dahin noch leichte Behinderung. Ich wollte einfach nur ein normaler Anfänger mit möglichst schneller Lernfähigkeit sein. Egal, was in ein paar Jahren sein mochte: Jetzt fühlte ich mich noch fähig genug, alles zu lernen. Auch das Surfen. Immer und immer wieder zog ich das große blaue Schaumstoff-Surfbrett, das Anfängern wegen des besseren Auftriebs und der wesentlich leichteren Handhabung gegeben wird, durch die kleinen gebrochenen Weißwasserwellen in Richtung Meer, drehte mich dann zum Strand um, legte mich auf das Brett und versuchte, mit dem Schub der nächsten anrollenden Welle genügend Geschwindigkeit zu erlangen, um mich ungelenk aufzurichten. Meistens fiel ich sofort wieder in das seichte Wasser und kam mir vor wie ein gestrandeter Wal. Egal. Ich genoss diese Sisyphosarbeit trotzdem. Es beruhigte mich. Meine Gedanken schalteten ab und ich konzentrierte mich nur auf den mechanischen Vorgang.

Nach etwa einer Woche klappte es tatsächlich. Ich stand auf dem Brett und surfte auf den kleinen Wellen direkt in die Arme der hübschen Surflehrer, die knietief im Wasser standen und mir unaufhörlich Anweisungen gaben. Ich war überglücklich. Die Mühen hatten sich gelohnt.

Trotzdem wusste ich, dass es noch ein sehr langer Weg sein würde, bis ich richtig surfen können würde. Die meisten Einheimischen erzählten mir, dass sie Surfen gelernt hatten, bevor sie überhaupt Fahrrad fahren konnten, also von sehr klein auf. Für sie war es ganz normal, mit dem Brett in die Wellen zu springen und das Meer in all seiner Schönheit und Brutalität zu erleben. Ich hingegen war ein totaler Neuling auf dem Gebiet und freute mich über jeden kleinen Fortschritt.

Zufrieden ließ ich mich zurück ins Gästehaus fahren und packte meinen Rucksack. Denn am nächsten Tag wollte ich meine Wanderung an der Küste entlang Richtung Norden fortsetzen. Da ich aber beschlossen hatte, noch mal hierher zurückzukehren, ließ ich einige Sachen wie den Gaskocher, die Wanderstöcke, ein Buch und Wechselwäsche zurück. Und nicht nur die unnötigen Dinge, die ich nicht bei mir haben wollte. Auch all die Gedanken zu meiner aktuellen Lage sollten zurückbleiben. Im Grunde wollte ich mich befreien von der Last, ständig über meine neue Lebenssituation mit Parkinson nachdenken zu müssen. Denn ich wollte, ich musste mich endlich mit einem anderen Thema auseinandersetzen, das ich seit über einem halben Jahr mit mir herumtrug und noch überhaupt nicht richtig verarbeitet hatte: meine Trennung von Tammi.

 

Über unsere gemeinsame Geschichte dachte ich nach, als ich am nächsten Strand mein Zelt aufbaute, den Schlafsack schüttelte und die Turnschuhe vom Sand befreite. Ich heulte, als ich Tom-Waits-Balladen aus der kleinen mitgebrachten Musikbox hörte. War verunsichert und bereute plötzlich die Entscheidung, den Mann verlassen zu haben, mit dem ich – mit kurzer Unterbrechung – mein halbes Erwachsenenleben verbracht hatte. All das Vertraute, die Gemeinsamkeiten, die tiefen Gefühle und die Geborgenheit hatte ich wie eine Nabelschnur gekappt. Nun war ich zum ersten Mal in meinem Leben ganz auf mich allein gestellt. Und das ausgerechnet jetzt, mit dieser Diagnose im Gepäck. Dennoch fühlte es sich im nächsten Moment wieder richtig an. Es war, als ob ich mit meinen einundvierzig Jahren endlich richtig selbstständig geworden wäre. Vielleicht auch, weil es die erste lange Wanderung war, die ich ohne ihn machte. Er hatte mich mit Anfang zwanzig ins Wandern eingeführt – zu einer Zeit, als diese Art des Reisens noch ziemlich unpopulär war und nur von sportlichen Rentnern oder totalen Freaks betrieben wurde. Heute existiert ja ein ganzer Industriezweig rund ums Wandern.

Ich erinnerte mich an unsere Flitterwochen vor knapp zehn Jahren, die wir wandernd in der Wildnis Neuseelands verbracht hatten. Bereits damals hatte ich Reisetagebücher geschrieben. Als wir acht Jahre später erneut nach Neuseeland fuhren, nahm ich es mit, um darin zu lesen. Wir wussten beide, dass die Reise eine Art Abschiedstour für unsere Ehe sein würde. Zumindest habe ich es so empfunden. Er wollte es damals noch nicht so richtig wahrhaben und weigerte sich, in dem Flitterwochenbuch zu lesen. Ich begann ein neues Tagebuch – das ich wiederum bis heute nicht wieder angesehen habe …