War das die Wende, die wir wollten? - Burga Kalinowski - E-Book

War das die Wende, die wir wollten? E-Book

Burga Kalinowski

4,8

Beschreibung

War das die Wende, die wir wollten?? Diese Frage bewegt bis heute die Menschen im Osten. Aus den Anworten darauf ist ein ungewöhnliches Buch entstanden - kritisch, nachdenklich, zornig. Ehrlich. Mit dabei Jutta Wachowiak (Schauspielerin), Ronald Paris (Maler und Grafiker), Rainer Kirsch (Schriftsteller), Hans-Eckardt Wenzel (Musiker und Regisseur), Peter Bause (Schauspieler), Daniel Rapoport (Wissenschaftler), Victor Grossman (Journalist), Gisela Oechel­haeuser (Kabarettistin), Peter-Michael Diestel (Anwalt), Walfriede Schmitt (Schauspielerin), Gerd Fehres (1989/1990 Botschafter in Ungarn), Manfred Stolpe (Ministerpräsident a. D.), Nico Hollmann (Musiker), Willibald Nebel (Kalikumpel Bischofferode), Alicia Garate (chilenische Emigrantin)

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Impressum

ISBN eBook 978-3-355-50020-3

ISBN Print 978-3-355-01834-0

© 2015 Verlag Neues Leben, Berlin

Umschlaggestaltung: Buchgut, Berlin, unter Verwendung eines Motivs von ullstein bild – Roger Viollet/Jean-Paul Guilloteau

Die Bücher des Verlags Neues Leben erscheinen in der Eulenspiegel Verlagsgruppe.

www.eulenspiegel-verlagsgruppe.de

Burga Kalinowski

War das die Wende, die wir wollten?

Gespräche mit Zeitgenossen

Eine einfache Frage

Geschichte und Gegenwart – ständig treffen sie aufeinander in Scharmützeln, Gefechten und Kämpfen. Bestehen auf Recht­haben, Wahrheit und Wahrhaftigkeit. Vergleichen Lug und Trug der Politik. Beanspruchen Wollen und Willen der Bürger – streiten um Erkenntnis, die tauglich ist für Zukunft und gut für Menschen. Ohne Erinnerung geht dabei gar nichts.

Erinnern: Tänzeln über ein Minenfeld. Auch im glücklich gelungenen Fall – gefährlich. Man weiß nie, welche Vorstellung wird sofort in der Luft zerfetzt, welche Bilder bleiben, welche werden überschmiert oder, schlimmer noch, vernichtet und welche werden als Waffe zur Lüge umretuschiert.

Ostmenschen wissen, wie das geht: 25 Jahre lang haben und wurden sie auf die richtige Erinnerung hin trainiert. Mittlerweile trauen etliche DDRler ihrem eigenen Leben nicht mehr so ganz übern Weg. Ein bemerkenswerter Propaganda-Erfolg der neuen Erinnerungs- und Gedenkkultur: Das politisch Zeit­gemäße als Erinnerungsimplantat.

Realitätssinn schüttelt sich wie ein nasser Pudel.

Kein Grund zum Heulen, vielleicht aber für verschiedene Blicke zurück – nach einem Vierteljahrhundert.

Nicht alle Menschen gehen das Risiko des Rückblicks ein. Erinnern heißt eben auch Suchen und Vergleichen, führt zu überraschender Antwort. Aus der Distanz und sogar durch Zufall werden Konturen und Kontraste der Bilder im Rückspiegel der Zeit schärfer. Man guckt genauer hin und sieht auf einmal mehr. So oder so oder so.

»War das die Wende, die wir wollten?« So eine simple Frage, dachte ich anfangs. Bei über fünfzig Personen – sehr bekannte und ganz unbekannte – habe ich angefragt, ob sie mir darauf ihre ureigene Antwort geben wollen, mit zweiundvierzig habe ich gesprochen, siebenundzwanzig sind nun im Buch vertreten. Es ist ausschließlich eine Platzfrage. Alle haben die Interviews autorisiert.

War das die Wende, die wir wollten? Eine einfache Frage – keine einfachen Antworten. Immer eindrucksvolle Begegnungen.

Danke für die Gespräche, Geschichten und Gedanken.

Burga Kalinowski

Sie können die Dreigroschenoper heut so spielen, als wär 1928

Peter Bause

Berlin | Schauspieler | Jahrgang 1941

1989 – was war das für eine Zeit?

Es war eine Zeit, von der Werner Finck gesagt hätte: Es gibt Zeiten, da braucht man bloß ein kleines Hämmerchen, haut an die Glocke – und es entsteht ein großer Ton. So war die Zeit 1989 in der DDR.

Künstlerisch hochbefriedigend, Theater oder Kabarett zu machen: Jede aktuelle Anspielung wurde sofort mit großem Spaß und Verständnis vom Publikum aufgenommen. Natürlich begriffen die Leute den Unterschied zwischen »ND« und Wirklichkeit und waren dankbar, dass es, wenn schon nicht im Fernsehen, aber auf der Bühne gesagt wurde. Und das war ein Stück Erfüllung, weswegen man ja auf der Bühne steht.

Sie gehörten damals dem Berliner Ensemble an. Erinnern Sie sich an konkrete Situationen?

Ja. Beispiel: Ein Kollege brachte es fertig, als gerade der »Sputnik« verboten wurde, in der »Dreigroschenoper« aufzuspringen, loszulaufen und zu rufen: Die Polizei kommt. Das war noch Originaltext. Dann sagte er aber weiter: Die Polizei kommt, die denken, hier wird der »Sputnik« gedruckt. Und was sich dann abspielte, war natürlich höchstes Vergnügen.

Diese Auseinandersetzung mit der Zeit fand auch hinter der Bühne statt?

Selbstverständlich diskutierten wir die Ereignisse, die draußen passierten. So wie überall. Und ich muss noch mal betonen, dass wir im Berliner Ensemble sowieso nie ein Blatt vorn Mund genommen und uns immer frank und frei geäußert haben. Dafür sorgte schon Manfred Wekwerth, unser Intendant. Er hat Fragen und Diskussionen immer sehr befördert. Andere mögen andere Eindrücke haben, ich kann mich nicht beschweren. Mir ging es sehr gut am Berliner Ensemble mit meinen Rollen, mit den Erfolgen – und mit meiner Meinung habe ich auch nicht hinterm Berg gehalten, muss ich schon so sagen. Eine andere Sache ist die Frage nach der Realität. Die wurde immer beklemmender, je mehr Leute das Land verlassen haben. Vor allem junge Leute, wie mein ältester Sohn. Erschreckend, wie die DDR-Führung damit umgegangen ist. Dieser unsägliche Tränen-Satz von Erich Honecker! Er hatte es im Faschismus doch selber erlebt, wie das ist, wenn Familien getrennt werden oder Gewalt herrscht. Und dass die alten Männer das so vergessen konnten und für ihren Machterhalt so strampelten, das war das Erschreckendste. Aber dass es dann so kommt, wie es gekommen ist, das wusste man natürlich nicht.

Hatten Sie das Gefühl, es muss sich was ändern?

Ja.

Hatten Sie eine Vorstellung, was und wie?

Nein. Es war nur dieses Gefühl, dass die Sache nicht mehr stimmte, keine Balance mehr. Deswegen standen auch viele Künstler auf der Barrikade, und die Unterhaltungskünstler waren uns sogar ein bisschen mit der Initiative voraus. Ich glaube, die Gesellschaftsordnung stand nicht infrage, der Sozialismus sollte ein anderer werden, ein demokratischer und ein offener Sozialismus. Diese Vorstellung hatten wahrscheinlich die meisten DDR-Bürger. Alles andere war irgendwie unvorstellbar. Andererseits war es auch unvorstellbar gewesen, dass Menschen auf die Idee kommen, ein Land zu teilen und eine Stadt abzuriegeln. Wenn ich nicht mehr argumentieren kann, schließe ich die Leute ein.

Haben Sie den Mauerbau in Berlin erlebt?

Nein, ich war Student. Wir hatten Ferien. Ich war in Magdeburg und hab erlebt, wie Mutter und Großmutter vor dem Radio saßen und dachten, jetzt gibt es Krieg.

Dann war der 9. November 89 …

… eine große Erleichterung. Wir waren mit dem Theater noch im Mai 1989 in Israel gewesen. Als wir uns Jerusalem ansahen, sagte der Reiseleiter im Bus: Und hier nach dem Sechs-Tage-Krieg hat Teddy Kollek, der Bürgermeister, sofort die Mauer geöffnet. Darauf sagte ein Kollege: Das wird Herr Krack – das war der damalige Oberbürgermeister von Ost-Berlin – nie machen. So war die Situation. Es war unvorstellbar und der Mauerfall dann natürlich ein ungeheures Ereignis. Und zunächst dachten wir alle auch, wir könnten weiterarbeiten im DDR-Stil: Für Kultur ist immer Geld da.

Ein Irrtum.

Gewissermaßen. Das hat sich dann leider erledigt, und es bestätigte sich, was wir früher im langweiligen ML-Unterricht an der Hochschule nie hören wollten: wie schlecht der Kapitalismus ist. Da hörte man nicht hin, erst recht nicht, wenn man sich am Vortage die Hacken abgelaufen hatte – nach einem Eimer Farbe zum Beispiel. Hätte man besser hingehört, wäre man nicht überrascht gewesen darüber, wie die Dinge dann gelaufen sind. Da es keine Alternative gibt, herrscht der Kapitalismus jetzt wirklich ungeniert. Angefangen mit den Entlassungen bis hin zu den vielen Kriegen, zurzeit ist die Welt außer Rand und Band. Alles ganz ungeniert. Wie man es kannte aus dem Kalten Krieg.

Das BE war oft auf Auslansdgastspielen. Wurden Sie da nach der Grundsituation in der DDR gefragt?

Ja, vor allem natürlich von den Künstlerkollegen, mit denen wir zusammen waren und die sich für die sozialen Bedingungen von uns DDR-Künstlern interessierten. Wenn wir denen von lebenslangen Verträgen erzählten, dass man nicht einfach rausfliegen konnte, nicht monatsweise von einem Engagement zum anderen hupfen musste, sondern in einem beständigen Ensemble künstlerisch wachsen konnte, dann war das für sie entscheidend. Das wollten die wissen. Die DDR stand als Symbol dafür: Wie sicher lebst du. Wie sicher arbeitest du. Und wenn man dann sagte so und so, dann waren die fassungslos. In Westdeutschland haben wir uns aber unter Wert verkauft. Wir haben kaum über die sozialen Errungenschaften gesprochen, die heute so mühsam erkämpft werden wie Ganztagsschule oder Kita. Wir haben überhaupt wenig Partei bezogen für diesen Staat.

Nun ist er weg und die soziale Realität ebenfalls.

Ja, jetzt haben wir die kapitalistische Realität am Hals, Ost wie West. Na gut. Nun muss man für Kultur Sponsoren suchen. Eine kleine Geschichte aus Kanada: Das Berliner Ensemble war von der Universität eingeladen, irgendwann in den achtziger Jahren. Die konnte das aber gar nicht bezahlen und suchte sich also einen Sponsor, den Besitzer einer großen Kaufhauskette. Alles gut. Beim Mittagessen fragte der dann ernsthaft, ob Herr Brecht auch käme. Keine Ahnung, aber Geld. Für uns war neu, dass man selbst Geld besorgen muss, um Kunst zu ermöglichen. Das war ja hier gar nicht die Frage. Die Entwicklung von Projekten, solange sie nicht staatsfeindlich waren, lief eben. Viele Programme hätten wir nicht erarbeiten können, wenn nicht die Mittel geflossen wären.

Wie schnell kam man in den Geruch der Staatsfeindlichkeit?

Kann ich Ihnen nicht erklären.

Waren Sie in einer Partei?

Nein, in keiner.

Hatten Sie dadurch Nachteile?

Nein, ich kann das nicht bestätigen. Ich hatte gute Arbeit und konnte normal arbeiten. Im Nachhinein stellte man aber doch fest, dass vor allem in den Stadttheatern manchmal Familien engagiert wurden, bei denen beide in der Partei waren. Das waren Ungerechtigkeiten, die uns begegneten, denn um in ein Ensemble zu kommen, egal welcher Art, gab es doch große Rangeleien auf dem freien Markt.

Freier Markt in der DDR?

Ja, meine Frau beispielsweise war freischaffend. Es gab eine Menge freischaffender Kollegen: im Fernsehen oder Synchron oder Rundfunk, bei Bühne und Film. Zum Schluss gab es sogar Überlegungen, für freie Schauspieler, die in keinem Betrieb waren und keinen bezahlten Urlaub hatten, also für diese Kollegen Urlaub gesetzlich zu regeln. Das wollte oder sollte dann die Gewerkschaft bezahlen. Ebenfalls am Ende der DDR gab es noch Pläne, dass die weiterhin arbeitenden Rentner vom Kulturministerium übernommen werden sollten. Dadurch wären an den Theatern Stellen frei geworden für junge Leute, ohne dass man älteren Kollegen hätte kündigen müssen.

Eine sehr soziale Idee.

Kam nie zur Ausführung. Aber die Überlegung gab’s.

Wie ging es nach der Wende weiter?

Wir wurden rausgeschmissen. Ruckzuck. Zunächst wurden die Verträge erst mal umgewandelt, d. h. sie wurden aufgelöst und gingen in andere Verträge über, solo hieß das wohl, fragen Sie mich jetzt nicht genau. Jedenfalls unterschrieben wir das alles ohne Arg. Wir wussten ja nicht, was damit beabsichtigt wurde.

Sie waren naiv.

Ja, das wäre der freundliche Ausdruck, etwas naiv. Was uns auch ein bisschen verblendete hat, war die Erhöhung der Gagen. Dadurch war die Handhabe gegeben, Kollegen, die unter fünfzehn Jahre am Theater waren, gleich zu entlassen. Die anderen wurden dann ausbezahlt. Mit Speck fängt man Mäuse – Geld spielte keine Rolle.

Hauptsache weg.

Darum ging es. Warum die sich gerade am Berliner Ensemble so vergriffen haben, ist mir bis heute ein Rätsel. Ich habe Wekwerth gefragt vor ein paar Jahren: Na ja, sagte er, es war eine politische Entscheidung. Neulich meinte ein Kollege, die müssen alle darauf gelauert haben, das berühmte Berliner Ensemble zu übernehmen und gnadenlos fertigzumachen.

Was passierte mit Ihnen – nun ein Schauspieler ohne Bühne?

So traurig, wie es klingt: Für mich kam die Wende passend. Ich war im blendenden Mannesalter, Ende vierzig, und musste, konnte neu anfangen. Nun kamen auch die Rollen, mit denen ich am BE nicht besetzt worden wäre: Lear, Wallenstein, Hauptmann von Köpenick. Für mich bedeutete die Wende tatsächlich einen Wendepunkt und künstlerische Weiterentwicklung. Und mit meinen fünfzehn Jahren Brecht-Theater war man auch handwerklich so weit, dass ich bis heute von den Erfahrungen zehre, von der Einstellung, vom Spielen. Im Nachhinein muss ich sagen, dass auch die befristeten Verträge sozusagen ein Segen sind: Man muss sich niemandem unterwerfen. Bloß weil ich am Staatstheater Stuttgart bin, bin ich nicht gezwungen, mich nackend auszuziehen, damit ich im Vertrag bleibe in irgendwelchen Stücken. Das braucht man alles nicht. Irgendwann ist dann Schluss – und es beginnt was Neues. Und das ist spannend.

Für Ost-Künstler neu.

Ja, und sicher war es nicht immer einfach. Wir kamen alle aus Ensembles. Wir kannten uns. Wir wussten, wie effektiv es ist, im Ensemble zu proben. Weil man weiß, was der kann, man muss sich nicht belauern, was macht der?, wie spielt der? usw., sondern es war kameradschaftliche Zusammenarbeit für eine gesamte Ensemble-Leistung. Das Berliner Ensemble hat auch deshalb Weltleistungen vollbracht. Dass wir immer versucht haben, das denen im Westen zu erklären, war verlorene Zeit. Heute ist das alles zugeschüttet, es hat sich alles erledigt. Man darf aber nicht vergessen, dass wir natürlich mit einem großen Schatz an Wissen und, ich wiederhole mich, auch an Können in diese neue Welt getreten sind. Und wenn man Glück hatte – und dazu rechne ich mich –, ging’s auf. Viele sind mit ihrem Können versackt und nicht mehr da und auch zerbrochen.

Kennen Sie Beispiele?

Ich könnte jetzt Namen aufzählen, die nicht mehr auftauchen, von der Herzlosigkeit erzählen und von der Interessenlosigkeit, mit der man so zu tun bekam. Ich meine, dass Wolf Kaiser aus dem Fenster sprang, hatte ja Gründe und nicht nur mit dem Asthma zu tun. Für Kaiser, da waren wir alle schon nicht mehr da, haben sie zwar eine Geburtstagsfeier gemacht, aber keiner hat gesagt: Mensch, Kaiser, machen Sie noch mal die alten Brechtlieder und treten auf. Nee, war nicht.

Dagegen diese Geschichte: Erika Pelikowsky war schon todkrank, probierte aber noch ein Einpersonenstück. Zu ihrem Geburtstag versammelten wir uns alle im Foyer im BE und Wekwerth hielt eine Rede auf diese todkranke Frau, die jeden Tag probte, und jeder wusste, das wird nie was. Aber Wekwerth überreichte ihr eine Karte mit dem Datum der Premiere. Bis dahin bist du wieder gesund, sagte er. Vier Tage später ist sie gestorben. Man kann schon sagen, es waren andere Verhältnisse.

Wo spielen Sie heute?

Beim Tourneeunternehmen Landgraf. Das größte in Europa. Wo wir seit 1993/94 arbeiten und dort auch Brecht machen mit unserer Wanderbühne. Das kommt an wie verrückt. Immer ausverkauft.

Wanderbühne. Das klingt so wie ganz früher, als Theater anfing.

Tourneetheater sind eben so – von Ort zu Ort. In dem Eurostudio ist natürlich alles hochqualifiziert. Wir leben in guten Hotels, wir spielen gute Stücke, und wir spielen auf guten Bühnen, die nun nicht mehr bespielt werden von festen Ensembles. Die Bühnenhäuser bestehen zwar noch, aber die Ensembles existieren nicht mehr.

Was machen Sie zur Zeit?

Zur Zeit probe ich am Stuttgarter Schauspiel für das Stück »Jeder stirbt für sich allein« nach dem Roman von Hans Fallada. In dieser Geschichte aus der Nazizeit spielen meine Frau, Hellena Büttner, und ich das Ehepaar Otto und Anna Quangel, die ihren Sohn im Krieg verloren haben und mit einfachen Mitteln gegen das NS-Regime kämpfen. Eine bewegende und mahnende Geschichte. Das authentische Ehepaar Otto und Elise Hampel wurde 1943 von den Nazis in Plötzensee hingerichtet. Mit dem Stück werden wir auch auf Tournee gehen. Erwähnen möchte ich unbedingt das Stück »Judenbank«, das erfolgreich in den Hamburger Kammerspielen gelaufen ist.

Sie sind zufrieden?

In der Hinsicht sehen Sie mich sehr, ach, das kann man ruhig mal sagen in dem Alter, eigentlich sehr zufrieden und sehr optimistisch. Nur wenn ich auf die Welt gucke, erschrecke ich, weil man doch um die andere Lebenssache betrogen wurde: Ich hab gedacht, vielleicht Sie auch, dass nach der Wende der Kalte Krieg aufhört und die Welt in Frieden lebt. Und dass das nicht geht, das ist die große Enttäuschung des Lebens.

Das war Ihre Erwartung an die Wende?

Ja, die Friedenserwartung. Die Friedenserwartung oder, wie Brecht meinte, dass der Mensch dem Menschen gut sein soll. Dass das nicht geht im Kapitalismus war zu befürchten, aber dass er so ungeniert auftritt, so ungeniert …! Diese vielen Entlassungen zu Tausenden, die es in den Neunzigern gab, ich meine in Westdeutschland, in der Bundesrepublik in der alten, das hätte man sich früher nicht getraut angesichts des anderen deutschen Staates.

Weil es in sozialen Fragen ein bisschen anders zuging?

Ja. Und dass das jetzt alles verteufelt wird, das tut weh. Trotzdem muss ich sagen, die blühenden Landschaften, von denen Kohl gesprochen hat, sie sind für mich da, die blühenden Landschaften, aber es fehlt so vieles dazwischen – an Arbeit, an Menschlichkeit, an Verständnis. Es ist viel verloren gegangen.

Was nehmen Sie der DDR übel?

Tja, was nehm ich ihr übel? Ich nehme ihr übel, dass man – heute klingt das so lächerlich – nicht reisen durfte. Heute entscheidet das Geld. Man kann keinen mehr verantwortlich machen.

Was nehmen Sie dem neuen Deutschland übel?

Dass sie das BE geschlossen haben, das nehme ich ihnen übel, und dass sie uns oft nicht gut behandelt haben. Die Menschen haben nicht verdient, dass man sie so nackt stehen lässt. Es ist eine nackte Zeit – Stücke von Brecht können wir heute nahtlos spielen. Sie können die Dreigroschenoper mit ihrer Armut und mit ihrer Korruption heute so spielen, als wär 1928. Das nehme ich übel.

Was möchte Sie als Schauspieler noch machen?

Der große Traum für mich bleibt immer und immer noch, einen großen Brecht-Abend zu machen, noch mal die Lieder zu singen und die Texte zu sprechen, die uns heute noch was zu sagen haben.

Das ist eine Menge Wahrheit.

Ja. Und sie wird mit jedem Tag aktueller.

Wie in einem Museum durch die eigene Zukunft

Matthias Brenner

Berlin | Schauspieler und Regisseur, seit 2011 Intendant des Neuen Theaters Halle | Jahrgang 1957

In der Theaterstadt Meinigen geboren, beide Eltern Schauspieler – Sie lernten Dreher?

Manchmal nimmt man einen längeren Anlauf und schlägt eben einen Bogen. Ich machte Abitur mit Berufsausbildung, ging dann zum Grundwehrdienst bei der Nationalen Volksarmee und anschließend von 1979 bis 1982 an die Schauspielschule Berlin, heute »Ernst Busch«.

Theater und Wende gehören für Sie zusammen. Wie fing es an?

Für mich schon damals beim Studium in Berlin. Ich wollte diese Stadt aufsaugen, und natürlich wollte ich mich irgendwie »einberlinern«. Holger Mahlich, damals Schauspieler am Berliner Ensemble, wusste eine Wohnung. Ihn kannte ich vom BE, wo wir in dieser legendären Inszenierung »Blaue Pferde auf rotem Gras« von Michael Schatrow die erste Studententruppe waren, die die Komsomolzen spielte. Ein Experiment mit Schauspielstudenten in der Regie von Christoph Schroth. Mit Holger Mahlich bin ich also in die Linienstraße gefahren, in irgendein dunkles Haus in der Nähe des Koppenplatzes im heruntergekommenen Scheunenviertel!

Heute eine begehrte und teure Ecke.

Ja, kein Vergleich mehr. Dann klingelten wir bei einer Frau Lubberich, und Mahlich sagte: »Das ist der Student.« Dann sah ich mir die Dachwohnung an, und es waren nicht mal Dielen drin. Natürlich war mir das egal, das war halt so. Frau Lubberich sagte, gehen Sie zur Polizei, sagen Sie die Adresse und meinen Namen. Ich bin zu den Bullen, und die fragten: »Aha, und da wohnen Sie jetzt?« Ich sagte Ja, und der guckte mich irgendwie mit wissenden Augen an, trug die Adresse ein in den Personalausweis, gab mir den Stempel und das war für mich sozusagen die Greencard für Berlin. Später erfuhr ich irgendwann, dass das Haus der Treuhand gehörte … Vom Schrottplatz holten wir eine Badewanne und bauten die ein – es war abenteuerlich. Diese Ereignisse fielen genau in die spannende Zeit Anfang der Achtziger. Die Stimmung im Land war eher auf Umbruch aus als auf Stagnation.

So ein Grundgefühl hat immer auch mit Menschen und Ereignissen zu tun.

Natürlich. Sehen Sie sich die Jahre an: 1980, 81, 82, da begann die Aktion Schwerter zu Pflugscharen, Proteste gegen Pershing und SS20-Atomraketen, die Polenkrise und Jaruzelski. Auf der einen Seite die »Hilfskonvois aus der DDR für die polnische Bevölkerung gegen die Konterrevolution« – und auf der anderen Seite Nachdenken darüber, ob und was hier im eigenen Lande an Reformen möglich wäre. Ich war in meiner früheren Jugend alles andere als ein Widerstandskämpfer, und mein Gehirn bildete sich politisch nur sehr allmählich aus. Das hatte mit vielen Begegnungen mit Menschen zu tun, nichts mit Zeitungen und Literatur. Das war nicht mein Stil. Es waren Begegnugen mit Persönlichkeiten wie Kurt Veth, Dozent an der Schauspielschule. Er war für mich eines der zentralen »Nutze-Es-Aus-Gehirne« – nie wieder habe ich jemanden erlebt, der so ein enzyklopädisches Denken und Wissen hatte wie er. Man sagte »Martin Luther« und los ging’s, man sagte »Clara Zetkin« – los ging’s. Es sprudelte nur so aus ihm heraus. Oder »Spanienkrieg«, »Hemingway« oder »Gottfried Benn« – man erfuhr einfach enorm viel. In seinem Hirn konnte man damals schon »googeln«! Später sind ihm, glaube ich, wohl Stasi-Vorwürfe gemacht worden, als er während der Wende letzter Rektor des alten System war. Aber jeder, den ich sehe oder treffe, der ihn kannte – der Name Kurt Veth zaubert allen ein Lächeln aufs Gesicht! Das ist halt ein weitwinkliger Mensch gewesen, der unsere Geschichten mit geschrieben hat. Zu diesem Kreis gehörte für mich Karl Mickel, auch ein Dozent, und das alles war für mich sozusagen: Wow! Ich war glücklich, in dieser Stadt zu sein.

Trotz der Mauer?

Ja – die Mauer war spannend, so absurd das jetzt klingt, aber sie hatte eine, ich will sagen, voyeuristische Spannung, von der wir alle auch ein bisschen lebten. Wir kannten ja sehr viele Westberliner durch unseren Beruf, die kamen mit ihren Pässen rüber und bevölkerten unsere Theaterklubs. Wir hatten sozusagen immer den leicht sinnlichen Kontakt zum gelobten Land. Denen gegenüber war ich einer der kritischsten Menschen, weil ich meine Erfahrungen mit ihnen selber machen wollte. Mich hat damals Heiner Müllers Satz sehr berührt: »Wie soll ich mir eine Weltanschauung aneignen, wenn ich mir die Welt nicht anschauen kann?« Es gibt so Sätze, die hauen rein. Und die lassen dich nicht los. Das brachte mich ins Grübeln. Obwohl ich durch meine Erziehung, negativ ausgedrückt, ein eher »staatsnaher« Bursche war. Ich war auch, seit ich 16 war und bis in die Mitte der achtziger Jahre, in der Partei. Ich gehörte zu jenen meiner Generation, die meinten, wenn man verändern will, muss man teilnehmen, muss man nach innen reingehen. Dass das im Grunde unmöglich war, gestand ich mir nur sehr zögerlich und langsam ein. Das brachte mich in Auseinandersetzungen, verunsicherte mich, ließ mich anecken.

Sie waren ein Geradezu-Mensch.

Kann man so sagen. Na, wie auch immer, ich will die Menschen ins Zentrum rücken, das ist für mich die Prägung: die Begegnung mit Karl Mickel, Christian Grashof, unserem Schauspielprofessor Rudolf Penka, Gertrud Elisabeth Zillmer auf der einen Seite – und es gab andererseits eben auch Hans-Peter Minetti, den Rektor. Er war für mich ein ausgezeichneter Schauspieler, Künstler. Und dennoch, er war ein völlig verwerflich denkender, ideologisierter Mensch. Das war schwierig. Jene Erstgenannten halte ich für meine künstlerisch-seelischen Eltern. Sie haben mir das Gefühl gegeben, dass mein Rückgrat stark genug ist, mit meiner Meinung nicht hinter dem Berg zu halten, auch wenn sie dieser Meinung oft nicht waren. Ich hatte nie das Gefühl, sie wollen mein Denken zerstören. Dadurch konnte ich auch dem Hans-Peter Minetti meinen ganz persönlichen Widerstand entgegensetzen und hab mich damals entschieden, seiner »Einladung« in seine »Meisterklasse« an das »Theater im Palast« nicht zu folgen. Man sagte mir, du musst nach Annaberg-Buchholz gehen. Die haben gerade das Theater völlig neu rekonstruiert. Um es kurz zu machen: sechs, sieben meiner Kommilitonen, noch drei, vier aus Rostock und ein paar Regisseure und Dramaturgen – wir sind mit einem Schlag dahin gegangen.

Eine Invasion gewissermaßen.

So ähnlich. Jedenfalls war das eine großartige Zeit, eine ganz tolle Theaterzeit, wie eine Verlängerung des Studiums. Etwas bauernschlau habe ich dann zugelangt und bin unter anderem zum Dietmar Keller gegangen, das war der stellvertretende Kulturminister, ein sehr umgänglicher Mensch, der in dieser schwierigen Funktion immer auch Kulturminister der Menschen war und nicht nur des Staates. Der genehmigte uns ein sogenanntes Absolventenprojekt mit Fechtunterricht und Reiten, weil es dort eine berittene Natur-Bühne gibt, die Freilichtbühne Greifensteine – und das kriegten wir alles zu Füßen gelegt.

Das klingt ideal.

Das war ideal. Das war eine ganz großartige Zeit, in der wir die Sparte des Schauspiels in Eigenregie leiten konnten. Das hatte der damalige Intendant, nach mehreren Versuchen es anders zu sehen, uns dann doch überlassen. Kein Toben im Jugendwahn – wir haben das eher seriös gemacht, nach unseren Überzeugungen.

Von welcher Zeit sprechen wir?

Wir sprechen jetzt von 1985. Drei Jahre waren wir dort in Annaberg-Buchholz.

Im weiten Vorfeld der Wende 1989.

Genau. Aber es gehört zu meiner Wendeerfahrung. Die Annaberger Zeit ist für mich vor allem die Auseinandersetzung auch mit dem NATO-Doppelbeschluss, also wie ging man damit um. Ich fand es toll, dass der damalige Oberspielleiter Wolfgang Amberger immerhin der Einzige war, der offen sagte: Ich unterschreibe nicht, dass ich die Stationierung von SS-20 Raketen in der DDR gut finde. Er fand es furchtbar.

Diese Zeit in dieser Buntheit – üblicherweise ist die Rede mehr von grau, repressiv und vor allen Dingen nicht so differenziert wie Sie es gelebt haben.

Mag sein. Bis jetzt ist das Werk mir noch nicht begegnet, das die Zeit und ihr geistiges Klima tatsächlich wiedergibt. Bis jetzt ist mir auch noch nichts begegnet, was die Verhältnisse ehrlich wiedergibt. Es ist vielleicht schwer, weil in schnelllebigen Zeiten oder in brüchigen – wir merken das ja auch jetzt – schnell simplifiziert wird. Ich muss feststellen, dass sich heute vieles von dem wiederholt, was ich damals vom Innersten meiner Seele heraus zu bekämpfen suchte!

Die Annaberg-Buchholz-Zeit, das war für mich noch pure, ungebrochene, ja gläubige Lust, diesen Beruf weiter zu erlernen. Wir haben dort gelernt, uns in die Stadt zu infiltrieren. Das war mir wichtig, dass man das Publikum nicht nur im Zuschauerraum trifft, sondern auch am Kneipentisch hat oder auf der Straße – bereit zur Auseinandersetzung.

Ich hoffe, Sie hatten Ihr Publikum auch im Theater?

Ja, das Theater war voll. Das ist keine Verklärung. Man muss wissen: Wir haben dort Dürrenmatts Übersetzung von Shakespeares König Johann gemacht. Wir haben dort die Holländerbraut gemacht von Erwin Strittmatter, was ja äußerst umstritten war und heute auch noch wäre. An sich ein Stoff, der sich um die Befriedung nach der Nazizeit kümmert. Angelika Heimlich hat diese Aufführung gemacht, Axel Richter war bei uns, Joachim Siebenschuh vom Theater der Freundschaft in Berlin – man muss sich das so vorstellen: Wir hatten die Leitung und haben uns Regisseure gesucht, die Bock hatten, mit uns da unten was zu machen. Das muss ich meinem Ex-Intendanten lassen, er ließ uns machen. Was das bedeutet hat, ist mir jetzt klar, wo ich selbst Intendant bin – wir waren ja auch Großschnauzen, wir kamen aus Berlin, wussten alles besser und wollten uns ja nur mal kurz in Annaberg umsehen und dann weiter. Natürlich wollten wir alle an die Volksbühne nach Berlin – oder sonstwohin. Es ist bei mir und einigen anderen ganz, ganz anders ausgegangen. Nicht unbedingt schlecht, aber eben anders. Aber vielleicht noch mal kurz zu diesen Jahren zurück, weil wir von Buntheit sprachen. Das hat was damit zu tun, dass wir natürlich zu der Generation gehören, der indirekten Nachkriegsgeneration, die die Urbegründung, warum sich so eine Gesellschaft, so ein neues Land entwickeln wollte und sollte, für sich noch seelisch und intellektuell nachvollziehen konnte. Die Vision einer menschlicheren Gesellschaft nach diesem Vernichtungskrieg – das war uns doch nahe. Aber wir gehörten auch zu denen, denen beim Aufwachsen die Zweifel daran zu schaffen machten.

Was hat Sie von Annaberg nach Erfurt gebracht?

Als wir das Theater übernommen hatten in Annaberg, war klar: a) Wir wollen hier nach drei Jahren spätestens wieder weg und b) Wie machen wir das? Am besten, wir machen so was wie ein Intendantenvorspiel. Wir luden die halbe DDR ein, die Intendanten: Kommen Sie, gucken Sie und nehmen sich dann mit, wen Sie wollen! Nun kamen tatsächlich viele, und wir mussten sie unterbringen. Da war auf irgendeinem Berg dort eine Jugendherberge, eine, ich würde mal sagen, Unterkunft auf eher unterem Übernachtungsniveau. Wir haben einen Bus organisiert und sind mit denen nach dem ersten Abend in Annaberg auf den Berg, haben die Gitarren ausgepackt und Wein und Käse auch – haben gesungen und geredet, gelacht und getanzt. Wir haben das im Prinzip als verlängerten Partyraum genommen mit anschließenden Betten. Da war eben auch Ekkehard Kiesewetter dabei aus Erfurt. Für mich eine der wertvollsten menschlichen Begegnungen auf dem Jahrmarkt der Eitelkeiten. Also Kiesewetter, der Paasch aus Meiningen, der alte Müller aus Eisenach, aber nicht nur die Thüringer Ecke, es waren auch andere da, klar. Und man kann sagen, wir gingen an diesem Wochenende weg wie warme Semmeln. Es hat geklappt. Ich hatte also ein Meininger und ein Erfurter Angebot. Selbstbewusst, wie ich war, wartete ich aber noch ein Vorspiel am Berliner Ensemble ab, was ich für die halbe Annaberger Mannschaft initiiert und organisiert hatte. Zwei haben sie genommen, aber eben nicht mich. Ich war fix und fertig.

Reingefallen, und nun?

Am nächsten Morgen lief ich von zu Hause in Berlin zur S-Bahn, und da kommt mir, wie aus heiterem Himmel, Ekkehard Kiesewetter entgegen.

Da denkt man doch an Schicksal.

Ja. Und wie! Der guckt mich so an, stellt seine zwei Koffer ab und breitet die Arme aus – und ich rufe über die Straße: »Ich komme!« – so kam ich nach Erfurt. Ich erzähle das sehr ausführlich, weil: Wenn Annaberg-Buchholz theatermäßig der Frühling war, wo man aufbricht, dann war Erfurt für mich der Theatersommer, anregend, inspirierend. Das hat mit Ekkehard Kiese­wetter zu tun, Chef vom Erfurter Schauspiel und ein fairer Ermöglicher.

Wie begann nun Ihr Theatersommer?

Mein erstes Projekt war eine Aneinanderreihung von Ungehorsamkeiten – Texte und Songs von Wenzel, Mühsam, Kramer, Benn. Wir nannten es »Diesseits-Story«, weil in Erfurt die »West Side Story« in der DDR-Erstaufführung lief, »Diesseits-Story oder Wenn Mutti früh zur Arbeit geht«. Das schlug damals ein wie eine Bombe. Ich hatte das Gefühl, die haben wirklich auf uns gewartet – auf solche Sachen, die ihnen auch richtig Schwierigkeiten machen könnten. Bodo Witte war immerhin Mitglied der Bezirksleitung der SED und schien mir aber doch mehr Intendant von uns zu sein! Der nutzte seine Position, hatte ich das Gefühl, für uns aus. Und Ekkehard Kiesewetter hatte es auch nicht leicht mit der Partei, kriegte öfter eine aufs Maul. Er hielt das aus und wusste ganz genau, dass wir bei diesen »Spielchen« seine echten Verbündeten waren.

Trotz der Spielchen – produktiv?

Ja, Erfurt ermöglichte mir zu inszenieren, verschiedene Sachen. Ich hab dort angefangen mit »Ur-Faust«, »Sommernachtstraum«, »Der Selbstmörder« von Nikolai Erdman – also die haben mich an die große Bühne gelassen. Gleichzeitig habe ich im damaligen Pionier- und Jugendtheater auf dem Petersberg in der Nähe der Severikirche gearbeitet. Die machten dort richtig tolle inhaltliche Arbeit. Die arbeiteten gerade an Wedekinds »Frühlings Erwachen« mit 14-Jährigen. Das war großartig, und ich hab sofort dort angedockt, und zusammen mit meinem Kollegen Karl-Heinz Krause und der dortigen Chefin Renate Lichnok haben wir »Emil und die Detektive« von Kästner gemeinsam mit unseren Schauspielern bei uns am Haus rausgebracht. Wenn ich an die Wende denke, dann unbedingt daran, dass wir aus jenem Ensemble des Pioniertheaters, als es die DDR nicht mehr gab, »Die Schotte« gegründet haben. Da war eine alte, stillgelegte Schule mitten in der Stadt, die wir besetzten. Das ist heute, nach der Schließung des Schauspielhauses, das einzige »Quasi-Schauspielensemble« in der Landeshauptstadt Thüringens. Das ist meine Spur in Erfurt und eine ganz besondere Geschichte für mich.

Diese Zeit bestand fast nur noch aus einzelnen Geschichten. Dachten Sie, hier noch was machen zu können?

Natürlich. Ich konnte mir sehr viel vorstellen. Und ich hatte immer das Gefühl, ich werde gebraucht und ich bin gemeint. Also ich muss mich nicht irgendwo durchwurschteln. Ich rede heute aus dieser Sicht und nicht für jemanden, der verfolgt und geächtet war, denn so weit ging es bei mir nicht. Ich bin natürlich an Grenzen gegangen, manchmal auch drüber hinausgeschossen, aber letztendlich – und das habe ich später in meinen Akten lesen können – gab es sehr viele Menschen, die sich da vor mich gestellt haben, damit mir nichts passierte. Natürlich waren wir der Meinung, mit Anspruch Theater machen, um die Gesellschaft zu verändern, nicht nur zu kommentieren.

Nicht nur theoretisch, sondern im normalen Theateralltag?

Ja, das war irre, da von der Bühne herab übers Land zu reflektieren. Eines Tages fand das seinen Gipfel mit Christoph Hein. Fast zeitgleich mit den Dresdner Kollegen spielten wir 1989 sein neues Stück »Die Ritter der Tafelrunde«. Ich spielte den König Artus, und an jenem Tag, dessen Datum ich gleich sage, passierte diese Geschichte: Ich betrete am Anfang vom zweiten Akt die Szene, der Abend läuft, die Hütte ist unglaublich voll. Ich betrete also die Szene und sage zu meinem Ideologen, ich meine die Rolle: Na, wie geht es dir? Ideologe / Mielke: Na, es geht so. Mir geht es ganz gut. Aber, was ist da draußen in der Bevölkerung? Jeschute hat sich auf den Stuhl des Auserwählten gesetzt. Aha? – Da gab es ein Ahh und Lacher im Publikum. Den Lacher konnte ich nicht einordnen. Der Zusammenhang, der sich offensichtlich für die Zuschauer herstellte, war mir nicht klar. Dann sagte ich: Aber Jeschute kann doch nicht der Auserwählte sein? … Lacher … Der, auf den wir so lange warten? … Lacher. Applaus. Stehende Ovationen. Und ich dachte: Was ist denn jetzt passiert? Jetzt haben wir’s nicht mehr in der Hand. Irgendwas ist hier, was wir nicht wissen. Ich hab keine Ahnung. Wir spielten die Szene also zu Ende. Es dauerte ewig – wegen der heftigen Zuschauerreaktionen. Es wurde nach jedem Satz im Publikum getrommelt. Nach der Szene fragte ich meinen Kollegen – und dann war es klar: Honecker war zurückgetreten und Krenz saß nun auf dem »Thron«. Das war am 17. Oktober 1989 in Erfurt. Das gehörte alles dazu.

Das vergisst man nicht.

Ach, diese Zeit … das war die Zeit, in der man schon berufliches Können in sich akkumuliert hatte, Erfahrung. Eine Zeit auch der politischen Brisanz und der direkten Verantwortung.

In Ihrer Geschichte fallen Bühne und Wirklichkeit sehr exemplarisch zusammen. Welche Erwartungen entstehen dann?

Dazu muss ich in diese Herbst-Zeit zurückgehen und über fünf Termine sprechen, die zu den Erwartungen gehören: Der 10. September 1989, die Öffnung der grünen Grenze in Ungarn. Der nächste große Termin für mich war der 9. Oktober, ein Montag, die Demonstration in Leipzig, und ich konnte nicht hinfahren. Ich hatte Vorstellung, und es muss schon eine Menge passieren, ehe ich eine Vorstellung schmeiße. Null Uhr kam eine Meldung im Radio: Großdemonstration in Leipzig von etwa 60- bis 70-tausend Leuten friedlich zu Ende gegangen. Dann klopft’s früh um fünf an die Tür. Ein Freund kommt aus Leipzig und erzählt aufgeregt, wie sich alles zugetragen hat. Erzählt von der Masur-Aktion, von Militär, das sich zurückgezogen habe. Trotzdem kamen dann die besten Geschichten zustande. Und die tollste Zeit war, schätze ich, zwischen dem 19. Oktober und dem 9. November. Ist nicht viel Zeit gewesen, aber es war die spannendste Zeit der Entideologisierung. Zeitungen und TV, die Massenmedien, der Umgang miteinander, die Debatten waren die interessantesten, die vielleicht in der moderneren Politik weltweit gelaufen sind. Das war eine Zeit der großen Hoffnungen, doch etwas ausrichten zu können in dieser Welt. Der 4. November dann der emotionale Höhepunkt. Das war, glaube ich, unser aller Irrtum, weil wir da schon ernteten und hatten eigentlich noch gar nichts gesät.

Am 4. November saßen Sie ja auch in Erfurt fest.

Ich saß in Erfurt vor einem ganz kleinen Fernseher, »Junost«, weil ich auch an jenem Abend Vorstellung hatte, und habe die ganze Veranstaltung neidvoll mit angesehen, denn ich hatte ja auch eine gehörige Menge Freunde sprechen hören, wie Christoph Hein und Johanna Schall. Für mich war der Höhepunkt die nüchternen Worte von Heiner Müller, der einfach ein Papier von Gewerkschaftern verlas und sich nicht auf die Euphorie draufsetzte, sondern darüber sprach, was in einem halben Jahr los sein wird: Marktwirtschaft. Arbeitslosigkeit. Trotzdem ließ ich mir die Euphorie damals vor dem kleinen Junost nicht nehmen. Der 9. November dann – das ist so bizarr gewesen. Es ist das schönste Erinnerungs-Foto Deutschlands, weil jeder erzählen kann, wie er vom Mauerfall erfahren hat. Ich fülle folgende Stelle auf dem Foto aus: Nach einem heftigen politischen Streit trank ich mit einem Kollegen ein Versöhnungsbier, wir philosophierten über die Lage, z. B. wann die Mauer wohl aufgemacht wird und wie. Wir waren uns einig: Das wird ein ganz schlimmes Chaos. Am Ende waren wir betrunken und gingen nach Hause. Ich wohnte als Single mit ein paar Kollegen in einem Wohnheim des Thea­ters. Um acht wieder aufgestanden, Probe vorbereiten für den »Selbstmörder«. Da kommt mir meine Kollegin Suse Hoss entgegen und sagt: »Matthias, alles klar?« – »Ja«, sage ich, »wieso?« Sie macht ihre Tür auf, und da sah ich in ihrem Fernseher, wie die Menschen mit den Beinen auf der Mauer baumelten. Mein erster Satz: »Ich geh jetzt erst mal Zähneputzen.« Dann habe ich ungefähr eine Stunde apathisch vor diesem Fernseher gesessen und mir angeguckt, was da passiert ist über Nacht. Dachte noch, was wir gestern für einen Mist geredet haben. Habe dann zwei, drei Flaschen Sekt gekauft, bin ins Theater und habe allen eine Woche frei gegeben: Eine Woche und dann seid ihr alle wieder pünktlich hier. Und wer in den Westen abhaut, der kommt nie wieder zurück, habe ich noch gesagt.

Wie viele blieben weg?

Niemand, musste ja keiner mehr. Wir haben die Aufführung zu Ende gebracht. Ich war natürlich auch bewegt von dem Moment, das ist doch klar, aber gleichzeitig war in mir Enttäuschung, weil ich wusste – wie heißt es bei Schiller?: »Die schönen Tage von Aranjuez sind nun vorüber.« Ich fand’s nur schade, weil – das war so eine geile Zeit. Die war nun vorbei. Ein paar Tage später fand man sich dann schon in der Realität wieder: Kohls »Zehn-Punkte-Programm«, die ersten Wiedervereinigungs­apostel, SED-PDS-Lustgartenveranstaltung, die schon keiner mehr wahrgenommen hat, und die Trabischlangen, die sich zum Begrüßungsgeld einfanden. Das war für mich eines der demütigendsten Bilder, also ich fand das traurig. Willy Brandt kam nach Erfurt. Helmut Kohl hielt auch ’ne Rede.

Ist er dort nicht beworfen worden?

Nö, das mit den Eiern war in Halle, einige Monate später. Die Hallenser sagen, das war unser letztes großes politisches Ereignis. Aber es gab schöne und aberwitzige und groteske Szenen in diesem Chaos. Beispiel: Meine Stammkneipe »Erholung«. Wir sind etwa in der Weihnachtszeit 1989, ein Bekannter kommt in die Kneipe – völlig derangiert, hier ein Pflaster, da eines und die Hand verbunden. »Was war denn?« – »Ich hab Bratwurst verkauft.« – »Wo denn?« – »Auf dem Domplatz.« Das war passiert: Schlaue Händler aus den alten Ländern verkauften die Bratwürste-West für sieben Ost-Mark – er stellte sich daneben mit Thüringer Bratwürsten für 95 Pfennige. Da haben die Händler ihm ein paar auf die Fresse gehauen, weil sie seine Ironie nicht vertragen haben. Man konnte sich in jener Zeit auf dem Marktplatz sofort ein Auto kaufen und musste nichts bezahlen – erst ein halbes Jahr später, wenn die D-Mark da wäre. Da wurden ganz merkwürdige Verträge gemacht und Leute gewissenlos in Schulden gestürzt, die überhaupt nicht wissen konnten, was ihnen passiert.

Rollback mit Bananen und alten Mercedessen.

Und dann die ersehnte D-Mark! Die Währungsumstellung am 1. Juli 1990 ist etwas, was ich in meinem Leben nicht vergessen werde. Ich fand es nicht verwerflich, aber dennoch schade, dass das alles gewesen sein sollte: Geld. Geld hatte in meiner seelischen Prägung bisher nicht die Hauptrolle gespielt. Aber der westliche Wohlstand war nun mal die Sehnsucht der meisten Leute! Jedenfalls bin ich an diesem Sonntagvormittag hingegangen zur Sparkasse, wie alle anderen auch, mein Geld umtauschen. Irgendwie war alles ganz normal und ruhig, obwohl die Stadt überfüllt war, logischerweise. Aber irgendwas war anders, ich hatte es noch nicht erfasst, war noch zu sehr mit mir beschäftigt. Dann tauschte ich mein Geld um und ging raus. Da war so eine kleine Treppe am Ausgang der Sparkasse, von der man über den gesamten Anger und diese Straßenbahnstraße gucken konnte, und da fiel’s mir auf: Ich hörte mein eigenes Wort. Es sprach niemand. Es schwieg alles. Die hielten alle die Schnauze jetzt in dieser Straße. Höchstens mal ein Tuscheln. Weißt du, was die machten?

Nein.

Die standen alle vor den Schaufenstern und sahen sich die Auspreisungen an, sahen, was wie viel ab morgen kostet. Das war über Nacht eingelegt worden, und die Leute sahen, was sie gestern noch mit Ostgeld für den alten Preis kauften, war einfach umgepreist in D-Mark. Die Läden waren geschlossen. Man konnte nur in die Schaufenster schauen. Diese Stille – wie angehaltene Zeit, die erst am nächsten Morgen weiterlaufen würde. Unter veränderten Vorzeichen, freilich. Das war so unglaublich. Eine Stimmung, wie in einem Museum, als würden sie in einem Museum durch ihre eigene Zukunft gehen, als würde ein Museum die Zukunft ausstellen. Das Gefühl hatte ich. Es stellte sich sozusagen das Markenzeichen der Gesellschaft dar, dem wir alles unterwerfen. Faszinierend und gruselig. Ein superhitchcockscher Effekt.

Die Verwandlung.

Wie eine Gesellschaft massenhaft Wirklichkeit multiplizieren kann. Da hab ich schon angstvoll geguckt: Welchen Maximen wird man sich jetzt unterwerfen müssen? Ich gehörte eher zu den Zuversichtlichen und führe ja auch heute wahrlich kein schlechtes Leben. Aber es sind natürlich Verluste entstanden. Ich meine jetzt nicht diese typischen, ja, früher hat man viel mehr zusammengehalten und man hat das und das gemacht und so und so. Aber es gab eine Utopie, die zumindest für eine gewisse Zeit funktionierte, dann war sie offensichtlich nicht mehr bezahlbar und das Mittelmaß der Machthaber ritt alles zugrunde, was erhofft worden war. Deswegen ist dieses utopische Areal auch eingegangen: Die Verbindung von Arbeit mit Privatleben, dass man das direkt in Beziehung setzen und eben nicht nur als simple Nutzenrechnung, sondern als eine gesellschaftliche Komponente leben könnte. Diese Möglichkeit und Verabredung wurde über Bord geworfen, komplett.

Was hat Sie daran gebunden?

Die gesellschaftliche Idee, ganz klar. Aber die ist nun raus. Nach dem Weltkrieg war es eben nur eine kurze Zeit, wo sich neue Werte rausbilden konnten. Andere Moral entsteht aus anderen Lebensverhältnissen. Ich will jetzt nicht sagen Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, aber ich meine so was. Das, was sie mir als Kind gesagt haben: Es wird irgendwann kein Geld mehr geben, das wird nicht nötig sein, wir werden frei sein und gleich und reich – alles das. Dann wurde immer klarer, es wird doch nicht so werden. Es klappt nicht so ganz. Es wurde immer mehr zurückgenommen. Im Grunde wurde die Utopie abgesagt. Aber sie war in meinem seelischen Urknall drin. Und meinen Urknall möchte ich im Leben nicht hergeben. Ich habe diese emotionale Erfahrung, dass man auf einem Weg dahin sein könnte. Ob das ganz der Wahrheit entspricht, entscheidet nicht meine Seele, das wird die Zukunft wissen. Ich habe keinen Grund zu sagen, früher war alles besser und jetzt ist alles Scheiße. Ich kann auch umgekehrt nicht sagen: Früher war alles Scheiße, jetzt ist alles gut. Ich ­bedaure aber, dass ein großer Lebensabschnitt von mir in der ­Gesellschaft keine Bühne kriegt.

Make your bets oder Rien ne va plus

Peter-Michael Diestel

Berlin und Potsdam | promovierter Jurist, Anwalt | Jahrgang 1952

Interview mit Peter-Michael Diestel: Er ist freundlich wie immer, in Urlaubsbräune und gut drauf. Sein Büro befindet sich in einer schicken Potsdamer Villa, vorletzte Jahrhundertwende, gehobenes Ambiente, Garten, ruhige Lage. Auf einem Schränkchen liegen Geschenke dankbarer Mandanten. Souvenirs von politischen Partnern, von Widersachern aus Wende und Wandel. Auch ein Dolch ist dabei. Diestel-Devotionalien. Zu jedem Stück gibt es natürlich eine Geschichte – aus der Geschichte.

Der Mann hat ein Bombengedächtnis und erinnert sich noch an das Interview, das ich mit ihm für eine Reportage im DDR-Fernsehen geführt habe – 1990, als er als der letzte Innenminister der DDR für Erich Honeckers Unterbringung und Sicherheit zu sorgen hatte. Wohin mit Honecker war nur eine der politischen Fragen im letzten Sommer der DDR. Diestel wurde per Regierungsamt zum Beschützer des Ex-DDR-Staatsratsvorsitzenden und gewesenen SED-Generalsekretärs, der gewissermaßen auf der Flucht vor seiner ehemaligen Bevölkerung war. Zuflucht fand er in Lobetal bei Pfarrer Uwe Holmer und bei seinen sowjetischen Vor-Wende-Verbündeten. So war das damals. Zeitgleich auf den Tag wurden im Mai 1990 der Einigungsvertrag paraphiert, das grundsätzliche Verbot von Glücksspiel aufgehoben und das erste Spielcasino in der DDR eröffnet. Make your bets oder Rien ne va plus. Sechs Wochen später kam die D-Mark.

Diestel erinnert sich: »Dann hatten wir noch mal miteinander zu tun, als dieses Komitee für Gerechtigkeit gegründet wurde, mit dem alten Heym und mit Gysi. Schöne Sache und lange her.«

Anfang der neunziger Jahre war das. Warum haben Sie dabei mitgemacht, Herr Diestel?

Na, weil ich ja ein Ostdeutscher bin, und ostdeutsche Interessen wurden damals nicht oder gar nicht wahrgenommen. Der Westen hat sich in einer Art und Weise aufgespielt und mit ostdeutschen Sekundärpolitikern verbrüdert, die in der Regel aus den bestehenden Strukturen, Blockparteien und so weiter kamen und auf ihre eigene Vergangenheit gekotzt haben, so will ich es mal deutlich sagen. Ostdeutsche Interessen interessierten die nicht. Denken Sie an die Eigentumsfragen, an die Eigentumsverwerfungen, die damals eine Rolle spielten, ostdeutsche Universitäten wurden gesäubert von ostdeutschen Menschen. Es kam die zweite, dritte wissenschaftliche Garnitur aus dem Westen. In der Politik wurden in den ostdeutschen Bundesländern ausschließlich Westdeutsche in Führungspositionen gehievt, mit zwei, drei Ausnahmen. Deswegen haben wir in einer gemütlichen Runde, ein bisschen Wein hat auch eine Rolle gespielt, irgendwo bei mir beschlossen, dass wir die Bürgerlichen mal mit einem Nadelstich in den Arsch auf uns aufmerksam machen. Dieser Nadelstich waren die Komitees für Gerechtigkeit, eine fantastische Geschichte, und die haben auch Wirkung gehabt: Die ostdeutschen Interessen, die ostdeutschen Lebenssituationen wurden ernster genommen. Es ist dann einiges über diese Komitees auch an Selbstbewusstsein vermittelt worden und an Gesetzgebungsinitiativen. Dann haben die Linken gesehen, dass sie hiermit was machen können, haben diese Sache für sich okkupiert, und das war natürlich das Ende. Wo dann Leute aus anderen Parteien, Sozialdemokraten, Christdemokraten wie ich und andere, nicht mehr mitmachen konnten. Aber es war eine schöne Geschichte, die deutlich gemacht hat, dass die Intellektuellen im Osten Deutschlands parteipolitisch nicht so leicht zu vereinnahmen sind, wie man sich das gedacht hat.

Wie war das Ende der achtziger Jahre – war diese Zeit für Sie nicht mehr erträglich?

Für mich ist immer jeder Moment, jede Situation, jeder Zeitraum erträglich, weil der liebe Gott mich mit einigen Gaben ausgestattet hat: Wenn ich einen Widerstand sehe, dann wird der gebrochen, dann geh ich um diesen Widerstand drumrum oder geh auf den Konflikt zu. Es gibt nichts, was mich in irgendeiner Weise dazu angehalten hätte, mein Vaterland zu verlassen, einen Ausreiseantrag zu stellen und so weiter. Natürlich war ich mit vielen Dingen unzufrieden, aber: Man konnte in der DDR in der zweiten Hälfte der Achtziger gut leben. Wir haben alle keinen Hunger gelitten, wir hatten alle Arbeit, wir haben politisch diskutiert, dies und das und jenes … Es war eine relativ freie Gesellschaft, die mir zu eng war …

Wie erklären Sie sich dann das Grummeln im Lande?

Sie müssen mich ausreden lassen … Bis auf den Umstand, dass eine durchschnittliche Führung für uns Menschen mitgedacht hat. Dieses ewige Bevormunden, dieses ewige »Wir denken für euch«. Ihr habt eure Wohnung, ihr habt genug zu essen und das muss reichen. Und diese tumbe Bevormundung hat zu dieser großen Unzufriedenheit geführt. Nicht Hunger, Not und alles das, was Lenin mal in der Revolutionstheorie als subjektive Faktoren beschrieben hat, sondern es waren Dinge, die sich im geistig-politischen, moralischen Denken abgespielt haben. Ich will damit sagen, ich fühlte mich auch nicht bedrängt oder erpresst oder genötigt, ich fühlte mich von für mich unerträglichem politischen Durchschnitt umgeben. Und das alleine war für mich der Grund, mich einzumischen. Die anderen können das alles für sich selber bewerten. Und dann habe ich noch einen ganz kleinen, persönlichen Grund gehabt. Ich wollte gerne Anwalt werden, der Beruf, den ich jetzt ausübe. Das war mit meiner Vita in der DDR nicht möglich.

Warum nicht?

Ich war Jurist in der Landwirtschaft. Ich hab im Recht promoviert. Ich hab immer elitäre Zeugnisse und Berufsergebnisse gehabt, aber ich war eben Christ, ich hab mich nicht bekannt – ich hab mich zur DDR schon bekannt durch Leistung, durch Anwesenheit, durch kritisches Denken. Das entsprach meiner Bildung und meinem Denken. Das reichte aber politisch nicht – und deshalb bekam ich keine Zulassung als Anwalt.

Die haben sich Feinde gemacht, die gar keine Feinde sein wollten, weil eben der Durchschnitt auf dem Vormarsch war. Tendenz: Grau in Grau, Grautöne. Keine Not, kein Elend im Alltag – Not und Elend im Denken und im geistigen Überbau.