War Hitler krank? - Henrik Eberle - E-Book

War Hitler krank? E-Book

Henrik Eberle

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Beschreibung

Die Krankheiten des "Führers" - erstmals fachlich analysiert und bewertet. Das Bild eines hinfälligen und medikamentenabhängigen Psychopathen im Bunker der Reichskanzlei gehört zu den langlebigsten Hitler-Mythen. Entstanden unmittelbar nach Kriegsende, als den Deutschen das Ausmaß der Verbrechen bewusst wurde. Beglaubigt von Albert Speer, ausgemalt von Joachim Fest, wieder aufgegriffen im oscarnominierten Film Der Untergang.Widerlegt ist die These vom "kranken Hitler" bis heute nicht. Auch Hans-Joachim Neumann und Henrik Eberle bestreiten nicht, dass Hitler unter zahlreichen Erkrankungen litt. Anhand der Aufzeichnungen seines Leibarztes und anderer Quellen gehen sie jedoch den Fragen nach: War Hitlerwirklich krank? Wurde die Wehrmacht von einem Drogenabhängigen geführt? War die Ermordung von Millionen Menschen das Ergebnis eines Wahns?

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Hans-Joachim Neumann und Henrik Eberle

WAR HITLER KRANK?

EIN ABSCHLIESSENDER BEFUND

BASTEI ENTERTAINMENT

Vollständige E-Book-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG

Originalausgabe

Copyright © 2009 by Bastei Lübbe AG, Köln Lektorat: Dr. Stefanie Heinen Textredaktion: Inge Leo, Wertingen E-Book-Produktion: Dörlemann Satz, Lemförde ISBN 978-3-8387-0503-3

www.bastei-entertainment.de

www.lesejury.de

1.    WAHN, KONSTRUKTION UND WIRKLICHKEIT: WOZU EINE MEDIZINISCHE HITLER-BIOGRAFIE?

»Eigentlich ist Hitler nie krank gewesen«, sagte Hitlers langjähriger Leibarzt Professor Dr. med. Theodor Morell im September 1945 zu Professor Dr. med. Karl Brandt, dem chirurgischen Begleitarzt des Führers. Ob Morell diesen Satz tatsächlich genau so äußerte, wissen wir nicht. Fest steht, dass Brandt, der wenig später wegen seiner Verbrechen gehenkt wurde, diesen Satz Morells seinem amerikanischen Vernehmer im Lager »Camp Siebert« so ins Protokoll diktierte. Brandt und Morell saßen gemeinsam in einer Zelle des Internierungslagers ein und sprachen, wenn sie miteinander redeten, über Hitler.

Kein Jahr zuvor war Brandts Karriere abrupt zu Ende gegangen – Morells wegen und wegen einer »Gelbsucht« Hitlers, die Brandt auf eine jahrelange Falschbehandlung des Führers und Reichskanzlers durch dessen Leibarzt zurückführte. Morell habe Hitler »abhängig« gemacht von »mobilisierenden, d.h. aufpeitschenden Arzneien«, meinte Brandt, und außerdem überflüssigerweise mit Vitaminen und Sulfonamiden behandelt. Die ganze deutsche Ärzteschaft habe sich »dafür geschämt«, dass ein Mensch mit derart »primitiven Anschauungen« Hitlers Leibarzt hatte werden können.1

Glaubwürdig sind die Äußerungen beider Ärzte nicht. Brandt biederte sich mit seinen ausführlichen Aussagen über Morell und Hitler bei den amerikanischen Offizieren an, um seinen Kopf zu retten. Ihm war klar, dass er für den Mord an mehr als 70000 Menschen zur Verantwortung gezogen werden würde, denn er war es, den Hitler 1939 mit der Tötung der »unheilbar Geisteskranken« beauftragt hatte.2 Morell wiederum befürchtete, dass er bald an seiner Herzerkrankung sterben könnte; ihm ging es um sein Bild in der Geschichte. Er versuchte Brandt, trotz häufiger Herzattacken und gelegentlicher Desorientierungsphasen, zu suggerieren, dass er Hitler keinesfalls falsch behandelt hätte. Er rechtfertigte sich immer wieder und lenkte Brandt bewusst davon ab, dass er Hitler durchaus wegen ernst zu nehmender Krankheiten behandelte.

Der Streit der beiden Professoren3 in einer Gefängniszelle hat, im wahrsten Sinne des Wortes, Geschichte geschrieben. Denn die einander widersprechenden Aussagen der Ärzte Brandt und Morell bestimmen die historische Debatte bis heute. Noch immer suchen Ärzte, Psychologen und Historiker nach den Erklärungen für die Völkermorde, die in der Zeit des Nationalsozialismus begangen wurden, und widmen sich unter verschiedenen Blickwinkeln notwendigerweise auch den Krankheiten, Erkrankungen und angeblichen Perversionen des Diktators. Noch intensiver forschten die Zeitgenossen nach Erklärungen: Warum waren sie einem Mann gefolgt, der die größte Katastrophe in der deutschen Geschichte verursacht hatte? Dabei dachten sie nicht an die Millionen Ermordeten, sondern an ihr eigenes Leid, die Millionen toten Soldaten, die Teilung des Landes, an Flucht und Vertreibung.

Die Erklärung, Hitler sei größenwahnsinnig geworden, irgendwann »übergeschnappt« und vielleicht doch irgendwie »krank gewesen«, war die einfachste und naheliegendste. Nicht wenige Bücher verbreiteten nach 1945 die Legenden vom »guten Beginn« des NS-Regimes und seiner Entartung. Kein Zweifel: Bis 1939 war Hitler für die meisten Deutschen der »Hoffnungsträger der Nation«4, Millionen hatten das Gefühl, politisch ernst genommen und verstanden zu werden.5 Umso enttäuschter wandten sie sich von ihm ab, als sie sahen, in welches Elend er sie stürzte und welche verbrecherischen Handlungen er in deutschem Namen begehen ließ.6 Nicht selten wurde die Frage gestellt: »Was wäre gewesen, wenn …« Zum Beispiel, wenn Hitler 1938 oder auch 1944 einem Attentat zum Opfer gefallen wäre.7 Nicht zuletzt erhofften sich die Leser dieser Bücher ebenso wie deren Autoren, etwa die unzähligen Verfasser von Memoiren, auch Entlastung. Der Historiker Hannes Heer brachte die Stimmung der Nachkriegsjahre auf den Punkt: »Hitler war’s.«8 Und wenn Hitler allein verantwortlich war und man sich in ihm nicht völlig getäuscht haben sollte, dann lag es nahe, an einen Hitler zu glauben, dessen Persönlichkeit sich verändert hätte, vielleicht sogar unter dem »schädlichen Einfluss« seines Leibarztes Theodor Morell. Denn jener hatte Hitler, so will es das Gerücht, mit »Drogen« vollgepumpt und völlig falsch behandelt.9

Analysierende Zeitgenossen kamen zu anderen Schlüssen. Die Verschwörer des 20. Juli 1944 erkannten in Hitlers Persönlichkeit das Übel an sich und versuchten, ihn zu eliminieren.10 Auch der aus Österreich emigrierte Psychiater Walter C. Langer attestierte Hitler 1943 in einem Gutachten für den CIA-Vorläufer OSS »sadistische Züge« und suizidale Neigungen. Für ihn war klar, dass Hitler den Krieg keinesfalls vorzeitig beenden würde. Erst nach dessen Tod, so der Psychiater, könne in Europa Frieden herrschen. Langers Diagnose, so ungenau sie sich aus heutiger Sicht im Detail präsentiert, sollte sich zumindest in diesem Punkt bestätigen.11 Das Ergebnis ist bedrückend. Mehr als 55 Millionen Menschen wurden während des Zweiten Weltkriegs getötet. Sie starben durch Kampfhandlungen und vorsätzlich geplanten Völkermord.

Nicht zuletzt deshalb haben Generationen von Fach- und Amateurhistorikern versucht, Hitlers apokalyptisches Wirken in der Geschichte zu erklären. Eine Reihe von Büchern aus der Feder namhafter Historiker nimmt in der Hitler-Literatur einen festen Platz ein. Zu nennen ist hier vor allem der britische Historiker Ian Kershaw, der mit seiner zweibändigen Hitler-Biografie Maßstäbe setzte.12 Kershaw rekonstruierte Hitlers Entscheidungen und sein Handeln, ohne sich auf das Glatteis psychologischer Erklärungen zu begeben. Psychologen hätten zwar immer wieder versucht, herauszufinden, »was genau falsch war mit Hitler«. Jedoch glaube er nicht, »dass wir das wissen müssen«. Schon deshalb sei eine psychohistorische Diagnose schwierig, weil Hitler eben »nie auf einer Couch« gelegen hätte und wir schlichtweg zu wenig über seine Kindheit und seine Adoleszenz wüssten.13 Trotzdem »diagnostizierte« Kershaw in seinem aktuellen Werk über die »Wendepunkte« des Zweiten Weltkriegs bei Hitler eine »persönliche paranoide Fixierung auf die Juden« und beschrieb den Holocaust letztlich als die Folge von dessen »kranken Ideen«.14

War die Ermordung von Millionen Menschen also das Ergebnis eines Wahns oder gar einer psychischen Erkrankung?

Die Annäherung an das, was als Wahrheit über Hitler gelten kann, wurde in heftigen Debatten geführt.15 Seit der Oxford-Professor – und Churchill-Mitarbeiter – Alan Bullock 1952 die erste quellengestützte Hitler-Biografie veröffentlichte, ist die Debatte um das »Rätsel Hitler« nicht verebbt.16 Unermüdliche Rechercheure wie Anton Joachimsthaler und Werner Maser beförderten den Erkenntnisprozess ebenso wie deutungsmächtige Publizisten, etwa der FAZ-Herausgeber Joachim Fest und der Stern-Kolumnist Sebastian Haffner.17 Zahllose Historiker wandten sich bestimmten Abschnitten in Hitlers Biografie zu und betrachteten zum Beispiel dessen Wiener Zeit18, edierten seine verschollen geglaubten Schriften19 oder analysierten sein Verhältnis zu Frauen und zur Sexualität.20 Auch die lange Zeit abwartenden deutschen Militärhistoriker haben sich inzwischen zur genauen Bestimmung der Rolle des Obersten Befehlshabers der Wehrmacht, also Hitlers, im Zweiten Weltkrieg durchgerungen.21 Sogar ideologisch fragwürdige Autoren wie der Holocaust-Leugner David Irving oder der Berliner Professor Ernst Nolte trugen zum Erkenntnisprozess bei, nicht zuletzt deshalb, weil sie neue Quellen erschlossen, Denkanstöße gaben und polemische Fragen stellten, die von seriösen Historikern anders beantwortet werden mussten.22 Doch erst nach dem Ende des Kalten Kriegs gelang es, ein stabiles Fundament von Fakten und Erkenntnissen über Ingangsetzung, Durchführung, Ausmaß und Beteiligte des Völkermords zu legen, das seriöses Argumentieren ermöglicht.23 Gesamtdarstellungen der Judenvernichtung etwa von Saul Friedländer, Christopher Browning und Peter Longerich sind das Ergebnis jahrzehntelanger Forschung.24 Sie ermöglichen nun endlich auch die genaue Rekonstruktion der Rolle Hitlers in diesem Vernichtungsprozess.

Der inzwischen erreichte Stand der Forschung erlaubt es jetzt, die medizinische Biografie des Diktators neu zu bewerten.

Als bisher zuverlässigste Studie aus diesem Bereich muss das Buch Patient Hitler von Ernst Günther Schenck gelten. Die Studie des 1945 entlassenen Hochschullehrers trägt keine persönliche Handschrift und enthält keine politischen Wertungen, wohl auch deshalb, weil Schenck als SS-Standartenführer tief in die Verbrechen des NS-Regimes verstrickt war.25

Als Fritz Redlichs medizinische Biografie über Hitler erschien,26 schrieb Christina Berndt am 24. November 1998 in der Süddeutschen Zeitung, dass mit seinem Werk nun »eine umfassende medizinische wie psychologische Biografie des Diktators« vorliege, die Ian Kershaw sogar als »die gründlichste Erforschung von Hitlers Gesundheitszustand« bezeichnete, »die es je gab«.27 So detailliert Redlichs Analyse ist, sind jedoch nicht alle Zitate hinreichend belegt, nicht wenige der herangezogenen Quellen sind von der historischen Forschung als unzuverlässig eingestuft worden.28 Der Diagnose des Seniors der amerikanischen Sozialpsychiatrie, die Hitler als einen »destruktiven und paranoiden Propheten« beschreibt, wird hier insgesamt nicht widersprochen, da Redlich deutlich macht, dass er eine »psychiatrische« Einstufung als »ungenaue Verallgemeinerung« verwirft. Denn, so Redlich, durch eine solche Etikettierung sei »nichts gewonnen außer einem irreführenden Gefühl des Wissens«.29

Sowohl aus Sicht des Arztes wie des Historikers ist das Eingeständnis erlaubt, dass Geschichte nicht zu hundert Prozent rekonstruierbar ist. Auch Biografien können nur gedeutet, niemals mit allen Facetten nachvollzogen werden. Jenseits philosophischer Überlegungen muss dies schon deshalb konstatiert werden, weil uns Hitler keine zuverlässig deutbaren Selbstzeugnisse hinterlassen hat, etwa ein Tagebuch. Im Gegenteil: Der aufstrebende Politiker und spätere Diktator des Deutschen Reiches war stets bemüht, die Spuren seiner Vergangenheit zu verwischen. Als er an der Macht war, ließ er alle schriftlichen Zeugnisse über seine Jugend und Familie beschlagnahmen und verbot ihre Verbreitung.30 Die spärlichen Äußerungen in seinen nächtlichen Monologen über sein gesundheitliches Befinden haben eher den Charakter von Randbemerkungen, sodass er auch in seinen Tischgesprächen nichts zum Thema beigetragen hat.31 Die einzige Quelle, die er für seine Krankengeschichte gelten ließ, war sein Buch Mein Kampf, die von ihm selbst verfasste Lebensgeschichte.32

Noch am 31. März 1945, als Leibarzt Theo Morell nach »mehrmals vorgehabter Aufzeichnung einer Krankengeschichte« Hitler abermals um die Erlaubnis dafür bat, erhielt er »wie in früheren Jahren« diese unmissverständliche Abfuhr von ihm: »Ich war nie krank. Es gibt darüber nichts aufzunotieren.«33 Und der Hitler-Biograf Joachim Fest urteilte: »Die Frage nach der Natur der Hitler’schen Krankheit bleibt unauflösbar.« Keine der verschiedenen Diagnosen könne »überzeugend begründet oder zurückgewiesen werden«, meinte Fest noch 2002.34

Da jedoch vieles »aufnotiert« wurde und das zu Papier Gebrachte immer wieder neu gedeutet wird, lohnt sich der genaue Blick auf den angeblich »kranken«, »schwulen« und vom »Wahn besessenen« Diktator durchaus. Denn der nur zufällig zum Leibarzt Hitlers aufgestiegene Morell fertigte zwischen 1941 und 1945 ausführliche Tagesnotizen an, schon aus Angst vor möglichen Repressalien seitens des SS-Sicherheitsdienstes und der Gestapo, wenn Hitler »etwas zugestoßen« wäre. Als »Leibarzt des Führers« hätte er Rede und Antwort stehen müssen, denn selbstverständlich hätte er als Hauptverdächtiger gegolten, etwa im Fall einer Vergiftung. Deshalb nahm er auch Vorsorgeuntersuchungen ernst und hielt alle Krankheiten Hitlers und seine ärztlichen Maßnahmen fest, sodass sie jederzeit zu überprüfen waren.

Diese Tagesaufzeichnungen haben wir erneut ausgewertet, weil sich bisherige Darstellungen, etwa die des Holocaust-Leugners David Irving, häufig als falsch oder im Fall des einstigen SS-Offiziers Ernst Günther Schenck als unzureichend erwiesen.

Darüber hinaus wurden von uns neue Quellen erschlossen, zum Beispiel in bisher unzugänglichen oder unbeachteten Aktenbeständen der SS. Außerdem schien eine Neubewertung bestimmter zeitgenössischer medizinischer Diagnosen angebracht, da nur so eine zuverlässige Einordnung in den historischen Zusammenhang möglich war.

Nicht zuletzt erschien eine Klarstellung auch deshalb notwendig, weil der Streit um die Beurteilung des damaligen »Hochverräters« und späteren Diktators noch immer andauert. Dabei handelt es sich nicht nur um Debatten im Elfenbeinturm der Wissenschaften. Wöchentlich, wenn nicht sogar täglich, wird auch der Fernsehzuschauer im Sendebereich der TV-Satelliten der ASTRA-Gruppe auf ca. 350 Fernsehprogrammen mit Dokumentationen über Hitler und dessen politische Entscheidungen konfrontiert. Nicht selten werden dabei Erkenntnisse als sensationell neu präsentiert, die aus dem Jahr 1943 stammen und veraltet sind.35

Sowohl die historische als auch die medizinische Forschung haben seitdem eine grundlegende Wandlung erfahren und, wenn man dieses Wort verwenden möchte, erhebliche Fortschritte gemacht. Inzwischen ist es durchaus möglich, überzeugende Begründungen für die Annahme oder Ablehnung bestimmter Diagnosen zu liefern. Dazu war es aber notwendig, auch den Weg der Forschung zu rekonstruieren und interpretatorische Irrwege als solche zu kennzeichnen. Denn sowohl medizinische als auch historische Deutungsmuster sind vom wissenschaftlichen Erkenntnisstand ebenso wie vom Zeitgeist geprägt.

Die Zusammenarbeit zwischen Arzt und Historiker erwies sich dabei als überaus fruchtbar, weil es darum ging, Hitler als Person begreifbar zu machen, die sich in der Rückschau nur als Mischung historischer, rekonstruierbarer Fakten und einer gesteuerten Wahrnehmung deuten lässt.36 Die Sicht auf Hitlers medizinische Biografie berührt dabei private Bereiche seines Lebens ebenso wie hochpolitische. Wie weit sich das Persönliche mit dem Politischen vermischte, was also für den Aufbau einer Diktatur, die Entfesselung des Zweiten Weltkriegs und millionenfachen Mord den Ausschlag gab, ist heftig umstritten. Wir hoffen, dass unser Buch als konstruktiver und interdisziplinärer Beitrag zu diesem Klärungsprozess verstanden wird.

Hans-Joachim Neumann und Henrik Eberle

Berlin und Halle im Februar 2009

1 1946 wurde das Lager, in dem zahlreiche hochrangige Nationalsozialisten vernommen wurden, umbenannt und hieß nach einem 1944 gefallenen Colonel »Camp King«. Hinweis von Manfred Kopp, Leiter des Projekts »Erinnerungsorte der Zeitgeschichte – Das Gelände Camp King 1933–1993«. Aufzeichnung Brandts in Oberursel nach dem Kontakt mit Morell am 19.9.1945. BA kl. Erw. 411–3.

2 Vgl. Schmidt, Ulf: Hitlers Arzt Karl Brandt, Medizin und Macht im Dritten Reich, Berlin 2009.

3 Hitler hatte beiden den Titel Professor verliehen: Morell gewissermaßen ehrenhalber, als sogenannter Titularprofessor, Brandt im Zuge einer Beförderung zum außerplanmäßigen Professor an der Berliner Universität.

4 So Traudl Junge noch in einer persönlichen Mitteilung 2001. Analog: Dönitz, Karl: Zehn Jahre und zwanzig Tage. Erinnerungen 1935–1945, Bonn 1997, S. 468. Ian Kershaw entwickelte aufgrund von Stimmungsberichten eine Kurve der Popularität Hitlers, die auch durch andere Quellen belegt wird. Vgl. Kershaw, Ian: Der Hitler-Mythos. Führerkult und Volksmeinung, München 2003.

5 Vgl. Frei, Norbert: Der Führerstaat. Nationalsozialistische Herrschaft, München 2007, S. 211.

6 Vgl. Kershaw: Hitler-Mythos. Einen Überblick u.a. zur moralischen Motivation des Widerstands gibt Ueberschär, Gerd R.: Für ein anderes Deutschland. Der deutsche Widerstand gegen den NS-Staat, Frankfurt am Main 2006.

7 So Joachim Fest 1973 in seiner erfolgreichen Hitler-Biografie. Vgl. Fest, Joachim: Hitler. Eine Biographie, München 2003, S. 37. Erneut zitierend der Chefkommentator der BILD-Zeitung Claus Jacobi am 3.1.2009, BILD, Bundesausgabe, S. 2. Zu den Möglichkeiten und Grenzen vorurteilsfreier fiktionaler Geschichtsschreibung äußerte sich Demandt, Alexander: Ungeschehene Geschichte. Ein Traktat über die Frage: Was wäre gewesen, wenn …? Göttingen 2001. Grundlegend zur Philosophie des »Als-ob«: Vaihinger, Hans: Logische Forschungen über die Fiktion, Straßburg 1876.

8 Heer setzt sich auch intensiv mit Fests Thesen auseinander. Hannes Heer: »Hitler warÕs«. Die Befreiung der Deutschen von ihrer Vergangenheit, Berlin 2008.

9 Es gibt auch die Auffassung, dass praktisch alle führenden Politiker des NS-Regimes süchtig waren. Vgl. Pieper, Werner (Hg.): Nazis on Speed. Drogen im Dritten Reich, Löhrbach 2002.

10 Hoffmann, Peter: Widerstand, Staatsstreich, Attentat. Der Kampf der Opposition gegen Hitler, München 1969.

11 Langer, Walter C.: Das Adolf Hitler Psychogramm. Eine Analyse seiner Person und seines Verhaltens, verfasst 1943 für die psychologische Kriegführung der USA, Wien, München, Zürich 1973, S. 230.

12 Kershaw, Ian: Hitler, München 2002.

13 Kershaw, Ian: »Warum Hitler möglich war«, in: Berner Zeitung 22.4.2005, auf www.solothurn.ch/artikel_83512.html.

14 Kershaw, Ian: Wendepunkte. Schlüsselentscheidungen im Zweiten Weltkrieg 1940/41, München 2008, S. 553 und 595.

15 Die Widerlegungen (also notwendigen Falsifikationen im Sinne Karl Poppers) erfolgten dabei oft in Form von persönlichen Angriffen, nicht als wissenschaftlicher Streit, was Klärungen manchmal eher erschwerte als erleichterte.

16 Bullock, Alan: Hitler. Eine Studie über Tyrannei, Düsseldorf 1953.

17 Haffner, Sebastian: Anmerkungen zu Hitler, München 1978.

18 So widerlegte die Historikerin Brigitte Hamann unzählige Legenden und Lügen über Hitlers Jugend und seinen Aufenthalt in Wien. Zugleich rekonstruierte sie das politische Klima in der Stadt. Vgl. Hamann, Brigitte: Hitlers Wien. Lehrjahre eines Diktators, München und Zürich 1996.

19 Institut für Zeitgeschichte (Hg.) mit Einleitung und Kommentar von Weinberg, Gerald L.: Hitlers zweites Buch. Ein Dokument aus dem Jahr 1928, Stuttgart 1961.

20 Sigmund, Anna Maria: Die Frauen der Nazis, München 2005; sowie dieselbe: Diktator, Dämon, Demagoge. Fragen und Antworten zu Adolf Hitler, München 2006.

21 Wegweisend und diskussionswürdig ist der Beitrag von Wegner, Bernd: Deutschland am Abgrund, in: Frieser, Karl-Heinz (Hg.): Die Ostfront 1943/44. Der Krieg im Osten und an den Nebenfronten (Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg, Bd. 8), München 2007, S. 1165–1209.

22 Zur innerdeutschen Geschichtsdebatte, die letztlich immer wieder um die Verbrechen des Nationalsozialismus kreist, vgl. Sabrow, Martin/Jessen, Ralph/Große Kracht, Klaus: Zeitgeschichte als Streitgeschichte. Große Kontroversen nach 1945, München 2003. Die Verdienste und Defizite der Hitler-Forschung beschrieb anschaulich Lukacs, John: Hitler, Geschichte und Geschichtsschreibung, Berlin 1999.

23 Neben dem erst nach 1991 möglichen Zugang zu osteuropäischen Archiven ist hier das skandalöse Versagen der deutschen Geschichtswissenschaft zu nennen. Doch auch die maßgebliche Arbeit Raul Hilbergs über die Vernichtung der europäischen Juden blieb jahrelang ungedruckt und erschien erst 1990 in einer vollständigen deutschen Übersetzung. Zusammenfassend dazu die Polemik Götz Alys, »Logik des Grauens«, in: Die Zeit, 1.6.2006.

24 Friedländer, Saul: Das Dritte Reich und die Juden. Jahre der Vernichtung 1939–1945, München 2006; Browning, Christopher: Die »Entfesselung der Endlösung«. Nationalsozialistische Judenpolitik 1939–1942, München 2003; Longerich, Peter: Politik der Vernichtung. Eine Gesamtdarstellung der nationalsozialistischen Judenverfolgung, München, Zürich 1998; Longerich, Peter: Heinrich Himmler. Biographie, München 2008.

25 Dass Schenck Ernährungsstudien an Häftlingen im Konzentrationslager Dachau vornahm, scheint unbestritten. Ob dabei allerdings wirklich Menschen starben, ist unklar. Vgl. Heer: »Hitler warÕs«, S. 16. Schenck, Ernst Günther: Patient Hitler. Eine medizinische Biographie, Augsburg 2000.

26 Redlich, Fritz: Hitler. Diagnose des destruktiven Propheten, Wien 2002.

27 Vgl. SZ vom 24.11.1998; Kershaw, vgl. Klappentext zu Redlich: Diagnose.

28 Das betrifft vor allem die Auslassungen von Hans Frank, Hitlers Rechtsanwalt, und Hermann Rauschning, einem Lokalpolitiker aus Danzig, sowie der notorischen Lügnerin Henriette von Schirach. Frank äußerte sich im »Angesicht des Galgens« und wollte, zum Katholizismus konvertiert, offenbar eine Beichte ablegen. Rauschning formulierte seine Schriften als Renegat mit dem Anliegen, ausländische Leser, insbesondere Politiker, vor Hitler zu warnen. Zu den Legenden des HNO-Arztes Erwin Giesing vgl. Abschnitt 2.

29 Redlich: Diagnose, S. 407.

30 Hitlers ältester Diener Julius Schaub verbrannte den Inhalt dreier Panzerschränke der Reichskanzlei und die auf dem Berghof in zwei Aktenschränken aufbewahrten persönlichen Papiere Hitlers. Vgl. Olaf Rose (Hg.): Julius Schaub. In Hitlers Schatten, Erinnerungen und Aufzeichnungen des Chefadjutanten 1925–1945, Stegen/ Ammersee 2005, S. 334.

31 Jochmann, Werner (Hg.): Adolf Hitler. Monologe im Führerhauptquartier 1941–1944, aufgezeichnet von Heinrich Heim, München 2000, Picker, Henry: Tischgespräche im Führerhauptquartier, Frankfurt a. M., Berlin 1993.

32 Gemeint ist hier Band 1 des zweibändigen Werks, der ursprünglich den Titel tragen sollte: »Viereinhalb Jahre Kampf gegen Lüge, Dummheit und Feigheit«. Vgl. Plöckinger, Othmar: Geschichte eines Buches. Adolf Hitlers »Mein Kampf« 1922–1945, München 2006.

33 Tagesnotiz Morells vom 31. März 1945.

34 Fest: Hitler, S. 1173.

35 So auf dem deutschen Sender n-tv im Januar 2009 mit der mehrfach gesendeten Dokumentation über das psychiatrische Gutachten Walter C. Langers.

36 Vgl. dazu die das herkömmliche Muster der Propagandaanalyse durchbrechende Schrift von Schmölders, Claudia: Hitlers Gesicht. Eine physiognomische Biographie, München 2000.

2.DER KRANKE HITLER: EIN PROJEKT DER GESCHICHTSSCHREIBUNG

IRRWEGE DER PSYCHOHISTORIE: JUDENHASS ALS »WAHN«

Mehrfach wurde der Versuch unternommen, die Verbrechen des nationalsozialistischen Deutschland auf eine geistige Erkrankung des Diktators Adolf Hitler zurückzuführen. Nicht alle diese Überlegungen sind völlig von der Hand zu weisen. Denn tatsächlich erscheint Hitlers Judenfeindschaft irrational. Ian Kershaw urteilte 2006: »Der jüdischen Tragödie lag die– am fanatischsten von Hitler vertretene– fixe Idee der Nationalsozialisten zugrunde, dass die Juden ›entfernt‹ werden müssten, um die deutsche Nation zu ›säubern‹ und den Weg zu einer ›rassereinen‹ neuen Ordnung in Europa zu ebnen, welche die jahrhundertealte Vorherrschaft der jüdisch-christlichen Werte und Glaubensvorstellungen überwinden würde.«37

Auch die Faszination, die von Hitler ausging, erscheint durch eine Art »religiösen Wahn« erklärbar. Die Anhänger Hitlers betonten nach 1945 immer wieder, dass Hitler einen überwältigenden Fanatismus ausgestrahlt hätte, und schon vorher sind in Briefen der Bevölkerung Bezüge auf den »Erretter« zu finden.38 Im Hinblick auf Hitler selbst handelte es sich in der Rückschau zweifelsfrei um eine Art »Erlösungsantisemitismus«. Für ihn, so suggerieren es seine Selbstzeugnisse, war die Entfernung der Juden nichts anderes als ein »chirurgischer Eingriff« zur Entfernung eines Fremdkörpers oder einer infiltrativ wachsenden Neubildung aus dem Körper des deutschen Volkes.39

Judenhass an sich ist wie jede Art von Fremdenfeindlichkeit grundsätzlich irrational, doch die Art und Weise, in der verschiedene Autoren Hitler zum »Geisteskranken« oder »Irren« stilisierten, lohnt eine genauere Betrachtung. Oft handelt es sich dabei um ein mediales Phänomen, nicht um ein historisches. Die Karriere dieses herbeigeschriebenen Wahns ist allein durch die Mechanismen der modernen Medienkultur zu erklären, nicht jedoch durch die tatsächlich belegbaren Fakten. So stilisierten einstige Weggefährten Hitler zum Perversen, der nur dann sexuell befriedigt war, wenn eine Frau auf ihn urinierte. Andere beschuldigten ihn indirekt, ein Kinderschänder zu sein. In den 1970er Jahren ging der Trend dahin, Hitler als Opfer seines gewalttätigen Vaters zu beschreiben, geradezu folgerichtig hätte er einen unbändigen Hass entwickelt, der in der Judenvernichtung gipfeln musste. Und auch heute sind derartige vulgärpsychologischen Deutungen üblich, wie die Debatte um Hitlers– angeblich– fehlende Hoden belegt.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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