Wär mein Klavier doch ein Pferd - Doris Hermanns - E-Book

Wär mein Klavier doch ein Pferd E-Book

Doris Hermanns

4,6

Beschreibung

Lakonisch, direkt, mit einem klaren Blick für die Absurditäten des Lebens erzählen die Autorinnen aus dem Land an der Nordsee. Knapp und eigenwillig, aus oft schräger Perspektive richten sie den Blick auf das Persönliche, das immer auch geprägt ist durch die Historie: die nationalsozialistische Besatzungszeit und deren Nachbeben etwa oder das Verhältnis zu den ehemaligen Kolonien in Südostasien. Im Zentrum ihrer Geschichten stehen Schlüsselmomente der Kindheit, Brüche und Weichenstellungen im Erwachsenenleben, Dramen, die an den Grundfesten des Daseins rütteln. Die Nahaufnahmen aus über hundert Jahren niederländischer Literatur beleuchten höchst unterschiedliche Situationen – manchmal alltägliche, manchmal skurril-komische, manchmal tragische Momente – und haben doch einen gemeinsamen Tenor: Sie alle loten auf ihre Weise die Grenze zwischen dem Ich und der Außenwelt aus und fragen, wo die Wahrung des Eigenen in Intoleranz mündet. Das Bild, das sie dazu von unserem Nachbarland, den Niederlanden, zeichnen, ist uns vielleicht ähnlicher, als man auf den ersten Blick vermuten mag.

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Herausgegeben undmit einem Nachwort vonDoris Hermanns

WÄR MEINKLAVIER DOCHEIN PFERD

Erzählungen aus den

Niederlanden

Klavierstunde: Helga Ruebsamen

Unruhe und Gelassenheit: Margriet de Moor

Eine Freundschaft: Josepha Mendels

Ente schwarzsauer: Anneloes Timmerije

Fortschritt: Annie M. G. Schmidt

Linda: Annie M. G. Schmidt

Landauf, landab: Marga Minco

Kinderlager: Jill Stolk

Elefantenhaut: Sanneke van Hassel

Begräbnisstimmung: Ellen Ombre

Vorm Fenster: Elisabeth Augustin

Displaced persons: Maartje Wortel

Der Bär und das Mädchen: Manon Uphoff

Rosaceae, Crataegus monogyna »Stricta«, Weißdorn-Art: Esther Gerritsen

Die kupferne Tänzerin: Maria Dermoût

Nachwort

Die Autorinnen und Übersetzerinnen

Die Herausgeberin

Quellen

Die Übersetzung dieses Buches wurde von der niederländischen Stiftung für Literatur gefördert.

Originalausgabe 2016herausgegeben von Doris Hermanns

Für die Zusammenstellung:© 2016 editionfünfVerlag Silke Weniger, Gräfelfing /Hamburgherausgegeben von Karen Nölle

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

Lektorat: Claudia JürgensGestaltung und Satz Kathleen Bernsdorf, Hamburg

ISBN 978-3-942374-75-0eISBN: 978-3-942374-82-8

www.editionfuenf.de

Klavierstunde

Helga Ruebsamen

Musikinstrumente haben eine Seele. Das wusste ich schon als kleines Kind, bevor ich lesen und schreiben konnte, bevor mich die nüchterne holländische Schule verdarb. Denn wir kamen aus Niederländisch-Indien, und da wohnte allem eine Seele inne. Die Seele sah ich sozusagen eher als das Instrument.

Dass es nicht nur aus einer Seele bestand, sondern auch einen Körper besaß, wusste ich natürlich schon. Ich hatte schließlich sogar eine kurze, aufregende Bekanntschaft mit der Geige von Herrn Driessen hinter mir. Doch sowohl Herr Driessen als auch die Geige, auf der er spielte, statt uns in Geografie zu unterrichten (wahrscheinlich, weil er uns zu der Zeit nicht mit dem Unsinnigen und Gefährlichen des Geografieunterrichts in Berührung bringen wollte), waren plötzlich verschwunden, wie in Holland alles plötzlich verschwinden konnte, egal ob es sich um Lebewesen, um Gegenstände oder um Gebäude handelte. Und dabei hatte man mich nur vor dem Wetter gewarnt! Es hat Jahre gedauert, bis ich begriff, dass aus hellblauem Maihimmel fallende Bomben nicht zum europäischen Klima gehörten, sondern die Folge eines allerdings sehr unglücklichen Zusammentreffens verschiedener Umstände waren: des Krieges.

Nach dem Krieg kam ein Klavier zu uns ins Haus; es wurde wie ein alter Opa begrüßt, der von einer langen Reise zurückkehrte. Es hieß, auch das Klavier sei irgendwo untergetaucht gewesen und, Gott sei Dank, von der Gewalt der Barbaren verschont geblieben. Ich betrachtete das Ungetüm voll Staunen. Denn ich hatte mir ein kuscheliges, freundliches Haustier erhofft, ja fest damit gerechnet. Von den kleinen, verschwundenen Kätzchen war schließlich auch eins zurückgekommen, und nicht grau, schwarz und hungrig, wie es gewesen war, sondern prächtig weiß und vor Gesundheit strotzend. So sollte es mit der wunderbaren Auferstehung weitergehen, bis alles wieder beim Alten wäre. Außer Schokoriegeln also auch Dora Snoek und zwei rauhaarige Foxterrier, die ich gut gekannt hatte, und so weiter und so fort. Doch weit gefehlt, unnötig eigentlich, es zu erwähnen.

Trotzdem hielt ich an der Illusion fest, dass alle Dinge schließlich doch noch ihren Weg zu uns zurückfinden würden, vielleicht in einer anderen Farbe oder, wenn es denn sein musste, sogar in einer völlig anderen Gestalt, aber … zu uns zurück.

Erst versuchte ich, die Seele des Instruments zu sehen, das mit so viel Ehrfurcht bei uns aufgenommen worden war. Doch ich konnte keine entdecken. Es gab seine Seele nicht so ohne weiteres preis. Das Instrument selbst allerdings, schwerfällig und wuchtig wie es war, war nicht zu übersehen. Es nahm sehr viel Platz ein und tat das mit größter Selbstverständlichkeit. In den Wintergarten passte keine Pflanze mehr, diesen Raum brauchte das Klavier ganz für sich allein. Auf Liebkosungen war es nicht aus, es blieb ungerührt und teilnahmslos, wenn man seine harte, schwarze Haut andächtig streichelte. Gleichgültig spiegelnd, warf es einem nur das eigene unbeholfene Bild zurück.

Ich fragte mich, welches Tier es in seinem vorigen Leben gewesen sein mochte oder vielleicht immer noch war. Ich konnte mir kaum vorstellen, dass es die andere verschwundene Katze sein sollte. Wahrscheinlicher noch der tollwütige Hund, der vor nun schon wieder langer Zeit von einem Auto schnell und klammheimlich abgeholt worden war, nachdem er ein paar Stunden lang auf der anderen Straßenseite gelegen hatte und kleine Stückchen im Kreis herumgekrochen war, mit offenem Maul, mit vor Angst hervorquellenden Augen – aber nein, so traurig wie dieser Hund war das Klavier nicht, genauso schauderhaft zwar, aber doch ganz anders.

Es stellte sich heraus, dass ich auf dem Klavier spielen sollte. Anfangs hielt ich das in der Tat für das Beste, auch wenn ich selbst wenig Lust dazu hatte. Denn man musste so ein regloses Ding mit so einem starren Gebiss und so einer harten Haut doch irgendwie zum Leben erwecken können, welche Opfer das zweifellos auch verlangte. Ich hatte mich jedoch gehörig überschätzt.

Schon bald wurde klar, dass sich unser Zusammensein von ungefähr einer Stunde täglich weder auf das Klavier noch auf mich günstig auswirkte. Das Klavier benahm sich weiterhin wie ein eingebildetes Möbel und gab kein Stückchen seiner Seele preis. Und warum sollte es auch, wenn ihm jemand, der zwar guten Willens war, aber mehr auch nicht, bloß Etüden und Fingerübungen von Czerny und dummes Geklimper von Petri entlockte? Ich hütete mich, das Klavier zu liebkosen und zu verwöhnen, wie ich es voller Inbrunst mit der weißen Katze tat und dem inzwischen ebenfalls angekommenen, besser gesagt: zurückgekehrten kastanienbraunen Hund. Einmal hatte ich das Klavier gestreichelt, und das hatte es kalt gelassen. Ich wagte es kein zweites Mal.

Doch ich fand auch nicht, dass es Prügel verdiente, weil es nicht tat, was ich wollte. Vielleicht war es nicht einmal seine Schuld, vielleicht stellte ich zu hohe Ansprüche, Ansprüche, denen es unmöglich genügen konnte. Zum Beispiel, dass es ein Pianola würde.

So ein Wunderding hatte ich bei einer Freundin zu Hause erlebt. Es ging da immer lustig zu, nicht nur, weil sie katholisch waren und ein Spirituosengeschäft hatten, sondern vor allem, weil eine strenge Vaterhand fehlte. Vermutlich hatten sie das Pianola gerade, um den Abwesenden zu ehren. Sein Bild stand in einem silbernen Rahmen obendrauf, und man konnte sich gut vorstellen, dass sein Schatten sich auf den Hocker setzte, wenn das Pianola seine Stücke zum Besten gab. Schön klang es nicht, dafür aber schwierig und aus diesem Grund für unsere Ohren besonders erwachsen. Dennoch fing ich nach einiger Zeit an, am Nutzen eines Hockers für ein Pianola zu zweifeln. War das nicht Angeberei, ähnlich wie das Aufsetzen einer Sonnenbrille, wenn die Sonne gar nicht schien? Das Instrument sank in meiner Achtung.

Außerdem konnte es nur wenige Melodien auswendig. Natürlich hatte es eine Seele, aber war die etwa interessanter oder verehrungswürdiger als die eines Rechenschiebers oder einer Ladenkasse?

An meinem Klavier fand ich den Hocker, außer dass er nötig war und unbedingt dazugehörte, so ziemlich das Schönste und Liebenswürdigste. Schön, weil er eine Sitzfläche aus pfauenblauem Samt hatte, und liebenswürdig, weil er sich bei der geringsten Ermutigung aufwärts oder abwärts drehte. Mehr durfte man ihm nicht zumuten, doch mehr war auch nicht nötig. Wäre mein Klavier nur ein Segelboot gewesen! Das war auch schön und auch aus Holz. Und man konnte sich mit ihm auf und davon machen, nicht nur in der Phantasie. Ein Pferd. Mit einem Pferd hätte ich schon etwas anfangen können. Wäre mein Klavier doch ein Pferd gewesen. Im Zirkus sah ich Frau Regina Strassburger Hohe Schule reiten auf großen weißen und auf großen schwarzen Pferden. Inzwischen hatte ich erfahren, dass es große weiße und große schwarze Klaviere gab und dass meins bei weitem nicht das einzige seiner Art war. Es war denkbar, dass Pferde auch nicht so folgsam waren, wie sie manchmal aussahen. Obwohl Frau Strassburger ein wunderschönes, dunkelrot geschminktes Lächeln hatte, wenn sie und ihre Pferde hübsche Kunststücke vollführten, dämmerte mir allmählich, dass das auf beiden Seiten viel Blut, Schweiß und Tränen gekostet hatte.

Mein Entschluss war gefasst.

Blut, Schweiß und Tränen wünschte ich an das kühle Ungetüm nicht zu verschwenden. Doch das Umgekehrte durfte genauso wenig geschehen. Dann eben kein Rachmaninow. Ich ließ wissen, dass ich fortan Geige spielen wollte. Geige! Das war eine alte Bekannte. Eine so unendlich viel anmutigere Erscheinung als dieser unwirsche schwarze Hengst, der starrköpfig in unserem Wintergarten stand. Eine Geige sah immer lieblich und griffig aus, ja, kuschelig fast, und überdies hatte sie, und das bezauberte mich am allermeisten, einen so kläglichen Klang, dass man nichts anderes wollte, als sie trösten, mit vor Zuneigung überfließendem Herzen.

Die Reaktionen auf meine Mitteilung waren bestürzend.

»Du und Geige? Ach du lieber Himmel! Wo du schon das arme Klavier so quälst.«

Ich traute meinen Ohren nicht. Das Klavier mit seinem schimmernden Panzer, in dem man sich in seiner ganzen Unbeholfenheit spiegelte, das ließ sich doch nicht auf der Nase herumtanzen? Sollte ich es tatsächlich gequält haben, dieses Ungeheuer mit all seinen Zähnen und seinen vier harten Beinen? Ja, wenn ich dazu imstande war, dann mussten die Geigen von meinen Annäherungsversuchen verschont bleiben. Meine Hände würden die molligen braunen kleinen Körper zerquetschen, ich würde die zarten, melancholischen Seelchen zu Tode peinigen.

Obwohl ich dem Klavier also anscheinend gewachsen war, setzte ich meinen Kampf mit ihm nicht fort. Ich schloss seinen Deckel und machte eine höfliche Verbeugung zum Zeichen des Abschieds: Was mich betraf, würden wir einander nie mehr wiedersehen.

Aber da, sechs, sieben Wochen später, zeigte mir das Klavier auf unglaubliche Weise seine Dankbarkeit. Soviel ich wusste, hatte es all die Zeit hochmütig schweigend und spiegelnd im Wintergarten gestanden – doch wie sehr hatte ich es verkannt. Es hatte ein Herz und eine Seele und auch noch einen großen, verständnisvollen Bauch. In dem surrte und schnurrte und rumorte es von neuem Leben. Vier Junge hatten die Katze und das Klavier miteinander, zwei schwarze und zwei weiße.

Unruhe und Gelassenheit

Margriet de Moor

waren schon mehrere Wochen zu Hause, als wir endlich unsere Entdeckung machten. Nachdem wir zu zweit vom Keller bis zum Dachboden herumgegeistert waren, wobei wir die Augen gut aufsperrten und uns das Hirn zermarterten, um gerade auf die Aufbewahrungsorte zu stoßen, die ein paar Internatsschülerinnen leicht übersehen konnten – die düstersten Winkel des Spitzbodens, die mit flaumigem Staub gefüllten Ritzen unter den Kommoden –, beschlossen wir, dann eben auch ihre kleine Schlafstube zu durchsuchen. Leicht verärgert hoben wir das Fußende ihrer Matratze an und zischten vor Erstaunen. Da lag es! Diesmal war sie so gewitzt gewesen, den blödsinnigsten Platz auszusuchen. Wir nahmen das Buch in die Hand – es war ein Mordswälzer – und rochen daran.

Keine Frage. Dies war der Geruch unserer Stiefschwester, der Frau, die mit triefenden Händen durchs Haus ging, die die Einkäufe auspackte, den Eintopf kochte, das Weißzeug im Garten zum Bleichen auslegte: Dies war der unaussprechlich intime Sommerferiengeruch der vor uns versteckten Bücher. Wir setzten uns auf ihr Bett, blätterten kurz, so dass wir einen Eindruck von den Zeilen, den Absätzen, den Sätzen in Anführungszeichen bekamen, und sahen uns dann den Umschlag an. Ein Frauengesicht, gezeichnet von Liebe und Verlangen. Ein Tüllschleier. Zwei Brüste, die für unsere Begriffe merkwürdig hoch und rund aus dem Körper quollen.

»Wie lange dauert es noch, bis wir zu Tisch müssen?«

»Noch Ewigkeiten.«

Wie so oft machten wir es uns im Zimmer unserer Brüder bequem. Wir ließen die Markisen herunter – rotes Dämmerlicht breitete sich aus –, schlugen das Buch auf dem Fußboden auf und machten uns unverzüglich mit voller Geschwindigkeit ans Lesen. Es dauerte keine Viertelstunde, da waren wir unwiderruflich in die Welt der weißen Schultern, jungen Brüste, einer Tochter, die den ganzen Glanz eines Ballsaals mit sich zu tragen schien, eingedrungen. Einen Weg zurück gab es nicht mehr.

Etwas später an diesem Nachmittag legte sich ein Finger auf eine Seite. Eine Stimme murmelte.

»… komm, liebe Komtess, sagte Anna Michailowna eisig …« Da kam die besorgte Frage: »Sag mal, sollen wir nicht mal nachsehen?«

»Uh, ich lauf mal schnell …«

Die Unterbrechung dauerte nur wenige Sekunden.

»… Und?«

»Sie ist im Hauswirtschaftsraum und kocht Pflaumenmarmelade.«

Unsere Stiefschwester war in mancherlei Hinsicht stahlhart. Sie hatte nichts dagegen, dass wir in ihren Schuhen herumliefen – ihr ehrfurchtgebietender Frauenkörper ruhte auf rätselhaft kleinen weißen Füßen –, dass wir ihre Lockenwickler benutzten, ihre Post lasen, uns die Pfefferminzbonbons aus ihrer Schürzentasche angelten und so weiter, aber als sie in unseren ersten Ferien daheim ihr Lieblingsbuch in unseren Händen entdeckte, Moby Dick, wir waren auf der Hälfte, wich alles Blut aus ihrem Gesicht. In dieser Nacht hörten wir sie auf dem unteren Flur umherwandern, wir hörten sie seufzen, als sie den Schirmständer mit den bronzenen Tigerköpfen ein Stück anhob.

Wir schraken auf. Der Gong zum Essen. Sechs Uhr: Graf Pierre Besuchow erwog allen Ernstes, seinen Leibeigenen die Freiheit zu schenken. Wir duckten uns.

»Wart … einen Moment noch … Exzellenz, sagte der Gutsverwalter verletzt, ich –«

»Nein! Vielleicht nachher. Das Buch muss blitzartig zurück!«

Als wir nach unten kamen, begannen unsere Brüder, Hippolyte und Tony, sich mit uns zu balgen und zu raufen, sie hoben uns hoch, wirbelten uns herum, warfen uns um und gaben sich alle Mühe, uns den Eindruck zu vermitteln, sie seien junge Tintenfische mit unzähligen Gliedmaßen. Seit sie als Stauer im Hafen von IJmuiden arbeiteten, rochen sie nach Meer. Auch in diesem Sommer hatten wir festgestellt, dass sie noch lachlustiger, breiter und behaarter waren, als wir sie das Jahr über in Erinnerung gehabt hatten. »Jetzt aber dalli, dalli!«, riefen sie unserer Stiefschwester zu, die gleich darauf mit einer Pfanne voll geschnetzeltem Rinderfilet ins Esszimmer trat.

»Ihr seid heute nicht ganz da«, sagte sie, als wir alle fünf eine Zeit lang vor uns hin gekaut hatten.

»Wo nicht da?«, murmelten wir. Unsere Augen glitten über ihr rotes Gesicht. Wir überlegten, wo sie wohl war. Weiter als Austerlitz, 20. November 1805? Weiter als das Duell im Schnee, im lichten Morgennebel? Ulkig, während sie sich noch einmal auftat, konnte sie sich an Momente erinnern, die für uns noch in weiter Ferne lagen. Wir sahen auf ihren träge schmatzenden Mund. Sie war eine langsame Leserin. Sie war eine Leserin, die sich ruhig und beharrlich durch eine Fülle von Ereignissen durcharbeitet, um diese dann in einer streng persönlichen Vergangenheit wegzuschließen.

»Esst weiter!«

Wir nickten und schlugen die Augen nieder. Als ob das Universum, das sie so eifersüchtig in ihrem Bett zu verstecken versuchte, nicht ein für alle Mal existierte. Als ob sich alles nicht gleich, für uns, wieder ganz von Neuem ereignen würde.

Hippolyte schob den Kopf vor.

»Guck-guck – aaaaah!«

Tony zog einen Geldschein aus der Brusttasche.

»Ihr könnt gleich mal Eis holen.«

»Danke«, sagten wir.

Am nächsten Tag herrschte eine unruhige Stimmung im Haus. Geübt, wie wir waren, und weil wir den Argwohn unserer Stiefschwester spürten, die – nebenbei gesagt – eine erlesene Wahl getroffen hatte, flogen unsere Augen so flink und ziellos wie ein Fuchs im Hühnerstall über die Zeilen. Liebesnächte, Kriegsverletzungen, Sommer, Winter, Familiendiners wurden von uns ohne genaueres Verständnis verschlungen. Was machte das schon? Wir wussten längst, dass die Welt unsere Komplizenschaft im Prinzip nicht wollte. Aber wir gingen Risiken ein. Mitgerissen von der einen gepunkteten Linie, die in dem Chaos deutlich, strahlend weiß aufleuchtete – die dreizehn-, vierzehn-, sechzehn-, die achtzehnjährige Natascha Rostowa hat gerade einen Heiratsantrag vom Fürsten Bolkonski erhalten –, hatten wir die Schritte unserer Stiefschwester nicht näher kommen hören.

Wir sagten zueinander: »Ich finde, er sieht ein bisschen aus wie der leibhaftige Tod …«, als die Tür aufflog und wir uns wie Soldaten in der vordersten Linie vornüberfallen ließen.

»Ja, seht ihr denn nicht, dass es regnet?«

Sie begann die Sonnenmarkise hochzuziehen, und tatsächlich, ein violettgrauer Himmel dehnte sich zu unbestimmter Weite. Wir erklärten uns bereit, die Öljacken anzuziehen und Erdbeeren kaufen zu gehen.

An diesem Nachmittag bekamen wir nicht mehr viel Gelegenheit. Unsere Stiefschwester hatte beschlossen, uns zu verwöhnen, wir bekamen Erdbeeren mit Sahne, Nusseis, Melonentee, in Butter gebackene Eierkuchen, und gerade, als wir dachten, für den Rest des Nachmittags sturmfreie Bude zu haben, als wir voller Dankbarkeit die schweren Seiten wieder zwischen unseren Fingern fühlten und miterlebt hatten, dass unsere Heidin von Einsamkeit beschlichen wurde, von einer wollüstigen Art von Einsamkeit, die sowohl für sie selbst als auch für uns – die wir noch immer den Atem anhielten – höchst erregend war, gerade, als wir lasen, dass Anatole Kuragins größte, schönste, bedeutendste und ungezähmteste Beute Natascha hieß, da wurden wir nach unten gerufen, um eine ganze Schale frisch gebackenen Sandkuchen mit Zuckerguss und Mandeln zu verzieren und, wenn wir wollten, zu probieren.

»Wir sind bis oben hin voll«, sagten wir schließlich.

»Jetzt wollen wir wirklich nichts mehr.«

Als um sechs Uhr der Gongschlag durchs Haus rollte, waren wir gerade dabei, einen Liebesbrief zu lesen: »… ich werde Dich entführen und bis ans Ende der Welt mitnehmen …« Wird sie es tun? Wird sie es tun? ging es uns im Kopf herum, während wir zuerst die Treppe zu der kleinen Schlafkammer hinaufstürmten und dann nach unten rannten.

»Ihr seid ja krank!«, riefen Hippolyte und Tony. Nicht nur, dass wir keinen Löffel von der Sauerampfersuppe essen wollten, wir dachten auch nicht im Entferntesten daran, auf den Metallfrosch zu reagieren, den sie zwischen zwei Biergläsern hin und her hüpfen ließen. Wir lauerten zur Tür.

Da kam sie endlich. Sie stellte eine schwere Schüssel auf den Tisch, bediente uns alle vier wortlos und warf uns, bevor sie sich hinsetzte, einen derart reuevollen Blick zu, dass uns der Atem stockte und die Luft gefror …

So kam es, dass wir in dieser Woche wieder, miserabel gelaunt, durchs Haus zu geistern begannen. Wir schauten hinter Gardinen, rissen Dielenbretter heraus, klopften an Wände und versuchten schließlich, als alles nichts genützt hatte, voller Verzweiflung vom Gesicht unserer Stiefschwester abzulesen, ob Natascha tun würde, was wir, für uns selbst, schon längst beschlossen hatten: die Welt Welt sein zu lassen und sich der Leidenschaft, der Verruchtheit und dem Spiel des Abenteurers hinzugeben. Dem Schlitten und den schnellen Pferden. Wir sahen, wie ihre Wangen alle Farbe verloren.

Am Donnerstagabend gingen wir nach einem Zirkusbesuch entlang den Straßenbahnschienen nach Hause. Es regnete, und ein stürmischer Landwind blies. Ein vierjähriges Mädchen hatte auf einem silbernen Seil getanzt. Ein Schimmel hatte uns mit schlagenden Vorderhufen seinen schmutzig weißen Bauch gezeigt. Wir kamen in die Hoogstraat und entdeckten, dass unser Haus bis auf ein Fenster in Dunkelheit gehüllt war. Warte. Verzaubert starrten wir nach oben – da stand unsere Stiefschwester in ihrem abgetragenen Regenmantel, Kapuze auf dem Kopf, mit verschlungenen Händen und starrte mit festem Blick aus dem Fenster … Wir begriffen sofort.

»Sie tut’s! Sie lässt sich von Anatole Kuragin entführen!«

In dieser Nacht waren wir unruhige Mädchen im Bett, die dem Vorbeijagen der Wolken vor dem Fenster zuschauten. Gegen Morgen hörten wir, dass sich der Wind legte. Wir schliefen bis zwölf.

Der Rest des Sommers bestand aus Buntstiften und Hergés gesammelten Werken. Wir wurden dicker und von Tag zu Tag träger, bis zu dem Morgen, an dem unsere Stiefschwester unsere Koffer packte, um sie hinten im Buick zu verstauen. Hippolyte und Tony knallten die Türen zu und fuhren uns quer durch das sonnige Land nach Venlo, wo wir erschöpft von allem Blödsinn ankamen: wie gewöhnlich als Erste. Wir umarmten unsere Brüder, traten durchs Tor, schnupperten den vertrauten, schleppenden Krankengeruch des Schlafsaals, öffneten die Fenster, wobei wir die Kapelle, den Speisesaal und die Ziegenställe vorläufig noch keines Blickes würdigten, und kamen erst sehr viel später dahinter, dass Natascha – höchstwahrscheinlich als Jungfrau – eine ehrbare Ehe eingegangen war.

Eine Freundschaft

Josepha Mendels

3. September 1939. Frankreich befindet sich im Krieg. Ich schalte mein Radio aus, gehe auf den Boulevard, trinke einen Café crème und schaue mir die Scharen von Männern, Frauen und Kindern an, die wie in einem Aufmarsch vorbeiziehen. Ein Junge bleibt kurz stehen und drückt sein Gesicht an die Fensterscheibe, hinter der ich sitze.

Seine Nase besteht nur noch aus zwei runden Löchern.

Als ich etwa zehn Jahre alt war, besuchte ich einen Onkel, der Kothaufen aus Pappe in die Wohnzimmerecken legte, um mich zum Lachen zu bringen, aber ich lachte nicht, ich trat darauf und sagte: »Die kleben ja nicht mal.« Am nächsten Tag hing aus einem seiner runden Nasenlöcher grüner Rotz aus Glas. Ich nahm mein Taschentuch, stopfte das Ding hinein und sagte: »Das klebt ja nicht mal.«

»Mit dir kann man keinen Quatsch machen«, antwortete er. »Du verstehst einfach keinen Spaß. Dir müsste man mal gehörig den Hintern versohlen. Aber ich habe dich viel zu lieb, als dass ich dich verprügeln könnte.« Und mit aufgeblasenen Backen verließ er das Zimmer.

Meine Tante dagegen sorgte unfreiwillig für Heiterkeit. Sie war klein und so dick, dass der Schaffner aussteigen musste, um sie in die Straßenbahn zu hieven. Außerdem ließ er zwei Fahrgäste aufstehen, damit sie einen Sitzplatz hatte. Ich stand wie eine Schildwache neben ihr und schloss beschämt die Augen. Mein Onkel und meine Tante hatten eine Tochter, die zum Frühstück ein ganzes Glas Erdbeermarmelade auslöffelte, und einen Sohn, der aus mir damals unerfindlichen Gründen nie aus dem Bett kommen wollte.

Diese vier waren eine glückliche Familie ohne Sorgen und Streit, ebenso wie das Trio, bestehend aus einem anderen, vornehmeren Onkel, seiner Frau und ihrem einzigen Kind, einem verwöhnten Baby, das den Spinat so lange auf der Zunge behielt, bis sein Vater ihn wieder aus seinem Mund holte.

Wie köstlich ist doch zu Hause das eine Marmeladenbrot am Tag, zusammengeklappt mit einer zweiten Scheibe, die nicht belegt ist und trotzdem nach Zufriedenheit schmeckt. Wie warm und weich sind doch die Füße meiner Schwestern, wenn sie mich gemeinsam aus dem Bett schieben. Wo findet man solche Mädchen? Richtige Kröten und zugleich richtige Geschwister – einfach lieb. Und wie grün, wie gesund ist doch unser Spinat, in dem ich vergeblich nach gekochten Raupen suche.

»Dein Scheitel sitzt schief«, sagt meine Mutter und wickelt eine meiner Locken um den linken Zeigefinger. Mit dem anderen wischt sie mir einen Krümel vom Mund. Noch ein kurzer Blick in meine Ohren, ob sich auch nichts Gelbes darin verbirgt, und dann darf ich zur Schule.

Ich nannte sie die schönste Frau von der ganzen Welt, und sie musste darüber lachen. Ihr Lachen nannte ich das »zweite Lachen«, weil es klang, als hätte sie das erste heruntergeschluckt, so wie sie es auch mit dem Husten und Niesen machte. Sie verstand erst nicht, was ich damit meinte. Aber dieses Lachen – es musste doch noch ein anderes Geräusch davor kommen … Sie gab mir einen Kuss und sagte, man merke sehr wohl, dass ich mit der Glückshaube geboren sei und meine Schwestern nicht. Das wiederum verstand ich nicht, aber ich fragte nicht nach, ich musste an die Kothaufen aus Pappe und den Rotz aus Glas denken und wusste, dass es solche Scherze bei uns nicht geben würde.

»A penny for your thoughts.«

Ich antworte nicht.

»Sie haben ganz Recht, dass Sie schweigen«, sagt die Stimme, nun auf Französisch, ohne Akzent. »Wenn Sie sich mit jedem abgeben würden, der Sie anspricht! Allerdings bin ich nicht ›jeder‹.« Er nennt seinen Namen: J. M. Dieselben Initialen wie ich. »Ich möchte heute Abend unter Menschen sein, deshalb bin ich hierher gegangen. Ich wusste nicht, dass Sie neben mir sitzen, bis ich eben in Ihre Richtung geschaut habe und mich Ihr präpubertärer Ausdruck in den Bann gezogen hat, aber leider sind meine fünf englischen Wörter jetzt bedeutungslos, denn Sie haben die zehnjährige Kleine allzu rasch wieder hinter sich gelassen.«

V. J. vor und J. M. in einem Straßencafé. Ich hatte V. J. gefragt, ob er mich mit einem Lachen begleiten wolle, J. M. bietet J. M. nun an, sie nach Hause zu bringen.

Er ist rotblond, hager, nicht aufdringlich, er legt mir die Hand auf die Schulter, dirigiert mich an der Menge vorbei und begrüßt eine ältere Frau, die mit uns zusammen ein anderes Café betritt. Gemeinsam diskutieren wir über den Krieg, auf den das Land nicht vorbereitet war, über Luftschutzkeller, Hamsterkäufe, den Feind, die Armee und den unverbesserlichen Franzosen, der gegen Disziplin immun ist. Es ist schon spät, als wir sie zum Bus begleiten. Sie trägt an einem Fuß einen flachen Schuh und an dem anderen einen hohen, sie schwankt von rechts nach links, aber er legt seinen Arm um sie, und so fühlt sie sich sicher. Als sie weg ist, fragt er, ob ich noch ein Stück gehen möchte, nicht, wo ich wohne, und so lande ich schließlich bei ihm und nicht bei mir. Einerlei, wir haben ein Dach über dem Kopf, ob es nun meinem oder seinem Wirt gehört. Ich bin nicht mehr allein, ich bin wieder zwei, aber wieso um alles in der Welt – was soll ich mit diesem Mann? Er ist genauso verlegen wie ich, legt eine Platte auf und nimmt die Nadel wieder hoch, schaltet das Radio ein und wieder aus. »Wermut?«, fragt er. Er gibt mir Sherry und eine Zigarette. Dann entsteht eine Stille, in der ich alles ansehe, bloß ihn nicht, die antiken Möbel und die modernen Gemälde, den abgetretenen Teppich, drei glänzende Mülleimer, Bücher, ein Tintenfass mit Gänsefeder und das Porträt eines Jungen mit Brille, der Ähnlichkeit mit ihm hat. In einer Ecke steht eine Dusche, in einer anderen ein Spülbecken und ein Herd.

Das Fenster ist geöffnet, ich lehne mich hinaus, eine Frau mit einem Kind auf dem Arm und ein Mann laufen vorbei. Sie sagt: »Nun geh schon, es ist Zeit«, er antwortet: »Noch einmal in dir sein«, und zieht sie hinter einen Lastwagen.

Kindlein, Kindlein, was steckt der Papa denn da in Mutters Bauch – sie seufzen und stöhnen, oder ist es ein Lied für Babys Erwachen? Und weißt du, was der Papa mitbringt, wenn er wieder nach Hause kommt? Sieben silberne Orden. Und was legt er dann auf Mutters lockiges Dreieck, bevor er hineingeht? Einen achten, aus echtem Gold!