5,99 €
0,00 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 5,99 €
Dieses Buch stammt aus einer Zeit, in der Fragen noch nicht in Formeln, sondern in Bildern auftraten. Es erzählt von einer Haltung, die den Autor seit je begleitet: dem feinen Misstrauen gegenüber dem Selbstverständlichen, dem aufmerksamen Lauschen an jenen Rissen, die entstehen, wenn Erklärungen zu glatt wirken. War's das? ist der Versuch, eigene Wege durch ein Dickicht übernommener Annahmen zu schlagen – nicht im Widerstand gegen die Wissenschaft, sondern aus dem Bedürfnis heraus, Spannungen zu lösen, statt sie zu überdecken. Eine Suchbewegung, wie sie Denkende in allen Zeiten kannten: das stille Weiterfragen, wenn andere längst zur Ruhe kommen. Ein persönliches, leises Buch. Ein früher Schritt in einer langen gedanklichen Wanderung – deren spätere Pfade bis weit in die Physik führten, deren Ursprung aber hier liegt.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 340
Veröffentlichungsjahr: 2025
Dieter Schulz-Hoos
War's das?
Tagebuch einer Suche
Dieses ebook wurde erstellt bei
Inhaltsverzeichnis
Titel
Einführung
Mathematik
Bewegung
Zeit
Trägheit
Einstein
Energie
Gravitation
Zufall
Heisenberg
Leben
Sehen
Realität
Erkenntnis
Schwarm
Bewusstsein
Denken
Gesellschaft
Sphärenmodell
Religion
Impressum neobooks
Wir empfangen die Weisheit nicht, wir müssen sie für uns selbst entdecken. Im Verlauf einer Reise, die niemand für uns unternehmen oder sie uns ersparen kann. - Marcel Proust (1871 - 1922), Schriftsteller
Hätte ich gewusst, auf was ich mich einlasse, wenn ich eine Lehre aus dem 5. Jahrhundert v. Chr. ernst nehme, sie mit dem Wissen der heutigen Zeit ergänze und dann mit dieser Lehre einen Blick auf die aktuellen Fragen der Physik, Biologie und Religionen werfe - ich wäre sofort weggelaufen.
Aber ich bin nicht weggelaufen. Und als ich endlich laufen wollte, da war es schon zu spät, denn da hatte mich das Gefühl gefesselt, einer Sache auf der Spur zu sein, die 2.500 Jahre gewartet hat, um sich noch einmal präsentieren zu können. Auf einer speziellen Bergtour, die ich mit meiner Zeit bezahlt habe, mich dafür aber auch Fährtensucher nennen darf, wenn es gleich darum gehen wird, die Welt neu zu entdecken.
Viele der zurzeit verwendeten Theorien sind in Wirklichkeit die persönlichen Ansichten einzelner Wissenschaftler oder einer Schule von Wissenschaftlern oder Ingenieuren zu einem Thema, die dann allgemein übernommen werden. – D. Küchemann: The Aerodynamic Design of Aircrafts
Der Weg, den man beschreiten muss, um sich einer möglichen Erkenntnis zur Art und zum Sinn der wahrgenommenen Welt zu nähern, ist scheinbar einfach zu finden:
Man sucht im dornenlosen und mit tausend süß duftenden Lügen versehenen Dickicht des alltäglichen Denkens nach jenem Pfad, der sich an den Axiomen und Postulaten vorbeiwindet, sich durch überkommene Denktraditionen schlängelt, um schließlich auf einer kleinen und kreisrunden Lichtung zu enden.
Diese Lichtung im alltäglichen Denken ist Startpunkt für jeden Wanderer durch Raum und Zeit, der die Grundlagen der erlebten Welt und die seiner Existenz darin verstehen lernen will. Meist bilden die Menschen Gruppen auf solchen Lichtungen, denn viele sehen mehr als einer. So ist es auch mit uns:
Wir sind, wie schon angekündigt, nicht allein und andere nähern sich uns - vorsichtig. Und wir alle bemerken mit Erstaunen, Angst wollen wir es nicht nennen: Diese Lichtung eröffnet keinen Weg!
Stattdessen erkennen wir mit Befremden, dass das Dickicht, das uns umzingelt, die eben erst entdeckte Lichtung schon wieder verschlingt. Höchste Zeit, dass wir die Aufgabe finden, die es auf solchen Lichtungen im Alltagsdenken immer zu lösen gilt.
„Hier ist eine große Steintafel im Boden. Vielleicht ist das ja die Aufgabe, die wir suchen!“ ruft eine junge Frau aufgeregt, weist vor ihre Füße und winkt uns heran:
Kaum noch sichtbar, aber schnell befreit vom Staub der Geschichte, liegt dort eine Steinplatte, und sie ist in sinnvoller Folge mit jenen Zeichen und Symbolen versehen, die der Mensch seit langem nutzt, um seinen unsichtbaren Gedanken eine für jeden sichtbare Gestalt zu geben: Schrift!
„Das ist französisch! Und ich glaube, ich kann den Text gut verstehen, denn es ist eine Geschichte aus unserer Zeit! Soll ich für alle übersetzen, was hier steht?“
Der ältere Herr mit dem ernsten Gesicht schaut fragend in die kleine Runde. Er hat sich als Anton von Schola, Dr. Anton von Schola, zu dieser Reise angemeldet. Beruflich hat er ein halbes Leben als Diplomat verbracht. Am Anfang in Fernost und mit vielen Bediensteten, dann in Europa und ohne viele Bedienstete, dafür aber mit einem dem Alter zuträglichen Klima.
Aber für eine Biographie bleibt keine Zeit, denn da wir stumm geblieben sind, beginnt Anton von Schola bereits mit einer Übersetzung des steingravierten Textes:
„Es war einmal eine fremde Welt mit Tieren und Pflanzen wie bei uns. Die Menschen dieser Welt aber gingen mangels besseren Wissens seit jeher davon aus, dass das Universum gleichmäßig mit Luft erfüllt sei. Und mit dieser Annahme gab es Jahrtausende auch überhaupt keine Probleme. Nur ein unbequemer Denker hatte einmal keck gefragt, warum die Vögel nicht zu den Sternen flögen, wenn das Weltall lufterfüllt sei. Doch das wollte niemand hören!
Dann aber lernten die Menschen dieser Welt das Fliegen mit Flugzeugen, und da fielen ihnen gleich zwei Phänomene auf: Die Flugzeuge stiegen mit zunehmender Höhe immer schlechter, dafür flogen sie dort oben etwas schneller. Und das, obwohl doch die Luft gleichmäßig dicht im Weltall verteilt sein sollte. Die Techniker und Ingenieure waren ratlos, also nahm sich ein Physiker der Sache an.
Aber auch er fand zunächst keine gute Erklärung, und deshalb tat er, was wohl alle Physiker dieses Universums in seiner Situation getan hätten: Er versuchte einen rein mathematischen Ansatz! Der Physiker stellte und formte dazu alle ihm einschlägig erscheinenden Gleichungen so lange um, bis er mathematisch zu den bereits vorliegenden Messergebnissen aus der Praxis ‚durchkam‘.
Mit diesem Ansatz konnte er die Steigleistungen der Flugzeuge auch ohne Versuche vorhersagen.
Ein schöner Erfolg! Noch schöner aber war, dass die neue Gleichung eine Interpretation zuließ, die dem Physiker zeigte, warum das Steigen der Flugzeuge mit der Höhe immer schlechter wurde. Und er erklärte den Menschen von der fremden Welt:
‚Die Logik der Mathematik hat mir die Frage nach der nachlassenden Steigleistung der Flugzeuge beantwortet. Zwar ist das ganze Universum, so wie wir es seit langer Zeit annehmen, gleichmäßig mit Luft erfüllt, aber für fliegende Objekte, und eben nur für diese, nimmt die Gravitation mit der Entfernung zum Heimatplaneten zu.
Diese Sondergravitation für fliegende Objekte verhindert zum einen, dass sich Vögel ins Weltall verirren, sie werden mit der Höhe immer schwerer. Zum anderen gilt die inverse Gravitation aber auch für mechanische Vögel, Flugzeuge. Deren Gewicht nimmt mit steigender Flughöhe ebenfalls zu. Und bei Erreichen einer Gravitationsgipfelhöhe können die Flugzeuge nicht weiter steigen, weil sie einfach zu schwer geworden sind.‘
Und tatsächlich war die Gleichung der Sondergravitation für fliegende Objekte mathematisch in sich absolut stimmig und fehlerfrei. Sie sagte auch in allen weiteren Versuchen die Steigleistung aller Flugzeuge gut voraus. Die Theorie des Physikers hatte somit den Nachweis ihrer Richtigkeit sowohl in einer schlüssigen Mathematik als auch im Versuchsergebnis der Praxis gefunden.
Es blieb aber noch die Frage, warum die Flugzeuge mit zunehmender Höhe schneller flogen als in Bodennähe. Doch auch dieses Phänomen konnte der Physiker problemlos erklären, nachdem eine mathematisch zulässige Transformation gezeigt hatte, dass die Höhe über Grund auch als das Maß für einen Objektraum angesehen werden kann, den das Flugzeug erzeugt.
Und der Physiker erklärte: ‚Die Flugzeuge werden laut Mathematik mit zunehmender Höhe nicht nur immer schwerer, sondern sie schrumpfen zusätzlich relativ zur Ausdehnung desjenigen Raums, den sie mit ihrer Flughöhe über Grund als ihren Objektraum aufspannen.
Die Flugzeuge schrumpfen allerdings unerkannt von den Insassen, weil diese mitschrumpfen, da sie dem gleichen Objektraum angehören. Und mitgeführte Meterstäbe können diese Schrumpfung auch nicht anzeigen, da diese ebenfalls relativ zum aufgespannten Objektraum mit der Höhe schrumpfen.
Durch diese von den Insassen unerkannte Schrumpfung verringert sich jedoch die Oberfläche der Flugzeuge und auch ihr Reibungswiderstand in der gleichbleibend dichten Luft. Und eben deshalb können unsere Flugzeuge in der Höhe schneller fliegen.‘
Und auch hier stimmten die Ergebnisse der gefundenen Gleichungen mit den Messergebnissen der Geschwindigkeit in der Höhe überein. Und man stellte fest, dass Piloten nach langen Höhenflügen zunächst etwas kleiner blieben, als es vor dem Start gemessen worden war. Die aus der Mathematik gelesene Schrumpfung ließ sich also auch in der Praxis nachweisen – zumindest indirekt.
Doch leider hatte diese Theorie für hochfliegende Objekte für die noch höher fliegenden Pläne der Menschen auf der fremden Welt auch eine Enttäuschung im Gefolge. Denn hatten sie bisher in der Hoffnung gelebt, eines Tages mit starken Raumflugzeugen zu den Sternen aufbrechen zu können, Luft war ja genug vorhanden im Universum, so war diese Hoffnung nun am Boden zerstört:
Selbst wenn man die stärksten Antriebe vorsähe, so würden die Raumflugzeuge mit zunehmender Entfernung zum Heimatplaneten relativ zu dem mit ihrer Flughöhe aufgespannten Objektraum zu einem kleinen, superschweren Punkt schrumpfen. Das aber würden weder Flugzeug noch Mensch überstehen. Weshalb eine Raumfahrt eindeutig ausgeschlossen sei - so der Physiker.
Da waren sie dann traurig, die Menschen von der fremden Welt. Wozu, so fragten sie laut, ist das Universum überall mit Luft erfüllt, wenn wir diese nicht zum Fliegen zu fremden Sternen und Planeten nutzen können? Das ist doch eine in sich widersinnige Welt, die es uns verbietet, den Raum zu bereisen, obwohl es uns irgendwann einmal zu eng werden muss auf unserer ‚erschöpften Insel im Luftraum‘.
Doch die Theorie des Physikers ließ sich durch Tränen nicht erweichen. Sie blieb unangreifbar in der Mathematik und glaubhaft als Beschreibung der Realität, da sie immer wieder aufs Neue gut verwertbare Voraussagen zu allen erwartbaren Flugereignissen machte!“ beendet der Diplomat seine Übersetzung.
Und erstaunlich oder auch nicht:
Während der Zeit des Vortrages hatte das Dickicht des alltäglichen Denkens innegehalten mit seinem Schlingen, hatte zugehört. Jetzt aber, kaum dass das letzte Wort verklungen ist, beginnt das Dickicht wieder mit dem Lichtungfressen. Doch die Aufgabe, die es zu lösen gilt, ist ja eindeutig:
Es geht um die Moral von der Geschicht'. Und da der Mensch bekanntlich weit besser von fremden Geschichten als von seiner eigenen lernt, sollte es eine Moral sein, die auch für unsere Welt Gültigkeit beanspruchen kann. Denke ich, hebe die Hand, und erkläre, was jeder andere aus unserer Gruppe wohl auch erklären könnte. Aber angesichts des schlingenden Dickichts erscheint mir Eile mit der Moral geboten:
„Ich denke, die Moral dieser Geschichte ist eindeutig:
Übernimmt die Naturwissenschaft traditionelle, aber fehlerhafte Annahmen zur Welt, dann führt ein mathematischer Ansatz, der diesen Fehler weiter transportiert, nicht notwendig zu Ergebnissen, die den Fehler in der Annahme aufdecken. Es kann auch geschehen, dass sich eine Fehlannahme durch Umformungen der Gleichungen relativiert, weil unerkannt ein zulässiger mathematischer Hilfsweg eröffnet wird, der zu verwertbar richtigen Ergebnissen führt.
Mathematisch sind die Operationen dann korrekt, auch stimmen die Ergebnisse mit Messungen aus der Praxis überein. Schwer fällt jedoch die Interpretation des in der Mathematik gegangenen Weges zum Ergebnis, weil ja nicht ohne Weiteres erkennbar ist, dass es sich lediglich um einen Hilfsweg zum richtigen Ergebnis handelt, der nicht die Realität beschreibt.
Bertrand Russell, Mathematiker und Philosoph, fasste die damit einhergehende Untauglichkeit der mathematischen Ansätze, die Welt aus sich heraus zu erklären, daher in die Worte: ‚Die Mathematik handelt von Dingen, von denen sie nicht weiß, was sie sind, und sie besteht aus Sätzen, von denen man nicht weiß, ob sie wahr oder falsch sind.‘ Und das heißt für die Physik:
Ein funktionierender, weil verwertbar richtige Ergebnisse liefernder mathematischer Ansatz darf nie zum Garanten dafür gemacht werden, dass die Interpretationen, die man ihm später zugesellt, eine mögliche Realität beschreiben.
Im Gleichnis von der fremden Welt war es zum Beispiel so, dass der Physiker den alten Glauben an eine konstante Luftdichte im Universum nicht in Zweifel zog. Weshalb er die richtige Lösung seines Problems, die relativ zur Flughöhe abnehmende Luftdichte, nicht erkannte.
Dafür fand der Physiker mit seinem mathematischen Ansatz einen Hilfsweg, bei dem die Gravitation für fliegende Objekte mit der Höhe in dem Maße zunahm, wie die aerodynamische Wirkung der nachlassenden Luftdichte - von ihm unerkannt - abnahm. So konnte der Physiker trotz des traditionellen Fehlers in den Annahmen verwertbar richtige Voraussagen erzielen.
Doch es gibt noch eine weitere Moral, die wir aus der Geschichte ableiten können. Sie lautet:
Sind die Interpretationen einer erfolgreichen Mathematik erst einmal in den Stand einer überprüften Realität erhoben worden und hat man sich an die neue Realität gewöhnt, so folgt schnell ein Fehler dem anderen nach, ohne dass es bemerkt wird:
In der Geschichte blieb zunächst unerkannt, dass man in der Höhe mit dünnerer Luft rechnen muss, stattdessen rechnete man mit ‚dünneren‘ Flugzeugen. Das war logisch im Sinne des beschrittenen Hilfsweges und korrekt in der mathematischen Operation, man erhielt auch die bereits gemessene Geschwindigkeit der Flugzeuge. Gleichwohl waren die damit verbundenen Schlüsse zur Realität, zu schrumpfenden Flugzeugen, falsch.
Anders wäre es wohl gekommen, wenn die Leute von der fremden Welt mehr über Paradoxien, über offensichtlich widersinnige Ergebnisse im Denken des Menschen gewusst hätten, denn Paradoxien sind so gut wie immer Menetekel einer gequälten Logik. Warnzeichen der Logik vor falschen Annahmen des Menschen zur beobachteten oder gedachten Realität.
Eine alte Weisheit bezeichnet Paradoxien daher auch als die wertvollsten Geschenke der Logik an den Menschen. Zum einen, weil uns Paradoxien auf Denkfehler aufmerksam machten, die wir ansonsten glatt übersähen. Und zum anderen gäbe jedes Paradoxon bei seiner Lösung Einsichten preis, die näher an die Wahrheit heranführten, als es jede anders gewonnene Einsicht nur könnte.“
Sage ich im Sinne dieser Weisheit und bin zufrieden mit dem, was ich da gerade gesagt habe, da ich es so oder so ähnlich einmal in der Encyclopedia Britannica gelesen habe. Doch solche Weisheiten überzeugen nicht jeden. Und tatsächlich hat ein gut gekleideter Mitvierziger Vorbehalte. Er hat sich als Thomas Mattuschik, Nachrichtensprecher bei einem privaten Fernsehsender, für die Reise angemeldet und er gibt laut lachend zu bedenken:
„Na ja, na ja, na ja. Jetzt ’mal langsam. Das ist zwar eine nette, wenn auch ungemein tendenziöse Geschichte, doch eines muss wohl jedem von uns klar sein:
Die Moral dieser Geschichte gilt nicht für unsere Welt. Bei uns würde sicher kein Physiker je eine Kraft einführen, die mit der Entfernung zunimmt, oder annehmen, das Weltall sei gleichmäßig dicht mit einer stofflichen Substanz erfüllt. So etwas ist möglichen Menschen auf möglichen fremden Welten vorbehalten, bei uns gibt es so etwas nicht.
Gott sei Dank!“
Und Thomas Mattuschik, der Nachrichtensprecher, der vielen Menschen jeden Tag die von seiner Redaktion als wissenswert befundenen Einsichten aus aller Welt zeigt, hat natürlich recht. So etwas führen unsere Physiker wirklich nur in besonderen Ausnahmefällen in ihr Denken ein:
In den 60ern zum Beispiel, als es darum ging zu erklären, warum denn die Quarks als mögliche elementarste Bestandteile der Materie nur in Kombination, nicht aber einzeln auftreten können, da führten unsere Physiker eine Art inverse „Mikrogravitation“ ein, die mit der Entfernung zunimmt. Die sogenannte „Farbkraft“.
Und als es vor mehr als einhundert Jahren darum ging zu erklären, wie sich Licht als angenommene Wellenerscheinung durch das Vakuum des Weltraums fortpflanzen könne, da führten die Physiker den sogenannten Äther ein. Eine feinststofflich gedachte Substanz, die das Universum in absoluter Ruhe gleichmäßig ausfüllen sollte. Einzig erdacht, damit eine Theorie zum Licht auch dort Wellen schlagen kann, wo nichts ist, um eben das zu können: Im Vakuum des Weltalls.
„Aber darum geht es hier doch gar nicht“, unterbricht eine jüngere Frau, vielleicht Mitte Dreißig, meine für Thomas gedachten Gedanken. Sie trägt einen sandfarbenen Hosenanzug zu nachtblauem Halstuch und hat sich als Gundula Gauss, freie Wissenschaftsjournalistin, zu der Reise angemeldet. Was mich gefreut hat, denn populär geäußerter Rat ist ja immer willkommen.
„Schauen Sie“, so stellt sie sich nun auch den anderen vor, „ich bin Wissenschaftsjournalistin, und für mich und jeden, der schon einmal etwas von der speziellen Relativitätstheorie gehört hat, weist das Gleichnis von der fremden Welt eine Parallele zu der Geschichte hinter Albert Einstein auf.
Da war es in aller Kürze so:
Versuche der Physik hatten gezeigt, dass das Licht im freien Raum offenbar immer mit der gleichen Geschwindigkeit unterwegs ist - mit der Lichtgeschwindigkeit. Und zwar unabhängig davon, ob sich die Quelle des Lichts oder das Messinstrument bewegt. Das war unerklärbar, denn nimmt man den ruhenden Äther als Träger von Lichtwellen an, so müssten sich die Geschwindigkeiten des Lichtes und seiner Quelle oder des Messinstruments addieren oder subtrahieren. Man war ratlos.
Ein Physiker fand schließlich eine pragmatische Antwort auf die Frage, wie diese Messergebnisse zustande kommen könnten. Er zeigte in einem verwegenen mathematischen Ansatz, dass das Licht lokal dann immer gleich schnell gemessen wird, wenn sich das verwendete Messinstrument durch seine Eigenbewegung in der Länge ändert, weil es sich an dem damals angenommenen Äther in der Länge staucht. So kam der Physiker mathematisch zu dem immer gleichbleibenden Messergebnis, zur typischen Geschwindigkeit des Lichts im Freiraum, ‚durch‘.
Der Wermutstropfen bei diesem pragmatisch-mathematischen Ansatz, der etwas komplizierter war, als ich es hier sprachlich ausdrücken kann:
Wollte Antoon Lorentz, so hieß dieser niederländische Physiker, seinem mathematischen Ansatz als Beschreibung der Realität trauen, so musste er auch glauben, dass einem schnell bewegten Objekt mit der Bewegung eine Art von eigener Zeit, eine Eigenzeit, entsteht. Das aber schien Lorentz viel zu seltsam, um daran glauben zu können.
Anders der junge Physiker Albert Einstein, der von dem lorentzschen Ansatz erfahren hatte:
Er erklärte zunächst, dass es sich bei den Messergebnissen zu dem immer gleich schnellen Licht um eine neu entdeckte Naturgesetzlichkeit zur Bewegung handele, die ohne weiteres zu akzeptieren sei. Es handele sich bei der Lichtgeschwindigkeit um eine absolut konstante Größe. So wurde aus dem Rätsel um die immer gleich gemessene Lichtgeschwindigkeit ein Naturgesetz. Und indem Einstein diese Idee zu einem von allen denkbaren Beobachtern immer gleich schnell zu messenden Licht in allen Konsequenzen zu Ende dachte und rechnete, entwickelte er die spezielle Relativitätstheorie. Das war im Jahre 1905 und die Folgen waren erstaunlich:
Erklärt man die Geschwindigkeit des Lichts zu einer absoluten Konstante, so verlieren die anderen Konstanten, mit denen man Geschwindigkeit klassisch beschreibt, Zeit und Raum, an Eindeutigkeit. Sie werden zu relativen, zu veränderlichen Größen, denn die Relativitätstheorie zeigt auf, dass die Erscheinung dieser Größen vom Bewegungszustand des Objekts und dem des Beobachters abhängt.
In einer populären Fassung zeigen sich dabei folgende Erscheinungen:
Für einen gleichförmig bewegten oder ruhenden Beobachter, der daher an sich keinerlei Trägheit verspürt, wird ein relativ zu ihm bewegtes Objekt bei Annäherung an die Lichtgeschwindigkeit in der Längsachse schrumpfen, bis es bei Lichtgeschwindigkeit verschwindet. Parallel dazu wird die Masse des Objektes zunehmen, bis sie schließlich unendlich groß wird. Und die Zeit wird für das Objekt zunehmend langsamer vergehen, bis sie bei Lichtgeschwindigkeit endlich stillsteht.
Für einen Astronauten, der in solch einem schnell, aber gleichförmig bewegten Raumschiff säße und daher an sich keine Trägheit verspürte, bliebe dagegen alles völlig normal, solange er nicht in Flugrichtung aus dem Fenster sähe. Wenn doch, so würde er feststellen, dass sich für ihn die Entfernung zum Zielstern geändert hat, denn der Raum vor ihm hätte sich für ihn gegen Null verkürzt.
Und ich denke, jetzt erkennt man deutlich die Parallele zwischen der Geschichte von der fremden und von unserer Welt!“ beendet Gundula die kürzeste und wohl unvollständigste Darstellung der speziellen Relativitätstheorie, die dem Dickicht des alltäglichen Denkens für ein erstes Verstehen aber ausreichen mag.
Nicht jedoch reicht diese Erklärung der jungen Frau in den blassblauen Jeans mit dem blassgrünen T–Shirt, die den Stein des Anstoßes für uns entdeckt hat. Sie hat sich als Biologiestudentin Vera van der Waal für diese Reise angemeldet, und diese Jungbiologin fragt ganz unverblümt, was wir eigentlich alle fragen wollten und sollten:
„Wieso haben die Physiker denn eine Theorie, die so große Paradoxien im Gefolge hat, akzeptiert? Nur um ein immer gleich schnell gemessenes Licht begründen zu können? So verrückt ist doch niemand! Und schon gar kein Physiker. Und deshalb bin ich der Überzeugung:
Sie verschweigen uns etwas!“
„Sie haben recht“, antwortet ihr Gundula, „ich verschweige Ihnen tatsächlich etwas!
Selbstverständlich hätte die Physik einer Theorie mit solchen Paradoxien im Gefolge den Zugang zu den Hallen ihres Ruhmes verwehrt, wenn es damals nur darum gegangen wäre, die erstaunlichen Ergebnisse eines Versuchs mit einem immer gleich schnell gemessenen Licht erklären zu können. Man hätte sich gehütet, Einsteins Theorie zu akzeptieren!
Tatsächlich ist Einstein damals auch weit mehr gelungen:
Mit seiner Theorie sicherte Albert Einstein nämlich den berühmtesten Gleichungen der Physik, den maxwellschen Gleichungen, mit denen sich alle Phänomene elektromagnetischer Wellen, zu denen bekanntlich auch das Licht zählt, erstmals vollständig beschreiben ließen, ihre volle Gültigkeit zu.
Vor Einsteins Überlegungen waren diese Gleichungen zur Elektrodynamik nur für den Fall gültig, dass es so etwas wie einen absolut ruhenden Punkt oder auch einen absolut ruhenden Äther gäbe, von dem aus man feststellen kann, ob und wie sich der Beobachter des Phänomens, das er mit Hilfe der maxwellschen Gleichungen beschreiben will, in Relation zu diesem Phänomen bewegt. Das ist wichtig, denn bewegt sich der Beobachter relativ zum Phänomen, so ändert sich die Form dieser Gleichungen und sie liefern dann, trotz aller Berühmtheit, die falschen Ergebnisse.
Doch leider gab es keinen ruhenden Punkt im Universum, von dem aus man die Bewegtheit eines Physikers zu einem Phänomen objektiv hätte feststellen können. Vielmehr befand und befindet sich ja die Erde zur Sonne, die Sonne zu unserer Galaxie und die Galaxie zu den Galaxiehaufen in Relativbewegung. Und einen absolut ruhenden Äther, der den absolut ruhenden Punkt im Raum hätte ersetzen können, den gab es wohl auch nicht, denn sonst hätte sich die Geschwindigkeit einer Lichtquelle zu der des von ihr ausgesandten Lichts addieren müssen.
Deshalb hatten die Theorien der Physik nach den Versuchen zum Licht nicht mehr die geforderte absolute, sondern nur noch eine relative Gültigkeit. Eine unerträgliche Situation für die Physik - doch dann kam Einstein:
Natürlich konnte auch er keinen absolut ruhenden Punkt im Universum entdecken. Er schwor sogar dem Äther ab, der den ruhenden Punkt als ruhender Ätherraum hätte ersetzen können. Dafür aber zeigte Einstein der Physik eine neue absolute Konstante. Die von ihm als absolut konstant erkannte Lichtgeschwindigkeit! Der vermisste Ort absoluter Ruhe wurde von Einstein also, vereinfacht gesehen, durch eine absolute Geschwindigkeit ersetzt. Was im Gegenzug voraussetzte, dass Längen schrumpfen, Eigenzeiten entstehen und sich Massen veränderlich zeigen dürfen.
Und nur der Gültigkeit der maxwellschen Gleichungen und der Erfolge wegen, die man bis heute mit dem Ansatz von Lorentz, Einstein und anderen feiern kann, nur deshalb akzeptiert die Physik die Paradoxien im Gefolge der Relativitätstheorie als Realität. Zumal es bei diesen Paradoxien zumeist nicht etwa um Raumschiffe geht, die schrumpfen, sondern um technische Lösungen, wie etwa das GPS. Oder genereller gesagt:
Es geht um Fragen, die den unsichtbaren Mikrokosmos betreffen, denn vor allem dort feiert die spezielle Relativitätstheorie in Verbindung mit anderen Theorien von gestern bis heute ihre größten Erfolge. Ohne diese Theorie lässt sich der Mikrokosmos nicht beschreiben.
Die Paradoxien zu Einsteins Theorie sind daher nur die unerheblichen Missklänge in einem großen Konzert, das von allen Physikern jeden Tag aufs Neue gegeben wird und das jeden Tag stehende Ovationen erhält. Auch von Seiten der Ingenieure, die den Ansatz einfach nur pragmatisch nutzen.
Trotzdem ist es richtig, dass eine Theorie, die Paradoxien im Gefolge hat, immer unter Verdacht steht, mögliche Fehler in den Annahmen aufzuweisen. Doch Fehler hat man bis heute weder in den Annahmen noch in der Mathematik, noch in der Interpretation des mathematischen Ansatzes bei Einstein gefunden!“
Gundula atmet tief aus – geschafft! Kürzer ging es einfach nicht. Doch unser Diplomat, Dr. Anton von Schola, zeigt eine unzufriedene Miene, was auch Gundula auffällt:
„Nein, nein, ich habe an ihren Erklärungen überhaupt nichts auszusetzen!“ beruhigt der Diplomat eine Gundula, die das populäre Beste für uns gegeben hat.
„Mich stört etwas ganz anderes, denn wie bei der Geschichte von der fremden Welt, haben auch die Physiker unserer Welt letztlich ohne Not eine traditionelle Annahme des Menschen in ihr Denken und in ihre formalen Beschreibungen übernommen, die unüberprüft blieb:
Die Annahme, dass die Ortsveränderung, die einer Geschwindigkeit zugrunde liegt, tatsächlich so kontinuierlich erfolgt, wie wir das wahrnehmen oder für wahr annehmen.
Diese traditionelle Annahme des Menschen zur Kontinuität einer Bewegung, die sich später in den Bewegungsgesetzen der klassischen Physik bestätigt fand, wurde bereits vor 2.500 Jahren in einer Stadt namens Elea in ernste Zweifel gezogen. Und verschiedene Paradoxien konnten zeigen, dass diese Zweifel berechtigt waren. Aber ich denke, nicht jeder kennt die Geschichte von Elea.
Lassen Sie mich daher kurz 2.500 Jahre in der Zeit zurückblicken!“
Sagt er, der Diplomat, und weist dazu in eine Richtung, in der ich heute die Türkei vermuten würde. Dann zieht er für uns den Vorhang der Geschichte ein wenig zur Seite.
Die eigentlichen Entdeckungsreisen bestehen nicht im Kennenlernen neuer Landstriche, sondern darin, etwas mit anderen Augen zu sehen. – Marcel Proust (1871 - 1922), Schriftsteller
„Elea, eine Hafenstadt, wurde 550 Jahre v.Chr. von Griechen gegründet, die aus dem Gebiet der heutigen Türkei vor den einfallenden Persern geflohen waren. Als erfahrene Seefahrer wählten sie für die Flucht den Weg übers Meer und sie fanden mit ihren Schiffen schließlich an der Westküste Unteritaliens eine neue Heimat.
Die wirtschaftliche Lage der Neusiedler wurde durch eine große Ziegelei gesichert, denn baubarer Stein war rar und das Hinterland wurde von den streitbaren Lukanern beherrscht. Süßwasserquellen machten die Stadt autark, zwei Häfen, von einem Berg gut gegen das Hinterland geschirmt, ließen erfolgreichen Seehandel zu. Elea war eine gute neue Heimat.
Wichtiger aber war, dass sich Elea unter kluger Führung frei von Streit nach innen und Krieg nach außen entwickeln konnte. Diese zweifache Sicherheit zog bald gebildete Menschen auch aus fernen Ländern an, die neues Wissen in die aufstrebende Stadt brachten. Der Erfolg dieser klugen Balance aus Sicherheit und Zuwanderung von Wissen machte sich rasch bemerkbar:
Doch nicht nur die philosophische Schule war erfolgreich, denn auch Eleas Schule der Heilkunst wurde bald so berühmt, dass noch die erste medizinische Fakultät Europas, die 1.500 Jahre später im nahen Salerno entstand, in dieser längst vergangenen Schule ihre tiefsten Wurzeln fand.
Wichtig für uns im Hier und Jetzt ist jedoch nur, dass die führenden Denker Eleas - Xenophanes, der Lyriker, Parmenides, der Denker, und Zenon, der Logiker - damals eine Lehre aus der Taufe hoben, die besagte, dass die Welt nicht etwa kontinuierlich, sondern in gleichzeitig auftretenden, statischen, in sich abgeschlossenen Zuständen existiere.
Mit dieser Grundlage des Denkens, bei der sich der Ablauf der Welt aus einer Folge von einzelnen Gegenwartszuständen ergibt, führten die Eleaten die Kategorien Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in das Denken des Menschen ein. Kategorien, die heute noch gültig sind.
Doch da schon damals niemand glauben wollte, dass die Welt in einzelnen, getrennten Zuständen zu ihrer Existenz findet, zeigte Zenon, dass man das glauben musste, wollte man nicht erstaunliche Paradoxien in Kauf nehmen, wenn es um die Ergebnisse von Ortsveränderung geht. Zenon machte das unter anderem an einem berühmt gewordenen Wettlauf deutlich. Hier eine Kurzfassung:
Achilles soll als halbgöttlich schneller Läufer eine langsame Schildkröte einholen, die als Ausgleich der verschiedenen Geschwindigkeiten einen recht großen Vorsprung erhält. Existiert unsere Welt in Kontinuität und weist sie dementsprechend auch kontinuierliche Bewegungen auf, so führt deren Annahme schnell zu einem Paradoxon, denn entgegen aller Erfahrung könnte der schnelle Achilles die Kröte nicht überholen.
Die zenonsche Begründung für diese der Realität widersprechende Aussage:
Würde Achilles mit kontinuierlicher Veränderung des Ortes an jenen Ort gelangen, den die Kröte eben noch innehatte, so hätte diese in der Zwischenzeit auch selbst wieder den Ort ein wenig verändert - wäre vorangekommen. Und das gelte für alle Orte, die die Schildkröte und Achilles mit kontinuierlicher Bewegung erreichen könnten. Der Abstand von Kröte und Halbgott würde sich daher lediglich gegen Null verkürzen und Achilles könnte die Kröte nie überholen.
Warum nun aber nicht nur Achilles, sondern warum jeder Mensch eine Schildkröte überholen kann, das erklärt sich mit Zenon daraus, dass die Welt eben nicht in Kontinuität, sondern in gleichzeitig auftretenden, in sich abgeschlossenen und statischen Zuständen existiert. Und in solch einer Welt beruhen alle für wahr angenommenen kontinuierlichen Bewegungen in Wahrheit darauf, dass die Objekte mit jedem neuen Zustand, jeder neuen Gegenwart, Orte einnehmen, die zu vergangenen Orten eine gewisse Distanz zeigen. Oder auch nicht, wenn das Objekt ruht.
Und im Einzelnen hätte Zenon dazu ausführen können:
Sind die pro Gegenwart gezeigten Distanzen groß, erscheinen die Objekte schnell bewegt, sind die Distanzen klein, erscheinen die Objekte langsam bewegt. Nehmen die Distanzen zu oder ab, so erscheinen die Objekte positiv oder negativ beschleunigt. Und wechseln die Distanzen periodisch von groß nach klein und vice versa, so verändern die Objekte ihren Ort in der Logik einer Welle.
Angewandt auf das Beispiel mit der Schildkröte bedeutet dieses Prinzip der Ortsveränderung, dass der schnelle Achilles mit jeder Gegenwart eine größere Distanz zwischen den von ihm besetzten Orten zeigen wird als die langsame Schildkröte, die wesentlich kleinere Distanzen zwischen den Orten im Wechsel der Gegenwarten zeigen muss. Und man kommt mit der Logik zu dem Schluss:
Achilles kann die Schildkröte überholen, weil er keinen Ort erreichen muss, an dem die Schildkröte eben noch war, sondern weil er jeden denkbaren Ort der Schildkröte mit den größeren Distanzen, die zwischen seinen alten und neuen Orten im Wechsel der Gegenwarten liegen, überspringen kann.
Das Paradoxon der Unüberholbarkeit, das bei der Annahme von kontinuierlicher Bewegung als eine Warnung der Logik vor falschen Annahmen des Menschen auftritt, entfällt hier also zugunsten der Einsicht, dass die traditionell vorausgesetzte kontinuierliche Bewegung kritisch zu hinterfragen ist!“
„Das ist erstaunlich“, unterbricht Gundula den Diplomaten, „denn so habe ich diese Achilles-Geschichte noch nie betrachtet. Doch wenn man sie so betrachtet, wie Sie es eben angedacht haben, dann fällt auf, dass es zu dieser alten Geschichte eine neue Geschichte mit einem ebenso deutlichen Paradoxon gibt. In der gebotenen Kürze:
Würden sich die Teilchen des Mikrokosmos wie die Billardkugeln des Makrokosmos auf kontinuierlichen Bahnen bewegen, so müssten sie auf eine Barriere, die man ihnen in den Weg stellt, schlicht aufprallen. Tatsächlich zeigen aber Versuche, dass für Teilchen des Mikrokosmos solch eine Barriere oft nicht existiert. Sie ‚fliegen’ weiter, so als würden sie einen Tunnel durch die Barriere kennen - den es aber nicht gibt.
Ein Paradoxon zur Bewegung - ein Widerspruch in sich.
Berücksichtigt man nun, dass die Objekte des Mikrokosmos den Ort in der Regel wellenförmig verändern, und sieht man die Ursache der wellenförmigen Ortsveränderung in jenen periodisch wechselnden Distanzen zwischen den eingenommenen Orten, die schon Zenon annehmen durfte, so löst sich das Tunnelparadoxon auf, denn bei dieser Form der Ortsveränderung eines Teilchens kann ein eingenommener Ort nicht nur vor einer großen Distanz, sondern auch vor einer Barriere liegen - und der nächste eingenommene Ort schon dahinter.
Das wellenförmig den Ort wechselnde Teilchen ‚überspringt‘ dann den Ort der Barriere ganz ähnlich wie Achilles den Ort der Schildkröte in Zenons Gleichnis.
Insofern könnten Messungen der modernen Physik die frühe Warnung des Zenon bestätigen, den alten Glauben, dass sich die Dinge kontinuierlich auf Bahnen bewegen, nicht ungeprüft in das Denken zu übernehmen. Zumindest nicht, wenn die Ortsveränderungen den Mikrokosmos betreffen. Denn es gibt in der Tat erstaunliche Paradoxien, die davor warnen.“
„Na also, da haben wir es ja schon!“ freut sich Vera mit einem Heureka in der Stimme:
„Da hören wir also nun, dass es fraglich ist, ob man mit der Logik an kontinuierliche Bewegungen als Ursache von Geschwindigkeit glauben darf, und trotzdem wird in der Physik ausgerechnet eine absolut konstante Geschwindigkeit zum Dreh- und Angelpunkt eines neuen Weltverstehens, von dem aus sich alles andere neu beurteilen lassen soll.
Das ist doch verrückt, oder etwa nicht?“
Vera schaut mich auffordernd an. Doch was bitte soll mir dazu einfallen?
Vera wird doch wohl nicht glauben, dass sich mit einer Schildkröte, die nur in Ortssprüngen überholt werden kann, die Lehre Einsteins als Irrtum herausgestellt hat. Diese Lehre kann kein Irrtum sein, denn ohne Berücksichtigung dieser Lehre erhält man falsche Ergebnisse, wenn man es mit dem Mikrokosmos, generell, oder mit extrem hohen Geschwindigkeiten im Makrokosmos, speziell, zu tun hat.
Was also soll ich Vera antworten? Ich weiß es nicht, aber ich sollte es wissen, schließlich habe ich die Reise zum Berg der Paradoxien und dessen Erstbesteigung ausgelobt und mich dabei in der Rolle des Fährtensuchers gesehen. Doch welcher Fährte soll ich folgen, um mit Vera einen Fehler bei Einstein zu sehen, den alle außer ihr dort eben nicht sehen?
„Vielleicht wäre es gut, sich für Fragen zu Einsteins Theorie zunächst nicht auf die Ortsveränderung als ‚Kriterium der Wahrheit‘ zu konzentrieren, sondern sich zunächst auf die Frage zu beschränken, was es mit der Zeit auf sich hat!
Die Zeit war ja vor Einstein die fundamentalste Größe, die die Physik kannte. Und zu der Zeit gibt es, wie schon zur Frage der Ortsveränderung, einen großen Konflikt in der Geschichte des Denkens, der ebenfalls auf Elea zurückgeht!
Kennen sie alle diesen Konflikt?“
Dr. Anton von Schola, der meine Hilflosigkeit offensichtlich bemerkt hat, lenkt die Aufmerksamkeit von Vera und der Gruppe nicht nur geschickt auf sich, er sieht sich auch noch in der Lage, dieser Aufmerksamkeit gerecht zu werden, denn er erklärt uns in einem neuerlichen Rückblick:
„Kontrahenten waren damals der längst verstorbene Zenon und der neu ins Rampenlicht getretene Aristoteles, der für die Lehre der statischen Zustände fast nur Spott übrighatte und die Eleaten als Stehendmacher bezeichnete. Und das nicht ohne Grund, denn dieser Aristoteles verehrte die kontinuierlich wahrgenommene Bewegung der Gestirne als göttlich.
Um nun aber den Argumenten des Zenon gegen die Existenz solch göttlich-kontinuierlicher Bewegungen zu entgehen, griff Aristoteles zu einer List:
Er verband die einzelnen Zeitpunkte statischer materieller Existenz, aus denen sich die Logik des Elea-Denkmodells speist, zu einer kontinuierlichen, weil ununterbrochenen Zeitlinie!
Der Vorteil: Mit einer zur Linie erklärten Zeit konnte Aristoteles die Bewegung vor den Einsichten der Eleaten retten. Damit bereitete er zugleich den bis heute gültigen Bewegungsgesetzen der klassischen Physik den Weg.
Der Nachteil: Mit der zur Linie erklärten Zeit entfiel die Herleitung der Zeit über eine Abfolge einzelner Zeitpunkte. Die Zeit ließ sich nun in ihrem Ablauf nur noch an der Beobachtung von Veränderungen festmachen. Und bei widersprüchlichen Beobachtungen musste sich daher entweder der Ablauf der Zeit widersprechen oder die Zeit musste sich in verschiedene Stränge aufteilen, die nur für das jeweilige Beobachtersystem gültig waren. Anders gesagt:
Die Weichen für die einsteinsche Sicht der Dinge wurden schon vor über 2.000 Jahren gestellt!
Zenon aber dürfte sich bis heute im Grabe drehen, wüsste er, wie sich die Dinge mit Aristoteles entwickelt haben, war es doch ausgerechnet dieser Aristoteles, der die klugen Argumente des Zenon gegen die Annahme kontinuierlicher Bewegung an die Nachwelt kolportierte. Seither gilt Zenon als ein kluger Kopf, der zu scharf über die Welt nachgedacht hat und zu einem Dummkopf wurde, weil er glaubte, Achilles könne keine Kröte einholen.
Doch das hatte Zenon so nie behauptet!
Einige Historiker werfen Aristoteles denn auch vor, die zenonschen Paradoxien zur Bewegung so bearbeitet zu haben, dass sie entweder als banal oder als falsch erscheinen!
Doch eigentlich könnte Zenon seit 100 Jahren wieder ganz ruhig im Grabe schlummern, denn meines Erachtens wurde er in den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts rehabilitiert. Nicht gewollt, dafür aber von dem deutschen Physiker Werner Heisenberg, der in seiner Unschärferelation, der vielleicht wichtigsten Grundlage der modernen Physik, Folgendes zeigte:
Ort und Bewegung eines Teilchens lassen sich nie gleichzeitig scharf bestimmen. Will man den Ort eines Teilchens ganz scharf bestimmen, so muss man auf die genaue Kenntnis der Bewegungsgröße verzichten. Will man dagegen die Bewegungsgröße des Teilchens genau bestimmen, so muss man auf die genaue Kenntnis seines Ortes verzichten. Dieser Ort verschwimmt unter Einbezug der Bewegungsgröße um mindestens jene Einheit namens h, die die moderne Physik als den kleinsten zeitlichen Zustand der Energie, und damit der Welt insgesamt, kennt.
Nichts anderes als Heisenberg hatte aber auch schon Zenon behauptet. Mit den Mitteln, die ihm in seiner Zeit zur Verfügung standen. Mit der Logik des Denkens und mit Beispielen, bei denen er zum Beispiel Pfeile einsetzte, die die vorausgeahnten Teilchen des Mikrokosmos ersetzen mussten.
Und Zenon stellte fest:
Beobachtet man einen fliegenden Pfeil mit der Logik des Denkens scharf, so kann die Beobachtung nur einen ruhenden Pfeil an einem bestimmten Ort zeigen, denn wäre es anders, hätte der fliegende Pfeil keinen einzelnen Ort, sondern eine Vielzahl von Orten zugleich inne. Dann aber könnte es sich nicht mehr um einen in der Ausdehnung klar definierten Pfeil handeln, denn dieser wäre unscharf.
‚So what!‘ könnte Zenon also posthum dem Aristoteles entgegen schleudern!“
Schön gesagt, Herr von Schola, denke ich, und ahne zugleich, dass wir auf der richtigen Spur zu einem neuen und besseren Verstehen der Welt sein könnten. Doch ahnen nützt leider nichts, wenn man eine Spur, kaum entdeckt, auch schon wieder verloren hat. Verlieren musste, denn:
Ich bemerke mit Schrecken, dass die Lichtung, auf der wir stehen, schon längst keine Lichtung mehr ist, da sich das Dickicht des alltäglichen Denkens bereits so nahe herangeschlungen hat, dass nur noch ein letztes Fleckchen freien Denkens existiert. Entweder einem von uns, am besten mir, fällt nun schnell ein, wie man den alten Streit zurzeit, Punkt oder Linie, zugunsten oder gegen die Eleaten entscheiden kann - oder wir werden im nächsten Moment wieder eins mit dem alltäglichen Denken und können unsere Bergtour, die noch nicht einmal begonnen hat, vergessen.
Und weil mir nun trotz tiefen Grübelns einfach nicht einfallen will, wie wir an dieser Stelle weiterkommen könnten, bedauere ich es zutiefst, zu einer Reise aufgerufen zu haben, die schon viele vor uns zur Aufgabe gezwungen hat.
Zugleich erkenne ich mit Entsetzen:
Diese Lichtung ist überhaupt keine Lichtung, sie ist ein Friedhof für gescheiterte Gedanken zu Fragen der Ortsveränderung und zurzeit. Bleiches Denkgebein, nur mühsam von grünen Ränkchen überdeckt, die zwar den Blick verstellen, nicht aber den üblen Geruch fernhalten können, der die gefallenen Gedanken wie unsichtbares Gift umwabert.
Alles hat eben seine eigene Zeit, auch das Gift gefallener Gedanken. Denke ich - und fühle zugleich eine Art Blitz. Gerade, dass ich diesen Blitz noch fassen kann, um zu schauen, wodurch er wohl ausgelöst wurde. Das Ergebnis der Untersuchung ist eindeutig:
Meine Gedanken an eine eigene Zeit haben den Blitz ausgelöst, denn der mathematische Ansatz, der von Lorentz geschaffen und von Einstein weiterverfolgt wurde, zeigte der Physik eine bis dahin völlig unbekannte und scheinbar paradoxe Eigenzeit der Dinge.Könnte diese Eigenzeit den Streit zwischen Aristoteles und Zenon mit einem Hieb entscheiden?
Vielleicht! Doch nicht ein Hieb ist es, der plötzlich das Dickicht des alltäglichen Denkens so spaltet, dass ein schmaler Pfad erscheint, sondern vermutlich ist mein Gedankenblitz zur Eigenzeit als Kriterium der Wahrheit in das alltägliche Denken gefahren und hat dort einen Pfad frei gebrannt.
Sei's drum, Rettung darf auch verlustreich sein. „Mir nach!“ rufe ich daher freudig.
Und wohl niemals wieder wird man eine Reisegruppe beobachten, die derart fest entschlossen einem Pfad zu unbekannten Zielen folgt. Nur fort von dieser Lichtung des freien Denkens, die längst keine mehr ist, so lautet unsere neue Devise.
Also hasten wir vorwärts und achten der Gedanken des Alltags nicht, die überall wie Peitschen in den Pfad ragen. Spießruten, so scheint's, laufen wir hier. Wohl als Strafe für den ungebührlichen Gedanken, die Physik könnte mit Albert Einstein einem Fehler erlegen sein, den schon Aristoteles in unser Denken gepflanzt hatte, der sich aber erst mit dem geistigen Dünger Einsteins zu seiner vollen Blüte entwickeln konnte.
Solche Vermutungen müssen gegeißelt werden!
Dann aber geht es vorne plötzlich nicht mehr weiter. Dafür sorgen Schrei und Schrecken, denn vor Vera und Gundula, die die Spitze unseres Gänsemarsches bilden, schießt unversehens eine schwarze und harte Mauer aus dem Boden, die aus großen und glatten Quadern eines mir völlig unbekannten Baustoffes fest gefügt ist. Unüberwindlich, so scheint es.
Der Trägheit könnte sie trotzdem nachgeben, denke ich, und werfe mich mit der beschleunigten Masse meines 90-Kilogramm-Körpers nach vorne und lasse das Beharrungsvermögen namens Trägheit, das diese Ortsveränderung fortgesetzt sehen will, auf die Mauer einwirken. Doch die Mauer erträgt mein Bemühen mit stoischem Gleichmut. Und mit diesem Ergebnis meines Bemühens stehe ich erneut vor einem Hindernis, von dem ich nicht weiß, wie man es überwinden kann, das aber als Fährtensucher vermutlich wissen sollte.
„Vor die Wand gelaufen, nicht wahr, Herr Fährtensucher!
Und ich weiß auch schon, warum!“
Thomas, ich hasse Dich!
Kinder fragen viel, weil sie die Welt noch nicht verstehen. Alte Leute fragen viel, weil sie die Welt nicht mehr verstehen. Und dazwischen liegt das Alter, in dem der Mensch zwar behauptet, dass er die Welt verstehe, doch in Wahrheit hat er einfach nur mit dem Fragen aufgehört. - Glaube ich.
Thomas hat die rechte Hand mit gestrecktem Habe-Acht-Zeigefinger erhoben:
„Sie wollen auf dieser Wanderung Albert Einstein und die Physik diskreditieren! Sie wollen uns hier glauben machen, der einsteinsche Ansatz sei lediglich ein mathematischer Hilfsweg zu einem verwertbar richtigen Ergebnis, beschreibe aber nicht die Realität.
Tatsächlich gehen aber Sie selbst so weit an der Realität vorbei, dass Ihnen ein gnädiges Schicksal diese Wand in den Weg gestellt hat, damit Sie sich und uns nicht weiter in die Irre führen.
Ist es nicht so, Herr Fährtensucher ohne Fährte?“
„Oh nein, so ist das nicht!“ schwindle ich dreist - und füge hinzu:
„Ich glaube, dass die Frage nach der Eigenzeit, die Lorentz zunächst dazu führte, seinen eigenen mathematischen Ansatz abzulehnen, genau jene Frage ist, die man beantworten muss, um die Welt und damit auch Einstein besser verstehen zu können. Die Frage nach der Eigenzeit können wir aber nur beantworten, wenn wir zunächst einmal wissen, was es mit der Zeit als solcher auf sich hat.
Und ich glaube, dass sich uns diese Mauer nur deshalb in den Weg gestellt hat, damit wir nicht auf die Idee kommen, die richtige Definition der Zeit in der von Einstein konstruierten Raumzeit zu suchen, denn es wäre ziemlich dumm, einen Denkansatz auf mögliche Fehler zu untersuchen, indem man Teile dieses Denkansatzes zum eigenen Denken macht!“
