Warten aufs Leben - Thomas Kastura - E-Book

Warten aufs Leben E-Book

Thomas Kastura

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Beschreibung

Filmriss mit Folgen.

Sturmfreie Bude! Partytime! Alkopops und Pillen. Am nächsten Tag kann sich Tara, 15, nur noch an den Streit mit ihrem Freund Steffen und an ihren Quickie mit Claas, dem Typen, der nichts auslässt, erinnern. Claas, der HIV-positiv war. Hat Tara sich infiziert? Unerträglich lange Monate der Unsicherheit zwingen Tara zur Auseinandersetzung mit der Erkrankung und dem Tod, bis sie die endgültigen Ergebnisse ihres AIDS-Tests erfährt.

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Seitenzahl: 172

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Thomas Kastura studierte Germanistik in Bamberg. Nach einer Tätigkeit als Lehrbeauftragter der Universität Bamberg arbeitet er als freier Journalist für den Bayerischen Rundfunk und verschiedene Zeitungen und Zeitschriften. Im Goldmann-Verlag ist er erfolgreicher Krimi-Autor. »Warten aufs Leben« ist sein erstes Jugendbuch.

Thomas Kastura

Warten aufs Leben

 

 

 

cbt – C. Bertelsmann Taschenbuch

Der Taschenbuchverlag für Jugendliche Verlagsgruppe Random House

 

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen. Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

 

 

Unterrichtsmaterialien zu diesem Buch

sind erhältlich unter: www.penguinrandomhouse.de

 

Originalausgabe April 2006

© 2006 cbt/cbj Verlag, München

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München.

Alle Rechte vorbehalten

 

ISBN 978-3-641-01375-2V002

 

www.cbj-verlag.de

 

 

Datenkonvertierung eBook:

Kreutzfeldt Electronic Publishing GmbH, Hamburg

www.kreutzfeldt.de

Keine der Personen in diesem Buch hat einen realen Menschen zum Vorbild. Die Geschichte ist frei erfunden, wenngleich die Orte, an denen sie spielt, zum größten Teil wirklich existieren.

1

Tara umklammerte die Couchlehne. Sie griff fest zu, spürte, wie die Nähte des Bezugs nachgaben. Mit der andern Hand beschrieb sie einen unregelmäßigen Kreis.

»Dann geh doch!«, rief sie. »Keiner vermisst dich!«

»Du bist betrunken, Tara.«

»Alkohol täte dir auch ganz gut. Wir feiern hier eine Party! Kannst du nicht einmal aus dir rausgehen?«

»Was soll ich tun?« Steffen hatte keine Ahnung, wovon sie sprach. Wegen der dröhnenden Bässe konnte er sie nur mit Mühe verstehen.

»Leben, verdammt!« Tara schob sich an ihm vorbei und drehte die Lautstärke der Stereoanlage noch weiter auf.

Steffen stand steif neben der Terrassentür, unentschlossen, ob er die Fete verlassen oder bleiben sollte. Er wirkte wie ein Fremdkörper unter all den andern. Sein kariertes Hemd steckte tief in der Hose. Seine glatten, kurzen Haare waren frisch gewaschen, was man deutlich sah: Sie standen ein wenig ab. Und mit seinen Händen wusste er wie immer nichts anzufangen.

Steffens Hände waren ein Kapitel für sich. Meistens hingen sie herab, als gehörten sie nicht zu ihm. Sie waren ungefähr so lang wie Taras Füße, am Baggersee hatten sie es kürzlich unter großem Gelächter verglichen. Beim Schwimmen kamen ihm diese Hände zustatten, in den meisten anderen Situationen waren sie hinderlich.

»Zu welchem Verein gehörst du denn?«, fragte ein Junge und wies auf die Jackenärmel, wo Steffens Mutter eine Stoffplakette aufgenäht hatte. Das Abzeichen zeigte ein rotes Kreuz, umringt von einem blauen Schwimmreifen.

»Wasserwacht.« Steffen verschwieg, dass er als Jugendlicher bei richtigen Einsatzübungen nur zuschauen durfte.

»Cool«, sagte der Junge und ging auf die Terrasse. Steffen fand das Abzeichen auch cool, aber die Bemerkung des Jungen hatte mitleidig geklungen.

Janine und Britta liefen auf der Tanzfläche zur Höchstform auf. Hergen, Turk und ein paar ältere Jungs feuerten die beiden an. Tara fand es ziemlich gewagt, wie sich die zwei zum Rhythmus der Musik bewegten. Sie rollten mit dem Becken, als wollten sie gleich einen Striptease hinlegen.

Taras Eltern waren übers Wochenende zu einer Geburtstagsfeier nach Krefeld gefahren. Ihr Abschied war so eindringlich gewesen wie das Vertrauen, das sie ihrem einzigen Kind entgegenbrachten. Gut, dass sie weg waren, dachte Tara, sonst hätte ihr Vater sich unter die Gäste gemischt. Bert Gregori hätte auf jugendlich gemacht, damit Tara sich nicht für ihn schämen musste. Normalerweise mochte sie es, wenn er ihr einen Wunsch von den Augen ablas – nicht jeden Wunsch, er ließ sich ungern manipulieren. In seinen ewig weißen T-Shirts sah ihr Vater sogar präsentabel aus. Beim Anblick von Brittas Bustier wäre ihm jedoch der Kopf von den Schultern gefallen. Es war zwei Nummern zu klein und gab mehr preis, als es verhüllte.

Tara überprüfte den rasch schwindenden Getränkebestand. Anfangs hatte sie noch befürchtet, dass sie auf den vielen Flaschen sitzen bleiben würde. Die Fete hatte sich lahm angelassen. Sie waren in Grüppchen herumgesessen, keiner wollte den Anfang machen. Das Wohnzimmer der Familie Gregori strahlte eine nüchterne Eleganz aus, als hingen winzige Preisschildchen an den Möbeln. Taras Freundinnen und die Jungs aus ihrer Klasse hatten sich unbehaglich gefühlt. Bis Claas gekommen war und das Eis gebrochen hatte. Er fackelte nicht lange, dafür war er bekannt. Kurzerhand hatte er den Perlenvorhang zur Diele abgerissen. Tara war das nostalgische Ding schon immer verhasst gewesen. Claas hatte sich drin eingewickelt und die Party für eröffnet erklärt.

Inzwischen war es proppenvoll. Tara kannte höchstens die Hälfte aller Gäste. Eine Menge Jungs stammten aus andern Schulen. Sie standen kurz vor dem Abitur oder wirkten zumindest so. Ihre Jacken sahen aus, wie abgetragene Jacken aussehen sollten. Steffen war verschwunden.

»Wir haben endlich braunen Zucker!« Nikola hatte die Küchentheke zur Bar umfunktioniert. Sie reichte ihrer besten Freundin einen Drink. Beide waren fünfzehn. Sie trugen den gleichen mit Pailletten besetzten schwarzen Minirock, ansonsten waren sie so verschieden wie Zuckerrohrschnaps und Limettensaft.

»Na?«, fragte Nikola gespannt.

»Schmeckt besser als diese bescheuerten Alkopops«, sagte Tara. »Wie läuft’s?«

»Bestens. Die Leute sind fest entschlossen, sich zu amüsieren.« Nikola wandte sich wieder dem Zerkleinern der Limetten zu. Sie hatte alles im Blick. »Was ist mit Steffen?«

»Schmollt.«

»Wer hätte das gedacht?«

»Du weißt ja, er mag keine Feten.«

»Sehr unklug«, sagte Nikola. »Ich mixe die besten Caipis der Welt. Manche Leute wissen das zu schätzen.«

Ein groß gewachsener Junge lehnte mit dem Rücken an der Küchentheke. Er trug eine grünblaue Snowboarderjacke, zu warm für die Jahreszeit. »Schmeckt grandios«, sagte er, ohne sich zu Nikola umzudrehen.

Sie lächelte und bearbeitete die Limetten mit doppeltem Eifer. »Meine Drinks haben noch niemandem geschadet. Die reinste Medizin.« Mit Alkohol hatte Nikola bereits einige Erfahrung, mehr als sie Tara gegenüber zugab.

»Hey, das beamt einen ja direkt ins Kontinuum«, sagte der Junge.

»Bist du ein Trekkie?« Nikola fand solche Typen indiskutabel.

»Als ich noch zur Schule ging, war Enterprise okay. Jetzt stehe ich mehr auf Samurai-Filme.«

»Tiger and Dragon?«, fragte Tara. Sie liebte diesen Film, nicht wegen der Kampfszenen, sondern wegen der Romanze zwischen der Prinzessin und dem Räuber. Und wegen der fantastischen Kostüme.

»Zu viel Kitsch«, sagte der Junge.

»Eine richtige Schnulze«, pflichtete ihm Nikola bei, obwohl sie den Film auf DVD besaß und mit Tara schon mindestens zehnmal angesehen hatte.

Der Junge mit der Boarderjacke wies auf ein Pärchen, das etwas abseits auf der Treppe zum Obergeschoss saß. Das Mädchen balancierte zwei kleine Pillen auf dem Zeigefinger. »Möchte mal wissen, was die gerade einwerfen.«

Tara war beleidigt, weil er Tiger and Dragon einfach abgekanzelt hatte. Außerdem brauchte sie keinen Aufpasser auf ihrer Party, die Leute sollten tun und lassen, was sie wollten. »Ich bin hier die Gastgeberin«, sagte sie. »Was schlägst du vor? Soll ich die Polizei rufen?«

»Hast du sie noch alle?«, fragte Nikola.

»Schon gut.« Tara lachte. »War nur ein Scherz.«

Der Junge nahm seinen Drink und ging Richtung Terrasse. Nikola warf Tara einen giftigen Blick zu.

»Der kommt wieder«, versuchte Tara, ihre Freundin zu beschwichtigen.

»Weißt du, wie er heißt?«

»Keine Ahnung.«

»Meinst du, er studiert schon?«

»Oder er hat das Abi nicht gepackt und sitzt jetzt an einer Supermarktkasse«, stichelte Tara.

»So sieht er aber ganz und gar nicht aus«, sagte Nikola bewundernd. »Wenn er mir nach dem nächsten Caipi nicht seine Liebe gesteht, bist du schuld.«

»Reg dich ab.«

»Du hast gut reden, du bist ja in festen Händen.« »Jetzt übertreib mal nicht. Das klingt ja, als wäre ich schon verheiratet.«

»Habt ihr euch gestritten?«

»Steffen ist manchmal so ... peinlich.« Tara trank ihr Glas aus und setzte sich in Bewegung. »Eins ist jedenfalls sicher: Heute Abend komme ich gut ohne ihn aus.«

2

Es dauerte eine Weile, bis Tara Claas’ Aufmerksamkeit weckte. Der Geräteschuppen lag hinter der großen Eiche. Taras Großvater hatte den Schössling 1955 gepflanzt, das war ein Jahr, bevor Ulla, Taras Mutter, auf die Welt kam. Tara hatte die Geschichte so oft gehört, dass sie ihr gleichgültig geworden war. Die Eiche verdeckte den Schuppen, sodass er von der Terrasse aus kaum zu erkennen war. Jeden Herbst schlug Bert Gregori vor, zumindest die unteren Äste zu kappen. Ulla wehrte sich mit Händen und Füßen dagegen. Sie stritten sich, dann redeten sie eine Woche nicht miteinander und danach war das Thema bis zum nächsten Herbst vom Tisch.

Auf dem Rasen neben dem Schuppen hatte sich ein Kreis von sieben oder acht Leuten gebildet. Hin und wieder ging ein Joint rum. Ein Junge, der wegen seines spärlichen Bärtchens Dschingis genannt wurde, hatte ein Lagerfeuer entfacht – an einer Stelle, wo bis vor kurzem noch eine Blautanne gestanden hatte und ohnehin nichts mehr wuchs. Das Holz war zu jung, es qualmte und wollte nicht richtig brennen.

Tara genoss die Dämmerung dieses Frühsommertages in vollen Zügen. Sie hatte keine Lust mehr, sich um ihre Party zu kümmern. Es kam ihr so vor, als befände sie sich an einem vollkommen anderen Ort, nicht mehr in einem langweiligen Wohngebiet am Stadtrand von Bamberg. Das Grundstück war fast ganz von Bäumen und hohen Sträuchern umgeben. Im unteren Teil des Gartens herrschte geordneter Wildwuchs, wie Ulla Gregori es ausdrückte. Der Schuppen sah mit seinem dunkelroten Anstrich und den weiß gefassten Fenstern wie eine Hütte in Schweden oder Norwegen aus. Tara stellte sich vor, irgendwo in Skandinavien zu sein, wo die Sommer kurz, aber intensiv waren. Sie nahm einen Schluck aus der Wodkaflasche, die sie mit nach draußen gebracht hatte, und sah einem Funken zu, wie er in den Nachthimmel stieg. Die Rettungskapsel eines Raumschiffs. Sie wünschte, sie wäre an Bord.

»So wird das nie was!« Claas nahm den grünen Ast wieder weg, den Dschingis aufs Feuer gelegt hatte, und wedelte den Qualm beiseite. »Wir brauchen trockenes Holz. Ich fühl mich schon wie ein Räucherschinken.«

Tara fiel ein, dass ihr Vater einen Vorrat Kaminholz im Schuppen lagerte. Das wäre jetzt genau das Richtige, dachte sie. Mit belegter Stimme bat sie Claas, ihr zu helfen, weil sie an den Querbalken unter dem Dach nicht heranreichte. Dort war der Schlüssel zum Schuppen versteckt.

Claas brauchte sich nicht mal zu strecken. Er war zwei Köpfe größer als Tara. Zu der Party war er mit seinem Auto gekommen, einem uralten Volvo, den er zusammen mit einem Freund wieder hergerichtet hatte. Er ging noch in die elfte Klasse, aber das lag nur daran, dass er so ziemlich alles, was ihm Spaß machte, der Schule vorzog. Seine graublauen Augen waren immer in Bewegung. Er gab Tara den Schlüssel. Sie bückte sich, ihr Top rutschte hoch, und die gebräunte Haut über ihrem Po wurde sichtbar, während sie aufsperrte. Sie kicherte albern, weil sie das Schlüsselloch nicht auf Anhieb fand.

Im Schuppen befanden sich ein Rasenmäher, Werkzeuge und allerlei Gartengeräte. Es gab zwei Fenster mit fadenscheinigen Vorhängen. Über einem alten Sofa hing ein Poster von einem Schauspieler, den Claas nicht kannte. Er lehnte an einem Motorrad und trug eine Mütze aus schwarzem Leder. Mehr war in dem abgedunkelten Raum nicht zu erkennen.

An der rechten Wand war jede Menge Brennholz gestapelt. Tara klemmte sich so viele Holzscheite unter die Arme, wie sie tragen konnte. Claas zögerte. Er war an der Türschwelle stehen geblieben.

»Komm schon«, sagte Tara. »Nimm auch ein paar.« »Ganz schön unheimlich«, gab er zurück. »Gibt’s hier kein Licht?«

Tara blickte sich verwundert um. Dann musterte sie Claas. Er hatte sich halb weggedreht und die Arme verschränkt. Die Muskeln an seinen Oberarmen traten hervor, so ähnlich wie bei dem Schauspieler auf dem Poster.

»Als ich klein war, hab ich mich hier drin gefürchtet.« Sie wies mit dem Kopf zu dem alten Sofa. »Aber da müssen noch ein paar Kerzen sein. Damit wird’s hier richtig gemütlich.«

»Das reicht erst mal.« Er nahm ihr das Holz ab und ging zurück zum Feuer. Nachdem er mehrere Scheite auf die qualmenden Zweige gelegt hatte, pustete er in die Glut. Seine Lungen waren kräftig, sofort begann es, lebhaft zu knistern. Mit einer gleichgültigen Geste wischte er ein paar Funken von seinem Oberarm.

Das Kaminholz fing schnell Feuer, die Flammen schlugen hoch. Zwei Mädchen aus Taras Parallelklasse gesellten sich zu dem Kreis und schnorrten von Dschingis Zigaretten. Aus dem Haus drang hämmernde Musik. Es schien hoch herzugehen.

Claas saß neben Tara und starrte schweigend auf einen Punkt inmitten der Glut. Sie tranken Wodka.

»Hell genug?«, fragte sie und legte ihren Arm um seine Hüfte.

Er schaute sie an, als sähe er sie zum ersten Mal. »Ja. Perfekt.«

»Müssen wir jetzt die ganze Nacht hier sitzen bleiben und aufpassen, dass es nicht ausgeht?«

»Wenn’s sein muss.«

»Könnte aber langweilig werden«, sagte Tara und schubste Claas leicht mit der Schulter. Er schubste zurück. Sie gab ihm einen spielerischen Stoß in die Rippen. Er schrie übertrieben laut auf und tat so, als wolle er sie in den Schwitzkasten nehmen. Sie lachten und kippten nach hinten. Claas murmelte etwas Unverständliches und küsste sie unbeholfen auf den Mund. Sie ließ es geschehen, dann drehte sie sich weg. Plötzlich rollte er mit ihr den abschüssigen Rasen hinunter. Am Rand eines Gebüschs blieben sie atemlos liegen und schauten in den Himmel. Er war tiefblau, fast schwarz, die ersten Sterne blinkten.

In Taras Kopf drehte sich alles. Sie war rettungslos betrunken, wollte aber auf keinen Fall schlappmachen. Claas’ Lippen hatten sich fest und fordernd angefühlt, er schien sich seiner Sache sicher zu sein. Das galt auch für Tara.

Sie schloss die Augen, ein wenig Klarheit kam zurück. Claas lag neben ihr und rührte sich nicht.

»Hast du Angst im Dunkeln?«, fragte sie.

»Nur wenn ich allein bin.«

Er beugte sich über sie. Der Schein des Feuers glitt über seine Wangen und seinen Mund. Diesmal drehte sie sich nicht weg. Sie vergaß alles, was sie abgelenkt hatte, und sah nur noch eine Kugel aus Licht, mitten in ihrem Kopf.

Später, als Tara sich anschickte, neues Holz zu holen, folgte Claas ihr wie selbstverständlich in den Schuppen. Sie sperrten von innen ab. Das Feuer musste warten.

3

Der Perlenvorhang lag vor Tara wie eines der ramponierten Fischernetze, die sie bei einem Urlaub mit ihren Eltern an der französischen Atlantikküste gesehen hatte. Sie brauchte eine Ewigkeit, um die Schnüre zu entwirren. Ihre Kopfschmerzen waren mörderisch, die Hände gehorchten ihr nicht. Als sie alle Knoten gelöst hatte, versuchte sie verzweifelt, die abgerissenen Perlenschnüre wieder an der Leiste unter dem Türstock zu befestigen. Sie stieg auf eine Trittleiter, und tatsächlich gelang es ihr, eine Schnur festzukleben. Dann wurde ihr schwindelig und sie gab auf.

Das Haus war ein Schlachtfeld. Am schlimmsten sah das Wohnzimmer aus. Der Teppich war mit unzähligen Flecken übersät, nichts befand sich mehr an seinem Platz. Tara fühlte sich hundeelend.

Ein paar Jungs, die im Freien übernachtet hatten, saßen schon wieder auf der Terrasse und rauchten. Tara sagte ihnen, dass sie beim Aufräumen helfen oder verschwinden sollten. Sie standen wortlos auf und gingen.

Um zwölf wollten Nikola, Janine und ein paar andere kommen, um gemeinsam sauber zu machen. So hatten sie es zumindest vereinbart. Bis dahin dauerte es noch eine halbe Stunde. Tara beschloss, so lange zu warten.

Sie ging in die Küche, räumte die Spülmaschine ein, was den Berg an schmutzigen Gläsern nur minimal reduzierte, und setzte Kaffee auf. Dann legte sie große blaue Abfalltüten und Putzzeug bereit. Als der Kaffee durch die Maschine gelaufen war, ließ sie sich mit einer dampfenden Tasse auf einem Küchenhocker nieder und spürte, wie die ersten Lebensgeister zurückkehrten. Sie war froh, noch eine Weile mit sich allein zu sein, und versuchte, sich zu sammeln.

Tara war gegen zehn in ihrem Zimmer aufgewacht. Wie sie ins Bett gekommen war, wusste sie nicht mehr. Sie hatte nur noch ihren Slip an, der Rest ihrer Kleidung lag auf dem Boden verstreut. In der Dusche hatte sie Probleme gehabt, sich auf den Beinen zu halten. Als ihr Blick auf den Streifen mit der Anti-Baby-Pille fiel, hatte sie eine seltsame Erleichterung verspürt. Die leeren Stellen an dem halb aufgebrauchten Streifen zeigten, dass es eine Zeit vor der Party gegeben hatte, als sie noch klar im Kopf war.

Claas. Langsam hob sich der Nebel. Tara ging absichtlich nicht zum Schuppen hinunter. Sie konnte sich auch so dran erinnern, was auf dem alten Sofa passiert war. Reue empfand sie nicht, warum auch? Sie hatten Gefallen aneinander gefunden. Obwohl sie beide ziemlich hinüber waren, hatten sie gespürt, dass die Zärtlichkeiten des andern keiner Laune entsprangen. Tara mochte Claas. Und am meisten mochte sie, dass er erst zur Sache gekommen war, als sie die Kerze angezündet hatte.

Steffen sah unverändert aus. Er war zögernd hereingekommen, ängstlich darauf bedacht, in keine Scherben zu treten. Während er die Verwüstungen betrachtete, vor denen er geflohen war, schüttelte er den Kopf.

»Lebst du noch?« Er beugte sich vor und gab Tara einen Kuss auf die Wange.

»Nein, siehst du doch.« Sie lehnte sich gegen die Wand und schloss die Augen.

»War’s so schlimm?«

»Ganz im Gegenteil. Es war fantastisch.« Bis zu dem Zeitpunkt, als ich einen Filmriss hatte, fügte sie in Gedanken hinzu. Als das Gesicht von Claas plötzlich weg und alles um sie herum in einer trüben Brühe versunken war. Es kam ihr so vor, als wären die Glücksgefühle von einem schrecklichen Traum abgelöst worden.

»Dann fangen wir mal an.« Steffen nahm eine Abfalltüte und begann, leere Flaschen einzusammeln. »Was war denn so fantastisch?«, wollte er wissen.

»Alles. Wir haben ein Lagerfeuer gemacht, unten am Schuppen.«

»Wirklich?« Lagerfeuer waren nach seinem Geschmack. »Ich dachte, ihr wolltet nur tanzen.«

»Tolle Stimmung, so unter freiem Himmel«, sagte sie unverbindlich.

»Tut mir Leid, dass ich so ein Spielverderber bin, Tara. Aber Partys sind einfach nicht mein Ding.«

»Du weißt, dass du da einiges verpasst.«

»Kann schon sein.«

»Macht dir das nichts aus?«

»Nein.« Er hielt inne. »Vielleicht doch. Aber was soll ich machen? Ich fühl mich auf Partys immer fehl am Platz. Was Britta und Janine da aufgeführt haben, findest du das gut?«

»Nein. Aber das gehört dazu.«

»Ohne mich.« Der Abfallsack war voll. Steffen machte einen Knoten hinein und fing den nächsten an. Tara stand auf und wollte ihm helfen, als Nikola durch die Wohnzimmertür kam. Sie sah furchtbar aus, obwohl sie alles unternommen hatte, ihren Kater mit Schminke zu überdecken. Nikola war Tara mal zwei. Größer, stämmiger, unkomplizierter, mehr Frau, was sie bei jeder Gelegenheit betonte. Normalerweise hatte sie immer eine schnippische Bemerkung auf den Lippen, doch jetzt ließ sie sich bloß auf einen Sessel sinken und starrte an die Decke.

»Wie geht’s dir?« Tara bückte sich und hob eine leere Zigarettenpackung auf.

»Habt ihr’s nicht gehört?«, fragte Nikola überrascht. »Was denn?«

»Na, das mit Claas.«

»Was soll mit ihm sein?«

»Er ist tot.«

Tara glaubte, den Boden unter den Füßen zu verlieren. Sie hielt sich am Sofa fest.

»Verkehrsunfall. Voll gegen einen Baum, den einzigen weit und breit.«

»Was sagst du da?«, fragte Tara.

»Hörst du mir nicht zu? Er fuhr von der Party nach Hause. Kurz hinter Wildensorg kam er von der Straße ab, keine Ahnung, warum. Das Auto ist nur noch Schrott. Er hat’s nicht überlebt.«

Tara blickte durch die Fensterfront nach draußen. Der Schuppen war nicht zu sehen. Sie ging ein paar Schritte, betrat die Terrasse. Dann wurde ihr schwarz vor Augen.

4

Die nächsten Tage waren schwer. Die Trauer um Claas überschattete alles. In der Aula des Amalien-Gymnasiums wurde gleich am Montag eine Feierstunde veranstaltet. Jeder, der Claas gekannt hatte, trat ans Pult und sagte ein paar Worte. Tara blieb auf ihrem Platz sitzen und schwieg. Sie konnte nicht sprechen. Was sollte sie auch sagen, ohne sich zu blamieren? Dass Claas Angst in dunklen Räumen gehabt hatte? Daran konnte sie sich am deutlichsten erinnern. Eine Schwäche, die er ihr zuliebe überwand.

Danach hatten sie einen Tag frei. Alle waren niedergeschlagen und warteten darauf, dass irgendjemand oder irgendetwas den Spuk beendete. Doch nichts dergleichen geschah. Der Spuk wurde zu einem ständigen Begleiter.

Taras Eltern kamen aus Krefeld zurück und machten unmissverständlich deutlich, dass eine Party diesen Ausmaßes im Hause Gregori nie wieder stattfinden würde. Das war aber auch schon alles, was Tara an Vorwürfen zu hören bekam. Bert und Ulla nahmen Rücksicht auf Taras Gefühle. Sie spürten, dass sie mehr mit diesem toten Jungen verband als eine oberflächliche Schulfreundschaft. Aber sie drangen nicht in sie.