Warum es uns kümmern sollte, wenn in China ein Sack Reis umfällt - Malte Rubach - E-Book

Warum es uns kümmern sollte, wenn in China ein Sack Reis umfällt E-Book

Malte Rubach

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Beschreibung

Es ist Zeit, den zahlreichen Utopien, Mythen und etablierten Narrativen von der Zukunft der Ernährung ein faktenbasiertes Szenario entgegenzustellen. Dieses Buch zeigt auf, wo die natürlichen Grenzen des derzeit technologisch Machbaren liegen und wie die weltweite Vielfalt der Esskulturen auch in Zukunft das Überleben der Menschheit sicherstellen wird. Es entlarvt die großen Versprechungen für Fleischersatz aus dem Labor und zeigt entlang der 17 Nachhaltigkeitsziele der Vereinten Nationen einen realistischen Weg für die Zukunft der weltweiten Ernährung auf.

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Veröffentlichungsjahr: 2024

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Dr. Malte Rubach

Warum es uns kümmern sollte, wenn in China ein Sack Reis umfällt

Die Ernährung der Zukunft

Vorwort

Die Ernährung der Zukunft ist ein Thema, das auch die Zukunft der Menschheit mitentscheiden wird. Ernährung ist ein essenzielles Grundbedürfnis, wenn nicht sogar das essenziellste Grundbedürfnis eines jeden Menschen. Und wohl noch nie in der Geschichte der Menschheit gab es so viele Möglichkeiten, sich zu ernähren. Neben Tausenden von unterschiedlichen Esskulturen findet sich heute eine schier unglaubliche Produktvielfalt in den Lebensmittelmärkten, und vor allem in den industrialisierten Ländern wird Ernährung immer mehr zu einer individuellen Haltung erklärt.

Und doch ist uns bei all dieser Vielfalt oft wenig bewusst, wie schmal der Grat ist, auf dem wir uns bewegen. Als wir die Ausstellung »Die Mahlzeit« in Wien besuchten, erfuhren wir, dass weltweit nur 0,19 Prozent der 80 000 essbaren Pflanzen für die Ernährung des Menschen von Bedeutung sind. Reis, Mais und Weizen liefern laut der Welternährungsorganisation FAO über 60 Prozent der Kalorien weltweit, und 70 Prozent aller Lebensmittel entstammen von nur zwölf Pflanzen- und fünf Tierarten. Das Lebensmittelsystem – und damit das Überleben der Menschheit – hängt also von nur wenigen anderen biologischen Spezies in der Welt ab, und wie alle Teile unseres Ökosystems unterliegt auch die Lebensmittelproduktion den Einflüssen des Klimawandels und anderen Umweltfolgen des menschlichen Seins. Heute vielleicht mehr denn jemals zuvor.

Auf der letzten Weltausstellung in Dubai sahen wir uns die vielen unterschiedlichen Pavillons der dort vertretenen Länder an und lernten mehr über deren Kulturen, Ökosysteme und letztlich die Menschen. Eines wurde dabei klar: Die Länder dieser Welt lassen sich nicht einfach in einen Topf werfen, um dann nach einmal Umrühren das Rezept für eine bessere Zukunft zu finden. Jede Region kämpft mit ihren eigenen Herausforderungen und in jeder Region bieten sich unterschiedliche Chancen und Möglichkeiten, um diesen Herausforderungen zu begegnen. Landwirtschaft und Ernährung spielten – wie sollte es auch anders sein – in jedem der Länderpavillons eine wichtige Rolle. Doch wo soll man anfangen, um sich ein realistisches Bild der Zukunft mit dem Blick auf unsere Ernährung zu machen?

Nachdem wir in der Tat sämtliche Länderpavillons der Weltausstellung besucht hatten, fand Marjorie einen Besucherstand, an dem sie an einer Schnitzeljagd zu den 17 Nachhaltigkeitszielen der Vereinten Nationen (Sustainable Development Goals, kurz: SDGs) teilnehmen konnte. Also jagten wir quer über die Weltausstellung zu 17 unterschiedlichen Stationen, lösten Rätselfragen, unterhielten uns mit anderen Menschen und bekamen einen Eindruck davon, in wie vielen Bereichen menschlichen Lebens Nachhaltigkeit gestaltet werden kann. Und vor allem: In nahezu jedem Bereich spielt unsere Ernährung entweder eine tragende Rolle oder wird maßgeblich beeinflusst. Mit denselben 17 Nachhaltigkeitszielen als Orientierungspunkten kann sich ein roter Faden zur Zukunft der Ernährung legen lassen.

So entstand die Idee zu diesem Buch. Wir wünschen viel Spaß beim Lesen!

Marjorie und Malte Rubach

Einleitung

Unsere Ernährung hat Einfluss auf unseren Körper, unsere Gesundheit und unser Wohlbefinden. Ebenso betrifft sie unsere Umwelt, denn sie verbraucht Ressourcen und verursacht Belastungen durch Pestizide, Dünger und Klimagase. Ob wir wollen oder nicht, durch die Art, wie wir uns ernähren, beeinflussen wir direkt oder indirekt auch andere Menschen sowie große gesellschaftliche Entwicklungen.

Wer Zugang zu ausreichend Nahrung hat, sollte sich nicht nur fragen »Wie kann ich mich gesund ernähren?«, sondern auch »Wird meine Nahrung fair hergestellt?« oder »Wie beeinflussen meine Ernährungsgewohnheiten andere Menschen und die Umwelt?« und »Wo kommt mein Essen eigentlich her?«.

Diese Fragen lassen sich nicht in einem Satz beantworten, denn unsere Ernährung besteht aus einem komplexen System von Prozessen, Gesetzen und Kennzeichnungen, die unsere Umwelt und Gesundheit schützen sollen und zum Beispiel über Inhaltsstoffe und Herstellungsweise von Lebensmitteln informieren. Hunderte von Esskulturen bestimmen seit Jahrtausenden, was Menschen in den jeweiligen Regionen der Welt essen oder auch, worauf sie verzichten, wenn zum Beispiel religiöse Speisevorschriften ins Spiel kommen. Und Wirtschaftskreisläufe verteilen Lebensmittel überall auf der Welt, nur nicht immer dort, wo sie am dringendsten benötigt werden, sondern dort, wo der geforderte Marktpreis gezahlt wird.

Die Zukunft der Ernährung war und ist schon immer ein Thema, das aus den unterschiedlichsten Perspektiven beleuchtet werden kann. Zum einen gibt es diejenigen, die sagen: Die Menschheit konsumiert sich selbst zu Tode, indem sie die Ressourcen plündert und den Planeten mit dem Ausschuss ihres Konsums verpestet. Auf der anderen Seite stehen die Visionäre. Sie versprechen, jedes Problem, das unsere Ernährung verusacht, durch neue technologische Errungenschaften zu lösen. Nicht selten stecken bei den Visionären ähnlich ideologisch angehauchte Grundüberzeugungen für den Weg in eine bessere und heilere Welt dahinter wie bei den Weltuntergangspropheten. Nur, dass die einen auf Innovation setzen, die anderen auf Läuterung, Verzicht und Buße. Beides sind Extreme, die an der Realität scheitern müssen, doch zumindest bringen die Visionäre am Ende doch noch eine Innovation hervor, auch wenn durchschnittlich neun von zehn Versuchen fehlschlagen.

Es ist an der Zeit, den zahlreichen Utopien, Mythen und etablierten Narrativen von der Zukunft der Ernährung ein faktenbasiertes Szenario entgegenzustellen. Dieses Buch zeigt klar auf, wo die natürlichen Grenzen des derzeit technologisch Machbaren liegen und wie ausgerechnet die weltweite Vielfalt der Esskulturen auch in Zukunft das Überleben der Menschheit sicherstellen wird. Es entlarvt die großen Versprechungen für Fleischersatz aus dem Labor genauso wie die veganen Verzichtszenarien und liefert anhand der 17 Nachhaltigkeitsziele der Vereinten Nationen einen roten Faden auf dem Weg in die Zukunft der Ernährung – und der liegt, wie sollte es anders sein, irgendwo zwischen den Extremen und steckt voller Herausforderungen, für die eine Anstrengung der gesamten Menschheit notwendig sein wird.

Zur Handhabung dieses Buches:

So komplex die Herausforderungen der Zukunft der Ernährung sind, so sind auch die 17 Nachhaltigkeitsziele der Vereinten Nationen (SDGs) eng miteinander verzahnt. Auch wenn jedes einzelne Kapitel dieses Buches für sich aufschlussreich ist und für jedes Nachhaltigkeitsziel einen Blick auf die Ernährung der Zukunft wirft, so bietet es sich dennoch an, das Buch vom Anfang bis zum Ende durchzulesen, um ein genaues Gesamtbild zu erhalten. Einzelne Fallbeispiele sollen hier und da einen konkreteren Eindruck vermitteln, doch die weltweite Perspektive steht im Vordergrund, was anhand von Globaldaten wie beispielsweise denen der Welternährungsorganisation, der Weltbank, des Instituts für Gesundheitsmetriken und -bewertung und weiterer Institutionen nachvollzogen werden kann. Jedes Kapitel wird mit einer Quizfrage eröffnet, deren oftmals kontraintuitive Lösung sich im jeweiligen Kapitel von selbst erschließen oder im Anhang nachlesen lässt, wo die Antworten gesammelt inklusive der jeweiligen Datenquelle zu finden sind.

1. Teil:

Umwelt – Die Grenzen der Natur und wie sie unser Essen bestimmen

In der Überflussgesellschaft unterschätzen wir oftmals den Einfluss, den die natürlichen Grenzen unseres Planeten auf unser Leben haben. Die Menschen, die noch in Deutschland miterleben mussten, was es bedeutet, in einer von Mangel an Nahrung geprägten Zeit zu leben, werden immer weniger. Wer heute noch zu den älteren Mitgliedern unserer deutschen Gesellschaft gehört, der kann sich wohl besser an die Boom-Jahre des deutschen Wirtschaftswunders erinnern, während die davor liegenden Generationen noch wussten, wie vor dem 1. Weltkrieg kaum genug Fleisch oder Milch erzeugt werden konnte, um die Bevölkerung mit ausreichend Eiweiß und Calcium zu versorgen. Die Folge waren Wachstumsstörungen, die sich vor allem an der Körpergröße1 und brüchigen Knochen festmachen ließen.

Wer heute einmal in ein Freilichtmuseum geht, wo noch Häuser aus dem letzten und vorletzten Jahrhundert zu besichtigen sind, der wundert sich, warum die Eingangstüren teilweise auf der eigenen Schulterhöhe enden: Vor nicht allzu langer Zeit war auch in Europa die Nahrungsmittelversorgung nicht für alle Menschen gewährleistet, und das in der Biologie für alle Lebewesen geltende Gesetz des Minimums hatte gnadenlos zugeschlagen. Wenn es an einem bestimmten Nährstoff mangelt, seien es Vitamine, Mineralstoffe, Kalorien, Fette, Proteine oder auch nur einzelne Proteinbestandteile (Aminosäuren), dann begrenzt dieser Mangel eines Nährstoffes die gesamte körperliche Entwicklung oder wesentliche Organe, wie zum Beispiel die Knochen, die Leber oder Komponenten des Immunsystems.

Unser Essen ist also bereits eine komplexe Angelegenheit, auch wenn die Nahrungsaufnahme, rein biologisch betrachtet, instinktiv ohne große Wissenschaft funktionieren sollte. Die Wissenschaft, insbesondere die frühe Agrar- und Ernährungswissenschaft, hat aber erst dafür gesorgt, dass wir heute wissen, wie wichtig die einzelnen Lebensmittel und ihre Inhaltsstoffe für die Erhaltung von Gesundheit und Leistungsfähigkeit sind – und um nichts anderes geht es bei Ernährung. Doch alles Wissen über gesunde Ernährung nützt nicht viel, wenn die Landwirtschaft und natürliche Ressourcen wie Ozeane, Seen und Flüsse nicht in ausreichender Menge Lebensmittel bereitstellen können oder die erzeugten Lebensmittel nicht bei den Menschen ankommen, weil sie verderben, weggeworfen werden oder schlicht zu teuer sind. Am Anfang steht somit die Frage: Woher kommt unser Essen überhaupt und woher wird es in Zukunft kommen?

Leben an Land (SDG 15)

Quiz

Wie groß ist der Anteil der ökologischen Landwirtschaft an der weltweiten Landwirtschaftsfläche?

a) 1 %

b) 10 %

c) 50 %

August 2013 in einem Fernsehstudio in London2: Drei Persönlichkeiten aus der Food- und Gastroszene sind eingeladen, um das Fleisch der Zukunft zu probieren. Das Fleisch der Zukunft kommt aus dem Labor und wird mal als In-vitro-Fleisch, mal als kultiviertes Fleisch oder zellbasiertes Fleisch bezeichnet. Diese Art von Fleisch wird im Labor aus wenigen Zellen gezüchtet, die zuvor einem echten Tier entnommen wurden. Das Versprechen lautet: weniger Treibhausgase, weniger Landverbrauch und weniger Wasserverbrauch als durch die Art von Fleisch, die wir bisher kannten. Obendrein muss kein Tier mehr leiden. Die Idee ist durchaus verlockend, und im Dezember 2020 wurde in Singapur als erstem Nationalstaat die Zulassung für diese Art von Fleisch erteilt3. Dort wurde dann in einem Club namens »1880« ein Chicken Nugget serviert, das zu 70 Prozent aus Laborfleisch bestand4. Seit der Vorstellung in London und der ersten Marktzulassung in Singapur vergingen also nicht einmal sieben Jahre, was für eine Produktentwicklung auf diesem technologisch anspruchsvollen Niveau ein vertretbarer Zeitraum ist. Das Good Food Institut, ein von dem Tierrechteaktivisten Bruce Friedrich gegründeter Lobby-Thinktank der Veggie-Branche, gibt an, dass bis Ende 2022 rund drei Milliarden Dollar Investitionsmittel in die Entwicklung von Laborfleisch, -fisch sowie -meeresfrüchten geflossen sind5.

Man könnte auch sagen, Laborfleisch ist der neue Heilige Gral der vegan-vegetarischen Szene, nachdem sich herausgestellt hat, dass pflanzenbasierte Fleischprodukte à la Beyond Meat nach einem raketenartigen Start in einen Sturzflug übergegangen sind: Die Aktie von Beyond Meat war nach Ausgabe im Mai 2019 zunächst 46 US-Dollar wert und drei Monate später schon auf 178 US-Dollar hochgeschossen. Sie erreichte nach einigem Auf und Ab dann ihr Allzeithoch von 185 US-Dollar im November 2020. Dann kam der Absturz, im Mai 2023 stand sie gerade noch bei knapp 11 US-Dollar6. Wenn der Aktienmarkt ansonsten gerne als Indikator für die Konsumstimmung genutzt wird, dann sieht die Prognose nicht gut aus. Auch die Kurse der aktiennotierten Hersteller von veganen Lebensmitteln wie Oatly aus Schweden oder Veganz aus Deutschland befanden sich nach der Erstnotierung im freien Fall. Das bedeutet nicht, dass manche Hersteller mit ihren Produkten nicht ein gutes Geschäft machen können, insgesamt ist aber eher davon auszugehen, dass pflanzenbasiertes Fleisch sich als Nischenprodukt etabliert, zumindest in den Märkten der gesättigten Industriegesellschaften. In Deutschland haben Fleischalternativen auf den Umsatz bezogen einen Marktanteil von zwei Prozent erreicht7, während der jährliche Konsum 2022 bei 0,53 kg pro Kopf8 lag, was bei 52 kg Fleisch pro Kopf in Deutschland auch in der Menge etwa zwei Prozent des Fleischkonsums entspricht. Sieht man sich die weltweiten Produktionsvolumen9 für pflanzlichen Fleischersatz an, so lagen diese mit knapp 700 000 Tonnen im Jahr 2022 bei gerade einmal 0,2 Prozent des weltweiten Fleischkonsums10. Selbst wenn die Menge des pflanzlichen Fleischersatzes 2028 laut sehr optimistischen Prognosen auf 1,8 Millionen Tonnen stiege, wären dies immer noch auf den heutigen Fleischkonsum bezogen gerade einmal 0,5 Prozent anteilig. Die großspurigen Ankündigungen11 der Hersteller pflanzlichen Fleischersatzes, dass die traditionelle Fleischwirtschaft bis dahin verschwinden werde, lösen sich wohl zunehmend selbst in Luft auf.

Wird es dem Laborfleisch ähnlich wie den Pflanzenfleisch-Erfindungen ergehen? Das würde bedeuten, es bildet sich eine etablierte Nische im Supermarktregal, aber die Prophezeiungen wie beim pflanzlichen Fleischersatz, nach denen herkömmliches Fleisch schon bald nicht mehr existieren wird, bleiben aus. Viele Herausforderungen für eine Massenproduktion von kultiviertem Fleisch sind ungelöst, die Versprechungen der Start-ups hören sich oftmals zu schön an, um wahr zu sein12. Wissenschaftlich valide und neutrale Analysen kommen zum Schluss, dass Laborfleisch absehbar weder preislich13 noch vom Effekt auf das Klima14 mit herkömmlichem Fleisch konkurrieren wird können. Jedenfalls nicht, solange der Strom zum Betrieb der Anlagen für die Produktion der Zellkulturen aus fossilen Quellen stammt, ganz davon abgesehen, dass bislang niemand nennenswerte Mengen Laborfleisch erzeugen konnte, die eine ganze Bevölkerung ernähren könnten. Und vor allem eines ist entscheidend: Wo werden die Menschen leben, die zukünftig mehr Fleisch essen wollen, und wo sollte es demnach erzeugt werden?

Realität für Milliarden

Szenenwechsel: Südafrika im Februar 2023. Das Land verzeichnet täglich mehrfache Stromausfälle, weil der Ausbau der Energieversorgung nicht mit dem steigenden Bedarf Schritt halten konnte. Der Bedarf hat in den letzten Jahren stark zugenommen, da die Menschen aus Zentralafrika nicht nur gen Norden migrieren, sondern eben auch nach Süden. Auf der Suche nach Arbeit oder einfach einem besseren Leben ist der südlichste und neben Nigeria auch wirtschaftlich stärkste Staat des afrikanischen Kontinents keine schlechte Wahl. Und so strömen die Menschen aus dem Kongo, der Zentralafrikanischen Republik, Simbabwe, Mosambik und inzwischen auch aus dem politisch instabilen Nigeria nach Südafrika. Zusätzlich sind die Stromleitungen aus Kupfer ein begehrter Rohstoff, den es sich lohnt zu entwenden und an Zwischenhändler zu verkaufen. Alles in allem ist es so weit, dass der staatliche Stromnetzbetreiber inzwischen feste Zeiten am Tag vorgibt, zu denen Strom fließt. Das Wort für dieses Vorgehen heißt »Lastenverteilung« und ist auf Englisch (»Loadshedding«) im alltäglichen Sprachgebrauch eines Südafrikaners so gängig wie in Deutschland die Wettervorhersage.

Neben anderen energieintensiven Wirtschaftszweigen haben die Agrarwirtschaft und Lebensmittelwirtschaft mit den Stromausfällen besonders zu kämpfen, was sich unmittelbar auf die Lebensmittelversorgung auswirkt. Die Kühlung von Frischmilch und anderen Lebensmitteln wird immer wieder unterbrochen. Lebensmittel müssen dann entsorgt werden, denn sie stellen sonst eine Gefahr für die Gesundheit dar. Die gesamte Logistik gerät dadurch aus dem Takt, und auch in Restaurants und heimischen Kühlschränken bleiben Lebensmittel ungekühlt. Sie landen entweder in der Mülltonne oder in der Not riskieren die Menschen eine Lebensmittelinfektion, die im Zweifel tödlich sein kann. Zahlreiche Lebensmittelerzeuger und Verarbeitungsbetriebe haben bereits angekündigt, ihr Geschäft in Südafrika einzuschränken oder gar aufzugeben. Es ist schwer vorzustellen, wie unter solchen Bedingungen die Visionen vom Laborfleisch in naher oder ferner Zukunft zur Ernährung der Weltbevölkerung beitragen könnten, wenn in vielen sich entwickelnden Ländern nicht einmal die Stromversorgung sichergestellt ist – geschweige denn, dass dort Strom nur noch aus erneuerbaren Energien fließen würde. Jegliches Versprechen von »klimafreundlichem« Fleisch aus dem Labor ist dann kaum mehr als eine fixe Idee, die allenfalls in kleinen Stadtstaaten wie Singapur oder in Staaten ohne nennenswerte landwirtschaftliche Fläche wie Israel oder in arabischen Wüstenstaaten als ein Standbein zur Selbstversorgung dienen könnte. So es denn überhaupt einmal in die Massenproduktion geht …

Vor allem aber eine Tatsache wird darüber entscheiden, welche Lebensmittel auf dem Speiseplan der Zukunft stehen werden, nämlich wo in Zukunft die meisten Menschen auf der Welt leben werden: Von derzeit rund 1,3 Milliarden Menschen auf dem afrikanischen Kontinent wird die Bevölkerung bis zum Jahr 2050 auf über zwei Milliarden Menschen anwachsen, in Asien von derzeit 4,3 Milliarden auf etwa fünf Milliarden15. Das sind die relevanten Rahmenbedingungen für die Welternährung. In Investoren-Pitches der zahlreichen Start-ups und Modellrechnungen von Unternehmensberatungen16,17 kommen diese simplen Informationen aber häufig nicht vor.

Land schafft Werte

Auch wenn manch Milliardär von menschlichen Kolonien auf dem Mars träumt und wieder andere der Überzeugung anhängen, dass wir zukünftig Lebensmittel auf bewachsenen Hochhäusern anbauen und aus mehrstöckigen klimatisierten Gewächshäusern beziehen, so werden sich Milliarden Menschen auch in Zukunft nur in der Weise ernähren lassen, die sich auch schon die letzten 10 000 Jahre bewährt hat: Ackerbau auf urbaren Böden und Viehzucht auf Weiden und Wiesen. Dazu ein simpler Vergleich: Große Städte belegten im Jahr 202018 etwa 0,5 Prozent der weltweiten Landfläche. Im Jahr 1975 waren es 0,2 Prozent und für das Jahr 2070 werden etwa 0,7 Prozent vorausgesagt. Nicht besonders viel. Selbst wenn man die mittelgroßen Städte einbezieht, dann belegten diese damals noch einmal 0,5 Prozent und werden 2070 rund ein Prozent der Landfläche belegen. Insgesamt werden dann etwa 70 Prozent der Weltbevölkerung in großen Städten leben, heute ist es etwa die Hälfte. Es braucht eigentlich keine große Eingebung, um zu erkennen, dass selbst bei mehrstöckigen Gewächshäusern und bepflanzten Hausdächern und -wänden diese Fläche niemals ausreichen wird, um die wachsende Weltbevölkerung zu ernähren. Derzeit wird Landwirtschaft weltweit auf etwa 36 Prozent der Landfläche betrieben19, also auf mehr als der 20-fachen Fläche, die bislang durch Städte belegt wird. Von den rund 4,7 Milliarden Hektar landwirtschaftlicher Nutzfläche wird ein Drittel für Ackerbau genutzt, der Rest sind Flächen, auf denen ausschließlich Weidewirtschaft betrieben wird, weil es die einzige Form der Nutzung für die Lebensmittelerzeugung ist, die dort möglich und sinnvoll ist, da Menschen nun einmal kein Gras verdauen können.

Ein wichtiger Aspekt kommt nun noch hinzu, denn auf einem Drittel der Ackerflächen der Welt wird auch Viehfutter erzeugt20, und es gibt immer wieder die Forderung, dass dort besser pflanzliche Lebensmittel kultiviert werden sollten, die direkt für die menschliche Ernährung nutzbar sind. Was zunächst logisch klingt, stellt sich bei genauer Betrachtung als ein Vorurteil heraus, das meistens in Debatten über nachhaltige Ernährung auftaucht, die nach Überzeugung vieler lauter Stimmen am besten vegan oder zumindest vegetarisch sein sollte. Eine Analyse des weltweiten Futtermittelaufkommens21 zeigt dagegen, dass 86 Prozent der Futtermittel aus für Menschen nicht essbaren Bestandteilen bestehen. Somit beschränkt sich die Nahrungskonkurrenz zwischen Menschen und Nutztieren auf 14 Prozent der gesamten Menge an Futtermitteln, die im Wesentlichen aus Getreide besteht. Allerdings liefert Getreide hauptsächlich Kalorien, und an denen herrscht weltweit kein genereller Mangel, sondern an einem anderen Nährstoff, wie wir gleich sehen werden.

Menschen brauchen Protein – hochwertiges Protein

Wer sich in der Debatte über gesunde und nachhaltige Ernährung anhand von Netflix-Dokumentationen wie »The Game Changers«22, »What the Health«23 oder »Cowspiracy«24 informiert, könnte den Eindruck gewinnen, dass sich die ganze Welt am besten vegan ernähren sollte. Anhand einiger weniger Protagonisten wird meistens demonstriert, dass diese Menschen aufgrund irgendeiner Eingebung oder eines ärztlichen Rates spontan auf tierische Lebensmittel verzichteten und plötzlich Top-Leistungen im Sport brachten, die männliche Potenz anstieg oder eine Gesundung eintrat, die bislang trotz aller Art von medizinischer Intervention gescheitert war.

Für diese Art von Geschichten gibt es in der seriösen Wissenschaft einen Begriff, der deren wissenschaftliche Beweiskraft bewertet: »anekdotische Evidenz«. Das bedeutet, dass wir Menschen lieber an Erzählungen eines individuellen Schicksals glauben als an wissenschaftlich objektivierte Beobachtungen und Erkenntnisse. Das Thema Ernährung mit all seinen persönlichen Noten eignet sich dazu hervorragend. Ganz so einfach, wie es häufig dargestellt wird, ist es aber eben nicht, denn Menschen benötigen zunächst einmal Nährstoffe, ganz unabhängig davon, ob diese aus einem pflanzlichen oder tierischen Lebensmittel stammen. Die Frage ist eher, ob Menschen überall und zu jeder Zeit überhaupt an genügend Nährstoffe gelangen. Die Antwort lautet, dass rund 10 Prozent der Menschen weltweit, also rund 800 Millionen an der Zahl, als unterernährt gelten25. Unterernährung heißt, dass die Menschen nicht ausreichend Energie aufnehmen können. Weitere gut zwei Milliarden Menschen sind aufgrund von mangelnden Versorgungsmöglichkeiten von »verstecktem Hunger« betroffen26. Versteckter Hunger bedeutet, dass es an essenziellen Mikronährstoffen wie Vitamin A, Jod, Eisen, Zink oder auch der Proteinqualität mangelt, was sich unmittelbar auf die körperliche und geistige Entwicklung auswirken kann. Insgesamt besteht also durchaus Grund zur Annahme, dass es zu wenig Kalorien und hochwertige Lebensmittel gibt, um alle Menschen auf der Welt mit ausreichend Energie und Nährstoffen zu versorgen.

Abb. 1 (A) Die weltweite Kalorienversorgung wird schon seit den 1960er Jahren allein durch pflanzliche Lebensmittel sichergestellt. (B) Die weltweite Proteinversorgung kann hingegen nur durch pflanzliche und tierische Lebensmittel sichergestellt werden, insbesondere da tierisches Protein eine höhere Qualität liefert. (Datenquelle: FAOSTAT, WHO)

Tatsächlich aber gibt es auf der Welt ausreichend Kalorien. Im Jahr 1961 waren es bereits 2196 Kilokalorien pro Kopf und im Jahr 2020 waren es sogar 298227. Je nach Quelle benötigt ein Mensch mindestens zwischen 1800 und 2100 Kilokalorien pro Tag (Abbildung 1A). Das Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung kommt in einer Studie ebenfalls zu dem Schluss, dass weltweit ausreichend Kalorien zur Verfügung stehen, diese aber nicht gleich verteilt sind oder durch Lebensmittelverschwendung verloren gehen28. Wichtig: Es ist erst einmal zweitrangig, ob die Energie aus Kalorien von pflanzlichen oder tierischen Lebensmitteln kommen, für Protein gilt hingegen das Gegenteil. 1961 standen jedem Menschen rund 61 Gramm Protein zur Verfügung, davon waren knapp 20 Gramm aus tierischen Lebensmitteln. Im Jahr 2020 konnte jeder Mensch mit fast 85 Gramm Protein versorgt werden, davon 34 Gramm oder 40 Prozent aus tierischen Lebensmitteln (Abbildung 1B). Ein Mensch mit einem Körpergewicht von durchschnittlich 77 Kilogramm29 benötigt laut Deutscher Gesellschaft für Ernährung 0,8 Gramm Protein pro Kilogramm Körpergewicht30, das macht 62 Gramm pro Kopf. Auch diese Menge ist weltweit schon seit den 1960ern verfügbar, wenn man pflanzliches und tierisches Protein addiert.

Jetzt kommt aber ein entscheidender Aspekt hinzu, auch wenn dies immer wieder anderslautend kommuniziert wird: Tierisches Protein lässt sich nicht 1:1 durch pflanzliches Protein ersetzen, und auch wenn die Proteinverfügbarkeit zwischen 1961 und 2020 um gut 40 Prozent gestiegen ist und der Anteil des tierischen Proteins sogar um 70 Prozent, so mangelt es vor allem in Afrika und Asien an der Versorgung mit Fleisch, Milch, Eiern und Fisch als tierische Proteinlieferanten. Dort stehen gerade einmal 14 beziehungsweise 30 Gramm tierisches Protein zur Verfügung, was direkte Auswirkungen auf das Leben und die Zukunft der dort lebenden Menschen hat.

Wie lässt sich das messen? Die Körpergröße ist ein idealer Referenz-Indikator, um direkte Zusammenhänge zwischen Ernährung, körperlicher Entwicklung und Folgen für Gesundheit, Lebenserwartung und wirtschaftliche Produktivität zu beschreiben31. Aktuelle Auswertungen32 von Geburtenjahrgängen aus den 1960ern, 1970ern und1980ern zeigen klar, dass ein Mangel an tierischem Protein zugleich Ursache und verstärkende Wirkung für eine geringere Lebenserwartung, höhere Gesundheitsrisiken und weniger Wohlstand ist, weil die körperliche und geistige Entwicklung eingeschränkt wird. Die Unterschiede treten am deutlichsten zwischen den ärmsten und am wenigsten entwickelten Ländern der Subsahara-Region sowie den weiter entwickelten Industrienationen auf. Wie können wir dann überhaupt zukünftig 10 Milliarden Menschen ausreichend mit hochwertigen Lebensmitteln versorgen?

Wo kommen zukünftig die Lebensmittel für die Ernährung der Menschheit her?

Für die Versorgung von 10 Milliarden Menschen gibt es im Wesentlichen ein entscheidendes Kriterium: Wie können wir ausreichend Protein auf begrenzter landwirtschaftlicher Fläche erzeugen? Eines sei bereits an dieser Stelle gesagt, damit wir uns nicht auf Lösungssuche begeben, wo keine Lösung zu finden ist: Ökologische Landwirtschaft wird in ihrer jetzigen Form nicht in der Lage sein, die Menschheit mit Lebensmitteln zu versorgen, erst recht nicht mit ausreichend Protein. Der Anteil der weltweit ökologisch bewirtschafteten Fläche an der gesamten Landwirtschaftsfläche betrug 2020 nur ein Prozent33. Es ist nicht davon auszugehen, dass bis zum Jahr 2050 enorme Steigerungen zu verzeichnen sein werden, weil dazu aufgrund der geringeren Produktivität der ökologischen Landwirtschaft global noch mehr Fläche notwendig wäre, als jetzt schon durch Landwirtschaft genutzt wird. Da wir die landwirtschaftliche Fläche weltweit nicht weiter auf Kosten von Wäldern und anderen Naturräumen ausdehnen sollten, bleibt als einzige realistische Lösung, die Produktivität der bestehenden Flächen zu erhöhen. Ökologischer Landbau zeigt jedoch im Vergleich zur konventionellen Landwirtschaft bei allem Nutzen für das Ökosystem eine deutlich geringere Produktivität: Zum Beispiel bei Kartoffeln minus 40 bis 60 Prozent, bei Getreide minus 15 bis 50 Prozent und Soja/Mais bis zu 20 Prozent weniger Ertrag, bei Milch 10 bis 15 Prozent weniger34.

Die Entwicklung der letzten 60 Jahre hat gezeigt, dass die Methoden der modernen Landwirtschaft bei etwa gleichbleibender landwirtschaftlicher Nutzfläche, die seit 2006 sogar wieder leicht rückläufig ist, in der Lage waren, die landwirtschaftliche Primärproduktion von rund 6 Milliarden Tonnen im Jahr 1990 auf fast 10 Milliarden Tonnen 2020 zu steigern35. Eine Steigerung von über 70 Prozent, während die Weltbevölkerung von gut fünf Milliarden Menschen auf fast acht Milliarden Menschen um fast 50 Prozent angewachsen ist. Bis 2050 gehen neuere Schätzungen ausgehend vom Jahr 2020 von einer Steigerung des Bedarfs an Lebensmitteln für 10 Milliarden Menschen von 22 bis 30 Prozent aus36. Es gibt zwar Abschätzungen, dass in Subsahara-Afrika mehrere Hundert Millionen Hektar fruchtbares Land erschlossen werden könnten, allerdings bestehen große Zweifel, ob dort die erhofften Erträge für die Lebensmittelerzeugung erzielt werden könnten, die notwendig wären, um allein die dort steigende Bevölkerung zu ernähren37. Gleichzeitig ist ein Großteil der landwirtschaftlichen Nutzfläche in China inzwischen durch die Ausstöße der industriellen Produktion belastet38, weshalb bereits heute große Flächen im Ausland zur Ernährung der chinesischen Bevölkerung notwendig sind, obwohl China mit Indien bereits zu den größten Agrarproduzenten der Welt gehört. Geografische Gunstregionen für die tierische und pflanzliche Lebensmittelerzeugung wie in Nordwesteuropa werden daher in Zukunft zunehmend an Bedeutung für die weltweite Ernährungssicherheit gewinnen, da hier bereits unter sehr hoher ökonomischer und ökologischer Effizienz erzeugt wird. Wichtig ist dabei, dass weder das eine ökologische noch das andere konventionelle Landwirtschaftssystem die Lösung für alles ist. Auch scheidet sich die optimale Erzeugung nicht an der Frage, ob tierische oder pflanzliche Lebensmittel erzeugt werden.

Der Bericht zum Stand der Biodiversität der Welternährungsorganisation39 zeigt zudem deutlich, dass die Auswirkungen der Landwirtschaft auf andere Lebewesen unseres Ökosystems wie Wirbeltiere, Wirbellose, Mikroorganismen oder Pflanzen sehr unterschiedlich ausfallen können. So können Pflanzenbausysteme genauso schädliche Effekte auf die Biodiversität haben wie etwa Schweine-, Geflügel- oder Rinderhaltung. Auch der IPBES (Intergovernmental Science-Policy Platform on Biodiversity and Ecosystem Services) schlägt in seinem 2022 erschienenen Report40 nicht vor, radikale Umbrüche im System vorzunehmen, sondern einen Dreiklang aus Sparing, Sharing und Caring. Das bedeutet, dass die Lebensmittelerzeugung global koordiniert werden muss, um durch Ausreizung technologischer Möglichkeiten die produktivsten Erdregionen für die Lebensmittelerzeugung nutzen zu können und gleichzeitig andere Naturräume zu schützen. Insgesamt wird sich dies auch auf die Konsummuster von Lebensmitteln auswirken, die jedoch vorrangig nach Möglichkeit aus regionaler Erzeugung stammen sollten. Ebenso müssten sich auch von der Seite der Konsumenten aus neue Ernährungsgewohnheiten etablieren, die sich nach dem vorhandenen Angebot ausrichten. Eine weitere Möglichkeit dazu könnte in Zukunft die Zucht von Insekten sowohl für die Ernährung von Nutztieren wie auch Menschen liegen, da sie ansonsten nicht verwertbare Biomasse in hochwertiges Protein umwandeln können. Der Ratschlag der Fachleute lautet also: erhöhte Produktivität auf sämtlichen Flächen, wenn wir alle Menschen ernähren wollen – was wir müssen. Doch eine wichtige Nahrungsquelle liegt jenseits aller Landflächen: das Meer und andere Gewässer.

Leben unter Wasser (SDG 14)

Quiz

Wie viele Menschen sind von Fisch und Meeresfrüchten als eine der Hauptproteinquellen (> 10 % der täglichen Versorgung) abhängig?

a) 100 Millionen

b) 1 Milliarde

c) 3 Milliarden

Insbesondere Asien, aber auch Afrika sind auf Fischfang angewiesen, um ihre Bevölkerung zu ernähren. Wie viel Fisch und Meeresfrüchte wird sich die Menschheit trotz Verschmutzung und Überfischung der Meere noch leisten können? Fangen wir mal in Deutschland an, bevor wir den Blick in die Welt richten41: Für Deutschland stehen gut 12 Kilogramm Fisch und Meeresfrüchte in der Versorgungsbilanz der Welternährungsorganisation. Die gesamte Spannbreite reicht von Afghanistan mit nicht einmal einem halben Kilogramm bis zu den Isländern, die im Jahr über 90 Kilogramm pro Kopf konsumieren, dicht gefolgt von den Malediven. Die Versorgungsbilanzen der Welternährungsorganisation für Fisch und Meeresfrüchte erzählen aber nur einen Teil der Wahrheit, denn was konsumiert wird, muss logischerweise erst einmal erzeugt beziehungsweise gefangen werden. Das weltweite Fischaufkommen stammt dabei entweder aus Meeresgewässern, Binnengewässern wie Seen und Flüssen oder wird in Aquakultur gezüchtet. Im Jahr 2020 kamen so 178 Millionen Tonnen Fisch und 36 Millionen Tonnen Algen zusammen42. Die Aquakultur macht mit 88 Millionen Tonnen Fisch die Hälfte der weltweiten Fischerzeugung aus, bei der Algenerzeugung sind es nahezu 100 Prozent. Die Produktion in Aquakultur findet insgesamt zu über 90 Prozent in Asien statt, wo auch die größte Nachfrage herrscht.

Nicht nur diese Mengen an Fisch und Meeresfrüchten werden aus den Weltmeeren entnommen, sondern auch ein großer Teil, der nicht erfasst wird. Sei es, weil es sich um Selbstversorgung handelt oder weil es illegale Fischerei ist. Letztere wird auf nochmals 26 Millionen Tonnen Fisch pro Jahr geschätzt43. Zudem gibt es noch den »Beifang«, also Meereslebewesen aller Spezies, die ohne kommerzielle Absicht im Fangnetz landen und anschließend wieder ins Meer geworfen werden oder sonst irgendwo landen – lebendig oder tot. Für die Mengen gibt es nur Schätzungen, deren erste im Jahr 199644 von 27 Millionen Tonnen in einem Update 200545 auf gut 7 Millionen Tonnen korrigiert wurde und inzwischen mit moderneren Methoden46 auf knapp 10 Millionen Tonnen wieder erhöht wurde. Insgesamt kommen wir also auf etwa 250 Millionen Tonnen Fisch und andere aquatische Lebewesen, die für den menschlichen Konsum erzeugt oder aus der Umwelt entnommen werden.

Weltweit isst jeder Mensch gut 20 Kilogramm Fisch und Meeresfrüchte im Jahr (2020), was insgesamt 155 Millionen Tonnen entspricht. Das sind etwa 70 Prozent der weltweiten Fisch- und Meeresfrüchteproduktion. Was passiert mit dem Rest? Aus Köpfen, Gräten, Schalen und anderen Teilen wird zum Bespiel Fischmehl oder Fischöl hergestellt, was wiederum in vielen anderen Wirtschaftszweigen wie der Landwirtschaft oder pharmazeutischen Industrie Verwendung findet. Der Hauptzweck ist allerdings die Ernährung von Milliarden Menschen auf der Welt, vor allem mit Protein, aber auch anderen wichtigen Nährstoffen, die für Gesundheit und Leistungsfähigkeit essenziell sind.

Haben Fisch und Meeresfrüchte die menschliche Evolution beschleunigt?

Der Mensch steht Fischen und Meeresfrüchten näher, als man denkt. Natürlich sind wir keine verwandten Arten, jedoch gab es zum Zeitpunkt von Homo erectus und anderen Hominiden, die unsere Vorläufer waren, ebenso für Homo sapiens wohl keine sicherere, ergiebigere und bequemere Nahrungsquelle als die marinen Küstengewässer47.

Während es evolutionsgeschichtlich als gesichert gilt, dass die menschlichen Vorfahren schon vor 2,5 Millionen Jahren Fleisch in ihren Speiseplan aufnahmen, begannen sie frühestens vor einer halben Million Jahren damit, Lebensmittel auch absichtlich zu erhitzen48, womit das Zeitalter des Kochens begründet wurde. Archäologische Funde zum Beispiel im heutigen Kenia weisen aber darauf hin, dass auch Meereslebewesen bereits vor 2 Millionen Jahren49 in den Mägen unserer Vorfahren landeten. Das hatte einen guten Grund: Zwar wäre es auch möglich gewesen, Fisch aus Binnengewässern zu angeln, aber dort sammelten sich auch allerlei andere Nahrungskonkurrenten wie Krokodile, Nilpferde oder Löwen, mit denen man als Frühmensch lieber nicht direkt um die Nahrungsquelle streiten wollte. Die Meeresküsten hatten dagegen den Vorteil, dass Ebbe und Flut sowie die über Jahrtausende wechselnden Meeresspiegel regelmäßig eine Fülle an Nahrung zurückließen, die nur eingesammelt werden musste. Auch gestrandete Wale, Seelöwen und Algen wurden als hochwertige Nahrungsquellen erschlossen.

Es ist kein Zufall, dass unsere Vorfahren Fisch und Meeresfrüchte nach kurzer Zeit als wertvolles Lebensmittel erkannten. Das enthaltene Protein liefert als tierisches Protein eine sehr gute Wertigkeit, und Fisch sowie Meeresfrüchte enthalten viele weitere Inhaltsstoffe, die insbesondere für Kinder während der ersten 1000 Tage des Lebens, also ab der Schwangerschaft bis zur Vollendung des zweiten Lebensjahres, von entscheidender Bedeutung sind. Dazu zählen Vitamin A, Vitamin B12, Omega-3-Fettsäuren, Eisen, Zink und Jod. Vor allem Jod kommt eine kritische Rolle zu, denn pflanzliche Lebensmittel mit Ausnahme von Algen enthalten je nach Region nicht besonders viel Jod, und selbst wenn, dann ist die Verfügbarkeit von Jod aus pflanzlichen Lebensmitteln durch andere pflanzliche Inhaltsstoffe (Goitrogene) eingeschränkt50. Insbesondere in der kindlichen Wachstumsphase als auch bei Erwachsenen kann Jodmangel die körperliche und geistige Entwicklung stark beeinträchtigen51. Die Folgen konnte man in den Voralpenräumen und Alpen in Deutschland, Österreich und der Schweiz noch Anfang des letzten Jahrhunderts beobachten, bevor durch den Einsatz von jodiertem Speisesalz vor allem in Brot- und Backwaren die tägliche Jodzufuhr in der Bevölkerung deutlich gesteigert wurde. Heute ist Milch die Hauptquelle für Jod in der deutschen Ernährung, da in der Milcherzeugung auch Futtermittel mit Jod angereichert werden.

Es ist also nicht ganz unbegründet, dass Fisch und Meeresfrüchte eine bedeutende Rolle in der Ernährung des Menschen einnehmen. Die dichte Besiedlung von Flussmündungen wie dem Mekong-Delta, dem Nil-Delta oder dem Yangtze-Delta in China bringt dabei die Vorteile von Süßwasserverfügbarkeit zum Trinken und marinem Nahrungsangebot zusammen. Es ist deshalb auch nicht verwunderlich, dass 40 Prozent der weltweiten Bevölkerung nicht weiter als 100 Kilometer von Küstenlinien entfernt wohnen. 10 Prozent leben sogar so nah an den Meeresküsten, dass sie sich nicht mehr als 10 Meter über dem Meeresspiegel befinden52. Steigende Meeresspiegel werden daher einen massiven Einfluss auf den Zugang zu marinen Nahrungsquellen haben, was den Effekt auf Migrationsbewegungen noch verstärken wird. Halten wir fest: Sowohl die menschliche Entwicklung als auch die Versorgung mit Nährstoffen in vielen Erdregionen sind bis in die heutige Zeit untrennbar mit der Verfügbarkeit von Fisch und Meeresfrüchten verbunden. Ein Nährstoff ist neben Jod dabei wieder besonders wichtig: Protein.

Es geht mal wieder um Protein

Der weltweite Proteinverbrauch beträgt nach den aktuellen Daten der FAO rund 650 Millionen Tonnen. Theoretisch stehen jedem Menschen 85 Gramm Protein pro Tag zur Verfügung, davon 60 Prozent aus pflanzlichen Quellen, 33 Prozent aus terrestrischen tierischen Quellen und 7 Prozent aus aquatischen Quellen53. Das müsste bei einer Zufuhrempfehlung von 0,8 Gramm pro Kilogramm Körpergewicht54 eigentlich für alle Menschen weltweit ausreichen. Wenn es denn so einfach wäre. Selbst wenn die Menge an Protein ausreicht, so ist die Proteinqualität nicht überall dieselbe. In Afrika und Asien liegt der Anteil pflanzlichen Proteins bei 78 Prozent beziehungsweise 64 Prozent, während er in Ozeanien, Europa, Süd- und Nordamerika nur zwischen 37 Prozent und 44 Prozent liegt. Pflanzliches Protein liefert essenzielle Aminosäuren nicht in ausreichender Menge, wenn es nicht aus mehreren Quellen im richtigen Verhältnis kombiniert wird. So kann man anhand der Daten von 110 Ländern des Global Food Security Index55 (GFSI) sehr gut erkennen, dass die Proteinqualität deutlich abnehmen kann, sobald der Anteil des pflanzlichen Proteins über 52 Prozent ansteigt56. Ab einem Anteil pflanzlicher Proteine von 78 Prozent ist die Proteinqualität in allen Ländern, die davon betroffen sind, ausnahmslos als »schwach« zu bewerten. Diese Form der Proteinmangelernährung tritt also selbst dann auf, wenn genügend Protein vorhanden ist, das jedoch aus wenigen pflanzlichen Quellen stammt und daher nicht die Wertigkeit von tierischem Protein erreicht. Das ist vor allem in vielen Ländern Afrikas und Asiens der Fall (Abbildung 2).

Neben tierischem Protein aus terrestrischen Quellen sind deshalb weltweit bereits heute über 1,1 Milliarden Menschen auf tierisches Protein aus aquatischen Quellen angewiesen, was heißt, dass mindestens 10 Prozent ihrer täglichen Proteinversorgung dadurch sichergestellt werden. Dies betrifft insbesondere Länder in Afrika und Asien, aber auch europäische Länder wie Portugal, Spanien, Norwegen oder Island. Weltweit machen Fisch und Meeresfrüchte 7 Prozent der Proteinversorgung aus, aber schon 17 Prozent des tierischen Proteinanteils. Leider werden diese Tatsachen in vielen Studien zur nachhaltigen Ernährung nicht berücksichtigt, weshalb dann im Ergebnis steht, dass vegetarische oder gar vegane Ernährung weltweit die nachhaltigste Ernährungsweise wäre, was angesichts der dargestellten biologischen Kausalitäten und der realen Verhältnisse reine Utopie ist, wenn Menschen dadurch an Mangelernährung leiden. Utopien sind zwar ein nützliches Instrument zur Entwicklung von Zukunftsszenarien, doch wenn sie einer lebenswerten Wirklichkeit nicht entsprechen, sollte man sich irgendwann davon verabschieden. Denn obwohl die Kapazität der Weltmeere nahezu erschöpft ist, benötigen die Menschen weiterhin tierisches Protein. Doch woher soll es kommen?

Abb. 2 Im weltweiten Vergleich findet sich insbesondere in Afrika und Asien ein hoher Anteil pflanzlichen Proteins in der Ernährung, was mit einer geringeren Proteinqualität einhergehen kann. (Datenquelle: FAOSTAT 2020)