Warum haben Eltern keinen Beipackzettel? - Sabine Bösel - E-Book

Warum haben Eltern keinen Beipackzettel? E-Book

Sabine Bösel

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  • Herausgeber: Orac
  • Kategorie: Ratgeber
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2013
Beschreibung

"Den Rucksack ,Kindheit' tragen wir alle. Wie wir aber vergeben, es besser machen können und angelegte Muster in unseren Partnerschaften durchbrechen, zeigt dieses Buch auf eindrucksvolle Weise. Und: Die Autoren sind so ehrlich mit sich selbst, dass wir alle daraus lernen können. Eine Empfehlung!" Euke Frank, Chefredakteurin Woman

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Seitenzahl: 273

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Sabine Bösel • Roland Bösel

Warum haben           Eltern keinen Beipackzettel?     

Sabine Bösel • Roland Bösel

Warum haben         Eltern keinen Beipackzettel?

Über Risiken und Nebenwirkungen des emotionalen Erbes fragen Sie Ihre Partnerin oder Ihren Partner

gemeinsam mit Daniela Pucher

www.kremayr-scheriau.at

ISBN 978-3-7015-0557-9 Copyright © 2013 by Orac/Verlag Kremayr & Scheriau GmbH & Co. KG, Wien Alle Rechte vorbehalten Einbandgestaltung und Coverillustration: bcom Werbe Ges.m.b.H. Satz und typografische Gestaltung: Sophie Gudenus Datenkonvertierung E-Book: Nakadake, Wien

Wir widmen dieses Buch unseren drei Kindern Florian, Markus und Clara, die uns so viel über die Risiken und Nebenwirkungen des emotionalen Erbes gelehrt haben. Danke!

INHALTSVERZEICHNIS

ELTERN OHNE BEIPACKZETTEL

WARUM VERHÄLTST DU DICH SO SELTSAM?

Sozialisation – so wirken unsere Eltern
Risiken und Nebenwirkungen
Bewusstes Wahrnehmen ist der erste Schritt
Ausflüchte, um sich nicht verändern zu müssen
Die guten Geister der Veränderung

NICHT DAS LEBEN, DAS ÜBERLEBEN IST KOMPLIZIERT

Übernehmen Sie das Kommando
Lassen Sie das Leben bei der Tür herein
Wie Sie erfolgreich Anlauf nehmen
Fake it until you make it
Wie Sie dunkle Zeiten überwinden

JA, MAMA, ICH BIN FÜR DEIN GLÜCK VERANTWORTLICH

Verdeckte Aufträge
Wie alte Aufträge uns belasten
Die Beziehung zu den Eltern zurechtrücken

MEINE ELTERN SIND SCHULD, DASS ICH NICHT GLÜCKLICH BIN

Schweres Gepäck
Das magische Denken der Kinder
Lebensenergie zurückgewinnen

NIE, NIE, NIE WERDE ICH MICH SO RUNTERMACHEN LASSEN WIE DER PAPA

Unbewusste Beschlüsse
Wie unbewusste Beschlüsse uns belasten können
Beschlüsse auflösen

DAS WERDE ICH DIR NIE VERZEIHEN

Der Stachel der Vergangenheit
Den Stachel herausziehen
Vergebung erneuert Familientraditionen

ICH DARF KEINE GLÜCKLICHE BEZIEHUNG HABEN

Die Eltern als Beziehungsvorbild
Warum tun wir das?
Sich befreien

ICH MACHE ES GANZ BESTIMMT ANDERS

Ich bin dafür, dass wir dagegen sind
Wenn die Rebellion zur Fixierung wird
Sinn und Unsinn fixierter Rebellion
Auf der Jagd nach dem verlorenen Schatz

DARÜBER SPRECHEN WIR NICHT

Ach, wie gut, dass niemand weiß …
Der Unterschied zwischen guten und belastendenGeheimnissen und Intimsphäre
Geheimnisse, die uns nicht gut tun
… dass ich Rumpelstilzchen heiß!

NACHWORT

ELTERN OHNE BEIPACKZETTEL

Wenn Paare sich therapeutisch mit ihren Beziehungsproblemen auseinandersetzen, landen sie früher oder später dort, wo ihr Verhalten am stärksten geprägt wurde: in ihrer Kindheit. Das beobachten wir als Paartherapeuten tagtäglich. Eltern und andere wichtige Bezugspersonen sind für uns ein besonders prägendes Vorbild in der Art, wie sie Beziehungen leben – das betrifft Liebesbeziehungen ebenso wie das Verhalten gegenüber anderen Menschen.

In Familien geht vieles im Verborgenen vor sich. Ein großer Teil unseres Verhaltens wird durch Gewohnheiten bestimmt, die unbewusst ablaufen, wie sozialpsychologische Studien belegen. Vieles davon wird an die nächste Generation weitergegeben. Dieses Erbe ist überwiegend hilfreich und sinnvoll. Unsere Eltern führen uns ein in die Welt und wir lernen anhand ihres Vorbilds, wie wir uns in bestimmten Situationen verhalten, wie wir mit anderen Menschen auskommen und unsere Ziele erreichen können. Das Vorbild von Eltern hat auch Risiken und Nebenwirkungen. Leider gibt es dazu keinen Beipacktext, der auf sie hinweist und uns vorwarnt – geschweige denn uns Empfehlungen gibt, was im Falle unerwünschter Wirkungen zu tun ist. Es bleibt uns also nur übrig, selbst auf Entdeckungsreise zu gehen.

Ihren Beipackzettel selbst zu finden, dazu wollen wir Sie ermutigen. In diesem Buch haben wir alle Hilfestellungen, alles Wissen und die Erfahrungen aus unserer Praxis zusammengetragen. Seit vielen Jahren leiten wir zusätzlich zu unseren Paarseminaren auch Workshops „Generationen im Dialog“, in denen ein Elternteil mit Tochter oder Sohn teilnimmt, um ihr emotionales Erbe zu beleuchten und Frieden zu stiften – in der Beziehung zwischen Eltern und Kindern ebenso wie zwischen Geschwistern, und nicht zuletzt auch im Sinne einer geglückten Liebesbeziehung.

Doch es gilt nicht nur zu erkennen, welche Nebenwirkungen Ihre Eltern auf Sie haben und weshalb Sie sich heute so und nicht anders verhalten. Wir wollen mit diesem Buch ebenso zeigen, dass auch Ihr Vorbild auf die Kinder Wirkung und Nebenwirkungen hat – als Mutter, Vater, aber auch als Großvater, Großmutter, Onkel oder Tante. Es gibt niemanden, dem wir Schuld geben wollen, und das empfehlen wir auch Ihnen nicht zu tun. Jeder von uns agiert so, wie sie oder er es am besten kann. Dort, wo es gilt, verfahrene Situationen aufzulösen und Konflikte zu bereinigen, ist jede beteiligte Person aufgerufen, den eigenen Anteil an der Verantwortung zu erkennen und zu tragen, anstatt Schuld zuzuweisen.

Wir haben alle das Potenzial, unser Leben aktiv zu gestalten, sodass wir zufrieden und erfolgreich sind. Dafür haben wir die Selbstheilungskräfte in uns, die uns zum einen die Natur und zum anderen das „Medikament Eltern“ geschenkt haben. Wir laden Sie ein, immer wieder Ihr eigenes Verhalten zu beobachten und sich dafür auch entsprechend zu würdigen. Denn wir Menschen können nur etwas an uns verändern, wenn wir uns selbst gegenüber wohlwollend bleiben.

In diesem Buch werden Sie viele Geschichten kennenlernen. Wir haben sorgsam Namen und Details geändert. Sollten Sie Ähnlichkeiten mit Ihnen bekannten Geschichten entdecken, so zeigt das nur, wie sehr wir alle miteinander verbunden sind. Sie finden auch wahre Geschichten aus unserem eigenen Leben. Damit wollen wir Sie motivieren, denn wir alle sitzen in einem ähnlichen Boot. Fachlich beziehen wir uns auf das, was wir in unseren Ausbildungen lernen durften. Als Paartherapeuten steht für uns speziell die Imagotherapie im Vordergrund. Wie wir die Imagomethode verstehen, haben wir in unserem ersten Buch „Leih mir dein Ohr und ich schenk dir mein Herz“ dargelegt.

Wir wünschen Ihnen eine spannende Lektüre und eine anregende Entdeckungreise zu den Schätzen Ihres emotionalen Erbes. Lassen Sie sich inspirieren und ermutigen, den Blick immer wieder auf sich selbst zu werfen und sich eine neue Chance auf Entwicklung zu gönnen.

WARUM VERHÄLTST DU DICH SO SELTSAM?

Beipackzettel

Gebrauchsinformation: Dieses Kapitel wird angewendet bei „seltsamem“ Verhalten aller Art, das bei anderen, aber auch bei einem selbst auffällig wird, sowie bei Streit, Krisen, drohender Trennung und anhaltenden Konflikten mit Lebenspartnern, Kindern oder Eltern.

Warnhinweise: Das Lesen und Verstehen dieses Kapitels kann zu einer neuen Einstellung sich selbst und anderen gegenüber führen, die in Kombination mit dem Verstehen des nächsten Kapitels in einer dauerhaften Verhaltensänderung resultieren kann.

Sie haben nie gefragt

Sabine und Roland, 24 und 25 Jahre, auf einer Studentenparty in Wien

Die Luft ist stickig in der kleinen Wohnung. Viele junge Menschen stehen herum, sie plaudern und lachen. Musik tönt dünn aus einem billigen Lautsprecher. Sabine erzählt einem kleinen Grüppchen angeregt über den bevorstehenden Sommerurlaub bei den Meteora-Klöstern in Griechenland. Als sie sich zur Seite dreht, sieht sie Roland am Türstock lehnen. Mit dem Ellenbogen stößt sie ihre Freundin neben sich an und nickt mit dem Kopf in Rolands Richtung.

„Schau einmal, Roland ist im Stehen eingeschlafen!“ Es wird gekichert. Sabine geht zu Roland hin und berührt ihn sanft am Arm. Er blinzelt. „Oh, bin ich jetzt tatsächlich eingeschlafen? Im Stehen?“

„Ja, Roland. Ist ja auch kein Wunder. Es ist Donnerstag und du bist seit vier Uhr früh auf. Möchtest du, dass wir nach Hause gehen?“

„Nein, nein, geht schon. Du unterhältst dich doch gut.“

Doch als zwanzig Minuten später Roland wieder schlafend am Türstock lehnt, schnappt ihn Sabine kurzerhand und sie gehen heim. Müde trotten sie nebeneinander durch die nächtlichen Straßen.

„Manchmal frage ich mich, wie das weitergehen wird.“

„Was meinst du, Roland?“

„Mein Vater hat gesagt, dass er das Geld für die Löhne wieder nicht beisammen hat, und in drei Tagen ist Zahltag.“

„Ach, das habe ich schon so oft von dir gehört, und dann habt ihr es ja doch wieder geschafft. Warum sollte das jetzt anders sein?“ Roland seufzt und zuckt mit den Schultern.

„Sag, Roland, haben sie dich eigentlich jemals gefragt, ob du die Firma übernehmen willst?“

Roland bleibt abrupt stehen und schaut Sabine entgeistert an. „Was ist das denn für eine Frage? Das war doch immer klar, dass ich die Leitung übernehme. Da braucht man doch gar nicht darüber zu reden!“, sagt er aufgebracht.

„Natürlich muss man darüber reden. Das ist doch nicht selbstverständlich! Noch dazu, wo das Unternehmen Jahr für Jahr Verluste macht! Du hattest doch nie die Gelegenheit, dich frei zu entscheiden! Und ich erlebe täglich, wie du dich mit Haut und Haaren engagierst und gleichzeitig so frustriert bist.“

Roland wird ärgerlich. „Darüber will ich nicht reden. Ich muss morgen um fünf im Geschäft sein. Ich kann dir nur sagen, dass es meine eigene Entscheidung war. Ende der Debatte.“

Sozialisation – so wirken unsere Eltern

Von Geburt an werden wir geprägt, in erster Linie von unseren Eltern oder jenen Personen, die uns großziehen, aber auch von anderen Bezugspersonen wie Großeltern, Onkeln oder Tanten. So lernen wir verschiedene praktische Fertigkeiten: Wir krabbeln und lernen dann aufzustehen und schließlich zu gehen. Wir erfahren, dass es schmerzhaft ist, in die kochende Suppe zu greifen, und lassen das in Zukunft bleiben. Wir lernen, unsere Schuhe zu binden, uns selbst anzuziehen, sicher über die Straße zu gehen und vieles andere mehr. Als Kind entdecken wir auch allerhand Erstaunliches: dass Wasser nicht brennt, wenn man es ins Feuer schüttet, oder dass Glas zerbricht, wenn es herunterfällt, und man sich an den Scherben schneiden kann.

Nicht zuletzt aber lernen wir soziales Verhalten, um mit den Menschen in unserem Umfeld gut umzugehen und in die Gemeinschaft integriert zu werden. Vor dem Eisgeschäft stellt sich unser Vater mit uns an, und wir schließen daraus, dass sich das so gehört und man sich nicht vordrängeln darf. Wir grüßen und stellen fest, dass der andere meist lächelt, wenn wir selbst dabei lächeln. Wir lernen zu kommunizieren, unsere Befindlichkeiten und Meinungen auszudrücken. Die Art, wie wir das tun und welchen Wortschatz wir dabei anwenden, wird wiederum von unseren Eltern und dem näheren sozialen Umfeld beeinflusst. Ganz besonders prägt uns auch, wie die Eltern ihre Liebesbeziehung vorleben – oder auch nicht. In diesem Fall lernen wir ausschließlich durch Beobachten und unbewusstes Nachahmen.

Jeder von uns wird durch seine Sozialisation ein wenig anders beeinflusst. Nicht nur andere Länder haben andere Sitten, auch jede Familie hat eigene Verhaltensweisen und typische Kommunikationsmuster, also eine ganz spezielle Familienkultur entwickelt, die von einer Generation an die nächste weitergegeben wird.

Risiken und Nebenwirkungen

Gerade das soziale Verhalten und die Kommunikation sind es aber auch, was uns oft zu schaffen macht. Wir beobachten, wie vor dem Eisgeschäft sich jemand vordrängelt, und ärgern uns: Das gehört sich doch nicht! Wir würden so etwas niemals tun! Am Arbeitsplatz stellen wir fest, dass unser Chef viel zu weich ist, um die Interessen der Abteilung durchzusetzen, und wundern uns, wie er nur Vorgesetzter werden konnte. Und die beste Ehefrau von allen lieben wir zwar sehr, doch ist es uns unbegreiflich, warum sie bei jedem, aber auch wirklich jedem Treffen zu spät dran ist. Warum, so fragen wir uns, verhalten sich die Menschen oft so seltsam?

Nun, zum einen muss gesagt werden, dass sich nicht nur die anderen seltsam verhalten, sondern auch wir selbst. Aus der Perspektive der besten Ehefrau von allen wird unser stets überpünktliches Verhalten genauso nervig und seltsam sein. Und unser Chef, der sich nicht durchsetzen kann, fühlt sich vermutlich von uns regelmäßig bedrängt und genötigt, wenn wir bei ihm nachfragen, und er wird sich ärgern. Zum anderen kann ein und dasselbe Verhalten von anderen Menschen als sehr wohl passend empfunden werden. Jemand, der ein lockeres Verhältnis zum Thema Zeit hat, wird das permanente Zuspätkommen der besten Ehefrau von allen kaum störend finden.

Wir alle haben in unserem emotionalen Rucksack nicht nur hilfreiches, adäquates Verhalten eingepackt, sondern auch belastendes, manchmal sogar zerstörerisches. Jedes Verhalten, ob es uns adäquat oder unpassend erscheint, hat einen Hintergrund, sowohl das regelmäßige Zuspätkommen als auch das strenge Pochen auf Pünktlichkeit. Gründe dafür gibt es so viele, wie es Menschen gibt! Und auch das Beurteilen und Interpretieren eines Verhaltens hat seinen Hintergrund: Die Unpünktlichkeit der Ehefrau kann man ganz entspannt oder auch als eine Abwertung der eigenen Person betrachten. Dementsprechend unterschiedlich können auch die Folgen sein – vom freudigen Seufzen, dass sie nun endlich da ist, bis zum handfesten Streit ist alles möglich.

Immer dann, wenn wir seltsames Verhalten feststellen – bei uns selbst wie bei anderen –, können wir davon ausgehen: Wir haben es mit den Nebenwirkungen unserer Sozialisation zu tun. Nebenwirkungen sind das, was wir im sanftesten Fall als Marotte bezeichnen oder wo wir verständnislos den Kopf schütteln. Im schlimmsten Fall führen sie zu Streit, Konflikten und Krisen mit oft tragischem Ausgang.

Der entscheidende Punkt: Zum überwiegenden Teil sind wir uns dieses Verhaltens gar nicht bewusst. Vielleicht sind Sie zum Beispiel ein Mensch, der viel lächelt. Sie schütteln jemandem die Hand, schauen ihm ins Gesicht und lächeln. Im Büro kommt Ihnen auf dem Gang eine Kollegin entgegen – und Sie lächeln. Sie sitzen im Meeting, ein Kollege präsentiert die Verkaufsergebnisse – und Sie lächeln. Alles schön und gut, werden Sie nun sagen, daran ist ja nichts auszusetzen. Natürlich nicht. Doch vielleicht ist dieses Lächeln schon so sehr eine Gewohnheit geworden, dass Sie sogar dann lächeln, wenn Ihnen jemand erzählt, dass es ihm gar nicht gut geht. Dann lösen Sie vermutlich beim anderen ein Befremden aus.

Bewusstes Wahrnehmen ist der erste Schritt

Vor einiger Zeit kamen Anita und Karl zu uns in die Paartherapie. Anita ist eine temperamentvolle, manchmal auch aufbrausende Frau, Karl ist eher der ruhigere, zurückgezogene Typ – was zwangsläufig zu Konflikten führte. Sie erzählten uns von einer typischen Szene:

Anita stand auf einem Stuhl in der Küche, um die alte Kaffeemaschine von ganz oben zu holen, Karl lehnte daneben am Tisch, um ihr behilflich zu sein. Anita erzählte von den Aufregungen ihres Tages. „Stell dir vor, unsere Nachbarin hat doch tatsächlich ihren hässlichen Gummibaum fast vor unsere Wohnungstür gestellt. Was glaubt die eigentlich! Daraufhin hab ich bei ihr geläutet und mich beschwert. Und weißt du, was sie zu mir gesagt hat?“ Sie stemmte die Arme in ihre Seiten und blickte auf Karl herab. „Ich soll mich nicht so anstellen, hat sie gemeint. Das darf doch nicht wahr sein!“ Anita fuchtelte mit ihren Armen durch die Gegend, um ihren Worten das nötige Gewicht zu geben.

Karl nahm die Kaffeemaschine entgegen, stellte sie ab und blickte dann von unten auf seine Freundin empor. „Ich sag dir“, fuhr Anita fort, „ich hab geglaubt, ich tu ihr gleich etwas. So eine Frechheit!“ Und während sie sich weiter aufregte, wurde ihre Stimme lauter und schriller. Karl schwieg, und es wurde ihm immer unbehaglicher zumute. Als Anita mit großen Gesten andeutete, was sie der Nachbarin am liebsten antun würde, wurde Karl immer bleicher. „Brauchst du mich noch?“, fragte er leise, und ohne eine Antwort abzuwarten, flüchtete er in sein Arbeitszimmer. Anita war verdutzt, dann folgte sie ihm. „Was ist los mit dir? Ich erzähle dir, wie sehr ich mich aufregen musste, und du verschwindest einfach?“ Doch Karl zuckte nur hilflos mit den Schultern und beugte sich über die Bildschirmtastatur.

Für Anita war Karls Verhalten völlig unangemessen. Sie fühlte sich unverstanden und konnte nicht begreifen, dass Karl so gar nicht Anteil nehmen konnte an ihrem Ärger. Solche Szenen erlebten die beiden immer wieder: Anita brauste auf, Karl zog sich zurück. Als Paartherapeuten haben wir einen Begriff für dieses Verhalten, wir bezeichnen es als dynamisches Duett zwischen Hagelsturm und Schildkröte (Details darüber können Sie in unserem Buch „Leih mir dein Ohr und ich schenk dir mein Herz“ nachlesen). Der Hagelsturm, das ist Anita. Ganz nach dem Motto „Angriff ist die beste Verteidigung“ geht sie mit ihrer Energie nach außen. Es ist eine schnelle, unbewusste Reaktion, ähnlich wie im Tierreich, wo ein Raubtier bei Gefahr angreift. Der Gegenpol ist die Schildkröte, in unserem Fall Karl. Auch seine Reaktion ist unbewusst: Er zieht sich bei Gefahr in seinen Panzer zurück und schweigt.

Solange beiden ihr Verhalten nicht bewusst war, wiederholten sich diese Situationen immer wieder. Erst durch das Wahrnehmen kam Bewegung in das Beziehungsmuster, denn so konnten sie in weiterer Folge darüber nachdenken, wie es zu diesem Verhalten kam. Karls Mutter war eine große, mächtige Frau. Sie schlug ihn, wenn sie zornig war, oft genug hat sie ihn richtig verhauen, wenn sie ganz außer sich war. Diese Erlebnisse haben in Karls Gehirn schon als kleines Kind eine deutliche Spur gezogen. Als er nun Anita von unten beobachtete, wie sie sich wild gestikulierend ärgerte, setzte Karls Filter ein und er sah einen Moment lang eine übermächtige Frau, die die Hand erhebt. Ein Funke der alten, kindlichen Angst vor der Mutter drang durch und sorgte dafür, dass sich Karl völlig zurückzog. In diesem Augenblick war sich Karl dessen natürlich gar nicht bewusst. Die Reaktion auf die Situation geschah unwillkürlich, ohne dass dabei das Bewusstsein eingeschaltet wurde.

Nicht nur Missverständnisse und Konflikte können vermieden werden, wenn man sich sein Verhalten und dessen Hintergründe bewusst macht. Es hilft, sich selbst besser kennenzulernen und zu verstehen und sich anzunehmen – und das wiederum stärkt unser Selbstvertrauen, sodass wir liebevoller und sorgsamer mit uns umgehen können. Eine bewusste Selbstwahrnehmung sorgt auch dafür, anderen gegenüber toleranter zu sein. Denn wer sich klarmacht, dass er selbst manchmal für andere seltsam wirkt, kann das „komische“ Verhalten anderer leichter aushalten. Noch einen Vorteil hat das Bewusstmachen: Es gibt uns das Gefühl, das Leben aktiv gestalten zu können und sowohl privat als auch beruflich mehr Freude zu haben.

Wir nehmen wahr, was uns vertraut ist

Sie kennen das vielleicht: Sie kaufen sich ein neues Auto, es ist ein rotes Cabrio – und ab diesem Zeitpunkt fällt Ihnen auf, wie viele rote Cabrios es eigentlich auf der Straße gibt. Genauso ist es, wenn Sie gerade fasten und dabei feststellen, dass Sie von Schweinsbratenduft und Imbissbuden geradezu verfolgt werden. Oder Sie wünschen sich ein Baby und plötzlich sehen Sie an jeder Ecke schwangere Frauen. So ein Zufall!

Nun, Zufall ist es weniger. Vielmehr ist es so, dass wir grundsätzlich das vorrangig wahrnehmen, was uns gerade beschäftigt. Das, was wir kennen, nehmen wir eher wahr als Unbekanntes. In der Gestaltpsychologie spricht man von Vordergrund und Hintergrund: Unser Filter ist geprägt durch unsere Erfahrungen und unsere Geschichte und stellt daher das Entsprechende in den Vordergrund. Manchmal ist uns dieser Vorgang bewusst und wir begrüßen ihn auch: Wer Hunger hat, ist froh, dass der Wahrnehmungsfilter mögliche Nahrungsquellen aufspürt.

Es kann jedoch passieren, dass durch einen bestimmten äußeren Reiz etwas aus dem Hintergrund in den Vordergrund gerückt wird, das nicht hilfreich ist. So ist es Karl ergangen. Das Bild seiner Mutter aus seinen Kindertagen existierte im Hintergrund, bis es durch Anitas bedrohlich wirkendes Verhalten in den Vordergrund geholt wurde und bei Karl eine unbewusste Reaktion hervorrief. Hätte er diese alte Erfahrung mit seiner Mutter nicht, hätte er vielleicht Anitas temperamentvolle Schilderung anders bewertet. Er hätte sie nicht als Angriff gegen sich interpretiert, sondern hätte sich stattdessen gefreut, dass er eine so heißblütige Freundin hat.

Nicht nur optische und akustische Reize rücken alte Geschichten in den Vordergrund, die uns hinderlich sind, auch Gerüche und andere Sinneswahrnehmungen können alte Erinnerungen unbewusst auslösen. Gudrun, eine temperamentvolle Mitdreißigerin, traf sich an einem Nachmittag mit ihrer Freundin Susi in einem gemütlichen Café. Wie immer plauderten sie angeregt miteinander, doch irgendwie schwand Gudruns gute Laune bald. Auf dem Heimweg war sie bedrückt und es plagten sie Ängste, ihr Mann könnte sie verlassen – ein Gedanke, der absurd war, denn sie hatten eine gute Beziehung. Zu Hause sprach sie mit ihrem Mann darüber, und sie fragten sich, ob der Stimmungsumschwung etwas mit dem Treffen mit Susi zu tun haben könnte. Gudruns Mann schlug ihr vor, sich doch noch einmal zu treffen, um der Sache auf den Grund zu gehen.

Gesagt, getan. Gudrun traf sich mit Susi bald wieder, Gudruns Mann begleitete sie. Wiederum war es ein herzliches und gutes Gespräch, und wieder spürte Gudrun bald diese Gedrücktheit und sie zog sich ein wenig zurück, dachte nach und hörte den beiden zu. Plötzlich fiel ihr etwas auf: „Susi, hast du ein neues Parfum?“ „Ja“, antwortete die Freundin, „seit zwei Wochen trage ich Chanel No. 5.“ Mit einem Schlag war Gudrun klar, dass es da einen Zusammenhang geben musste, denn sie hatte sofort Bilder aus ihrer Kindheit vor Augen.

In der Therapie besprachen wir diese Bilder und kamen der Sache auf den Grund. Gudrun hatte eine sehr liebevolle Mutter, die sich um sie kümmerte, während der Vater viel arbeitete. Sie lebten in bescheidenen Verhältnissen, doch einmal im Monat gönnten sich die Eltern einen Opernabend. Da sie nicht genug Geld hatten, um einen Babysitter zu engagieren, ließen sie die kleine Gudrun allein zu Hause. Die Mutter brachte sie zu Bett, deckte sie zu und beugte sich über sie, um ihr einen Kuss zu geben, und Gudrun roch den dezenten Duft von Chanel No. 5, den die Mutter immer nur zu diesen besonderen Anlässen auftrug. Dann gingen die Eltern, und Gudrun war allein in der leeren Wohnung und fürchtete sich jedes Mal schrecklich, weil sie – phantasiebegabt wie alle Kinder in diesem Alter – bedrohliche Schatten hinter dem Vorhang erspähte und sicher war, dass unter dem Bett der böse Mann nur darauf wartete, sie am Bein zu fassen. Jedes Knacken der Möbel wurde zum Beweis, dass in der Wohnung Unheimliches geschah. Weil sie jedoch spürte, dass ihre Mutter diesen freien Abend brauchte, beschloss sie, tapfer zu sein und mit ihren Ängsten allein fertig zu werden.

Gerüche gehen auf dem direkten Weg ins Gehirn und lösen dort alte Erinnerungen unbewusst aus. Deshalb hatte Gudrun keine Ahnung, warum sie die Begegnung mit ihrer Freundin neuerdings so niederdrückte. Der Geruch von Susis Parfum war es, der sie unmittelbar in ihre Kindheit führte und unbewusst diese Ängste und die Unruhe wachrief, die sie als Kind erlebt hatte. So schnell kann es gehen: Ein vertrauter Geruch, und schon holt einen die alte Geschichte ein und man verhält sich „seltsam“.

Das Unwillkürliche ist immer schneller als das Willkürliche

Haben Sie schon einmal versucht, bewusst zu gehen? Sie stellen sich hin und beschließen, einen Schritt machen. Sie sagen Ihrem rechten vorderen Oberschenkelmuskel, er solle sich anspannen und das Knie nach oben ziehen. Anschließend ziehen Sie den Unterschenkel ein Stück nach vor. Schließlich sagen Sie Ihrem Bein, es solle sich nun absenken, bis Ferse und Fußsohle wieder den Boden berühren. Stellen Sie sich vor, ein Auto käme in rasender Geschwindigkeit auf Sie zu und Sie müssten ganz schnell flüchten. Wenn Sie jeden einzelnen Schritt so genau durchdenken und Ihren Muskeln einzelne Befehle weitergeben müssten, würden Sie es vermutlich nicht bis zum Straßenrand schaffen.

Daher gibt es in unserem Gehirn Areale, in denen solche Handlungen multipel verschaltet und abgespeichert sind, sodass sie ohne Einschalten unseres Bewusstseins ablaufen können. Alle automatischen Handlungen sind hier repräsentiert, nicht nur das Gehen und Laufen. Auch Routineaufgaben wie Zähneputzen oder Autofahren gehören dazu.

Reaktives Verhalten ist unbewusst, es wird in unserem ältesten Gehirnteil gesteuert, dem Stammhirn. Es kennt nur zwei Zustände, nämlich Gefahr und Sicherheit – und löst bei Gefahr blitzschnell das entsprechende reaktive Verhalten aus. Großhirnrinde und der Stirnlappen, jene Teile im Gehirn, die für bewusstes Handeln zuständig sind, werden dabei umgangen. Das ist sehr sinnvoll: Bei Gefahr können wir uns äußerst effektiv verhalten, und zwar je nachdem, welches reaktive Verhalten vorrangig angelegt ist: Angriff, Flucht, Erstarren oder Unterwerfung.

Wir haben weiter oben schon am Beispiel von Anita und Karl beschrieben, was wir unter Hagelsturm- und Schildkröten-Verhalten verstehen. Sie entsprechen genau diesen vier reaktiven Verhaltenstypen: Der Hagelsturm geht mit der Energie nach außen, er greift an oder flüchtet; die Schildkröte geht mit der Energie nach innen, sie stellt sich tot oder unterwirft sich.

Reaktives Verhalten bewusst machen

Wenn wir nun Wahrnehmung und Reflex kombinieren, können wir auch verstehen, warum Karl sich in obigem Beispiel so verhalten hat und nicht anders. Er sieht Anita auf dem Stuhl wild gestikulieren, und es prasseln ihre Emotionen von oben auf ihn herunter. In seiner Wahrnehmung schiebt sich für einen Moment die alte Geschichte in den Vordergrund – seine wütende Mutter –, und in einem Bruchteil von Sekunden wird er zum kleinen Kind, das die übermächtige Mama vor sich sieht – und schon wird sein automatisches, reaktives Verhalten ausgelöst, das er als Kind gelernt hat: Er erstarrt, und dann zieht er sich möglichst unauffällig zurück. Bei seiner Mutter war das aus der Sicht des Kindes das einzig richtige Verhalten. Niemals hätte er gegen die Mutter aufbegehren können. Schließlich war sie es auch, die sich alleine um ihn gekümmert hat. Wäre er zum Gegenangriff übergegangen, hätte er sie – aus kindlichem Verständnis heraus – womöglich ebenfalls verloren und er wäre ganz allein gewesen.

Inzwischen ist Karl längst erwachsen geworden und lebt nicht mehr bei seiner Mutter, sondern mit Anita zusammen. Nur dieses Verhalten, das hat er beibehalten, und obwohl Anita nun wirklich keinerlei Gefahr für ihn darstellt, reagiert er immer noch so, wie er als Kind reagierte. Dass die beiden in die Paartherapie kamen, zeigt, dass sie bereit waren, etwas an ihrem Verhalten zu ändern. Aber wie?

Reaktives Verhalten ändert man, indem man es ins Bewusstsein ruft, und dafür ist uns ein Bereich im Gehirn besonders behilflich: der Stirnlappen. Wie der Name schon erahnen lässt, befindet sich dieses Areal hinter der Stirn. Es ist der Sitz wichtiger kognitiver Fähigkeiten und ermöglicht, Situationen aus verschiedenen Perspektiven zu sehen, uns empathisch in andere Menschen hineinversetzen zu können oder unser eigenes Verhalten zu reflektieren. Es hilft uns, Visionen und Ziele zu entwickeln, gestern, heute und morgen zu unterscheiden und flexibel auf veränderte Situationen einzugehen.

Als Anita und Karl einen unserer Imago-Paarworkshops besuchten und wir das Verhalten von Schildkröte und Hagelsturm erklärten, wurde beiden so einiges klar. „Jetzt verstehe ich, warum ich mich über diesen Streit mit der Nachbarin so aufregen musste. Ich bin ein Hagelsturm!“, platzte es mitten in unserem Vortrag aus Anita heraus. Karl reagierte in Schildkröten-Würde: Er blieb zunächst stumm, dann lächelte er und erst in der Pause konnte er sich dazu äußern.

Ausflüchte, um sich nicht verändern zu müssen

Inadäquates, zerstörerisches Verhalten zu verlernen heißt, den Stirnlappen einzuschalten und sich mit den dahinterliegenden Ängsten auseinanderzusetzen. Das ist unbequem und anstrengend und mitunter braucht man Geduld, denn altes Verhalten muss durch neues ersetzt werden – bis das neue Verhalten zur Selbstverständlichkeit wird, das kann schon mal dauern. Will man beispielsweise sein Essverhalten ändern, braucht man drei Jahre, bis es zur Selbstverständlichkeit wird. Oft ist es auch sehr schmerzhaft, sich den Erfahrungen aus der Kindheit zu stellen, wenn alte Wunden aufgebrochen werden.

Keine Frage, die Risiken und Nebenwirkungen, die wir in keinem Eltern-Beipackzettel finden können, zu beseitigen, hat einen entscheidenden Vorteil: Hat man die Anstrengung überstanden, ist man von den Nebenwirkungen befreit und kann sein Leben aktiver nach eigenen Vorstellungen gestalten. Zuvor möchten wir noch mit den drei häufigsten Ausflüchten aufräumen, die uns in unserer Praxis immer wieder begegnen.

Die anderen sind schuld oder: Was hat das Problem mit mir zu tun? Die 90-10-Regel

Immer wenn Anita ihren Hagelsturm-Ausbruch bekam und Karl sich in seinen Panzer zurückzog und in sein Arbeitszimmer flüchtete, dachte er: „Warum führt sie sich immer so auf? Das nervt mich so sehr! Jedes Mal dasselbe. Sie macht unsere ganze Beziehung kaputt!“

Als die beiden im Laufe der Paartherapie den Dingen auf den Grund gingen, wurde Karl klar: „Es war für mich eigentlich immer sehr bequem, Anita als die Schuldige hinzustellen. So musste ich mich gar nicht weiter mit meinem eigenen Verhalten auseinandersetzen. Anstatt darüber nachzudenken, habe ich mich zurückgezogen, ihr die Schuld gegeben und Mauern aufgezogen, indem ich eisern schwieg. Heute kann ich erkennen, dass diese Mauern eigentlich meiner Mutter gelten und sie deshalb gar nicht mehr notwendig sind.“

Karl hat verstanden, was das Problem mit ihm selbst zu tun hat, welchen Anteil der Verantwortung er zu übernehmen hat. Und das Thema Schuld haben sie beide ad acta gelegt – Schuldzuweisungen bringen niemanden weiter. Nur wenn beide ihren Teil der Verantwortung wahrnehmen und entsprechende Schritte setzen, kommen sie gemeinsam ans Ziel.

Eine der hilfreichsten Regeln gegen die „Du bist schuld“-Überzeugung ist die 90-10-Regel, wie wir sie in unserem ersten Buch „Leih mir dein Ohr und ich schenk dir mein Herz“ ausführlich beschrieben haben. Sie basiert auf der Annahme, dass die Partnerin bzw. der Partner nur Auslöser in einer Situation ist, der alte Erfahrungen aus unserem Gedächtnis hervorholt, in den Vordergrund stellt und schließlich unser reaktives Verhalten auslöst. Das heißt: Jede frustrierende Situation sagt mehr über uns selbst aus als über unsere Beziehung. Wir können daher mit Fug und Recht 90 Prozent unseren eigenen Erfahrungen zuschreiben, 10 Prozent der aktuellen Situation, die unsere Partnerin, unser Partner ausgelöst hat.

Wenn wir also wahrhaftig eine Veränderung in unserem Beziehungsverhalten anstreben, ist es sehr sinnvoll, sich die 90 Prozent näher anzusehen. Nur so konnte Karl aus seiner Opferrolle herausfinden und erkennen, dass sein Teil der Verantwortung darin liegt, dass er Anita unbewusst mit seiner Mutter verwechselt. Im Laufe der Therapie gelang es ihm zu erkennen, dass Anitas Verhalten für ihn keine Bedrohung sein kann, er konnte sogar den Vorteil sehen: Indem sie die Nachbarin attackierte, hat sie schließlich auch ihr gemeinsames Terrain verteidigt. „Anita ist meine Verbündete“, sagte er. „Ich habe sie mir ausgewählt. Manchmal ist sie aufgeregt, weil auch sie manchmal Angst hat. Doch als Team sind wir gut unterwegs. Es gilt, meinen alten Beschluss umzuwandeln in einen neuen: Wenn mir Anitas Temperament zu viel wird, werde ich mit ihr in Ruhe darüber reden, anstatt mich in meinem Panzer zu verkriechen.“

Aber ich hatte doch eine glückliche Kindheit!

„Warum soll ich immer alles auf meine Kindheit schieben, wenn ich heute ein Problem habe, vor allem, wenn das Beziehungsprobleme sind. Meine Kindheit war doch schön!“, hören wir immer wieder in unserer Praxis. Ja, Menschen, die ihrem Beruf nachgehen, die im Leben Orientierung haben und ein Dach über dem Kopf, die hatten auch eine gute Kindheit. Sie sind von ihren Eltern ausreichend genährt worden, sowohl körperlich als auch seelisch und wurden im Rahmen ihrer Erziehung gefördert und gefordert.

Eine gute, vielleicht sogar glückliche Kindheit gehabt zu haben, bedeutet aber nicht, dass sie perfekt war. Denn das Leben ist nun mal nicht perfekt, man braucht sich nur umzusehen: Die einen haben ein wehes Bein, die anderen eine winzige Wohnung, andere wiederum haben Nachbarn, die ständig Lärm machen, oder eine Schwiegermutter, die ein Pflegefall ist. Es gibt unzählige Umstände, in denen nicht alles rund läuft. Genauso gibt es niemanden, der eine wirklich perfekte Kindheit hatte, so ganz ohne Risiken und Nebenwirkungen, und das ist auch gut so. Denn die vielen kleinen Widrigkeiten haben uns stark gemacht, sodass wir vieles gut aushalten können!

Ich habe ja nur den falschen Partner

Man kann bei einer Ehescheidung oder Trennung nicht wirklich von Bequemlichkeit sprechen, und doch: Viele Paare trennen sich lieber, als dass sie sich auf den Weg machen, einen neuen Blick auf ihre Beziehung zu finden und zu verstehen, warum sie so und nicht anders handeln. Ähnlich ist es auch bei Konflikten zwischen den Generationen. Lieber hält man den Deckel über schwelende Konflikte, als sie auf den Tisch zu legen. In alten, zerstörerischen Mustern zu verharren, scheint vordergründig bequemer zu sein, als den Hintergründen nachzugehen. Moshé Feldenkrais, der Erfinder der Feldenkrais-Methode, hat es auf den Punkt gebracht: „Leiden ist leichter als Lösen.“

Die Scheidungsrate im deutschsprachigen Raum liegt etwa bei 50 Prozent, steigt in den Städten stark an und ist damit so hoch wie nie zuvor. Das bedeutet aber nicht, dass Beziehungen heute viel schlechter sind als früher, sondern nur, dass man überhaupt die Möglichkeit hat, auf diese Art vor Problemen zu flüchten. Scheinbar ist das der einfachere Weg, jedoch nur scheinbar. Denn auch hier gilt die 90-10-Regel: 90 Prozent des Problems haben mit der eigenen Geschichte, den eigenen frühen Verletzungen und Erfahrungen zu tun. Die nehmen wir auf jeden Fall mit in die nächste Beziehung. Wir trennen uns von einem Menschen, doch wir nehmen das Problem in Wahrheit mit. Ähnlich ist es bei Konflikten mit Eltern und Kindern oder zwischen Geschwistern: Indem die Decke des Schweigens über das Problem gebreitet wird, verschwindet es nicht, sondern poppt in ähnlichen Situationen immer wieder auf – und das setzt sich in den nächsten Generationen fort.

Den Deckel drauf zu halten oder sich zu trennen, ist für den Moment eine große Erleichterung, zugegeben. Doch ist sie nur von relativ kurzer Dauer. Sich seiner typischen Verhaltensmuster bewusst zu werden, ist der Weg, der auf Dauer Heilung verschafft.

Die guten Geister der Veränderung

Ein guter Wille zur Veränderung und ein Quäntchen Mut sind die Voraussetzung, um Neues überhaupt möglich zu machen und die Gestaltung der Zukunft nicht länger den eigenen reaktiven, unbewussten Handlungen zu überlassen. Wenn Sie dazu bereit sind, haben wir noch drei Anregungen für Sie, die Ihnen auch noch den nötigen langen Atem bescheren.

Liebe zu sich selbst und den betroffenen Menschen

Als Anita bewusst wurde, wie sehr ihr Verhalten einem Hagelsturm gleicht, bemühte sie sich natürlich, sich mehr zurückzunehmen. Allerdings gelang ihr das nicht so einfach. Immer wieder kam sie mit hängendem Kopf bei der Praxistür herein. „Ach, ich war schon wieder ein Hagelsturm. Es ist einfach unmöglich, mit mir zu leben“, sagte sie ganz zerknirscht. Als wäre es so einfach, ein Verhalten, das man ein Leben lang einstudiert hat, von heute auf morgen loszuwerden! Auch Karl war unzufrieden: „Was soll ich mit einer Frau, die zwar weiß, dass sie ein Hagelsturm ist, die sich aber selbst jedes Mal geißelt. Ich bin ja auch immer noch eine Schildkröte und komme nicht los davon.“