Warum hilft mir niemand? - Patricia Vandenberg - E-Book

Warum hilft mir niemand? E-Book

Patricia Vandenberg

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Beschreibung

Nun gibt es eine Sonderausgabe – Dr. Norden Aktuell Dr. Norden ist die erfolgreichste Arztromanserie Deutschlands, und das schon seit Jahrzehnten. Mehr als 1.000 Romane wurden bereits geschrieben. Für Dr. Norden ist kein Mensch nur ein 'Fall', er sieht immer den ganzen Menschen in seinem Patienten. Er gibt nicht auf, wenn er auf schwierige Fälle stößt, bei denen kein sichtbarer Erfolg der Heilung zu erkennen ist. Immer an seiner Seite ist seine Frau Fee, selbst eine großartige Ärztin, die ihn mit feinem, häufig detektivischem Spürsinn unterstützt. Auf sie kann er sich immer verlassen, wenn es darum geht zu helfen. Seit drei Wochen weilten Mr Jack Bellamy und seine Frau Jennifer zur Kur auf der Insel der Hoffnung. Zu seiner Freude konnte Dr. Cornelius, der Chefarzt, feststellen, dass Mr Bellamy sich blendend erholt hatte. Er hatte lange unter den Folgen einer schweren Blinddarmoperation gelitten, die gerade noch im letzten Augenblick erfolgt war. Seine Frau und sein einziger Sohn Patrick mussten sich auch danach große Sorgen um ihn machen, bis sie dann von guten Freunden von der »Insel der Hoffnung« erfuhren. Bei Jack Bellamy hatte die Kur Wunder bewirkt, aber auch seine Frau, die eigentlich nur mitgekommen war, um bei ihrem Mann zu sein, mit dem sie seit siebenundzwanzig Jahren glücklich verheiratet war, hatte sich blendend erholt. Die Hälfte der Kurzeit war herum, und sie wurden nun schon unternehmungslustig. Dr. Cornelius hatte auch nichts dagegen einzuwenden, dass sie mal einen längeren Ausflug machten. Er gab ihnen nur gut gemeinte Ermahnungen mit auf den Weg, nicht zu üppig zu essen. »Wir werden uns hüten«, sagte Jennifer Bellamy lächelnd. Sie war eine schöne Frau. Man sah ihr nicht an, dass sie fast fünfzig Jahre alt war. Mit ihrem liebenswürdigen Wesen hatte sie sich schnell große Sympathie erworben, ihr Mann Jack ebenfalls. Er war ein sehr ruhiger, vornehmer Mann, ein Gentleman vom Scheitel bis zur Sohle. Dr. Cornelius hatte dem englischen Ehepaar für den heutigen Ausflug seinen Wagen zur Verfügung gestellt. Jennifer setzte sich ans Steuer.

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Dr. Norden Aktuell – 17 –

Warum hilft mir niemand?

Patricia Vandenberg

Seit drei Wochen weilten Mr Jack Bellamy und seine Frau Jennifer zur Kur auf der Insel der Hoffnung. Zu seiner Freude konnte Dr. Cornelius, der Chefarzt, feststellen, dass Mr Bellamy sich blendend erholt hatte. Er hatte lange unter den Folgen einer schweren Blinddarmoperation gelitten, die gerade noch im letzten Augenblick erfolgt war. Seine Frau und sein einziger Sohn Patrick mussten sich auch danach große Sorgen um ihn machen, bis sie dann von guten Freunden von der »Insel der Hoffnung« erfuhren.

Bei Jack Bellamy hatte die Kur Wunder bewirkt, aber auch seine Frau, die eigentlich nur mitgekommen war, um bei ihrem Mann zu sein, mit dem sie seit siebenundzwanzig Jahren glücklich verheiratet war, hatte sich blendend erholt.

Die Hälfte der Kurzeit war herum, und sie wurden nun schon unternehmungslustig. Dr. Cornelius hatte auch nichts dagegen einzuwenden, dass sie mal einen längeren Ausflug machten. Er gab ihnen nur gut gemeinte Ermahnungen mit auf den Weg, nicht zu üppig zu essen.

»Wir werden uns hüten«, sagte Jennifer Bellamy lächelnd. Sie war eine schöne Frau. Man sah ihr nicht an, dass sie fast fünfzig Jahre alt war. Mit ihrem liebenswürdigen Wesen hatte sie sich schnell große Sympathie erworben, ihr Mann Jack ebenfalls. Er war ein sehr ruhiger, vornehmer Mann, ein Gentleman vom Scheitel bis zur Sohle.

Dr. Cornelius hatte dem englischen Ehepaar für den heutigen Ausflug seinen Wagen zur Verfügung gestellt. Jennifer setzte sich ans Steuer.

»Ich werde aufpassen«, sagte sie zu Anne Cornelius.

»Passen Sie nur auf sich auf«, erwiderte Anne, »dem Wagen macht eine Schramme mehr oder weniger nichts aus.«

»Reizende Menschen sind das«, sagte Jack, als sie schon eine Weile unterwegs waren, und wenn er so etwas sagte, war es ein ganz großes Kompliment.

»Wir haben recht getan, hierherzufahren«, sagte Jennifer. »Ich bin unendlich dankbar, dass es dir wieder gut geht, Darling. Ich weiß nicht, wie ich ihnen danken soll.«

»Ich werde ihnen einen neuen Wagen schicken«, sagte Jack schmunzelnd. »Lange wird der hier es nicht mehr machen.«

Er war Besitzer einer Autofabrik und gut betucht, und er konnte es sich leisten, solche Geschenke zu machen.

»Hoffentlich kränkt man sie damit nicht«, meinte Jennifer. »Der Motor ist noch gut, und mich stören die Schrammen nicht. Mir ist deine Gesundheit bedeutend mehr wert als ein Auto.«

»Also brauchen sie nicht gekränkt zu sein, wenn sie eines bekommen«, sagte Jack. »Ich werde das schon taktvoll arrangieren, my sweetheart.«

Wie innig sie sich liebten, zeigten sie nur, wenn sie allein waren. Freuen konnten sie sich auch noch von Herzen. Sie gehörten nicht zu jenen, die der Reichtum hochmütig machte.

»Sieh nur, Jack, ist es hier nicht himmlisch«, rief Jennifer aus, als sich vor ihnen die Gebirgskette mit ihren schneebedeckten Gipfeln ausbreitete.

Es war ein märchenhaft schöner Tag. Tiefblau war der Himmel, und die Sonne ergoss ihren Glanz ungetrübt über die Landschaft.

»Wollen wir ein Stück gehen?«, fragte Jennifer.

»Gern, aber Dr. Cornelius hat gesagt, dass wir achtgeben sollen, weil die österreichische Grenze nahe ist. Und den Wagen müssen wir wiederfinden.«

»Weit brauchen wir ja nicht zu gehen«, meinte Jennifer. »Ich möchte nur ein paar Aufnahmen machen. Granny soll doch auch sehen, wie herrlich dieses Land ist. Vielleicht lässt sie sich dann doch überreden, auch eine Kur auf der Insel zu machen. Ihrem Ischias täte das gut.«

»Da müssen wir aber mit Engelszungen reden«, sagte Jack. Es ging um seine Mutter, die in ihrem Haus lebte. Die alte Dame war fünfundsiebzig, aber davon wollte sie keine Notiz nehmen, so wenig wie ihre Lieben von ihren Ischiasschmerzen Notiz nehmen sollten.

Langsam gingen nun Jack und Jennifer über grüne Wiesen, dann auf den Wald zu, die Straße, an der der Wagen geparkt war, aber immer im Auge behaltend.

Jennifer machte Aufnahmen. Fotografieren war ihr Hobby, und ihre Bilder wurden mit Recht bewundert. Ihr geschäftstüchtiger Sohn Patrick fertigte davon Poster an, und er hatte damit während seiner Studienzeit im Cambridge ein sehr gutes zusätzliches Taschengeld verdient.

Auf Patrick konnten sie stolz sein und von ihm sprachen sie auch, während sie in aller Gemächlichkeit dahingingen und die herrliche würzige Luft einatmeten.

»Ich glaube, wir müssen jetzt doch umkehren, Jennifer«, sagte Jack. »Wir sind weit von der Straße.«

Doch da hörten sie einen seltsamen wimmernden Laut, das fast ein Jammern war. Jennifer lauschte und sagte leise. »Ist das nicht ein Kind?« Nicht einem einzigen Menschen waren sie begegnet, nicht ein Haus hatten sie gesehen, und nun hörten sie wieder das Wimmern.

Es war ein Mädchen, was ihnen dann entgegengetaumelt kam. Verschmutzt, mit zerrissenen Kleidern und blutverkrustetem Gesicht, das einen erschreckenden Anblick bot.

Angstvoll schrie das Mädchen auf, als Jennifer einen Schritt vorwärts tat, und es schien, als wolle es sich zur Flucht wenden. Doch Jennifer war schneller, und kraftlos sank das arme Geschöpf zusammen.

»Was ist denn, Kind?«, fragte Jennifer mitleidvoll und unwillkürlich in englischer Sprache. »Hast du dich verlaufen?«

Angstvolle Augen starrten sie an. Die Lippen bewegten sich. Man sah, wie sich das Mädchen quälte, etwas zu sagen, aber es kamen nur unartikulierte Laute über die rissigen Lippen.

Jack war auch näher gekommen. »Bist du überfallen worden?«, fragte er mitleidvoll. Seine tiefe, warme Stimme schien eine beruhigende Wirkung auf dieses jammervolle Bündel zu haben. Das Mädchen richtete sich auf und ließ sich von ihm wieder auf die Beine helfen.

»Wir nehmen sie mit«, sagte Jennifer entschlossen. »Wir müssen uns um sie kümmern.«

Wieder trafen sie keinen Menschen. Sie waren anscheinend in eine völlig entlegene Gegend geraten.

Mühsam schleppte sich das Mädchen voran, gestützt von Jack und Jennifer.

Manchmal mussten sie sie tragen, und Jennifer hatte Sorge, dass es zu viel für ihren Mann werden könnte, aber er beruhigte sie.

Auf jede Frage, die sie stellten, schüttelte das Mädchen nur den Kopf, aber das war nur eine automatische Bewegung. In den trüben Augen konnte man keine Reaktion lesen. Als sie endlich das Auto erreicht hatten und sie die mitleiderregende kleine Person auf den Rücksitz betteten, schloss sie sofort die Augen.

»Ob Dr. Cornelius erbaut sein wird, was wir da mitbringen von unserem Ausflug?«, fragte Jack.

»Er wird es bestimmt verstehen, dass wir das Mädchen nicht seinem Schicksal überlassen konnten. Was da wohl geschehen sein mag?«, fragte Jennifer.

»Vielleicht ist sie schwarz über die Grenze gekommen, das gibt es doch«, überlegte Jack Bellamy. »Oder sie ist von daheim ausgerissen, oder aus einem Heim.«

»Darüber wollen wir uns jetzt nicht den Kopf zerbrechen. Sie braucht Hilfe«, sagte Jennifer resolut.

Mario, der kleine Adoptivsohn von Dr. Cornelius, kam zu Anne ins Büro gestürmt. »Mami, die Bellamys kommen schon zurück!«, rief er laut.

Es war noch früher Nachmittag. Anne sprang gleich überrascht auf. Hoffentlich geht es Mr Bellamy nicht wieder schlechter, dann nämlich würde sich ihr Mann Vorwürfe machen, dass er seinem Patienten den Ausflug erlaubt hatte.

Aber dann erfuhr sie den Grund. Erschrocken, doch gleich wieder der Situation gewachsen, rief sie Mario zu, dass er den Papi holen solle.

Das Mädchen war ohnmächtig. Anne Cornelius protestierte, als Jack es aus dem Wagen heben wollte. »Muten Sie sich nicht zu viel zu Mr Bellamy«, sagte sie warnend, und schon kamen Hannes Cornelius und Dr. Schoel­ler.

Sie trugen das Mädchen ins Haus. Anne beharrte darauf, dass Jack sich erst einmal ausruhte. Schließlich war er ein Patient, den man mit viel Mühe wieder gesundgepflegt hatte.

Jennifer erzählte, wie sie das Mädchen gefunden hatten, den genauen Ort wusste sie jedoch nicht zu nennen.

Indessen bemühten sich die Ärzte um die junge Fremde. Es dauerte mehr als eine Stunde, bis Dr. Johannes Cornelius aus dem Behandlungsraum herauskam.

»Was ist?«, fragte Anne erregt.

»Ziemlich schlimm zugerichtet«, erwiderte Dr. Cornelius. »Mindestens zwei Tage ohne Nahrung, eine Verletzung am Kopf, die von einem Schlag herrühren könnte, viele Prellungen, die durch einen Sturz hervorgerufen sein müssten. Achtzehn bis zwanzig Jahre alt schätzungsweise, Haar kastanienbraun, Augen grau, Gewicht etwa neunzig Pfund. Die Kleidung ist englischer Herkunft.«

»Tatsächlich?«, fragte Jennifer erregt. »Wie seltsam.«

»Mir kam es auch so vor, als würde sie mehr reagieren, wenn wir englisch sprachen«, sagte Jack. »Deutsch kann ich sowieso nicht gut.«

»Sie haben aber viel gelernt«, warf Dr. Cornelius ein. »Und ohne zu viel zu sagen, haben Sie diesem Mädchen wohl das Leben gerettet. Diesen Tag hätte sie wahrscheinlich nicht mehr überstanden, wenn Sie sie nicht gefunden hätten.«

»Wie schrecklich«, sagte Jennifer leise. »Dieses arme kleine Ding. Was mag sie wohl erlebt haben. Kann ich sie jetzt sehen?«

Dr. Cornelius nickte. »Sie schläft. Sie wird lange schlafen. Wir haben ihr eine Infusion gegeben.«

Das fremde Mädchen lag nun in einem weißen Bett, und das Gesichtchen war fast so weiß wie das Kopfkissen, wie der Verband, der auch das dunkle Haar verhüllte.

Man hatte sie gewaschen, und nun erst traten die Blutergüsse im Gesicht und auf den Armen richtig hervor. Die schmalen Hände lagen auf der Bettdecke. Die Fingernägel waren abgebrochen und noch immer dunkel gefärbt, wohl von der Erde, in die sie sich gewühlt hatten. Sehr zierliche Hände waren es mit schlanken Fingern.

»Schwere Arbeit hat sie bisher sicher nicht verrichtet«, erklärte Dr. Cornelius leise. »Wenn Sie sich vielleicht die Kleidung näher ansehen wollen, Mrs Bellamy? Sie könnten möglicherweise feststellen, woher sie stammen, wenn auch nicht mehr viel übrig geblieben ist. Dieses arme Geschöpf muss Schreckliches durchgemacht haben.«

Jennifers Augen weiteten sich. »Etwa ein Sittlichkeitsverbrechen?«, fragte sie.

»Nein, dafür gibt es keinen Anhaltspunkt, aber es könnte ein Mordversuch gewesen sein.«

»O mein Gott«, sagte Anne.

Jennifer folgte Dr. Cornelius in den Nebenraum und betrachtete die Kleidung genau. »Connor ist eine ziemlich teure Firma«, sagte sie nachdenklich. »Sie stellt Kleidung für Teenager her, aber man muss schon ansehnliche Summen dafür auf den Tisch legen. Es sind jetzt zwar nur noch Lumpen, aber höchstens ein Jahr alt. Man kann das nach den Farben beurteilen«, fügte sie erklärend hinzu. Dann schwieg sie minutenlang. »Diese jungen Leute fahren oft per Anhalter durch die ganze Welt«, fuhr sie dann leise fort. »Unser Patrick wollte das auch mal machen, aber da hat er zum ersten Mal in seinem Leben Krach mit uns bekommen. Er hat sich dann gefügt, und heute sieht er natürlich ein, welche Gefahren das mit sich bringen kann. Aber manche Eltern sind ja froh, wenn sie ihre Kinder los sind. Sie geben ihnen auch noch einen Haufen Geld.«

»Wir werden vielleicht erfahren, was dieses Mädchen erlebt hat«, sagte Dr. Cornelius. »Ich hoffe sehr, dass wir sie durchbringen.«

»Bitte, tun Sie alles, Herr Doktor«, sagte Jennifer. »Wir honorieren es Ihnen. Es wäre schlimm, sie gefunden zu haben, um sie sterben zu sehen.«

»Jedenfalls wird sie mehr Ihnen als uns ihr Leben zu verdanken haben, wenn es erhalten bleibt«, sagte Dr. Cornelius. »Ich muss diesen Fall der Polizei melden, Mrs Bellamy.«

»Ja, sicher, ich verstehe das. Vielleicht ist sie als vermisst gemeldet. Aber sie darf doch hierbleiben?«

»Darüber machen Sie sich keine Gedanken, das ist selbstverständlich.«

Jennifer streichelte die kleine Hand. »Sie ist so jung«, sagte sie leise. »Und es ist so entsetzlich traurig, was in dieser Welt alles geschieht.«

Jetzt zeigte sie ihre Warmherzigkeit ganz offen, und Dr. Cornelius war noch mehr angetan von ihr.

Später informierte er die Polizei, doch großes Interesse zeigte man da nicht, da das Mädchen noch lebte. Erst am Abend kam ein Beamter vorbei, um die näheren Umstände zu Protokoll zu nehmen. Als vermisst war niemand gemeldet. Man war sichtlich froh, dass sich Dr. Cornelius, dessen Name sehr bekannt war im weiten Umkreis, der Fremden angenommen hatte.

Erst am nächsten Vormittag erwachte das Mädchen aus der Bewusstlosigkeit, aber sprechen konnte es noch immer nicht. Die schreckliche Angst in ihren Augen, die Abwehr in ihrem Mienenspiel verrieten, dass sie Angst haben musste.

Jennifer setzte sich zu ihr. Sie versuchte es nun wieder in englischer Sprache, aber nur Angst und Misstrauen war in den Augen des Mädchens zu lesen.

»Mein Name ist Jennifer Bellamy«, sagte sie betont. »Ich weile hier auf der Insel der Hoffnung mit meinem Mann zur Kur. Wir haben Sie in dem Wald gefunden, nahe der österreichischen Grenze. Sie verstehen meine Sprache?«

Zum ersten Mal nickte das Mädchen. Hören konnte sie also. Es galt nun herauszufinden, ob sie nicht sprechen wollte oder nicht konnte. Jennifer versuchte es ganz behutsam.

»Erinnern Sie sich, was geschehen ist?«, fragte sie. Verneinend bewegte das Mädchen den Kopf. Wieder bewegten sich ihre Lippen, aber nur ein schwerer Seufzer war zu vernehmen.

»Wir würden gern wissen, wie Sie heißen«, sagte Jennifer. Es kam keine Antwort. »Sie können nicht sprechen?«, fragte Jennifer mit bebender Stimme. Wieder schüttelte das Mädchen den Kopf.

Weich und mütterlich streichelte Jennifer die zerschundene Wange. Da lösten sich Tränen aus den schreckensvollen Augen.

»Du bist hier in Sicherheit, Kind«, sagte Jennifer nun. »Niemand kann dir etwas tun. Dies hier ist ein Sanatorium, das vielen Menschen Genesung gebracht hat. Dr. Cornelius wird dich gesund pflegen, und jetzt wirst du erst einmal etwas essen.«

Wieder kam panische Angst über das Mädchen. Es begann zu zittern. Jennifer fragte sich nun, ob man ihr wohl ein Betäubungsmittel eingegeben haben könnte.

Wie nur konnte man ihr die Furcht nehmen? Nach längerem Überlegen kam ihr ein Gedanke. »Wir werden gemeinsam essen«, schlug sie vor. »Erst einmal eine leichte Suppe.«

Sie wurde in einer Terrine gebracht, und Jennifer kostete sie.

»Sie schmeckt sehr gut«, sagte sie. »Probier auch mal, mein Kind.«

Das gute Zureden half doch. Sicher war es auch ihre Geduld und nicht zuletzt ihre weiche Stimme, die den Sieg über die abwehrende Haltung des Mädchens davontrugen. Da es noch nicht die Kraft hatte, den Löffel selbst zum Munde zu führen, wurde sie von Jennifer gefüttert.

»Na, siehst du, es schmeckt, und gleich wird es dir besser gehen«, sagte Jennifer.

Das Mädchen betrachtete dann seine Hände und Arme, und mit einiger Anstrengung hob sie die linke Hand und betastete ihr Gesicht.

»Alles wird wieder heilen«, sagte Jennifer. »Nun wollen wir doch mal herausfinden, wie du heißt.«

Sie zählte alle Namen auf, die ihr in den Sinn kamen, aber es kam keine Reaktion.

»Dann geben wir dir einen Namen, der dir gefällt«, sagte Jennifer. »Du brauchst nur zu nicken, wenn du einverstanden bist.«

Katrin, Ann, Rosemary, Janet und noch ein Dutzend andere zählte sie auf, aber das Mädchen nicke nicht. Dann kam es Jennifer in den Sinn, dass sie ihre Tochter Susan hatte nennen wollen, wenn sie eine bekommen hätte. Sehnlichst gewünscht hatte sie sich eine zu dem Sohn, doch dieser Wunsch war ihr versagt geblieben.

»Susan«, sagte sie also ganz besonders innig, und da nickte das Mädchen. Es war für Jennifer wie ein Geschenk, und in diesem Augenblick wurde ein neuer Wunsch geboren, nämlich Susan zu behalten, wenn sich herausstellen sollte, dass sie keine Angehörigen hatte.

Mario meinte später, dass Susi ihm noch besser gefallen würde, und so wurde die kleine Fremde fortan Susi genannt. Dagegen hatte Jennifer auch nichts einzuwenden. Einen Namen hatte sie nun, und jetzt war auch die schlimmste Gefahr gebannt, denn Susi war etwas zutraulicher geworden.

*

Dr. Norden und seine Frau Fee erfuhren von Susi erst, als diese schon drei Tage auf der Insel weilte. Da es dort in letzter Zeit schon so manche Aufregung gegeben hatte, wollte Anne Cornelius ihnen diese Neuigkeit erst mitteilen, wenn Susi außer Lebensgefahr war. Da die Nordens aber wieder mal ein Wochenende auf der Insel verbringen wollten, sollten sie wenigstens vorbereitet sein.

Jennifer schrieb in ihrem Brief an ihren Sohn Patrick nichts über Susi, obgleich sie schon fest entschlossen war, das Mädchen zu sich zu nehmen. Allerdings hatte sie diese Absicht bisher auch ihrem Mann gegenüber nicht geäußert. Sie wusste genau, mit welchen Argumenten er kommen würde. Man wusste nichts, aber auch rein gar nichts über das, was sie in diese schreckliche Situation gebracht hatte, und den Namen hatte man ihr gegeben, ohne die leiseste Ahnung, wer sie wirklich sein könnte.

Jack Bellamy war ein nüchterner Geschäftsmann. Sein Gefühlsleben erstreckte sich nur auf seine Familie. Er war kein Freund von Geselligkeiten. Das leere Geschwätz, das auf solchen üblich war, war ihm ein Gräuel.

Immerhin protestierte er nicht dagegen, dass seine Frau sich so viel mit ihrem Schützling beschäftigte und das machte Jennifer dann doch Mut, einmal ganz vorsichtig von ihrem Plan zu sprechen.

Da Susi jetzt sehr viel schlief, bot sich wieder einmal Gelegenheit für eine längere Unterhaltung mit ihrem Mann.

»Nett von dir, dass du mich nicht ganz vergisst«, sagte Jack Bellamy hintergründig.

»Ich komme am besten mit Susi zurecht«, erwiderte Jennifer entschuldigend. Sie wollte ihren Mann bei guter Laune halten. »Man muss sich doch um dieses arme Geschöpf kümmern.«

»Ich wollte dir auch keinen Vorwurf machen, mein Liebes«, sagte Jack einsichtig. »Es ist eine schreckliche Geschichte, wenn so ein junger Mensch durch die Welt irrt, von niemandem vermisst, ohne Erinnerung an sein früheres Leben und ohne sich verständlich machen zu können. Willst du nicht mal versuchen, ob sie schreiben kann?«

Jennifer war überrascht, weil ihr diese Worte sagten, dass Jack sich auch mit dem Mädchen beschäftigte, viel mehr, als sie erwartet hatte.

»Bisher kann sie ja noch nicht einmal das Besteck halten«, sagte sie. »Dr. Cornelius meint auch, dass sie sich ziemlich lange auf Händen und Füßen fortbewegt haben muss.« Ihre Augen wurden feucht bei dieser Vorstellung. »Sie wird noch lange brauchen, bis sie diesen Schock überwunden hat.«

»Wie ich dich kenne, denkst du schon darüber nach, was mit ihr werden wird, wenn wir wieder heimkehren«, erklärte er ruhig.

»Wie gut du mich kennst, Jack«, sagte Jennifer zärtlich.

»Lange genug sind wir ja verheiratet«, brummte er. »Wenn du jedoch meinst, dass du sie mitnehmen könntest, sehe ich mich gezwungen, dich auf die damit verbundenen Schwierigkeiten aufmerksam zu machen, liebste Jennifer.«

»Du meinst Patrick?«

»Ach was, Patrick! Das Mädchen hat keinen Namen, keinen Pass. Wir müssen erst mal herausfinden, wie die Rechtslage ist. Aber ich werde Jellings schreiben. Man soll Interpol einschalten. Es ist ein Verbrechen geschehen, das geahndet werden muss.«

»Das ist noch nicht erwiesen, Jack. Vielleicht ist sie wirklich nur ausgerissen.«