Warum? - Philip Yancey - E-Book

Warum? E-Book

Philip Yancey

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Beschreibung

"Ich bin mir bewusst, dass kein Buch das Problem des Leids 'lösen' kann. Doch wenn Christen eine gute Nachricht zu verbreiten haben, eine Botschaft der Hoffnung oder des Trostes für eine verletzte Welt, dann muss sie hier ansetzen." Bestsellerautor Philip Yancey lässt das Thema Leid nicht los, und so wagt er es anhand vieler Geschichten, sich der große Frage nach dem "Warum??" zu stellen. Dabei warten seine differenzierten Einsichten und Beobachtungen weder mit billigen Antworten auf noch reden sie irgendetwas schön, um keine Zweifel an Gott aufkommen zu lassen. Und doch machen sie tatsächlich die größte Stärke des christlichen Glaubens plausibel: die Hoffnung auf Erlösung - weil dem Gott, der selbst gelitten hat, unser Leid nicht egal ist.

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Der SCM Verlag ist eine Gesellschaft der Stiftung Christliche Medien, einer gemeinnützigen Stiftung, die sich für die Förderung und Verbreitung christlicher Bücher, Zeitschriften, Filme und Musik einsetzt.

ISBN 978-3-417-22864-9 (E-Book)ISBN 978-3-417-26644-3 (Lieferbare Buchausgabe)

Datenkonvertierung E-Book: Beate Simson, Pfaffenhofen a. d. Roth

© der deutschen Ausgabe 2016 SCM-Verlag GmbH & Co. KG, 58452 Witten Internet: www.scm-brockhaus.de; E-Mail: [email protected]

Die Bibelverse wurden folgender Ausgabe entnommen: Neues Leben. Die Bibel, © Copyright der deutschen Ausgabe 2002 und 2006 by SCM-Verlag GmbH & Co. KG, 58452 Witten.

Des Weiteren wurden verwendet: Elberfelder Bibel 2006, © 2006 by SCM-Verlag GmbH & Co. KG · 58452 Witten. (ELB) Lutherbibel, revidierter Text 1984, durchgesehene Ausgabe in neuer Rechtschreibung 2006, © 1999 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart. (LUT)

Die amerikanische Originalausgabe erschien unter dem Titel THE QUESTION THAT NEVER GOES AWAY Copyright © 2014 by Philip Yancey published in agreement with the author, c/o Creative Trust Literary Group, Brentwood, TN, U.S.A.

Umschlaggestaltung: Jürgen Hetz, denksportler Grafikmanufaktur Satz: Christoph Möller, Hattingen

INHALT

Kapitel 1 – Wo ist Gott?

Die Frage, die immer wieder auftaucht

Gedämpfte Weihnachtsfreude

Kapitel 2 – »Ich will wissen, warum!«

Erdbeben und Flutwelle

Im Angesicht der Tragödie

Warum?

Unsere einzige Hoffnung

Ein anderer Schwerpunkt

»Halte Ausschau nach den Helfern«

Keinen Schaden anrichten

Kapitel 3 – Als Gott verschlief

»Warum diese Brutalität?«

Eine blinde und zahnlose Welt

Schrei nach Hilfe

In unser Viertel hinein

Strahlende Hoffnung

Erlöster Schmerz

Raum zum Wachsen

Kapitel 4 – Das Böse heilen

Eine Stadt in Trauer

In der Feuerwache

Starker Glaube

Wenn das Leben plötzlich endet

Zwei Probleme

Schwere Fragen

Tod, sei nicht stolz

Kapitel 5 – Drei harte Prüfungen

 

Über den Verfasser

Danksagung

Anmerkungen

Mein Herz erbebte, und dann kamst du, oh Gott!Daran erkannte ich, dass du auch in dem Kummer warst.

George Herbert, »Affliction (III)«

[ Zum Inhaltsverzeichnis ]

Kapitel 1  WO IST GOTT?

Kurz vor meinem ersten Geburtstag erkrankte mein Vater an Kinderlähmung. Vom Hals abwärts gelähmt, hing er bewegungslos an einer Herz-Lungen-Maschine, die ihn beim Atmen unterstützte. Meine Mutter nahm meinen dreijährigen Bruder und mich mehrere Male mit ins Krankenhaus und hielt uns vor dem Fenster zur Isolierstation hoch. Wenn mein Vater dann in den Spiegel schaute, konnte er einen Blick auf seine Söhne erhaschen, die er nicht mehr in den Arm nehmen, ja nicht einmal mehr berühren konnte.

Mein Vater hatte sich darauf vorbereitet, als Missionar nach Afrika zu gehen. Als er krank wurde, beteten mehrere Tausend Menschen um seine Heilung. Sie konnten nicht glauben, dass Gott einen so jungen und lebendigen Menschen mit einer wunderbaren Zukunft in der Missionsarbeit zu sich nehmen würde. Diejenigen, die ihm am nächsten standen, waren so überzeugt davon, dass Gott ihn heilen würde, dass sie – mit seiner Einwilligung – übereinkamen, einen Glaubensschritt zu wagen und ihn von der Herz-Lungen-Maschine zu nehmen. Innerhalb von zwei Wochen starb er. Ich wuchs ohne Vater auf, unter dieser dunklen Wolke eines nicht erhörten Gebets.

Als junger Journalist, etwa in dem Alter wie mein Vater zum Zeitpunkt seines Todes, begann ich Artikel für die Serie »Drama im Alltag« zu schreiben, die in den Reader’s Digest-Monatsheften erschien. Hier wurden Menschen vorgestellt, die eine Katastrophe oder einen Unfall überlebt hatten. Immer wieder hörte ich in Interviews mit den Betroffenen, dass »die Christen alles nur noch schlimmer gemacht« hatten, weil sie widersprüchliche und verwirrende Kommentare dazu abgaben. Gott will dich damit bestrafen. Nein, Satan ist schuld! Weder noch: Gott schickt dir das Leid, weil er dich liebt, nicht weil er dich bestrafen will, denn er hat dich auserwählt, deinen Glauben aller Welt zu zeigen. Nein, Gott will, dass du geheilt wirst!

Ich hatte keine Ahnung, was ich diesen Menschen sagen sollte, denn ich selbst war noch auf der Suche nach Antworten. Wenn ich vor so einer schwierigen Frage stehe, schreibe ich gern ein Buch darüber, weil der Schreibprozess mir die Gelegenheit bietet, Experten zu befragen, in Bibliotheken zu stöbern und in der Bibel nach Antworten zu suchen. So schrieb ich mit siebenundzwanzig mein erstes Buch: Schmerz. Hat Gott denn kein Mitleid?1

Obwohl ich seitdem über viele andere Themen geschrieben habe, ist diese Frage, die meine Kindheit überschattete und mein Schaffen als junger Schriftsteller beherrschte, niemals völlig aus meinem Leben verschwunden. Immer noch bekomme ich Zuschriften von Menschen, die vor Leid und Kummer am Boden zerstört sind. Vor einiger Zeit suchte ich alle Briefe von Menschen heraus, die sich mit dieser Frage beschäftigen – und das waren über eintausend. Als ich sie wieder durchlas, erinnerte mich das daran, dass der Schmerz das Leben vieler Menschen wie ein Hintergrundrauschen stört. Manch einer muss mit Krankheit oder chronischen Schmerzen leben oder allein gegen die Depression kämpfen. Andere leiden, weil es ihnen nahestehenden Menschen schlecht geht: Ein Ehepartner kämpft mit der Sucht, Kinder gehen einen Weg, der in die Selbstzerstörung führt, ein Elternteil leidet an Alzheimer. In manchen Teilen unserer Welt, in denen Armut und Ungerechtigkeit herrschen, müssen sich die Menschen jeden Tag unaussprechlichem Leid stellen.

Ein sechzehnjähriges Mädchen, das sich in der Schule mit kriminalistischer Fallanalyse beschäftigt hatte, formulierte eine der drängendsten Fragen:

Ich habe mich mit Mordfällen beschäftigt. Ich habe von den Opfern erfahren, ihren Familien und den unvorstellbaren Qualen, die sie durchgestanden haben. Ich spreche nicht von Märtyrern oder Missionaren, die wegen ihres Glaubens ihr Leben freiwillig aufs Spiel setzen, sondern von den nichts ahnenden Opfern wahnsinniger Verbrechen. Ich glaube an einen himmlischen Vater, der seine Kinder liebt und das Beste für uns im Sinn hat. Zwar glaube ich nicht, dass Gott es veranlasst, wenn Menschen Böses widerfährt, aber für mich ist es ein großes Problem, warum Gott hätte helfen können, aber nicht eingegriffen hat. Meine Frage lautet also: Wenn Gott diese Menschen und unschuldige Kinder nicht bewahrt hat, obwohl sie so sehr gequält wurden (und manche schrien zu Gott, dass er sie erretten möge), wie kann ich dann daran glauben, dass Gott mich beschützt? Ich möchte das glauben, aber ich fühle mich wie der Mann in der Bibel, der zu Jesus sagte: »Ich glaube … hilf meinem Unglauben.«

Die Frage, die immer wieder auftaucht

Ich kenne Schmerz und Leid aus persönlicher Erfahrung – Knochenbrüche, kleinere Operationen, einen lebensbedrohlichen Autounfall –, doch am meisten habe ich in dieser Hinsicht dadurch gelernt, dass ich anderen zuhöre. Als meine Frau als Krankenhausseelsorgerin arbeitete, erzählte sie beim Essen von Gesprächen mit Familien, die einen Todesfall verarbeiten mussten. Oft kamen uns die Tränen. Und als Journalist habe ich herzzerreißende Geschichten von vielen anderen gehört: Eltern, die um ihren homosexuellen Sohn trauern, der sich das Leben genommen hat, ein Pastor, der seine amyotrophe Lateralsklerose, eine ständige fortschreitende Krankheit, geduldig erträgt, chinesische Christen, die wieder verfolgt werden wie zu Zeiten der Kulturrevolution.

Weil ich mich immer wieder mit dem Thema Leid beschäftige, werde ich manchmal gebeten, Vorträge zu der Frage zu halten, die meinem ersten Buch den Titel gab: Schmerz. Hat Gott denn kein Mitleid? Wo ist Gott, wenn ich leide? Niemals werde ich den Tag vergessen, als ich mir die improvisierten Erinnerungsstätten ansah, die überall wie Wildblumen auf dem Campus der Virginia Tech emporschossen, und dann vor eintausend Studenten sprach, denen man die Trauer darüber ansah, dass sie dreiunddreißig Kommilitonen und Fakultätsangehörige verloren hatten. Oder eine auf unheimliche Art ähnliche Szene im darauffolgenden Jahr, als ich im indischen Mumbai einen Vortrag halten wollte, der thematisch nichts mit Leid zu tun hatte. Der Terrorangriff auf das Tadsch-Mahal-Hotel zwang uns, den Veranstaltungsort und das Thema zu wechseln – hin zu der Frage, die uns niemals aus dem Kopf geht.

2012 sprach ich vor drei verschiedenen Gruppen, die sich in einer schrecklichen Situation befanden. Einen Vortrag hielt ich nach einer Naturkatastrophe, den zweiten in einer vom Krieg verwüsteten Stadt, den dritten nicht weit von meinem Heimatort entfernt, und für mich war das der ergreifendste Termin.

Im März stand ich mehrmals vor Zuhörern aus der japanischen Region Tohoku, am ersten Jahrestag des Tsunamis, der das Land mit der Geschwindigkeit eines Passagierjets überrollt, Eisenbahngleise wie Streichhölzer zerknickt und Schiffe, Busse, Häuser und sogar Flugzeuge überall in der verwüsteten Landschaft umhergewirbelt hatte. Neunzehntausend Menschen waren ums Leben gekommen, ganze Dörfer ins Meer gespült, und nun dachten die säkular eingestellten, viel beschäftigten Menschen, die normalerweise keine Zeit hatten, um sich mit theologischen Fragen auseinanderzusetzen, über nichts anderes nach.

Im Oktober hielt ich in Sarajevo darüber einen Vortrag. Vier Jahre war sie belagert worden, länger als jede andere Stadt in der Geschichte des modernen Kriegs. In dieser Zeit gab es weder Heizmaterial noch Treibstoff noch Strom und kaum Wasser und Nahrung. Zehntausend Einwohner fielen den Scharfschützen und den Geschossen zum Opfer, die jeden Tag wie Hagel vom Himmel fielen. Ein Überlebender sagte mir: »Das Schlimmste ist, dass man sich an das Böse gewöhnt. Wenn wir vorher gewusst hätten, wie lange das dauern würde, hätten wir uns wahrscheinlich umgebracht. Mit der Zeit wird das einem egal. Man versucht einfach weiterzuleben.«

Als sich das Jahr 2012 seinem Ende zuneigte, sagte ich für die vielleicht schwerste Veranstaltung zu. Schwer nicht im Hinblick auf das Ausmaß des Leidens – denn wie könnte man Leid jemals messen? –, sondern weil Entsetzen und Trauer so intensiv waren. Am Wochenende nach Weihnachten stand ich vor den Einwohnern von Newtown im US-Bundesstaat Connecticut, einer Stadt, die immer noch ganz benommen wirkte, nachdem zwanzig Erstklässler sowie sechs Lehrkräfte und andere Mitarbeiter in einem sinnlosen Gemetzel ums Leben gekommen waren.

Ein Rettungswagenfahrer fing die Stimmung ein. »Im Rettungsdienst und bei der Feuerwehr arbeiten nur Ehrenamtliche«, erklärte er. »Ich habe schon viel Schreckliches gesehen, aber auf so etwas waren wir nicht vorbereitet – niemand ist das. Meine Frau unterrichtet an der Sandy Hook Elementary School. Sie kannte alle zwanzig Kinder mit Namen, und die Lehrkräfte natürlich auch. Sie stand drei Schritte hinter der Direktorin Dawn Hochsprung, als Dawn plötzlich schrie: ›Zurück, das ist ein Amokläufer!‹ Während der Schießerei versteckte sie sich und musste danach an den Leichen ihrer Kollegen vorbeigehen – und auch an den Leichen der Kinder …«

Er hielt einen Augenblick inne, weil ihm die Stimme versagte. Dann sprach er weiter. »Für jeden von uns kommt irgendwann der Zeitpunkt, an dem er um einen Menschen trauert – im schlimmsten Fall, wenn er ein Kind verloren hat. In meiner Rolle als Notfallhelfer sehe ich die Auswirkungen, vor allen Dingen nach einem Selbstmord. Man lebt mit der Trauer und dem Kummer, als ob man in einer Seifenblase wäre, und nur ganz allmählich kehrt man wieder in den Alltag zurück. Man geht wieder einkaufen. Man geht wieder arbeiten. Schließlich lasse ich mich immer mehr auf die Welt da draußen ein, und Trauer und Kummer verschwinden langsam. Newtown ist ein kleiner Ort. Wo immer wir hingehen, werden wir an das Geschehene erinnert. Wir gehen in den Supermarkt und sehen Gedenktafeln für die Opfer. Wir gehen die Straße hinunter, und an mancher Veranda ist ein Zeichen angebracht, wo eine Familie ein Kind verloren hat. Wir können dem nicht entkommen. Es ist, als hätte man eine Glasglocke über die Stadt gestülpt und den Sauerstoff herausgepumpt. Wir können vor Trauer nicht atmen.«

Clive Calver, ein langjähriger Freund aus England, hatte mich eingeladen, nach Newtown zu kommen. In den 70er-Jahren hatte er den britischen Zweig von Jugend für Christus geleitet, und ich arbeitete damals als Herausgeber des Jugend-für-Christus-Magazins Campus Life. Dann trennten sich unsere Wege. Er engagierte sich in der Katastrophenhilfe, ich machte mich als Schriftsteller selbstständig. Heute ist Clive Pastor einer blühenden Gemeinde mit dreieinhalbtausend Mitgliedern direkt außerhalb von Newtown. »Es ist, als hätte ich mich mein ganzes Leben auf diese Rolle vorbereitet«, sagte er, als er mich in der Woche vor Weihnachten anrief. »Bei World Relief habe ich ein Katastrophenhilfsteam geleitet, hinter dem 20 000 Menschen aus aller Welt standen. Sie alle stellen die Frage, über die du vor Jahren geschrieben hast: ›Wo ist Gott, wenn wir leiden?‹ Könntest du kommen und bei uns sprechen?«

Gedämpfte Weihnachtsfreude

Für mich glich das Weihnachtsfest 2012 keinem anderen. Weil mein Vater an einem 15. Dezember gestorben war, war die Weihnachtsfreude in meiner Kindheit immer gedämpft, und der Amoklauf am 14. Dezember warf für ein ganzes Land einen dunklen Schatten über die Feiertage. Es fühlte sich an wie ein Schlag in die Magengrube. Was war mit uns und unserem Land falsch gelaufen? Niemand konnte sich vorstellen, was einen jungen Mann aus einem guten Elternhaus dazu gebracht hatte, in eine Schule einzudringen und zwanzig schockierte Erstklässler umzubringen.

Ich sah mir die Nachrichten an und nahm die Zeitleisten unter die Lupe, in denen Minute für Minute vermerkt war, was in der Grundschule an diesem Tag passiert war. Im Internet sah ich mir das Profil jedes Kindes an, das ums Leben gekommen war, und erfuhr den Namen zu jedem Gesicht: Catherine mit dem feuerroten Haar, Daniel mit der Zahnlücke, Emilys leuchtend blaue Augen, Jesse mit dem schelmischen Lächeln. Ich las etwas über ihre Haustiere, ihre Hobbys, die Streiche, die sie ihren Geschwistern gespielt hatten, ihre Nahrungsmittelallergie und die Sportler, die sie mochten. Ihr Leben, das nach sechs oder sieben Jahren ein abruptes Ende fand, hatte Spuren hinterlassen.

Was ich an diesem Wochenende in Newtown hörte – die Geschichten, die Fragen, die hilflosen und wütenden Schreie –, rief mir ins Gedächtnis, was ich im Lauf der Jahre an anderen Reaktionen auf Leid gehört hatte. Warum geschehen solche schlimmen Dinge? Warum lässt Gott zu, dass das Böse sich Bahn brechen kann? Wie kann denn aus solchen Ereignissen noch etwas Gutes entstehen? Seit meinem ersten Buch beschäftigen mich diese Fragen immer wieder, und ich musste mich ihnen auch stellen, als ich zu den Menschen in Newtown sprach.

Als ich mich auf den Weg nach Connecticut machte, bot der Verleger die englische Originalversion meines Buchs Schmerz. Hat Gott denn kein Mitleid? zum kostenlosen Download an. Ich postete den Link auf Facebook und der Verleger gab eine Pressemeldung heraus, machte aber ansonsten keine Werbung dafür. Wir erwarteten, dass ein paar Hundert Menschen das Angebot wahrnehmen würden, vielleicht auch tausend. Wie wir später erfuhren, luden innerhalb weniger Tage über einhunderttausend Menschen das Buch herunter. Offenbar bewegt auch andere Menschen diese Frage. Und so entschloss ich mich, andere Projekte erst einmal aufzuschieben und mich noch einmal mit der Frage zu beschäftigen, der ich vor mehr als drei Jahrzehnten erstmals nachgegangen war.

In den Höhenlagen von Colorado zog sich der Winter beim Schreiben dieser Zeilen hin. Noch im April 2013 konnte ich durch mein Fenster eine Landschaft von wunderbarer Schönheit beobachten: immergrüne Bäume eingehüllt in frisch gefallenem Schnee im goldenen Licht der Morgensonne vor dem Hintergrund des meerblauen Himmels über Colorado. Und dann sah ich vor meinem inneren Auge die gepeinigten Gesichter in Japan, Sarajevo und Newtown.

Plötzlich kamen neue Gesichter hinzu. Am 15. April fand der Marathonlauf in Boston statt. Es hätte ein Tag der Freude und des Triumphs werden sollen, doch nicht weit von der Ziellinie ließen zwei Immigranten Bomben hochgehen. Der Lauf begann mit einem sechsundzwanzig Sekunden langen Schweigen, um der Opfer in Newtown zu gedenken, und endete nach diesem ernsten Grundton in einer entsetzlichen Tragödie. Die fünftgrößte Stadt des Landes wurde hermetisch abgeriegelt, während die Polizei nach den Terroristen fahndete, die drei Menschen umgebracht und Hunderte verwundet hatten. Zwei Tage darauf explodierte eine Düngerfabrik im texanischen West. Zehn Feuerwehrleute und fünf andere Menschen kamen ums Leben. Die Meldung schaffte es nicht in die Schlagzeilen, da immer noch intensiv nach den Tätern von Boston gefahndet wurde. Im späteren Verlauf dieser Woche wurde Sichuan (China) von einem Erdbeben erschüttert, das fast zweihundert Todesopfer forderte. Über 8000 Menschen erlitten Verletzungen. Die Frage nach dem Leid, die sich 2012 stellte, war auch 2013 noch aktuell.

Ich könnte in jedem beliebigen Jahr über diese Frage schreiben, denn wir leben auf einem zerbrechlichen Planeten, der von Krankheit, Flut, Dürre, Erdbeben, Feuer, Kriegen, Gewalt und Terrorismus entstellt wird. Ob von katastrophalen Ausmaßen oder in der Nachbarschaft, das Leiden lauert immer in der Nähe. Jeden Tag sehe ich auf der Website von Caring Bridge, dass wieder einer meiner Freunde im Krankenhaus künstlich beatmet wird, einen Schlaganfall erlitten hat oder gegen eine Krebserkrankung kämpft.

Ich bin mir bewusst, dass kein Buch das Problem des Leids »lösen« kann. Trotzdem habe ich das Gefühl, ich müsste das weitergeben, was ich im Land des Leids gelernt habe. Wenn Christen eine gute Nachricht zu verbreiten haben, eine Botschaft der Hoffnung oder des Trostes für eine verletzte Welt, dann muss sie hier ansetzen.

[ Zum Inhaltsverzeichnis ]

Kapitel 2  »ICH WILL WISSEN, WARUM!«

Bei meinem ersten Japanbesuch 1998 verliebte ich mich in dieses Land. Wenn das Flugzeug zum Gate rollt, verneigen sich die Gepäckträger und Reinigungskräfte zur Begrüßung. Im Hotel eilen Pagen herbei, um die Koffer aufs Zimmer zu bringen, und lehnen dann höflich jedes Trinkgeld ab. An der Tankstelle sind sofort weiß behandschuhte Tankwarte zur Stelle, viele von ihnen Frauen, die den Wagen betanken und Scheiben und Scheinwerfer putzen. Wie schaffen sie es nur, ihre Uniformen so makellos sauber zu halten? Bevor man weiterfährt, verbeugen sie sich und winken zum Abschied, als hätte man ihnen einen großen Gefallen getan, indem man ihnen erlaubte, mich zu bedienen. Bus- und Taxifahrer nutzen die knappen Minuten zwischen den einzelnen Fahrten, um die Stoßstangen zu polieren und die Sitze abzuwischen. Selbst in einer Stadt wie Tokio, in der es ständig Staus gibt, hört man nur wenige Fahrer hupen, und an Straßeneinmündungen fädelt man sich geduldig mit dem Reißverschlusssystem ein.

Drei Mal bin ich seither zurückgekehrt, weil mich mein japanischer Verleger eingeladen hatte. Der Markt für Bücher mit christlicher Thematik ist klein. Nur ein Prozent der Japaner bezeichnen sich als Christen, und in den meisten Gemeinden finden sich nur zwanzig oder dreißig Gottesdienstbesucher zusammen. Manchmal besucht jemand eine christliche Kirche, um sein Englisch aufzupolieren oder sich westliche Musik anzuhören, doch neue Mitglieder sind selten. Die Japaner respektieren das Christentum – einige der besten japanischen Romanschriftsteller haben offen über ihren Glauben geschrieben –, betrachten es jedoch als Import aus dem Westen. In ihrer modernen, von Technologie geprägten Gesellschaft überlebt Religion in der Hauptsache in Form von buddhistischen oder schintoistischen Schreinen, hat im Alltag jedoch kaum Bedeutung.

Wenn ich in einer Gemeinde oder einem Bürgerzentrum einen Vortag hielt, kamen wir vorher immer im Büro des Gastgebers zu einer Teezeremonie zusammen, naschten ein paar Süßigkeiten aus Bohnenpaste und tauschten Geschenke aus. Die Mitarbeiter gingen dann noch einmal das genaue Programm durch: Lied, drei Minuten und vierzig Sekunden; Ankündigung, zwei Minuten; Vortrag, siebenundzwanzig Minuten; Schluss, zwanzig Sekunden. Ich bin nicht sicher, ob das Japanische ein Wort für Spontaneität kennt.

Wenn ich über Japan nachdenke, fallen mir sofort zwei Wörter ein: Ordnung und Schönheit. Im Lauf der Jahrhunderte haben die Japaner eine im höchsten Grad ritualisierte Gesellschaft geschaffen. Sie verbeugen sich voreinander, um sich gegenseitig Respekt zu erweisen, und warten immer darauf, dass sich der Ältere zuerst wieder aufrichtet. Als Gast in diesem Land lernte man, eine Visitenkarte mit beiden Händen entgegenzunehmen und sie sich genau anzuschauen, um sein Interesse zu signalisieren. In der Öffentlichkeit zeigt man niemals die Schuhsohlen oder steckt die Hände in die Tasche. Wenn man ein Haus oder eine Kirche betritt, zieht man die Schuhe aus und Pantoffeln an, die der Gastgeber bereitstellt.

Der Gang zur Toilette ist mit einem anderen Ritual verbunden. Bevor man das Badezimmer betritt, zieht man die Hausschuhe aus und Toilettenschuhe an. Sie sind aus Plastik und mit Micky-Maus- oder Hello-Kitty-Motiven verziert. (Schon mehrmals habe ich die amüsante Geschichte gehört, dass ein ausländischer Professor vergaß, wieder in seine alten Schuhe zu schlüpfen, und im Talar und Doktorhut, aber noch in Toilettenschuhen, aufs Podest stieg.) Die Toilette selbst wirkt wie das Cockpit eines Verkehrsflugzeugs. Es gibt dort Hebel und Knöpfe, mit denen man die Toilettenbrille herausfährt, den Sitz beheizt, sich wäscht und trocknet, und andere Funktionen, die ich nicht gewagt habe auszuprobieren.

Diesen starren Regeln liegt jedoch zugrunde, dass man Schönheit zutiefst schätzt. Tee wird in feinen Porzellantassen serviert, niemals in Plastik- oder Styroporbechern. Die Menschen in der Stadt kleiden sich nach der neuesten Mode, und in manchen ländlichen Gegenden tragen die Frauen noch einen Kimono. Manche japanischen Hausfrauen nehmen sich jeden Morgen eine Stunde Zeit, um sogenannte Bento-Boxen vorzubereiten, in denen sie ihren Kindern das Mittagessen mit zur Schule geben. Meeresfrüchte, Reis, Fleisch und Gemüse werden so zu farbenfrohen Mustern kombiniert, dass sie Comicfiguren, Tiere oder berühmte Baudenkmäler ergeben. Wer ein eigenes Grundstück hat, findet immer Platz, um darauf zumindest einen winzigen Garten oder einen Goldfischteich anzulegen. Und bis heute bringe ich es nicht über mich, eine japanische Weihnachtskarte wegzuwerfen. Das sind kleine Kunstwerke mit Papierblumen oder -kimonos, die sich beim Aufklappen auffalten.

Bei meinem letzten Besuch in diesem exotischen und wunderschönen Land jedoch fand ich alles andere als Ordnung und Schönheit vor. An einem einzigen furchtbaren Tag riss der Tsunami alles mit sich, was die japanische Gesellschaft am meisten schätzt. Zurück blieben eine verwüstete Landschaft, Schlamm und ein Trauma.

Erdbeben und Flutwelle