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Effektive Strategien zum Umgang mit wütenden Menschen, Konfrontationen und Ärger Ob im Familienalltag zu Hause, am Arbeitsplatz, im Straßenverkehr oder online: Die tagtägliche Konfrontation mit wütenden Personen stellt eine enorme emotionale Belastung dar. Dieser Ratgeber hilft Leser:innen auf leicht zugängliche Weise dabei, mit solch explosiven Situationen umzugehen – vom Autofahrer an der Ampel, der einen anschreit, über den Teenager-Sohn, der regelmäßig wütend ist, bis zur Arbeitskollegin, die ständig aus der Haut fährt. Der Psychologe Dr. Ryan Martin erklärt humorvoll und anschaulich, wie Wut im Gehirn entsteht, was der Unterschied zwischen Wut und Aggression ist, aber auch wann Wut als Emotion verstanden und wann es als Charaktereigenschaft eines Menschen gesehen werden kann. Zudem bietet das Buch zehn praktische Schlüsselstrategien für den effektiven Umgang mit Wut an – angefangen damit Hintergründe zu verstehen, herauszufinden, wann man sich zurückziehen sollte, um Angriffe zu vermeiden, und wie man Wege findet, diejenigen zu erreichen, die sich schwertun oder sogar weigern, zu kommunizieren. Mit Fallstudien und Faktenkästen, persönlichen Erfahrungsberichten, Tipps und Übungen ist das Buch ein umfassender Guide für den effektiven Umgang mit wütenden Menschen.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 325
Veröffentlichungsjahr: 2024
Titel der Originalausgabe: How to Deal with Angry People
Erschienen in Großbritannien und den USA bei Watkins, einem Imprint von Watkins Media Limited
Copyright © 2023
Design und Typographie Copyright © Watkins Media Limited 2023
Text Copyright © Dr Ryan Martin 2023
Alle Rechte vorbehalten.
www.watkinspublishing.com
Deutsche Erstausgabe
Copyright © 2024 von dem Knesebeck GmbH & Co. Verlag KG, München
Ein Unternehmen der Média-Participations
Projektleitung: Ellen Venzmer, Anja Sommerfeld, Knesebeck Verlag
Übersetzung: Gerrit J. ten Bloemendal, Türkheim
Lektorat: Caroline Kazianka, Türkheim
Umschlaggestaltung und Layout: Favoritbüro, München
Satz und Herstellung: Arnold & Domnick, Leipzig
ISBN 978-3-95728-932-2
Alle Rechte vorbehalten, auch auszugsweise.
www.knesebeck-verlag.de
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Innentitel
Inhaltsverzeichnis
Informationen zum Buch
Informationen zum Autor
Impressum
Für meine großartigen KinderRhys und Tobin, die jeden Tagschöner machen.
Einleitung
TEIL EINS:Wütende Menschen verstehen
1 Eine wütende Persönlichkeit oder eine Person, die wütend ist?
2 Die Biologie wütender Menschen
3 Emotionale Erziehung
4 Die Ansteckungsgefahr von Wut
5 Das Weltbild wütender Menschen
TEIL ZWEI:Zehn Methoden, mit der Wut anderer umzugehen
6 Methode 1: Herausfinden, was Sie wirklich wollen
7 Methode 2: Ruhig und gefasst bleiben
8 Methode 3: Unterschiedliche Formen von Wut erkennen
9 Methode 4: Die Wut aus der Perspektive des anderen verstehen
10 Methode 5: Erkennen, ob Wut berechtigt ist
11 Methode 6: Mit Menschen umgehen, die Kommunikation verweigern
12 Methode 7: Richtig auf Wut im Internet reagieren
13 Methode 8: Angriffe auf den Charakter vermeiden
14 Methode 9: Sich im richtigen Moment zurückziehen
15 Methode 10: Alle Methoden kombinieren
Danksagung
Anmerkungen
Beratungsstellen
SICHERHEIT GEHT VOR
Der Versuch, besser mit wütenden Menschen umzugehen, bedeutet nicht, dass Sie physische und/oder psychische Gewalt tolerieren müssen. Niemand zwingt Sie, an einer Beziehung festzuhalten, die für Sie ungesund ist. Wenn Sie das Gefühl haben, in Gefahr zu sein, sollten Sie sich unbedingt in Sicherheit bringen.
Der Umgang mit wütenden Menschen
Ende des Jahres 2021 erhielt ich an einem Nachmittag einen unerwarteten Anruf, der mir zeigte, wie schwierig wütende Menschen im Alltag sein können. Die Anruferin stellte sich als Bibliothekarin vor und meinte, dass eine Freundin ihr von meiner Arbeit berichtet hätte. Und sie fragte mich, ob ich ihre Mitarbeiter im Umgang mit ungehaltenen Besuchern schulen könne.
»Können Sie mir etwas mehr über die Probleme erzählen?«, fragte ich.
»Manche unserer Besucher sind ausgesprochen schwierig«, erwiderte sie. »Unser Personal ist immer wieder mit wütenden, aggressiven Besuchern konfrontiert, und deshalb suchen wir nach Möglichkeiten, besser damit umzugehen.« Sie beschrieb mir einige Fälle, in denen ihr Team der Feindseligkeit der Büchereibesucher ausgesetzt gewesen war. Ihr Bestreben war es nun, Strategien für ihre Mitarbeiter an die Hand zu bekommen, die ihnen helfen könnten, die Anfeindungen nicht persönlich zu nehmen und in solchen Situationen deeskalierend einzuwirken.
In dem Moment wurde mir klar, dass es ein Problem gibt. Ich hatte schon zahlreiche Anfragen für Vorträge zu Themen wie aggressives Verhalten im Straßenverkehr, in Flugzeugen oder Streitereien in der Schule erhalten. Damals steckten wir noch mitten in der Corona-Krise, waren angewiesen, in öffentlichen Räumen Masken zu tragen und Abstand zu halten. All diese Regeln erregten viel Wut bei den Menschen, die gegen Masken waren und die Pandemie als überstanden erachteten. Es gab immer wieder Meldungen über Flugpassagiere, die angeschrien oder gar geschlagen* worden waren. Dies ereignete sich sogar so oft, dass Fluggesellschaften Maßnahmen ergriffen und schärfere Strafen androhten, um Wut- und Aggressionsausbrüche weitgehend zu unterbinden.
Doch irgendwie hatte ich den Eindruck, dass die Situation in der Bibliothek etwas anders gelagert war. Ich selbst habe mich noch nie über eine Bibliothekarin aufgeregt. Im Gegenteil, ich habe eigentlich nur gute Erfahrungen gemacht. An der Uni arbeite ich mit etlichen zusammen und einige gehören zu meinen besten Kollegen. Als meine Kinder noch klein waren, verbrachten wir manchmal ganze Wochenenden in der Bücherei, aber Probleme gab es dort nie. Ehrlich gesagt, sind die Bibliothekare, mit denen ich gearbeitet habe, auffallend nette und hilfsbereite Menschen, auch wenn das nach einer Verallgemeinerung klingen mag.
Als ich also den Anruf bekam, war mein erster Gedanke: Wie kann es sein, dass wir jetzt so weit sind, dass sogar Bibliothekarinnen angeschrien werden?** Da ich mich nie nur auf meine persönlichen Erfahrungen verlasse, beschloss ich nachzuforschen, ob ich mit meiner Meinung über die Mitarbeiter in einer Bibliothek alleine dastand. Schnell zeigte sich, dass das nicht der Fall war. Zumindest im Jahre 20131 ging eine überwältigende Mehrheit der US-Amerikaner offenbar gern in Büchereien: In einer Umfrage gaben 94 Prozent an, Büchereien als freundliche und angenehme Orte zu empfinden, während 91 Prozent meinten, »selbst noch nie schlechte Erfahrungen mit einer öffentlichen Bücherei gemacht zu haben«. Offen gesagt ist diese allgemeine Wertschätzung von Büchereien womöglich eines der wenigen Dinge, worüber sich die Amerikaner einig sind.
Aber wie passt das mit dem Anruf zusammen? Es lassen sich drei mögliche Erklärungen dafür finden:
1. Das Blatt hat sich seit 2013 gewendet und Büchereien sind zu einem Ort von Wut und Aggression geworden, weshalb auch Anfeindungen gegenüber Mitarbeitern deutlich zugenommen haben. Ich bezweifle, dass dies der Fall ist.
2. Die sechs Prozent der US-Amerikaner, die Büchereien nicht als freundlich und angenehm betrachten, verhalten sich dort wütend und aggressiv. Auch das stimmt meines Erachtens nicht.
3. Es gibt viele Menschen, die Büchereien zwar als freundliche und angenehme Orte empfinden, jedoch schnell die Fassung verlieren, wenn etwas nicht so läuft, wie sie sich das vorstellen. Ich bin mir ziemlich sicher, dass das zutrifft.
Seit diesem Anruf sind die Anfragen nach Schulungen zum Thema Umgang mit wütenden Menschen häufiger geworden. Nicht nur Dienstleister, sondern auch Menschen aus anderen Berufsgruppen berichten mir, dass sie von der Feindseligkeit ihrer Mitmenschen überfordert sind. Und es scheint tatsächlich so, als befänden wir uns derzeit in einer sehr aggressiven Zeit. Auch wenn es keinen internationalen Gradmesser für Wut gibt, deuten die vorliegenden Daten darauf hin, dass die Menschen zurzeit besonders wütend sind, zumindest in den USA. Die Zahl der Meldungen von Wutausbrüchen im Straßenverkehr, einschließlich Schießereien2, ist sehr hoch und viele Lehrer klagen über zunehmende Gewalt an Schulen3. Auch Dienstleister aus unterschiedlichsten Branchen erzählen von wütenden Kunden und Klientinnen. Alles in allem kochen die Emotionen derzeit ziemlich hoch, und Anzeichen dafür, dass sich die Gemüter bald beruhigen werden, gibt es keine.
In unserem Alltag gibt es, pauschal gesagt, zwei unterschiedliche Szenarien, wie und wann wir wütenden Menschen begegnen: Entweder handelt es sich, wie oben beschrieben, um eine einmalige Interaktion mit einem fremden Menschen, der sich wegen unserer Arbeit, unseres Fahrstils oder etwas anderem über uns aufregt, weil wir ihm beim Erreichen seiner Ziele im Weg sind oder er sich ungerecht oder schlecht behandelt fühlt. Dabei kann es sich um einen Kunden, eine Besucherin einer öffentlichen Veranstaltung oder die Person im Fahrzeug hinter uns handeln. Wir wissen nichts über diese Person, auch nicht, was sie an diesem Tag schon erlebt hat. Wir haben keine Ahnung, ob sie ständig wütend und feindselig ist oder heute nur zufällig einen schlechten Tag hat. Das Einzige, was wir wissen, ist, dass wir in diesem Moment ihre Wut abbekommen und sie nach dieser Begegnung vermutlich nie wieder sehen werden.
Der zweite Fall der Interaktion mit einem wütenden Menschen ist in der Regel deutlich komplizierter. Denn hierbei handelt es sich nicht um eine einmalige Begegnung, sondern um eine wütende Persönlichkeit, die wir regelmäßig sehen, vielleicht sogar täglich, wie etwa einen Vorgesetzten, eine Freundin, die Lebenspartnerin, ein Geschwister oder Elternteil oder sogar eines der eigenen Kinder. Das sind keine einmaligen Begegnungen, sondern regelmäßige Auseinandersetzungen. Und die Fähigkeit, mit diesen wütenden Menschen umzugehen, zu arbeiten und zu leben, ist entscheidend für unseren Erfolg und unser Glück.
Dieses Buch soll beim Umgang mit beiden Typen helfen. Diejenigen, die mit vielen wütenden Menschen zu tun haben – sei es aufgrund ihres Jobs (wie etwa Flugbegleiterin, Kellner, Bibliothekarin) oder aus einem anderen Grund –, werden wertvolle Hilfsmittel an die Hand bekommen, um diese einmaligen Interaktionen erfolgreich zu bewältigen. Und diejenigen, in deren Leben eine wütende Person existiert, wird dieses Buch dabei unterstützen, diese besser zu verstehen, mit ihr zu arbeiten und so mit ihr umzugehen, dass sie nicht selbst unter ihrem toxischen Charakter leiden.
GUT ZU WISSEN
Etwa ein Drittel aller Menschen gibt an, gute Freunde oder Familienmitglieder zu kennen, die Probleme mit Wut haben.4
Dieses Buch ist für alle Menschen, die Hilfe suchen, um die Herausforderungen, die das Leben mit einer wütenden Person oder mehreren wütenden Personen mit sich bringt, zu bewältigen. Hierzu zählt auch das Arbeitsleben, in dem man es regelmäßig mit wütenden Menschen zu tun haben kann. Hilfreich ist dieses Buch ebenso für Menschen, die ständig mit einer bestimmten Person konfrontiert sind, die ein Wutproblem hat, dazu zählen:
• der Liebespartner oder die Liebespartnerin, der oder die oft wütend wird und sich dann so verhält, dass Sie sich unwohl dabei fühlen,
• das eigene Kind, das ständig wütend wird,
• ein Elternteil oder gar beide Eltern, die oft ausrasten, verletzende Dinge sagen oder Sie zwingen, permanent auf der Hut zu sein,
• der Vorgesetzte oder eine Kollegin, die Sie schnell angreifen und bei der Arbeit verunsichern oder ängstigen,
• eine befreundete Person, deren Wut Ihr gutes Verhältnis zueinander erschwert.
Dieses Buch ist nicht für Menschen, die in einer toxischen Beziehung leben. Ebenso wenig für Personen, die regelmäßig von einer wütenden Person aus ihrem Umfeld physisch oder psychisch verletzt werden. Wer in einer toxischen Beziehung lebt – damit sind Verhaltensmuster gemeint, die von einem Partner benutzt werden, um Macht und Kontrolle über den jeweiligen Partner zu erhalten5 –, dem rate ich, dieses Buch wegzulegen und sich Hilfe zu holen, um sich aus dieser Beziehung zu lösen. In Deutschland, der Schweiz und Österreich gibt es spezielle Hotlines und Beratungsstellen, an die man sich wenden kann. Namen und Kontaktdaten finden Sie am Ende dieses Buches.
An dieser Stelle möchte ich auf eine sehr wichtige Unterscheidung hinweisen, die nicht jedem bewusst ist. Es gibt nämlich einen Unterschied zwischen Wut und Aggression. Wut ist ein Gefühlszustand, eine Emotion, die dadurch ausgelöst wird, dass man sich ungerecht behandelt fühlt oder meint, im Erreichen eigener Ziele behindert zu werden. Diese Emotion tritt häufig auf, die meisten Menschen geben an, mehrmals täglich oder wöchentlich wütend zu sein.6 Das unterscheidet sich jedoch von den verletzenden Handlungen, die manchmal in Verbindung mit Wut auftreten. Denn dabei handelt es sich um Aggression, also ein Verhalten, bei dem jemand eine andere Person verbal oder physisch verletzt.
Dieser Unterschied ist von großer Bedeutung, vor allem im Kontext dieses Buches. Die Welt ist zwar voller wütender Menschen, doch das bedeutet nicht, dass alle auch aggressiv sind. Wut kann auf nahezu unbegrenzte Weise zum Ausdruck gebracht werden, aber körperliche Gewalt kommt dabei relativ selten vor. Viel häufiger ist, dass Menschen nach einem eigenen Wutausbruch Angst bekommen oder traurig sind. Sie geraten dann leicht in verbale Auseinandersetzungen, beschädigen das Eigentum anderer, verhalten sich im Straßenverkehr gefährlich oder nehmen Alkohol, Drogen oder andere Suchtmittel zu sich. Auch wenn die wütenden Menschen, mit denen Sie es zu tun haben, Ihnen oder anderen gegenüber nicht gewalttätig werden, macht das den Umgang mit ihnen nicht einfacher. Sie können Ihr Leben dennoch so negativ beeinflussen, dass Sie sich erschöpft, überfordert, ängstlich oder sogar selbst wütend fühlen.
Als Psychologieprofessor forsche ich bereits seit über 20 Jahren zum Thema Wut und zu anderen Gefühlsregungen. Ich habe gesunde und ungesunde Formen von Wut untersucht, Vorlesungen über Wut und weitere Gefühlszustände gehalten und zu Beginn meiner beruflichen Laufbahn im Rahmen klinischer Studien mit wütenden Menschen gearbeitet. Im Rahmen meiner Forschungsarbeit und mithilfe der sozialen Medien habe ich mich sowohl mit wütenden Menschen als auch mit jenen, die mit ihnen zusammenleben oder -arbeiten, auseinandergesetzt, um ihr Verhalten und ihre Erfahrungen besser verstehen zu können.
Der Auslöser dafür, dieses Buch zu schreiben, war eine Reihe mit dem Titel »How To Deal With Angry People« (Der Umgang mit wütenden Menschen), die ich für TikTok gemacht hatte. Die Resonanz darauf war riesig und ich bekam das Gefühl, dass es einen großen Informationsbedarf zu diesem Thema gibt. Ich erhielt Tausende Reaktionen und Fragen, und sowohl die Medienplattform Buzzfeed7 als auch die Website Bored Panda8 berichteten darüber. Aus den Reaktionen und Fragen war deutlich herauszulesen, dass viele Menschen, die mit Wut konfrontiert wurden, sich überfordert und unsicher fühlten. Sie stellten Fragen wie: Wie kann ich mich zurückziehen, wenn der andere mich nicht in Ruhe lässt? Was soll ich tun, wenn sich eine wütende Person der Kommunikation entzieht? Was ist, wenn die Wut zwar anderen gilt, ich aber damit konfrontiert bin?
Diese und weitere ähnliche Fragen fand ich so interessant, klug und differenziert, dass sie als Grundlage für dieses Buch dienten. Sie halfen mir, die Situationen, in die Menschen geraten, besser zu verstehen. Außerdem zwangen sie mich, darüber nachzudenken, wie ich Menschen bei der Bewältigung dieser emotional komplizierten Interaktionen und Beziehungsdynamiken unterstützen kann.
Der Austausch in den sozialen Medien hat auch gezeigt, dass sehr viele Personen mit wütenden Menschen arbeiten, zusammenleben oder anderweitig mit ihnen zu tun haben. Laut der British Association of Anger Management (Britische Organisation für Aggressionsbewältigung) hat etwa ein Drittel aller Menschen eine befreundete Person oder einen Angehörigen mit einem Wutproblem. Da diese Zahl Arbeitskollegen, Kunden und Menschen, denen wir auf der Straße begegnen, nicht miteinschließt, ist sie nur als Spitze des Eisberges anzusehen. Wut scheint sich immer weiter auszubreiten, und daher nimmt, auch wenn man selbst keine wütende Persönlichkeit ist, die Wahrscheinlichkeit stetig zu, mit einer wütenden Person konfrontiert zu werden.
Bevor ich anfing, dieses Buch zu schreiben, habe ich mit zahlreichen Menschen Gespräche geführt, die sich selbst als wütend beschrieben und/ oder mir erzählten, dass es eine solche Person in ihrem Leben gibt. Auffällig war, dass das Leben jener Menschen, die der letzten Gruppe angehörten, so stark mit der wütenden Person verknüpft war, dass sich diese Verbindung nicht leicht oder gar nicht kappen ließ. Entweder war die wütende Person ein Vorgesetzter, ein Elternteil, die Lebenspartnerin, ein ehemaliger Partner und gleichzeitig Elternteil eines gemeinsamen Kindes oder gar ein eigenes Kind. Es ging also um eine Person, die eine gewisse Machtposition innehatte (Vorgesetzter, Elternteil), oder um jemanden, zu dem eine starke Verbindung bestand (Lebenspartner, Geschwister). Und die Menschen, mit denen ich sprach, sahen keinen Weg, die Beziehung zu dieser wütenden Person zu beenden. Sie fühlten sich in der Situation gefangen und wussten nicht, wie sie damit umgehen sollten.
Zu Beginn dieses Buches möchte ich Ihnen noch fünf Leitsätze mit auf den Weg geben. Sie sind meines Erachtens wichtig, um wütende Menschen zu verstehen und möglichst viel Nutzen aus diesem Buch zu ziehen.
Wir hören es nicht gern, aber in manchen Fällen ist die Wut, die einem entgegengebracht wird, durchaus gerechtfertigt. Schließlich sind wir alle nur Menschen und Menschen machen nun mal Fehler. Wir tun – absichtlich oder unabsichtlich – Dinge, die anderen Probleme bereiten. Vielleicht stehen wir ihren Zielen im Weg, sie fühlen sich ungerecht behandelt oder halten unser Verhalten sogar für respektlos. Wut ist nicht von Haus aus schlecht. Im Gegenteil, sie ist sogar gesund und wichtig. Denn sie zeigt uns, dass uns Unrecht angetan wurde, und gibt uns Kraft, mit dieser Ungerechtigkeit umzugehen. Die Wut, die jemand uns gegenüber empfindet, kann also eine nachvollziehbare und gesunde Reaktion auf unser Verhalten sein.
Das bedeutet allerdings nicht, dass diese Wut auf uns grundsätzlich gerechtfertigt ist. Wut kann sehr unterschiedlich zum Ausdruck gebracht werden, und manchmal erfolgt dies auf gemeine und ungerechte Weise. Es kann sein, dass wir uns falsch verhalten haben und jemand deshalb zu Recht wütend auf uns ist, die Art, wie derjenige dann aber reagiert, völlig inakzeptabel ist. Diese Dynamik und diese Unterscheidung müssen wir erkennen, wenn wir gut mit wütenden Menschen umgehen wollen. Wir müssen bereit und in der Lage sein, ehrlich zu sein, die Situation zu durchschauen und Vorwürfe auszuhalten. Zu akzeptieren, dass man einen Fehler gemacht hat und womöglich eine Teilschuld trägt, erfordert emotionale Anstrengung. Erst wenn wir diese Bereitschaft haben, kann sich Erfolg einstellen.
TIPP
Denken Sie daran, dass Sie nicht in einer toxischen Beziehung mit einer wütenden Person bleiben müssen, die ungesund oder gefährlich für Sie ist.
Auf diesen Aspekt werde ich im ersten Kapitel dieses Buches noch ausführlich eingehen. An dieser Stelle reicht es zu wissen, dass Wut sowohl ein Gefühl als auch eine Eigenschaft sein kann. Jeder Mensch kann Wut als Gefühl empfinden und in einer bestimmten Situation wütend werden.
Das ist eine völlig normale und gesunde emotionale Reaktion, ähnlich wie Trauer, Angst oder Glück. Allerdings gibt es Menschen, die häufiger wütend werden als andere. Wird jemand aber öfter wütend als normal oder spürt diese Wut intensiver als andere, betrachten wir die Person als eine wütende Persönlichkeit. Dann ist Wut eher eine Eigenschaft als ein Gefühl. Wut ist dann Teil der Persönlichkeit.
Diese Unterscheidung findet sich auch bei anderen Emotionen. Es gibt Menschen, die ziemlich ängstlich sind, die stärker Angst und Besorgnis empfinden als die meisten anderen Menschen. Das heißt aber nicht, dass sie sich ständig fürchten. Genauso wenig bedeutet das, dass eher furchtlose Menschen sich niemals fürchten. Auch sie sind ab und an unruhig, schreckhaft und ängstlich. Trauer, Glück, Stolz, Neugierde sind ebenso sowohl Gefühle als auch Eigenschaften.
Die Wut anderer Menschen findet nicht in einem emotionalen Vakuum statt. Ist jemand auf Sie wütend, werden Sie darauf ebenfalls mit Gefühlen reagieren, vielleicht sogar mit Wut (Wie kommt sie dazu, mich so zu behandeln?). Oder Sie bekommen Angst, weil Sie sich in Gedanken mögliche Bedrohungen und Angriffe ausmalen. Vielleicht reagieren Sie aber auch verlegen, beschämt oder defensiv, wenn Sie über Ihren Anteil an der Wut des anderen nachdenken.
Mehr als einige andere Gefühle kann Wut als soziale Emotion angesehen werden. Da sie in der Regel im zwischenmenschlichen Bereich auftritt, treffen in jeder Wut-Situation natürlich immer mehrere Gefühlswelten aufeinander. Eine solche Dynamik ist sehr komplex, und die Bewältigung einer solchen Erfahrung erfordert ein hohes Maß an Einsicht und Verständnis in die emotionalen Zusammenhänge. Wir müssen nicht nur unsere eigenen Gefühle verstehen und steuern, sondern gleichzeitig auch die des anderen.
Aus verschiedenen Gründen werden wütende Menschen oft als schlechte Menschen angesehen. Anders als Traurigkeit oder Angst wird Wut als kontrollierbare Emotion betrachtet. Daher weisen wir Menschen, die schnell wütend werden, Schuld an ihrem Zustand zu, was wir bei Menschen, die mit Depression oder Angst zu kämpfen haben, nicht tun würden. Hinzu kommt, dass wütende Menschen andere mit physischer oder verbaler Aggression verletzen können. Daher ist das Bild, das wir von ihnen haben, eher negativ. Oft werden sie als rücksichtslos, egoistisch, unsensibel und gemein erachtet.
Ich möchte diese Sichtweise etwas korrigieren. Denn Wut kann unterschiedlichste Ursachen haben und nicht immer sind Gemeinheit oder Respektlosigkeit damit verbunden. Gibt es wütende Menschen, die im Kern ihres Wesens narzisstisch oder asozial sind? Ja. Gibt es wütende Menschen, deren Wut in dem festen Glauben verwurzelt ist, dass sie besser sind als andere, und die keine Reue kennen? Natürlich. Solche Menschen existieren in der Tat und ihre Wut kann außerordentlich toxisch und potenziell gefährlich sein.
Bei anderen rührt die Wut jedoch woanders her. Sie kann mit Schmerz, Angst oder gar den Sorgen um die Welt um sie herum verbunden sein*. Es gibt zum Beispiel Menschen mit einem so stark ausgeprägten Gerechtigkeitssinn, dass jede Form von Ungerechtigkeit sie aufbringt. Sie empfinden die Welt als zutiefst ungerecht und sind deshalb die meiste Zeit ihres Lebens wütend. Schon die kleinste Ungerechtigkeit genügt, um die Wutspirale in Gang zu setzen – und das nicht, weil andere ihnen nichts bedeuten, sondern weil ihnen im Gegenteil viel an Menschen liegt und sie deshalb manches nicht ertragen, was sie sehen.
Da Sie dieses Buch lesen, möchte ich Sie bitten, etwas zu tun, was durchaus herausfordernd sein kann. Versuchen Sie, mit Mitgefühl und Verständnis auf jene Menschen in Ihrem Leben zu blicken, die schnell wütend werden. Bemühen Sie sich, die Welt mit deren Augen zu sehen und ihre Lebensgeschichte zu berücksichtigen. Das bedeutet aber nicht, dass Sie ihre Feindseligkeit dulden oder ihren Missbrauch tolerieren sollten. Mitnichten. Niemals würde ich jemandem nahelegen, eine missbräuchliche, feindselige oder gefährliche Situation beizubehalten. Mir geht es nur darum, die Welt aus der Perspektive wütender Menschen zu betrachten und sich Gedanken darüber zu machen, was sie vielleicht durchgemacht haben.
TIPP
Therapeutische Angebote können helfen, wenn es Ihnen nicht gelingt, sich von einer wütenden Person zu lösen.
Wichtig ist zu erkennen, wenn wütende Menschen einem nicht guttun. Diese Menschen sind nicht notwendigerweise schlecht, aber die Präsenz in Ihrem Leben erweist sich als ungesund für Sie. Aus den Gesprächen mit Betroffenen und den Beiträgen in den sozialen Medien lässt sich ableiten, dass das Leben mit wütenden Menschen, vor allem mit jenen, deren Wut sich in Aggression entlädt, sehr anstrengend sein und die psychische Gesundheit erheblich beeinträchtigen kann. Viele erzählten, dass sie nicht nur jede Menge Zeit damit verbringen, ihre eigenen Gefühle zu kontrollieren, sondern auch jene der wütenden Person. Sie fühlen sich nie ganz wohl und können nicht sie selbst sein, weil sie ständig damit beschäftigt sind zu verhindern, dass es zu einem neuerlichen Wutausbruch kommt.
Betrachten Sie dieses Buch bitte nicht als Anleitung dafür, wie Sie Missbrauch tolerieren können. Das Letzte, was ich möchte, ist, dass jemand glaubt, feindseliges und aggressives Verhalten ertragen zu müssen. In einer perfekten Welt würden wütende Menschen an ihren Gefühlen arbeiten, sodass andere dies nicht tun müssen. Sie könnten mit ihrer Wut gut umgehen und würden andere nett behandeln. Mein letztes Buch, Why We Get Mad: How to Use Your Anger for Positive Change (Warum wir ausrasten: Wie man seine Wut für eine positive Veränderung nutzen kann), war darauf ausgelegt, wütenden Menschen zu helfen, dies zu schaffen. Das Problem dabei ist nur, dass nicht jede wütende Person weniger wütend sein möchte. Die Wut hat schließlich eine für sie positive Funktion. Manchmal fühlt sich jemand sogar in seiner Wut bestärkt, sodass er eine Veränderung dieser Wut als schädlich für sich selbst ansehen würde. Wieder andere wütende Menschen möchten sich gern verändern, doch diese Veränderung macht ihnen Angst und ist schwierig. Sie erkennen zwar, dass sie anderen Menschen mit ihrer Wut schaden, und möchten das ändern, haben aber noch keinen Erfolg damit gehabt.*
Wenn sich die wütende Person in Ihrem Leben für Sie besonders toxisch anfühlt und Sie keine andere Lösung sehen, ist es vollkommen in Ordnung, die Beziehung zu beenden. Auch wenn es für die wütende Person schwer sein kann, dies zu akzeptieren, gibt es nun mal keine Vorschrift, die besagt, dass man andere in seinem Leben behalten muss. Wenn der Kontakt mit bestimmten Menschen Ihnen nicht guttut, sollten Sie ihn auf ein Minimum reduzieren oder abbrechen.
Teil eins des Buches befasst sich damit, wütende Menschen zu verstehen. Dabei geht es um das Herausarbeiten von Persönlichkeitstypen, um Biologie, emotionale Entwicklung, emotionale Ansteckung und Denkmuster. All dies sind meines Erachtens wichtige Elemente für die Entwicklung von Empathie und Verständnis, die beide notwendig, aber nicht ausreichend sind für den Umgang mit wütenden Menschen. Obwohl ich in diesem Teil tiefer auf die Erfahrungen wütender Menschen eingehe, enthält jedes Kapitel auch einige nützliche Tipps und endet mit einer Übung, die Ihnen dabei hilft, die wütenden Menschen in Ihrem Leben besser zu verstehen.
In Teil zwei gebe ich Ihnen zehn Methoden für den Umgang mit wütenden Menschen an die Hand:
1. Wie finden Sie heraus, was Sie wirklich wollen?
2. Wie bleiben Sie ruhig und gefasst?
3. Wie erkennen Sie unterschiedliche Formen von Wut?
4. Wie verstehen Sie die Wut aus der Perspektive des anderen?
5. Wie erkennen Sie, ob die Wut berechtigt ist?
6. Wie gehen Sie mit Menschen um, die die Kommunikation verweigern?
7. Wie reagieren Sie richtig auf Wut im Internet?
8. Wie vermeiden Sie Angriffe auf den Charakter?
9. Wann ist es angebracht, sich zurückzuziehen?
10. Wie lassen sich diese Maßnahmen kombinieren?
Verteilt im Buch finden Sie neben Beispielen aus dem Leben von Betroffenen, mit denen ich Gespräche geführt habe, auch aktuelle Forschungsergebnisse, die Ihnen helfen sollen, emotional belastende Momente zu bewältigen.
Noch wichtiger: Dieses Buch soll Ihnen zeigen, wie Sie mit wütenden Menschen produktiv und effektiv interagieren können. Für einen erfolgreichen Umgang mit der Wut und Feindseligkeit anderer braucht es mehr als nur bestimmte Werkzeuge. Die sind natürlich wichtig, Sie sollten sie besitzen und anwenden können. Darüber hinaus müssen Sie aber auch gesunde Ziele vor Augen haben und selbst dann in der Lage sein, daran festzuhalten, wenn es gerade nicht gut läuft. Dieses Buch hilft Ihnen dabei, Ihre Ziele im Blick zu behalten und zu einem ruhigen und selbstbewussten Umgang mit der Wut anderer zu gelangen.
* Dies war in den vergangenen zwei Jahren des Öfteren vorgekommen. In einem Fall erlitt eine Passagierin einen Nasenbruch, nachdem ihr ein anderer Passagier zweimal ins Gesicht geschlagen hatte. In einem weiteren Fall wurde ein Flugbegleiter verprügelt und verlor dabei einige Zähne.
** Nach dem Telefonat sprach ich mit einer befreundeten Bibliothekarin über dieses Thema. Auch sie gab an, dass sie wie viele andere Dienstleister gelegentlich mit wütenden Kunden zu tun hatte. Und sie fügte hinzu, dass sie den Eindruck der Kollegin, dass die Anfeindungen insgesamt zugenommen hätten, bestätigen könne.
* Manchmal sind Menschen überrascht zu hören, dass ich mich selbst zu dieser Gruppe zähle. Ich bin häufig wegen unterschiedlichster sozialer Themen wütend, äußere dies aber nicht auf feindselige oder aggressive Art.
* Mehrere Menschen haben mir erzählt, dass sie die Lektüre meines letzten Buches genau aus diesem Grund als sehr herausfordernd empfanden. Sie fingen zwar an zu begreifen, wie sehr sie sich selbst und auch anderen mit ihrem Verhalten schadeten, doch ebendiese Erkenntnis fanden sie auch sehr beängstigend.
Eine wütende Persönlichkeit oder eine Person, die wütend ist?
Zum einen kann Wut ein Gefühlszustand, eine Emotion sein, die wir alle schon mal erlebt haben. In diesem Fall lässt sich Wut beschreiben als psychische Reaktion darauf, ungerecht oder schlecht behandelt oder in seinen Bestrebungen blockiert worden zu sein. Dann ist Wut das emotionale Bedürfnis, die Person, die Ihnen Unrecht getan hat, oder die Sache, die Ihnen im Weg steht, anzugreifen. Wie jede andere Emotion ist auch Wut mit bestimmten Gedanken, psychologischen Erfahrungen und Verhaltensweisen verbunden.
Wut kann aber auch als Persönlichkeitseigenschaft oder Wesenszug betrachtet werden. Dann lässt sich Wut als ein ziemlich beständiges Muster aus wütenden Gefühlen, Gedanken und Verhaltensweisen beschreiben. Jemand mit einer wütenden Persönlichkeit wird öfter wütend als andere Menschen. Nicht weil er häufiger mit Auslösern konfrontiert wird, sondern weil er gewisse Dinge als provozierender empfindet als andere Menschen. Wie jede Eigenschaft ist auch diese nicht immer zu sehen. Genauso wie ängstliche Personen nicht ständig ängstlich oder unruhig sind, geraten wütende Menschen nicht andauernd außer sich.
Ich sprach mit einer Frau namens Izzy*, die ich in den sozialen Medien kennengelernt hatte. Sie hatte auf einen Beitrag reagiert, in dem ich wütende Menschen oder Menschen, die Erfahrungen mit einer wütenden Person hatten, dazu aufrief, sich bei mir zu melden.
In meinem kurzen Gespräch mit ihr erwies sie sich als eine sehr achtsame Person, die ihre Emotionen und auch die von Menschen in ihrer Umgebung verstand. Sie hatte sich mit Psychologie befasst, was ihr Verständnis großteils erklärte. Aber abgesehen von dem Wissen, das sie sich angeeignet hatte, war sie von Haus aus eine Frau, die viel über sich und ihre Gefühle nachdachte und sich Gedanken darüber machte, warum Menschen – sie selbst eingeschlossen – sich so fühlen, wie sie sich fühlen, und das tun, was sie tun.
Izzy wuchs mit einem wütenden Vater auf. Sie beschrieb ihn als jemanden, der »wahrscheinlich sein ganzes Leben mit Wut zu kämpfen hatte«. Bevor wir zu diesem Punkt kamen, sprachen wir aber erst darüber, wie er war, wenn er nicht wütend war. Denn bei ihrem Vater gab es einen großen Unterschied zwischen dem Zustand, in dem er sich die meiste Zeit befand, und dem, wenn er ausrastete. »Wenn er keinen Wutausbruch hatte, war er im Allgemeinen eine angenehme Person«, erzählte Izzy. »Er war charismatisch und unterhielt sich gern mit Menschen. Er konnte sehr liebevoll sein.«
Doch gleichzeitig sagte sie: »Wenn er wütend wurde, verlor er die emotionale Kontrolle und ging verbal auf andere los. Dann sagte er Dinge, die nicht zu dem Charakter zu passen schienen, den er zeigte, wenn er nicht wütend war.« Er sprach dann Dinge aus, die richtig verletzend waren. Oder, wie sie hinzufügte: »Er wusste genau, womit er einen in einer bestimmten Situation verletzen konnte«, und das verwendete er gegen Menschen. Als sie zum Beispiel einmal nicht seiner Meinung war und er daraufhin wütend wurde, meinte er: »Du bist wirklich eine schwierige Person. Ich habe jetzt schon Mitleid mit dem, der dich mal heiraten wird.«
In ihrer Kindheit dachte sie, dass sie der Grund für seine Wutausbrüche war. Denn jedes Mal, wenn sie etwas tat, was ihm nicht gefiel, rastete er komplett aus. Heute weiß sie, dass »seine Wut daher rührte, dass er nicht in der Lage war, seine Gefühle, die ihn überwältigten, zu steuern«. Ihrer Ansicht nach war er schnell unruhig, gestresst und enttäuscht, und in solchen Situationen fiel es ihm schwer, seine Gefühle zu beherrschen. »Wenn er die Kontrolle über etwas verlor, wurde er leicht wütend.«
Seine Wut richtete sich in der Regel gegen Menschen, die er gut kannte, zum Beispiel die eigene Familie. Bei Kollegen oder Fremden zeigte er sie normalerweise nicht. Allerdings neigte er auch zu Wutausbrüchen im Straßenverkehr. »Insgesamt regte er sich weniger schnell über einen Fremden auf als über jemanden aus der Familie.« Laut Izzy rührte dies daher, dass er sich im Kreis der Familie sicher fühlte und daher weniger Scheu hatte, Gefühle zum Ausdruck zu bringen. Die Ausnahme der Wutausbrüche im Straßenverkehr ist ein guter Beleg dafür, dass das Gefühl von Sicherheit eine bedeutende Rolle spielt. Denn das Auto ist ein relativ sicherer Ort, um wütend zu werden, da andere Fahrer in der Regel nichts davon mitbekommen.
Es scheint, dass seine Wut einem Gefühl der Unsicherheit entsprang. Dies lässt sich auch daran erkennen, wie er auf seinem Standpunkt beharrte. Wenn er wütend war, war es unmöglich, seine Meinung zu ändern, sagte Izzy. Nach den Wutausbrüchen wurde nie darüber geredet, was genau der Auslöser gewesen war. Trotzdem sagte sie: »Ich glaube, anschließend fühlte er sich schlecht. Vielleicht sah er nicht ein, dass er im Unrecht war, aber er erkannte schon, dass seine Reaktion völlig überzogen gewesen war.« Er hatte sich auch selten dafür entschuldigt, nur ein paar Mal in ihrem Leben hatte Izzy ihn sagen hören, dass es ihm leidtut. Stattdessen tat er so, als wäre nichts passiert, und kaufte ihr dann etwas als eine Art Entschuldigung (zum Beispiel Süßigkeiten oder etwas, das sie sich gewünscht hatte). Sie betrachtete dies als Strategien zur Konfliktvermeidung.
Eines der Dinge, die sie mir erzählte, war wirklich interessant und zeigt, wie wichtig Unsicherheit in diesem Zusammenhang ist. So neigte ihr Vater bei Konflikten zwischen ihnen dazu, ihr Gedanken zu unterstellen. Er sagte dann so etwas wie: »Du denkst, dass ich ein schrecklicher Mensch bin oder dass ich dumm bin.« Das alles dachte sie gar nicht, aber seine Annahmen verstärkten seine Unsicherheit und Abwehrhaltung noch mehr.
Izzy erzählte viel darüber, wie all das ihr Leben beeinflusste. Sie beschrieb, wie sich die Muster, die sie mit ihrem Vater erlebt hatte, auf spätere Beziehungen auswirkten. »Wenn er wirklich wütend war, konnte ihn nichts mehr umstimmen«, sagte sie. »Wenn ich nicht seiner Meinung war, etwas nicht wollte oder versuchte zu erklären, dass er mich verletzte, drang ich nicht mehr zu ihm durch.« Also stellte sie die Versuche ein, weil es keinen Sinn machte. Als Erwachsene bemerkte sie, dass sie selbst sehr wütend werden konnte, wenn Menschen etwas taten, das ihr nicht gefiel, weil sie annahm, dass sie sowieso nichts dagegen ausrichten konnte. So hat die Wut ihres Vaters sie gelehrt, sich in Beziehungen hilflos zu fühlen.
Für Izzy gab es noch andere Langzeitfolgen, insbesondere im Zusammenhang mit Beziehungen. So erzählte sie, wie schwer ihre emotionale Verletzlichkeit für sie war. Schließlich hatte sie von ihrem Vater gelernt, dass Gefühle manipulativ sind. Wenn sie weinte, beschuldigte er sie, manipulativ zu sein, da sie ihn damit als den Bösen darstellte. Heute glaubt sie, dass er sich schämte und versuchte, diese Scham zu verdrängen, indem er sie beschuldigte. Gleichzeitig fürchtet sie sich davor zu weinen, weil sie Angst hat, die Leute könnten denken, dass sie lügt oder versucht, sie zu manipulieren. Darüber hinaus hat ihr Vater seine Wut dazu missbraucht, Menschen um sich herum zu kontrollieren, und so möchte sie nicht sein. Oft hat sie das Gefühl, dass sie die Emotionen anderer Menschen auf eine Art und Weise steuert, die sich für sie ein wenig wie »Bemutterung« anfühlt. Letztlich hat viel davon seinen Ursprung darin, dass sie große Wut als beängstigend empfindet. »Ich habe immer noch kein gesundes Verhältnis zur Wut«, sagte sie.
Izzy erzählte mir, dass ihr Vater mit zunehmendem Alter etwas milder geworden ist. Ob dies eine normale Entwicklung ist oder eher mit der Veränderung ihrer Beziehung zusammenhängt, lässt sich schwer sagen. Wenn Menschen älter werden, sind sie oft auch etwas entspannter, da es für sie wichtiger wird, positive Gefühle zu erleben. Nachdem Izzy von zu Hause ausgezogen war, veränderte sich die Beziehung zu ihrem Vater ziemlich stark. Da sie sich natürlich weniger häufig sahen, spielte seine Wut auch keine so große Rolle mehr in ihrer Beziehung. Sie glaubt aber auch, dass er mit zunehmendem Alter »bewusster« mit seiner Wut umgegangen ist und sich dadurch seine Emotionen verändert haben.
Das Beispiel von Izzys Vater zeigt wieder sehr deutlich, dass Wut zweierlei sein kann. So konnte er, obwohl er oft liebevoll war, wütend werden und »vollkommen die Beherrschung« verlieren, wie sie es beschrieben hat. Wie viele andere Menschen auch konnte ihr Vater in einer solchen Situation verletzend werden. Ich habe bereits erwähnt, dass diese Form von Wut mit bestimmten Gedanken, psychologischen Erfahrungen und Verhaltensweisen verbunden ist. Wenn wir zum Beispiel ausrasten, geht dies oft unwillkürlich mit Schuldzuweisungen, Verurteilungen und Rachegedanken einher. Wie kann er es wagen?, Das hätte sie besser nicht tun sollen oder Das zahle ich ihnen heim sind Gedanken, wie sie während eines Wutausbruchs aufkommen können.
Darüber hinaus verletzen Menschen andere oft auch physisch oder verbal, wenn sie wütend werden. Rachegedanken können zu entsprechenden Handlungen führen. Wie Izzys Vater schreien oder sagen Menschen verletzende Dinge. Sie schubsen, schlagen oder greifen die Menschen irgendwie an, von denen sie sich ungerecht behandelt fühlen. Auch wenn sie sich nicht wirklich aggressiv verhalten, würden sie es aber vielleicht gern tun. Psychologen nennen dies Handlungsneigungen oder Handlungstendenzen. Damit ist gemeint, dass jemand, weil er die Fähigkeit zur Impulskontrolle hat, im Rahmen einer Gefühlsreaktion zwar etwas machen möchte, sich aber rechtzeitig bremst und die Wut in eine andere Bahn lenkt.
Wut geht mit einer Reihe von physiologischen Reaktionen einher. So setzt Wut die Kampf-oder-Flucht-Reaktion in Gang, die uns darauf vorbereitet, der Ungerechtigkeit zu begegnen oder gegen die Blockade eigener Ziele vorzugehen. Der Puls erhöht sich, die Atmung wird tiefer, die Muskeln spannen sich an und das Verdauungssystem verlangsamt sich. Diese faszinierenden und komplexen Reaktionen sind in unserer Evolutionsgeschichte verwurzelt. Denn sie boten unseren Vorfahren, menschlichen und nicht menschlichen, einen Überlebensvorteil. Wut ermöglichte eine kraftvollere Reaktion und vergrößerte so die Wahrscheinlichkeit, feindliche Auseinandersetzungen zu überleben.
Sicher können auch Sie sich an einen Vorfall erinnern, der bei Ihnen Ärger oder Wut ausgelöst hat. Vielleicht war es die kleine Unannehmlichkeit im Supermarkt, die Sie aufgehalten hat. Oder eine größere Ungerechtigkeit hat bei Ihnen ein Gefühl von Respekt- oder Hilflosigkeit ausgelöst. Was es auch immer war, Ihre Wutreaktion war nicht nur normal, sondern wahrscheinlich auch gesund.
Die Wut, die wir empfinden, wenn wir ungerecht behandelt oder aufgehalten werden, versetzt uns in Alarmbereitschaft und versorgt uns mit Kraft, um darauf zu reagieren.
TIPP
Es gibt eine Möglichkeit zu beurteilen, ob Ihre Wut gesund ist. Achten Sie auf die Folgen. Schadet Ihre Wut Ihren Beziehungen, führt sie zu Auseinandersetzungen oder Streit oder hat sie andere negative Folgen?
Doch auch wenn unsere Wut oft gut für uns ist, kann sie Probleme verursachen. Gehen wir nicht richtig mit Wut um, werden zu oft wütend oder regen uns über die falschen Dinge oder zur falschen Zeit auf, kann das unser Leben empfindlich beeinträchtigen. Ein emotional gesunder Mensch hat gelernt, gut mit Wut umzugehen.
Es bleibt festzuhalten, dass manche Menschen öfter wütend werden als andere, ihre Wut aggressiver oder feindseliger zum Ausdruck bringen und aus dem Grund öfter mit negativen Folgen zu kämpfen haben. In diesem Fall geht es um Menschen mit einer wütenden Persönlichkeit.
GUT ZU WISSEN
Fast ein Drittel aller befragten Menschen gab an, ein Wutproblem zu haben.9
Wenn Psychologen über diese Dynamik sprechen – bei der eine Emotion sowohl ein Gefühl als auch ein Persönlichkeitsmerkmal ist –, reden wir von der State-Trait-Theorie. Wut als Gefühl ist ein Zustand. Wut als Persönlichkeitsmerkmal ist eine Eigenschaft. Eine Persönlichkeitseigenschaft kann als eine relativ konsequente Art, sich zu verhalten, zu denken und zu fühlen, definiert werden. Wer eine Person als sympathisch beschreibt, meint, dass diese anderen Menschen in der Regel freundlich begegnet und eine angenehme Gesellschaft ist. Wer jemanden als arrogant bezeichnet, drückt damit aus, dass diese Person sich meistens selbst für extrem wichtig hält. In beiden Fällen können sich die jeweiligen Menschen aber auch anders verhalten. So kann eine sympathische Person durchaus einmal gemein sein oder der Arrogante Verletzlichkeit zeigen. Eine Persönlichkeitseigenschaft bedeutet nicht, dass man sich immer so benimmt, aber doch die meiste Zeit.
Begründet wurde die State-Trait-Theorie von Dr. Gordon Allport. Er zählte zu den Ersten, die sich mit Persönlichkeitseigenschaften befassten und dazu Theorien entwickelten. In einer seiner ersten Publikationen10, die er mit seinem Bruder* verfasste, beschreibt er einige Haupteigenschaften, die Persönlichkeit ausmachen, wie etwa Intelligenz, Temperament (einschließlich Emotionalität), Ausdrucksstärke und Kontaktfreude. 1936 lieferten Allport und Henry Odbert11 eine detailliertere Definition von Persönlichkeit und bezeichneten Persönlichkeitseigenschaften als generalisierte und individuelle Handlungstendenzen**. Als Beispiele nannten sie aggressive, introvertierte und gesellige Tendenzen. Um den Unterschied zwischen Zustand und Eigenschaft zu verdeutlichen, stellten sie fest, dass alle Menschen manchmal ängstlich seien, manche aber an einer Angstneurose litten. Diese Menschen seien immer wieder und besonders ängstlich.
Ersetzt man das Wort »Angst« hier durch »Wut«, erhält man im Grunde die Beschreibung dessen, worum es hier geht. Jeder Mensch ist mal wütend, aber nur manche Menschen haben sehr oft starke, unangemessene Wutausbrüche. Sie sind regelmäßig und für sie charakteristisch wütend.
196112 veröffentlichte Allport das Buch Pattern and Growth in Personality (Gestalt und Wachstum in der Persönlichkeit)***, das von vielen als sein bedeutendstes Werk auf dem Gebiet der Persönlichkeitseigenschaften angesehen wird. Im Grunde ist es eine Überarbeitung seines gleichnamigen Buches von 1937, allerdings eine ziemlich umfassende (was auch in Anbetracht der Tatsache, wie alt die Originalausgabe bereits war und wie sehr sich das psychologische Fachwissen seitdem verändert hatte, sinnvoll war). In dem überarbeiteten Werk erklärt er, dass jede Persönlichkeit wesentli