Warum wir ohne Hunger essen - Maria Sanchez - E-Book

Warum wir ohne Hunger essen E-Book

Maria Sanchez

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Beschreibung

"Es gibt keinen inneren Schweinehund in uns, den wir bekämpfen müssen, sondern innere Spannungen, die unsere Aufmerksamkeit brauchen, unsere Achtung und unseren Respekt" (Zitat: Maria Sanchez). Sie haben schon öfter versucht abzunehmen? Und Sie kennen diesen Drang, der Sie trotz allem immer wieder zum Essen zieht, der früher oder später alle Abnehmerfolge zunichtemacht? Der Sie runterzieht und manchmal verzweifeln lässt? Maria Sanchez kennt dies aus eigener Erfahrung. Sie hat einen Weg aus diesem kraftraubenden Teufelskreis gefunden und daraus einen erfolgreichen Therapieansatz entwickelt, den sie "Sehnsucht und Hunger" nennt. Das Ungewöhnliche an ihrer Herangehensweise ist: Sie lehnt Diäten ab – alle reglementierenden Maßnahmen wie Ernährungspläne oder Sportprogramme erklärt sie für ungeeignet als Ausstieg aus dem Essproblem. Stattdessen widmet sie sich den psychologischen Ursachen, die das natürliche Wechselspiel von Hunger und Sattsein außer Kraft setzen. Aus den Zuschriften zu ihrer Radiosendung "Durch dick und dünn mit Maria Sanchez" hat die Autorin die interessantesten für dieses Buch ausgewählt. Ihre erhellenden und manchmal verblüffenden Antworten geben viele Denkanstöße und Lösungsvorschläge. Maria Sanchez ist Heilpraktikerin für Psychotherapie mit eigener Praxis in Hamburg, sie leitet Seminare und hält Vorträge zum Thema Sehnsucht und Hunger . "Ein Wegweiser zur Selbsthilfe. Ein Buch, das da beginnt, wo andere aufhören" (Zitat: kfp-Pressedienst).

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WARUM WIR OHNE HUNGER ESSEN

Maria Sanchez

WARUM WIR OHNE HUNGER ESSEN

Die wahren Gründefür Essdrang und Übergewicht

Die in diesem E-Book enthaltenen Informationen und Ratschläge wurden von der Autorin sorgfältig recherchiert und geprüft. Eine Garantie kann dennoch nicht übernommen werden. Die Informationen und Ratschläge sind außerdem nicht dazu gedacht, die Beratung durch einen Arzt oder Therapeuten zu ersetzen, sofern eine solche angezeigt ist. Eine Haftung der Autorin oder des Verlags ist ausgeschlossen.

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Die Texte und Abbildungen in diesem E-Book sind urheberrechtlich geschützt. Kein Teil dieses Buchs darf ohne schriftliche Genehmigung durch den Verlag reproduziert oder in irgendeiner Weise weiterverwendet werden.

E-Book-Ausgabe

2016 Krummwisch bei Kiel

© 2016 by Königsfurt-Urania Verlag GmbH

D-24796 Krummwisch

www.koenigsfurt-urania.com

Umschlaggestaltung: Roland Huwendiek, Agentur Mitte, Berlin

unter Verwendung eines Fotos von Yamada Taro (Herz)/gettyimages, Hintergrund : Thinkstock

Lektorat: Marcus Reckewitz, Bonn/Berlin

Satz und Layout: Christiane Daniels, Satz · Zeichen · Buch, Atelier für Buchproduktion, Hamburg

ISBN 978-3-86826-340-4

Inhalt

EMOTIONALES ESSEN – WAS IST DAS?

SIE SIND KEIN EINZELFALL

Es gibt einen Weg

Sehnsucht und Hunger – mein eigener Weg

Emotionales Essen als Notausgang

Die Kraft unserer Sehnsucht

Sie mag zwei Seiten haben, aber es bleibt doch immer dieselbe Münze

EIN NEUER ANSATZ: NICHT DAS ERGEBNIS LEITET UNS, SONDERN DER PROZESS!

Wenn Essen nicht mehr nur satt machen soll

Auf zu neuen Ufern

Flucht ist keine Alternative

Ohne den inneren Körper geht nichts

Eine Reise in das Innere unseres Selbst

Abkürzungen bringen nichts

Es braucht einen anderen Weg!

Zwei Arten von Zukunft

WARUM WIR MEHR ESSEN, ALS UNSER KÖRPER BRAUCHT

Wann komme ich endlich an?

Die tiefe innere Demokratie

Mein Problem ist die Schokolade

Das verletzte innere Kind in uns

Wenn jemand, den wir lieben, unter einem Essproblem leidet

Die Entscheidung für den Weg muss von innen heraus kommen

Wenn schon keine Umarmung, dann doch wenigstens Kuchen!

Den Schmerz vermeiden wollen, hilft nicht

Ich weiß, warum ich esse, aber ich kann es dennoch nicht lassen

In der ursprünglichen Situation präsent sein

Wenn der eigene Antrieb fehlt

Den Kontakt zu unserer Urkraft finden

Der Kampf hört einfach nicht auf

Die Gefahr der Suchtverlagerung

Essen aus Protest

Den versteckten Widerstand entdecken

Ich esse, um mir weh zu tun

Eine Folge von Gewalt: Das Täterintrojekt

Ich muss mich täglich wiegen

Kontrollzwang als Ablenkung vom eigentlichen Problem

Welche Verbindung besteht zwischen einem Trauma und emotionalem Essen?

Trauma als Wurzel psychischer Störungen

Gibt es eine Verbindung zwischen Depressionen und emotionalem Essen?

Ein besonderes Trauma – das Entwicklungstrauma

In Gesellschaft esse ich immer zu viel

Die Aufmerksamkeit auch auf sich selber lenken

Meine Tochter ist zu dick

Die eigenen Vorstellungen auf den Prüfstand stellen

Erst wenn ich mich übergeben habe, fühle ich mich frei

Bulimie hat zwei Seiten

Selbstfürsorge oder Egoismus?

Die eigenen Bedürfnisse ernst nehmen – „Nein“ sagen können

Ich hasse Sport

Bewegung hilft nur, wenn wir einen selbstbestimmten Weg finden

Wie schaffen die anderen das, ihr Leben im Griff zu haben?

Probleme sind keine Störfelder, sie sind eine Chance

Mein Mann verlässt mich, wenn ich nicht abnehme

Die unbewusste Macht-Ohnmacht-Dynamik

Unsere Tochter träumt zu viel!

Tagträume als Selbsthilfemaßnahme

SCHLUSSWORT

© Urs Küster

Maria Sanchez wurde 1968 im spanischen Málaga geboren und kam im Alter von fünf Jahren nach Hamburg. Dort lebt und arbeitet sie als Heilpraktikerin für Psychotherapie in eigener Praxis. Sie ist Gründerin von Sehnsucht und Hunger und hat mit diesem Konzept einen alltagstauglichen Weg für den Ausstieg aus der Essstörung gefunden. Sie hält Vorträge und gibt Seminare in Deutschland, Österreich und der Schweiz.

EMOTIONALES ESSEN – WAS IST DAS?

Kernthema dieses Buches ist ein weit verbreitetes Phänomen: das sogenannte emotionale Essen. Dieser Begriff umschreibt die Situation, dass viele Menschen essen, ohne körperlich hungrig zu sein, und darunter leiden. Bei manch einem ist dies beim allabendlichen Griff zu den Süßigkeiten der Fall. Bei anderen, wenn sie eine Mahlzeit hungrig beginnen, diese aber – trotz deutlicher körperlicher Sättigungssignale – erst bei einem unangenehmen Völlegefühl stoppen können.

Diese Form von Hungerempfinden und Nahrungsaufnahme ist nicht biologisch bedingt, sondern hat mit Emotionen zu tun. Deshalb spricht man in diesen Fällen von emotionalem Essen. Die Gründe für die zugrundeliegenden Emotionen schlummern in den Tiefen unserer individuellen Biografie.

Diese Emotionen und ihre Ursachen freizulegen und zu bearbeiten ist ein notwendiger Schlüssel zu einem geänderten Essverhalten.

Sie sind kein Einzelfall

Liebe Leserin, lieber Leser,

warum nehmen Sie dieses Buch zur Hand? Möglicherweise sind Sie mit Ihrem Körpergewicht unzufrieden. Eventuell leiden Sie sogar darunter, sind unglücklich und fragen sich, wie Sie eine Veränderung herbeiführen können. Sie haben schon zahlreiche Diäten hinter sich und sich vielleicht mit Verzicht und anstrengenden Sportprogrammen gequält. Aber, wenn überhaupt, hat alles nur kurzfristig geholfen.

Dabei haben Sie diese Sehnsucht in sich, schlanker zu sein. Die Sehnsucht, Ihre Situation zu verändern und dem Kreislauf aus Übergewicht, Diäten und erneuter Gewichtszunahme entfliehen zu können.

Wir wissen ganz genau, dass es vernünftiger wäre, nur zu essen, wenn wir ein wirkliches Hungergefühl verspüren. Aber das ist leichter gesagt als getan. So viele Menschen werden immer wieder von Essanfällen überfallen, obwohl sie sich seit Jahren davon zu befreien versuchen. In solchen Fällen kann es durchaus hilfreich sein, sich diese Essattacken einmal genauer anzuschauen: Als Sie das letzte Mal einen Essanfall hatten, wie haben Sie sich danach gefühlt? Fühlten Sie sich schuldig, klein, kraftlos, wütend oder verzweifelt? Kein Mensch wiederholt freiwillig eine Handlung, die ihn seelisch schmerzt oder ihm womöglich sogar gesundheitlich schadet. Niemand entscheidet sich freiwillig in einem kraftraubenden Teufelskreis aus übermäßigem Essen und Leiden zu verharren. Aber in dem Moment, in dem Sie ohne hungrig zu sein zum Essen greifen, geht es nicht um eine Freiwilligkeit. Es geht um einen Zwang. Könnten Sie anders handeln, würden Sie es tun.

Aber auch wenn Essanfälle Sie übermannen, sind Sie kein hoffnungsloser Fall! Auch wenn Sie sich schon zig-mal selbst ermahnt haben, „Iss die Kekse nicht! Du weißt doch, dass Du es bereuen wirst!“, sie letztlich aber doch gegessen haben, ist mit Ihnen nichts verkehrt! Vernünftige Argumente oder Zurechtweisungen können ein zwanghaftes Verhalten nicht verhindern.

Wenn Sie den ewigen Kreislauf von guten Vorsätzen und dem Brechen dieser Vorsätze, von Verurteilung, Selbsthass und Scham oft erlebt haben, haben Sie sich bestimmt schon häufig gefragt: Kann ich wirklich von emotionalem Essen frei sein? Die Antwort lautet: Ja, das können Sie! Ist es leicht? Nein, das ist es nicht! Denn bei der Lösung eines Essproblems geht es nicht um das Einhalten oder Erlernen von Disziplin. Dass Sie diszipliniert sein können, erfahren und beweisen Sie vermutlich täglich in verschiedenen Bereichen Ihres Lebens – beispielsweise bei Ihrer Arbeit oder bei der Fürsorge gegenüber Ihren Kindern. Um aus dem übermäßigen Essen auszusteigen, braucht es etwas, das uns Menschen sehr viel schwerer fällt als bloße Disziplin. Nämlich Liebe, Interesse und Respekt für uns selbst. Das sagt sich leicht. Ist es aber ganz und gar nicht. Viele nicht befriedete Ereignisse in unserer Biografie stehen dem im Augenblick noch diametral entgegen. Die Art, wie Sie sich selbst vor, während und nach einem Essanfall behandeln, ist ein Gradmesser dafür, inwieweit Sie sich in schwierigen Momenten mit Wertschätzung begegnen können. Aber auch wenn Ihnen dies bisher noch schwer fallen sollte: So muss es nicht bleiben!

Es gibt einen Weg

Der Weg, den ich in diesem Buch vorstellen möchte, wird Sie an die inneren Orte geleiten, die bisher noch verhindern, dass Sie sich selbst mit Hochachtung begegnen können. Sie werden auf Situationen und Erlebnisse stoßen, die in Ihnen bisher noch verschüttet liegen. Sie werden erfahren, warum Sie noch nicht vom Essen lassen können und anhand von Beispielen tiefergehende Alternativen erfahren. Es werden vielleicht Bilder und Erinnerungen auftauchen, die erlebte Ängste und Schmerzen, Verluste oder Verzichte aufzeigen. Wir haben nicht mit dem emotionalen Essen begonnen, weil es uns gut ging. Deshalb gehören – neben vielen beglückenden – auch schwierige innere Landschaften zu diesem Weg dazu. Aber: Wenn Sie den Mut fassen, dabeizubleiben, entwickeln Sie auf diesem Pfad den stärksten Motor für Veränderung, den wir Menschen besitzen: Mitgefühl für sich selbst. Es gibt nichts, was uns reichhaltiger nähren und innerlich mehr befrieden kann, als dieser tiefe Kontakt zu uns selbst. Mein therapeutischer Ansatz von „Sehnsucht und Hunger“ hat genau diese Ausrichtung. Anhand meiner eigenen Leidensgeschichte habe ich ihn entwickelt und durch die jahrelange Erfahrung mit Klienten erweitert und verfeinert. Ich hoffe, dass Ihnen die Berichte in diesem Buch eine Ermutigung sein können, diesen Motor in sich finden zu wollen. Denn erst wenn unsere Sehnsucht größer ist als unsere Angst, machen wir uns auf den Weg.

Sehnsucht und Hunger – mein eigener Weg

Bis zu meinem fünften Lebensjahr war ich schlank. Dann begann ich zuzunehmen. Obwohl ich nie ein außergewöhnlich dickes Kind war, war mein Gewicht oft ein Streitthema in der Familie. Diese für mich mit viel Scham besetzten Diskussionen taten sehr weh. Ich hasste mich dafür, dass ich so viel aß. Das Schlimmste war für mich das Ausgeliefertsein und die vermeintliche Ausweglosigkeit. Denn der Feind, mein zwanghafter Drang, essen zu müssen, lebte in mir. Hätte er sich außerhalb von mir befunden, hätte ich vor ihm weglaufen können. Aber er war Teil meiner selbst. Auch in Phasen, in denen ich mich mithilfe von viel Disziplin für längere Zeit schlank hielt, lauerte er stets im Hintergrund. Er war immer präsent, als stetige Gefahr. Mithilfe von Verzicht und Disziplin erreichte ich bestenfalls eine innere Waffenruhe. Aber ein Boden für einen tragfähigen Frieden existierte auf meiner damaligen inneren Landkarte nicht. Die Essensbombe tickte die ganze Zeit in mir – bereit, jederzeit zu explodieren. Wenn sie hochging, fühlte es sich an wie eine innere Welle. Manchmal war die Welle klein, dann konnte ich sie mithilfe meines Essens-Kontroll-Korsetts schnell bannen und manchmal war sie wie ein Tsunami, der mich in einem Essensmeer untergehen ließ.

In diesen Phasen aß ich Unmengen und fand keinen Halt, um dem Essdruck etwas entgegensetzen zu können. Dafür schämte ich mich sehr. Die damit einhergehenden verurteilenden und teils beleidigenden Attacken gegen mich selbst, wie „Du fettes Schwein!“ oder „Du wirst es niemals schaffen!“ waren quälend. In jenen Phasen wollte ich mich nur noch verstecken. So erfand ich Ausreden und Lügen, um nicht zu Verabredungen gehen zu müssen. Da ich so zwar vor anderen, aber nicht vor mir selbst flüchten konnte, hatte ich damals nur eine Möglichkeit, meinem Selbsthass und meiner Verzweiflung zu begegnen: Essen. So kam es zu den seltsamen Situationen, dass ich Essanfälle hatte, weil ich gerade Essanfälle hatte.

Ließ der übermäßige Zwang, essen zu müssen, so weit nach, dass ich eine Reglementierungsboje ergreifen konnte, brachte ich mich mit deren Hilfe aus dem Essensmeer wieder an das „schlankere Land“. So ging es viele Jahre. Erst später, als ich begann, nicht mehr gegen mich selbst in den Krieg zu ziehen, sondern stattdessen mein diesem Verhalten zugrundeliegendes Problem zu erforschen, wurde mir klar, dass eine „Aufgabe“ meines Kampfes mit den Nahrungsmitteln darin bestand, mich von einer ganz anderen inneren Bühne abzulenken: meiner unaushaltbaren familiären Situation. Meine Kindheit war von Gewalt begleitet. Mithilfe meines Essverhaltens konnte ich eine Art „Problemverlagerung“ vollziehen. Das geschah natürlich nicht bewusst. Die Fixierung auf das Essen gab mir die Illusion, meine Situation beeinflussen und kontrollieren zu können. So ohnmächtig ich mich der Gewalt ausgeliefert fühlte, so stark kämpfte ich in Bezug auf mein Gewicht um eine Handlungsmacht. In der Beschäftigung mit dem Essen, hatte ich die Möglichkeit, Einfluss nehmen zu können. Für mich ging es nicht nur darum, ob ich schlank war, für mich ging es darum, ob ich mein Leben im Griff hatte. Wenn ich zugenommen hatte und Personen in meinem Umfeld dies als nicht so schlimm ansahen, verstand ich ihre Reaktion nicht. Für mich war es eine gefühlte Katastrophe.

Durch den Kampf mit meinem emotionalen Essen konnte ich unbewusst die unaushaltbaren Empfindungen meiner familiären Situation ein Stück weit in den Hintergrund verbannen. Ich war besessen davon, schlank zu sein. Mit aller Kraft kämpfte ich darum, dass das Essensmonster in mir nicht vollständig durchbrechen konnte und ich die Kontrolle nicht komplett verlor. Dies gelang mir bis Anfang 20. Nachdem ich bei einer Radikaldiät wieder mal viel abgenommen hatte, nahm ich anschließend durch eine Stoffwechselerkrankung in wenigen Wochen 22 Kilo zu. Ich konnte zusehen, wie der Zeiger auf der Waage täglich weiter nach oben ging. Diese unaufhaltsame Gewichtszunahme war für mich ein Desaster. So kam das, was kommen musste: Ich brach zusammen. Nachdem ich all die Jahre auf einem inneren Gefühlsvulkan gesessen hatte, brach dieser nun aus. Hatte ich auch in den Jahren davor durch meine traumatischen Erlebnisse bereits mit psychischen Problemen zu kämpfen, befand ich mich nun in freiem Fall. Ich war sehr depressiv, hatte starke Angstzustände und kämpfte eine Zeitlang damit, mir nicht das Leben zu nehmen.

Aber dieser Zusammenbruch, der sich wie eine sehr dunkle innere Nacht anfühlte, war im Nachhinein betrachtet meine Rettung. Das Gefühl, nicht mehr weiter zu können, raubte mir jede Kraft, meinen bisherigen Weg der Härte und Unerbittlichkeit mir selbst gegenüber weitergehen zu können. In dieser Zeit zog ich das erste Mal ein Resümee. Mir wurde klar, dass ich mich in der Vergangenheit, unabhängig davon, ob ich dicker oder dünner war, ständig in einem nicht enden wollenden Krieg mit mir selbst befunden hatte. Und diese Erkenntnis brachte eine starke Emotion mit sich. Sie führte dazu, dass ich das erste Mal etwas für mich empfand, was mir bis dahin fremd war: Mitgefühl für mich selbst.

In der folgenden Rückschau weinte ich viel. Nicht über etwas, das ich nicht erreicht oder geschafft hatte. Sondern das erste Mal in meinem Leben weinte ich wirklich um mich. Diese Tränen, so weh sie auch taten, hatten etwas Versöhnliches. Ich spürte, dass sie begannen, mich von den Krusten der Vergangenheit zu reinigen. Denn ich erlebte dieses Weinen nicht als etwas, das mich im alten Schmerz versumpfen ließ – was ich bis dahin kannte und deshalb zu vermeiden suchte –, sondern als etwas, das mich näher zu mir selbst brachte. Es machte mich sanfter und gab mir ein zärtliches Gefühl für mich selbst.

Was heute so einfach klingt, hat mir damals viel Angst eingeflößt. Aber es gab keine Alternative. Denn es ging mir sehr schlecht.

Als Folge dieser Rückschau beschloss ich, mich keiner weiteren Essensreglementierung mehr zu unterwerfen, sondern stattdessen zu erforschen, wie es sein konnte, dass ich immer wieder in dieselben Muster verfiel und mehr aß, als mein Körper eigentlich brauchte. Das alles kann ich heute in wenigen Zeilen leichtfüßig beschreiben, doch damals bedeutete dieser Aufbruch für mich einen sehr großen Schritt. Denn zu jener Zeit dachte ich noch, dass es einen inneren Schweinehund, ein Monster in mir gäbe, das ich im Zaum halten müsste, um nicht vollkommen in meinem Essverhalten verloren zu gehen.

Meine Befürchtung war, wenn ich mich nicht weiter in Ketten legte und meine Nahrungsmittel tatsächlich frei wählen würde, käme mein inneres Essensmonster durch und ich würde in kurzer Zeit 150 Kilo wiegen.

Die Frage, die ich mir damals das erste Mal stellte – und ich hatte sie mir davor tatsächlich noch nie ernsthaft gestellt –, war: „Warum esse ich eigentlich mehr als mein Körper braucht?“. In meiner Essenskampfzeit gab es für mich immer nur zwei Möglichkeiten: Ich bin diszipliniert und halte mich an einen Plan oder ich bin eine Versagerin. Die Frage nach dem „Warum?“ war mir nie gekommen. Aber genau diese neue Perspektive veränderte alles. Sie durchbrach die hypnotische Dynamik des Zusammenspiels von „Reiß Dich zusammen!“ auf der einen und „Ich kann nicht mehr!“ auf der anderen Seite.

Nachdem ich begonnen hatte, mir selbst Fragen zu stellen, lernte ich als nächstes zu unterscheiden, ob die Fragen, die mir kamen, offene Fragen waren oder nur gut versteckte Kritiken. Mich beispielsweise bei Essdruck zu fragen: „Warum willst du das jetzt essen?“ konnte dazu dienen, etwas über mich zu lernen, oder einfach eine getarnte Verurteilung sein, die eigentlich sagen wollte: „Du bist wirklich verfressen, dass du schon wieder essen willst!“ Die offene Frage brachte mich weiter auf meinem Erkundungspfad, die Verurteilung aber löste, als Reaktion auf die eigene Abwertung, Trotz oder Scham aus, und ich aß weiter.

So begann mein Essensheilungsweg. Er war untrennbar mit meinen tiefen Emotionen und damit mit meiner Biografie verbunden. Das ehrliche Hinterfragen meines Verhaltens und meiner Empfindungen entwickelte sich mehr und mehr zu meinem inneren Antrieb. Dabei war es nicht so, dass mir die Einsichten nur so entgegenflogen. Ganz und gar nicht. Vielmehr war es eine Forschungsreise durch unbekannte und oftmals sehr schmerzhafte Erinnerungen und Gefühle. Und so, wie man bei einer Expedition oft nicht weiß, was als nächstes kommt und sich manchmal in Gegenden wiederfindet, deren Terrain und Gegebenheiten einem fremd sind, ging es auch mir auf dieser Reise.

Ein innerer Kompass war für mich mein Essdruck. Mir wurde klar, dass immer, wenn er sich meldete, Verhaltensmuster aus meiner Vergangenheit anklopften. Diese fußten – wie ich heute weiß – auf Verletzungen meiner Kinderseele, die sich so sehr nach der Erfahrung sehnte, willkommen, getröstet und begleitet zu sein. Solange ich als Erwachsene nicht die Fähigkeit entwickelte, dieser Kinderseele Trost und Beistand zu leisten, musste ersatzweise das Essen die Aufgabe der Beruhigung übernehmen. Tauchten in meinem Alltag Situationen auf, die mich bewusst oder unbewusst überforderten, dämpfte das emotionale Essen diese ungelösten Spannungen meiner Vergangenheit ab. Mir wurde immer deutlicher, dass, solange ich mich nicht um diese biografischen Wunden kümmerte, das Essen sich um sie „kümmern“ würde.

In den darauffolgenden Jahren lernte ich an meinem Essdruck entlang sehr viel über mich selbst. Ich begegnete Seiten von mir, die ich verdrängt hatte und die dennoch – oder gerade deshalb – große Auswirkungen hatten. Da ich nur mich selbst als Referenz kannte, fiel mir lange Zeit nicht auf, dass mein Nervensystem permanent zu hochtourig lief. Ohne es zu bemerken, stand ich unter einem inneren Dauerstress. Um mich von dieser Anspannung zumindest stundenweise befreien zu können, brauchte ich das Essen. Es war meine Anti-Stress-Pille. Mein psychologischer Helfer. Wenn ich gegessen hatte, „flatterte“ ich innerlich nicht mehr hin und her. Erst als sich meine inneren Spannungen langsam lösten, spürte ich, wie sich ein Körper ohne inneren Dauerdruck anfühlen konnte. Ich erlebte, wie es sein konnte, im eigenen Körper zu ruhen. Das war für mich unglaublich.

Hätte mich in meiner Diätkampfzeit jemand gefragt, ob das emotionale Essen etwas Positives haben könnte, hätte ich dies mit aller Inbrunst und Entschiedenheit verneint. Was sollte an einem Feind, der einem Leid zufügt, gut sein? Erst die Beschäftigung mit den tiefer liegenden Ursprüngen half mir, nicht nur einen kleinen Ausschnitt des Essproblems zu sehen – meine Essanfälle und mein Gewicht –, sondern mehr und mehr das gesamte Bild zu erkennen. Anfangs war das eine große Herausforderung für mich. Ich litt, also gab es aus meinem erlernten Kampfdenken heraus immer wieder die in mir automatisch ablaufende Reaktion: „Ich will das Problem nicht haben! Es muss weg!“. Wenn ich emotional gegessen hatte, drohte diese Einstellung mich zu dominieren. Ich war davon überzeugt, dass das übermäßige Essen mein Problem sei. Bemerkte ich jedoch, dass das alte Muster in mir wieder startete – und im Laufe der Zeit gelang dies immer besser – war es mir möglich, nicht den altbekannten Gedankenpfaden zu folgen. Durch Übung lernte ich, mich meinem Problem mit offenen Fragen zu nähern. Oberflächlich betrachtet war die Antwort auf meine Fragen natürlich klar: Mein Essproblem sollte verschwinden, damit es mir besser ging. Aber waren es nicht meine Hände, die zu den Nahrungsmitteln griffen und sie in meinen Mund führten? Ich war es doch, die mehr aß, als mein Körper verlangte. Also gab es ganz offensichtlich tiefer liegende Auslöser in mir, die das Problem immer wieder aufs Neue erzeugten. Was war da in mir los? Warum führte ich täglich mein eigenes Leid herbei?

Die offenen und nicht verurteilenden Fragen nach dem Grund für mein Handeln brachten mich zu bewegenden, berührenden und manchmal auch erschütternden Antworten. Diese hatten immer mit meiner Lebensgeschichte zu tun. Meine gewohnte Reaktion auf Schwierigkeiten war der Zwang, so schnell wie möglich eine Kontrolle erlangen zu müssen. Das klappte in vielen Situationen sehr gut, aber nicht beim Essen. Konnte ich ein Problem oder eine schwierige Situation nicht schnell genug in den Griff bekommen, brachte mich dies in Kontakt mit einem alten schmerzhaften Ohnmachtsempfinden. Dies war für mich nur schwer zu ertragen. Etwas sich entwickeln zu lassen, fiel mir ausgesprochen schwer. Anderen gegenüber sagte ich oft scherzhaft, ich hätte keine Geduld. Aber das war, wie ich zunehmend lernte, nicht die ganze Wahrheit. Die Wahrheit war, dass ich gar nicht wusste, was es bedeutete, mir selbst zu vertrauen.

Auf meinem Essensheilungsweg erlebte ich, dass es neben meinem physischen Körper noch einen „inneren Körper“ gab, der Informationen an mich sendete und dessen „Sprache“ ich lernen konnte. Denn die Antworten auf meine Fragen kamen nicht nur über meine Gedanken, sondern auch über Empfindungen, Bilder, Töne oder Sätze. Beschäftigte mich eine Frage, war es zum Beispiel möglich, dass sich die Antwort über eine Körperreaktion zeigte – beispielsweise über plötzlich aufkommendes Herzrasen – oder dass ich Bilder aus meiner Vergangenheit sah oder innere Schreie oder Sätze hörte. Die Einbeziehung meines inneren Körpers war für mich eine große Offenbarung. Denn sie gab mir die Möglichkeit, meinem bisherigen Denken neue wertvolle Informationen hinzuzufügen. Dadurch eröffnete sich mir eine völlig neue Welt.

Ein Schlüsselerlebnis war ein Abend, an dem ich mich wieder als Opfer eines Essanfalls fühlte. Zigmal rannte ich in die Küche und aß ein Brot nach dem anderen. Auf dem Weg in die Küche fühlte ich jedes Mal, dass ich das nicht wollte, aber ich konnte diesen Vorgang nicht stoppen. Irgendwann kam mir die Frage in den Sinn, wie ich eigentlich meinen Essdruck wahrnahm? Wenn es nur ein Gedanke wäre, der mich zum Essen aufforderte, bräuchte es doch nur einen Gegengedanken und die Gier müsste nachlassen. Aber das tat sie nicht. Also, wo saß in mir der Essdrang? Beim Nachgehen dieser Frage bemerkte ich sehr deutlich ein „Loch“ in meinem Hals. Mir war sofort klar, dass dieses empfundene Loch schon seit Jahren da war und dass – ganz gleich, wie viele Brote ich noch essen würde – es damit niemals gestopft werden konnte. Völlig elektrisiert davon, dass ich es wahrnahm, erkundete ich es weiter und hörte beim Hineinfühlen in diesen Bereich viele „stumme“ Schreie. Ich ließ mich von diesem inneren Prozess leiten und landete bei Szenen aus meiner Kindheit. Voller Mitgefühl für das kleine leidende Mädchen, das ich dort vor meinem geistigen Auge sah, weinte ich viele Tränen. Tränen, die ich als kleines Mädchen nicht weinen konnte, bahnten sich nun ihren Weg. Die Folge dieser Begegnung war, dass ich wieder Kontakt zu mir selbst hatte. Daraufhin ließ der Essdruck nach. Für mich war dies eine unglaubliche Erfahrung. Es war der Einstieg in eine neue Art der Beziehung zu mir selbst. Nicht ich sagte meinem Körper, wie er sich zu fühlen hatte, sondern mein innerer Körper sagte mir, wie er sich fühlte. Er „sprach“ über die unterschiedlichen Sinne mit mir und ich lauschte und folgte. Über ihn klopften emotional nicht abgeschlossene Prozesse aus meiner Vergangenheit im Hier und Jetzt an, um sich vollenden zu können.

Dieser Abend war für mich ein Wendepunkt und der Anfang in eine prozessorientierte Form des Arbeitens mit mir selbst. In einem Trial-and-Error-Verfahren entwickelte ich viele Übungen, um die Sprache meines Körpers verstehen zu lernen und somit ungelöste, aus meiner Lebensgeschichte resultierende Spannungen auflösen zu können. Die reichhaltigen Möglichkeiten, die sich aus dem Arbeiten mit meinem inneren Körper ergaben, begeisterten mich immer mehr. Ich fühlte eine tiefe Dankbarkeit, weil ich lernte, mir selbst zu helfen.

Damit an dieser Stelle kein falscher Eindruck entsteht: Dieser Weg war nicht linear. Er ging vor und er ging zurück. Es gab Phasen, da war ich in gutem Kontakt mit mir selbst und nahm ab, es gab Phasen, da nahm ich wieder etwas zu und es gab Phasen, da blieb mein Gewicht gleich. Vor allem wenn ich wieder zunahm oder meine Gewichtsabnahme eine Zeitlang stockte, tauchten Zweifel darüber auf, was ich tat. Aber ich merkte, dass ich freier wurde, je mehr ich meinen inneren Prozessen Schritt für Schritt folgte, anstatt zu versuchen, sie zu eliminieren. Da mein Essdruck mein unbestechlicher Seismograph dafür war, wann ich mich in den Reaktionsmustern meiner Vergangenheit zu verlieren drohte, änderte sich mein Blick auf ihn im Laufe der Zeit grundsätzlich. Er wurde vom Feind zum Verbündeten. Durch ihn hatte ich die Möglichkeit, die ungelösten Spannungen aus meiner Vergangenheit in der Gegenwart wahrzunehmen und sie am inneren Körper entlang zu lösen.

Da auf meinem inneren Weg Verletzungen meiner Kindheit auftauchten, die mitunter traumatisch waren, holte ich mir Hilfe bei einer Therapeutin. Sie wusste, dass ich mit mir selbst intensiv arbeitete und Übungen entwickelte. Bei ihr fand ich einen Rahmen, innerhalb dessen ich mich inneren Gebieten nähern konnte, die mir allein zu viel Angst machten. Heute, da ich selbst als Therapeutin arbeite, weiß ich, wie außergewöhnlich die Arbeit mit dieser Frau war. Ich danke ihr dafür von Herzen.

Auf meiner Forschungsreise zu mir selbst nahm ich in drei Jahren 30 Kilo ab. Wie bereits erwähnt, geschah dies nicht linear, sondern ging in der Regel drei Schritte vor und zwei zurück. Je mehr ich die Fürsorge für mich selbst übernehmen konnte, desto weniger musste es das Essen tun. In dem Maße, in dem ich meine „biografischen Kilos“ verlor und mein „psychisches Gewicht“ leichter wurde, schwanden auch meine äußeren Kilos. Da meine schlankere Figur von innen getragen war, konnte ich sie Schritt für Schritt problemlos und entspannt halten, ohne irgendeine Form der Reglementierung. Heute bin ich seit vielen Jahren das, was man eine natürlich schlanke Frau nennt. Und obwohl ich mich sehr darüber freue, dass ich meine Essstörung heilen konnte, gibt es etwas, das für mich noch wichtiger ist: Die tägliche Erfahrung, meinen inneren Körper als unterstützendes Instrument entdeckt zu haben und mit seiner Hilfe die Reichhaltigkeit des Lebens neu erfahren zu können.

Ursprünglich nur für mich gedacht, habe ich auf Anfragen von Betroffenen begonnen, diesen von innen kommenden Ansatz weiterzugeben und ihm einige Jahre später den Namen „Sehnsucht und Hunger“ gegeben.

Emotionales Essen als Notausgang

So weit zu meiner Geschichte. Aber wie ist es bei Ihnen? Wie leiden Sie unter Ihrem Essverhalten und seinen Folgen? Eine Frau sagte mir einmal auf einer Veranstaltung: „Am liebsten würde ich mir mein Körperfett Schicht für Schicht abschneiden, um endlich dahinter zum Vorschein kommen zu können!“

Wer kein Essproblem hat, könnte an dieser Stelle vielleicht anmerken: „Wenn sie darunter leidet, dann soll sie doch einfach weniger essen!“ Aber genau das kann diese Frau nicht – zumindest nicht auf Dauer. Den Gedanken „Jetzt reiß Dich mal zusammen! Iss endlich weniger!“ hat sie selber täglich. Aber sie kann ihm nicht folgen. Stattdessen verurteilt sie sich für ihren täglichen Drang, so viel essen zu müssen.

„Jetzt reiß dich mal zusammen!“ An diesem „klugen“ Ratschlag scheitern täglich viele leidgeprüfte Menschen auf dem Weg zum Kühlschrank.

Diese innere Selbstabwertung führt in der Regel zu einem Schamempfinden. Und wer schon einmal Scham empfunden hat, der weiß, wie schmerzhaft dies sein kann. Wir können innerlich dann nirgendwo mehr hin – alle Türen scheinen verschlossen. Am liebsten würden wir uns verstecken, aber das grelle Neonlicht unserer inneren Verurteilung scheint uns direkt ins Gesicht. Wie auf einem Seziertisch nehmen wir uns selbstverachtend auseinander. Die meisten Menschen würden es nicht erlauben, dass irgendjemand anderes mit ihnen so spricht, wie sie es in solchen Situationen mit sich selbst tun. Dieser Zustand ist nur schwer zu ertragen. Um ihn erträglicher zu machen, beginnen wir dann häufig erneut zu essen. Denn Essen schafft Ruhe. Zwar nur vorübergehend, aber immerhin. Emotionales Essen dient uns als Notausgang, den wir täglich nehmen, wenn etwas für uns zu viel wird.

Die Kraft unserer Sehnsucht

Haben Sie sich jemals gefragt, was Sie trotz zahlreicher erfolgloser Abnehmversuche nicht aufgeben lässt, einen Ausweg aus Ihrem emotionalen Essverhalten zu suchen?

Was ist es, das uns trotz wiederholter Frustrationen immer wieder antreibt, neue Versuche zu unternehmen, um endlich aus der Leidensspirale des emotionalen Essens aussteigen zu können? Die Kraft, die uns keine Ruhe lässt, ist mächtig. Sie heißt Sehnsucht.

Je nachdem, wie wir dieser Sehnsucht begegnen, kann sie unsere Unterstützerin für Veränderung sein oder eine lästige Klingel, die einfach keine Ruhe geben will. Wenn wir uns darauf einlassen, unsere Sehnsucht nach dem Ausstieg aus unserem Essproblem zu erkunden, werden wir feststellen, wie unsinnig es ist, sie mithilfe von Ernährungs- oder Sportplänen befriedigen zu wollen. Unsere Sehnsucht lädt uns ein, uns weiterzuentwickeln und unsere Persönlichkeit zu „weiten“. Reglementierende Maßnahmen basieren hingegen auf Kontrolle, was immer zu einer Verengung führt.

Ein Beispiel:

Ulrike ist Single, übergewichtig und sie hat den großen Wunsch abzunehmen. Als sie beginnt, ihre Sehnsucht schlanker zu sein zu erforschen, entdeckt sie, dass es eigentlich gar nicht um einen dünneren Körper geht. Eine kleinere Kleidergröße, so ihre Hoffnung, soll ihr vielmehr die Möglichkeit eröffnen, die darunter liegende Sehnsucht nach mehr Verbundenheit mit einem anderen Menschen zu erfüllen. Denn Ulrike möchte nicht mehr allein sein. Bisher glaubt sie, dass der Grund für ihre Einsamkeit ihr Übergewicht sei. Dass es viele korpulente Frauen gibt, die in Partnerschaften leben, blendet sie dabei aus. Für sie steht fest: ihr Gewicht ist ihr Feind. Deshalb versucht sie seit Jahren mithilfe von Diäten, Ernährungsumstellungen und diversen Sportprogrammen abzunehmen. Und obwohl sie mittlerweile über ein so umfangreiches Wissen verfügt, dass sie Vorträge über gesunde Ernährung halten könnte, haben ihr diese Kenntnisse für den Ausstieg aus ihrem leidvollen Essverhalten nichts genützt.

Ob sie statt einer Pizza besser Karotten essen sollte, ist eine Beschäftigung mit der falschen Frage. Viel zutreffender wäre es zu fragen: welche inneren Muster in ihr verhindern, dass sie ihre Sehnsucht nach Verbundenheit ausleben kann und sie somit als Folge davon vermehrt essen muss?

Nicht Ulrikes Gewicht ist der Gegenspieler zu ihrer Sehnsucht, sondern innere Muster, die als Folge das Übergewicht hervorbringen.

Solange Ulrike glaubt, dass der Gegenspieler ihrer Sehnsucht ihr Gewicht sei, verwechselt sie Ursache und Wirkung. Dass ihr Übergewicht nicht der Gegenpol zu ihrer Sehnsucht und somit auch nicht der Kern ihres Problems ist, hat sie nach jeder Gewichtsabnahme in den letzten Jahren bereits erfahren. Denn wäre ihr Gewicht tatsächlich der Grund ihres Problems, hätte sie dann keinen Essdruck mehr haben dürfen. Und es hätte ihr nicht schwer fallen dürfen, ihre schlanke Figur entspannt halten zu können.

Aber jedes Mal, wenn Ulrike mithilfe von Ernährungsplänen und Sportprogrammen abgenommen hat, waren die Kilos nach kurzer Zeit wieder da. Ihr Drang mehr essen zu wollen, als ihr Körper brauchte, war ungebrochen.

Es ist ein großer Irrtum, wenn wir glauben, wir könnten der inneren Dynamik von Sehnsucht und Essdruck mit Diäten und Abnehmprogrammen beikommen. Diese Herangehensweise ist von vornherein zum Scheitern verurteilt. Das Resultat davon ist: unsere Sehnsucht klingelt jeden Tag weiter in uns. Über unseren Essdruck können wir sie bemerken. Solange wir uns ihr jedoch nicht zuwenden, wird diese lebendige Kraft, die uns auffordert, uns weiter zu entwickeln und zu entfalten, keine Ruhe geben.

Erst wenn wir dieses Phänomen wirklich in seiner Tiefe zu verstehen beginnen, erfahren wir, dass in unserem Essproblem selbst bereits seine Lösung liegt. Mit anderen Worten: Unser Essproblem zeigt uns, wer wir werden können und wohin unsere Entwicklung geht.

Da das Essproblem bei Ulrike mit ihrer Sehnsucht nach Verbundenheit zu tun hat, kann sie durch das Erkunden ihres Essdrucks die emotionalen Muster in sich selbst kennenlernen, die dafür verantwortlich sind, dass die Erfüllung ihrer Sehnsucht und damit ihre Entwicklung noch blockiert ist. Dass diese Blockade überhaupt existiert, hat mit ihrer Biografie zu tun. Hier wurde sie vor vielen Jahren aufgebaut. Im weiteren Verlauf des Buches werde ich darauf noch detaillierter eingehen.

Sie mag zwei Seiten haben, aber es bleibt doch immer dieselbe Münze!

Egal, wie stark Sie unter Ihrem emotionalen Essen leiden, dieses Buch möchte vor allem eines: Sie einladen innezuhalten – auszuatmen! Den Dauerlauf der ewigen Diktate anzuhalten, die da lauten: „Du musst doch nur …!“ – Du musst doch nur mehr Sport machen! Du musst Dich doch nur anders ernähren! Du musst doch nur fasten, psychologische Übungen machen usw. Denn genau dieses „Du musst doch nur …!“ ist ein wesentlicher Grund dafür, dass der Ausstieg aus dem emotionalen Essen nicht funktioniert.

Der Drang, ohne Hunger zu essen, ist die Kehrseite der Medaille von „Du musst …!“. Es ist unsere unbewusste Antwort auf zu viel Druck. Mal ist die eine Seite der Medaille sichtbar – das Aufstellen von Regeln –, mal die andere – die Rebellion gegen sie durch starkes emotionales Essen. Doch welche Seite sich auch gerade zeigen mag: Es bleibt immer dieselbe Münze!

Was es braucht, ist der generelle Ausstieg aus diesem Münzewerfen. Es geht nicht darum, einen Umgang