Warum wir tun, was wir tun - Jens Förster - E-Book
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Warum wir tun, was wir tun E-Book

Jens Förster

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Beschreibung

"Sich selbst und andere verstehen – das zu ermöglichen, ist das Ziel des neuen großen Sachbuchs zur Alltagspsychologie von Jens Förster, einem der bekanntesten Sozialpsychologen Deutschlands. Wonach beurteilen wir andere Menschen? Warum stärken Komplimente unser Selbstbewusstsein? Wie vertrauenswürdig sind Zeugenaussagen? Weshalb unterschätzen sich manche Menschen? Gibt es Sex ohne Liebe und Liebe ohne Sex? Das sind nur einige wenige von vielen Fragen zu unserem Verhalten, die Jens Förster in seinem psychologischen Sachbuch aufgreift. Er weiß: "Alles ist Psychologie. Jeder Händedruck, jede Kaufentscheidung, jede noch so langweilige Politikdebatte verrät viel über die Akteure, sobald man die Dinge psychologisch betrachtet." Und so begibt er sich auf einen Streifzug durch unseren Alltag und beschreibt an vielen anschaulichen Beispielen, wie die Psychologie unser Denken, Fühlen und Handeln erklärt. Dabei stützt er sich auf Erkenntnisse der Entwicklungs-, Persönlichkeits-, Sozial-, Motivations-, Werbe- und Organisations-Psychologie. Es geht dabei u.a. um Vorurteile und Beziehungen, um Selbst- und Fremdwahrnehmung, um Motivation und Lernen – und immer darum, sich selbst und andere besser zu verstehen. Jens Förster lehrte 16 Jahre lang als Professor für Psychologie an den Universitäten Bremen, Amsterdam und Bochum. 2017 hat er das Systemische Institut für Positive Psychologie in Köln mitgegründet, wo er neben seiner Lehr- und Forschungstätigkeit als Systemischer Berater und Therapeut arbeitet. Er ist Autor mehrerer Bücher, u.a. ""Was das Haben mit dem Sein macht"" und ""Der kleine Krisenkiller"" sowie der ZEIT-Akademie "Psychologie" und ""einer der international einfluss­reichsten Psychologen seiner Generation"" (Deutsche Gesellschaft für Psychologie). "

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Seitenzahl: 786

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Jens Förster

WARUM WIR TUN, WAS WIR TUN

Wie die Psychologie unseren Alltag bestimmt

Knaur e-books

Über dieses Buch

Wonach beurteilen wir andere Menschen? Warum stärken Komplimente unser Selbstbewusstsein? Wie vertrauenswürdig sind Zeugenaussagen? Weshalb unterschätzen sich manche Menschen? Gibt es Sex ohne Liebe und Liebe ohne Sex?

Jens Förster begibt sich auf einen Streifzug durch unseren Alltag und zeigt an vielen anschaulichen Beispielen, wie die Psychologie unser Denken, Fühlen und Handeln erklärt. Es geht dabei um Vorurteile und Beziehungen, um Selbst- und Fremdwahrnehmung, um Motivation und Lernen – und immer darum, sich selbst und andere besser zu verstehen.

Inhaltsübersicht

WidmungEinleitung – Ins pralle LebenTeil I Psychologie – Was ist das eigentlich?»Mein Job? Versuchen, Menschen zu verstehen.«1 Versuchen, Sinn zu machen2 Psychologie im Wandel3 Alltagspsychologie und ihre Disziplinen4 Was treibt uns Menschen an?5 Die wissenschaftliche Methodik der PsychologieTeil II Die Grundpfeiler der Psychologie: Denken, Fühlen, VerhaltenDas ABC der Psyche6 Wie wir lernen, erinnern und vergessen – Kognition und GedächtnisLernen durch BeobachtenAls Denken en vogue kam7 Was wir fühlen und warum – Stimmung und Emotionen8 Warum wir planen, handeln und bewerten – MotivationDie prädezisionale Phase – Welches Ziel hätten Sie denn gern?Die postdezisionale, die präaktionale und die aktionale Phase – Der Würfel ist geworfen, stör mich jetzt bloß nicht!Postaktionale Phase – Wie war ich?Unbewusste Ziele: Unser AutopilotZiel-Mittel-Relationen: Wenn der Autopilot uns ein Fahrrad zur Verfügung stellt9 Wenig schaurig, dafür schnell: Das UnbewussteDie Entmystifizierung des Unbewussten: Wie Netzwerke im Gedächtnis entstehenWorin Freud recht hatte: Rosa Elefanten, Eisbären und PenisneidBewusstsein: Hilfe gegen Marshmallows und andere FehlerquellenTeil III Alltagspsychologie – Themen, Bereiche und ProblemfelderWas wir untersuchen10 Alles Ratio, oder was? – Einstellungen, Urteilen und EntscheidenUrteile und Entscheidungen – Alles andere als rational oder wirtschaftlichUrteilsheuristiken – Faustregeln quick and dirtyMit falschen Entscheidungen leben – Leichter als gedachtEinstellungen – Stabil und brüchig zugleichKognitive Dissonanz: Wenn Einstellungen und Verhalten sich nicht vertragen11 Ich weiß, wer du bist – PersonenbeurteilungDer erste Eindruck – Von unserer MenschenkenntnisGlobale Urteile: Mit großer Sicherheit meistens fragwürdig»Urteile nie nach dem Äußeren«Lächle, und die Welt gehört dirVoreingenommenheiten – Filter bei der WahrnehmungDonald – Weder eine Ente noch ein PräsidentUrsachenzuschreibung: Wer ist schuld, und warum nicht ich?Urteilsfehler: Wenn du gut bist, ist das Zufall12 Wir und »die« – Vorurteile und DiskriminierungUnbewusstes ErschießenIllusorische ZusammenhängeWenn Stereotype uns selbst behindernDie unbewusste MesslatteStereotype: Zombies oder ausrottbar?13 Ich und mein Rudel – Gruppen, Normen, KonformitätBesonders und doch ein prima KumpelGruppendruck – Wie eine Herde Lemminge …Ungeschriebene Gesetze – Blinder Gehorsam?»Normen raten« und HolzhammermethodenGruppenidentität – Der erste Schritt zur Aggression?Minimale Gruppe, maximale Diskriminierung?Wenn Gruppen asozial machenErst David, dann Goliath – Wie Minderheiten zum Zuge kommenVon der Unmöglichkeit, einfach nur Mensch zu sein14 Wer bin ich, und warum? – Das SelbstDas Selbst als viele TeileKonstruierte Persönlichkeit – So bist du, und so bleibst du auch!Die Flexibilität sozialer VergleicheDem wahren Schlechten auf der SpurDer kritische andereAlles Charakterköpfe, Persönlichkeiten, IdentitätenSelbstwahrnehmung: Ich singe das, das muss ein guter Song seinPersönlichkeitstests – Du bist, was du antwortestPfeiler der Persönlichkeit: Wollen und sollenPersönlichkeit im Kulturbeutel15 Wer steuert, wenn nicht ich? – SelbstregulationMit Hemmungen zum ZielSelbstkontrolle oder Die Kunst, einem Marshmallow zu widerstehenDenken Sie jetzt nicht an Eisbären!Emotionskontrolle – Wie soll das denn gehen?Jammern oder tun16 Was will ich? – Lebensziele und GlückGlück – Vermessen gemessenVon der klassischen Pyramide zum lieben GeldMacht Materialismus unglücklich, aber Geld glücklich?Fromm und meine Sicht der DingeSeins- und Habentypen – Wie sie ticken und was sie tun17 Was kann ich? – Intelligenz und KreativitätIntelligenz ist das, was ein Intelligenztest misst?Intelligenz hat viele GesichterIntelligenztests auf dem PrüfstandKreativität – Gedanken sprengen!Freaks als RessourceZu viele Köche verderben die KreativitätZufallsprodukteGenie und WahnsinnInspirierende UmgebungenAus der Ferne betrachtet kreativInnovation – Das Aushalten von Neuem18 Wer mit wem, und warum? – BeziehungenKennenlernen – Selektion à la Darwin?Verliebt sein und lieben – Was ist das?Welche Liebe ist denn eigentlich normal?Wer sich bindet, und wer sich scheutIneinanderfließenReturn on Investment – Wirtschaftliche Modelle der LiebeErich Fromm und »Die Kunst des Liebens«Ich mal dich mir schönLieben mit StilLiebe, Sex und DenkenDas bittere Ende19 »Verstehe ich das richtig?« – KommunikationWorte – Nichts als Worte?Ohrensausen: Beziehung und SachaspektWas stört mich, und was hat das mit dem anderen zu tun?Wenn du denkst, du denkst, dann denkst du nur, du denkst …Das fünfte AxiomOhrensausen reloadedWie sag ich’s meinem Kinde?Bewusster und unbewusster EinflussSchutzimpfungen und VerboteDas Konkrete am AbstraktenKommunikation – richtig ist das falsche Wort20 Der Mensch ist des Menschen Feind und Freund – Aggression und HilfeverhaltenIm Wesen böse, zum Guten erzogen?Definitorisches IntermezzoHelle und dunkle Quellen menschlichen VerhaltensSchaden oder helfen – Beides wird gelerntKosten/Nutzen von Helfen und AggressionHelfen aus MitgefühlHedonistisches HelfenGewalt und EmotionenDer Boxsack als Legende?Grenzen der AggressionsforschungSex und Gewalt – Gemeinsamkeiten und Unterschiede bei Männern und FrauenHelfen – Wie geht das?Schluss – Jeder sieht es anders, und keiner weiß, warumAnhangDanksagungLiteratur
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Für Manfred

Weil Du tust, was Du tust

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Einleitung – Ins pralle Leben

Alles ist Psychologie. Jede Minute unseres Alltags, selbst wenn sie unspektakulär verläuft, wimmelt von psychologischen Prozessen, die beim näheren Hinschauen plötzlich rätselhaft, irritierend, spannend und rührend erscheinen.

»Jaja«, werden Sie sagen, »was soll er denn schon anderes sagen, der Herr Psychologe?«

Stimmt, ich liebe meinen Beruf. Meinen Beruf als Therapeut genauso wie den als Wissenschaftler. Ich kann gar nicht genug davon haben und bin ständig auf der Suche nach Hypothesen, Erklärungen und Theorien, warum Menschen so oder so handeln, warum sie sich gut oder schlecht fühlen und warum sie in einer bestimmten Weise denken oder entscheiden. Jeder Händedruck, jede Kaufentscheidung, jede noch so langweilige Politikdebatte wird zum Labor, ebenso wie ein Theaterstück, ein Blumenstrauß, ein Zoobesuch oder ein Puzzlespiel, sobald man es psychologisch betrachtet.

Vielleicht gelingt es mir ja, Ihnen diesen psychologischen Blick auf das Alltagsleben an einem Beispiel zu verdeutlichen.

Jeden Tag pendle ich zwischen meinem Wohnort Köln und meinem Arbeitsplatz in Bochum. Ich stehe zwischen vier und fünf Uhr auf, damit ich pünktlich um acht in Bochum sein kann. Manchmal wundert es mich, wie ich das schaffe – wurde ich doch in meiner Familie der »Langschläfer« genannt. Doch ich liebe den Wind, der mir vom Rhein her um die Nase weht, und genieße die Bewegung, wenn ich mit dem Fahrrad zum Bahnhof fahre. Ich bin gut drauf.

Der Zug fährt leicht verspätet gerade ein, als ich, die Haare nass vom Nieselregen, mit einem Coffee to go in der Hand die Rolltreppe hochhaste. Mit mir hasten andere. Ich erkenne die professionellen Pendler, die wissen, wo die Türen sein werden, wenn der Zug zum Stehen kommt, und an diesen Stellen Trauben bilden. Der Zug ist voll, spuckt gefühlt Hunderte von Fahrgästen aus. Einer tritt mir auf den Fuß und murmelt: »Erst mal aussteigen lassen, was?«[1]Ich rolle die Augen, remple mich an ihm vorbei und setze mich in einer Vierersitzgruppe ans Fenster. Nur da gibt es Abstellflächen für Kaffeebecher und genügend Armfreiheit für meine Arbeit am Laptop. Sobald ich sitze, schreibe ich.

Der Zug füllt sich, in Köln Messe/Deutz steigen Massen dazu und quetschen sich in die Gänge. Mir fällt eine ältere Dame auf. Ich biete ihr meinen Platz an, worauf sie mich anfährt: »Junger Mann, also so alt bin ich nun auch wieder nicht. Machen Sie mal schön Ihre Schularbeiten!« Ich ärgere mich zunächst über sie, schließlich wollte ich nur nett sein und Benehmen zeigen. Auf der anderen Seite frage ich mich gerade, wie ich reagiere, wenn mir das erste Mal ein Platz angeboten würde. Passiert Männern sicher seltener, oder? Einem älteren Mann hätte ich vermutlich nicht meinen Platz angeboten. Ist das schon sexistisch?

Die Zugverspätung nimmt von Bahnhof zu Bahnhof zu, und zwei Passagiere meckern über die Deutsche Bahn. »Erst Menschen im Gleis, dann Stellwerkschaden und jetzt Weichenstörung, dass ich nicht lache.« Sie nicken mir beim Jammern zu, aber ich ignoriere sie. Ja, die Züge sind häufig zu spät, aber darüber zu meckern erscheint mir so unvernünftig, wie sich über das Wetter zu beschweren. Ist eben nun mal so. Ja, haltet mich für arrogant, aber lasst mir meine Ruhe und starrt auf eure Schuhe.

Von wegen Ruhe. In Düsseldorf steigt eine Frau mit zwei Kindern ein, und die drei setzen sich zu mir in den Vierer. Die Kinder sind süß, denke ich für eine Minute, bis das eine, geschätzte sechs Jahre alt, nach meinem Laptop grapscht und fragt: »Was machst du da?« Die Mutter ignoriert das Kind vollkommen, das Kind wiederholt die Frage roboterartig. Ich sage: »Arbeiten. Könntest du bitte die Finger da wegnehmen?« In dem Moment springt die Mutter auf und brüllt: »Jacqueline, wie blöd bist du denn? Lass den Mann zufrieden, sonst gibt es heute keine Pommes.« Sie fasst das Kind am Arm, wohl etwas grob, denn es schreit ohrenbetäubend los und wirft sich zu Boden. Die Mutter ist überfordert und lässt es einfach toben. Jacqueline haut ihren Kopf immer wieder auf den Boden, bis die drei dann Gott sei Dank in Duisburg aussteigen. Ich erwäge mehrere Male, der Mutter ins Gewissen zu reden (erziehen wir denn Kinder heute noch so?), entscheide mich dann aber, Zeitung im Internet zu lesen. Arbeiten kann ich bei dem Geschrei eh nicht – meine Kopfhörer habe ich blöderweise am Kaffeestand liegen gelassen. Gut, dass die freundliche junge Frau dort sie für mich aufheben wird – ist nicht das erste Mal, dass mir das passiert. Sei gnädig mit dir, denke ich, es ist ja noch früh, und du bist auch nur ein Mensch.

Was meine schlechte Konzentration nicht schafft, schafft die Zeitung. Donald Trump verkündet, von einem Plüschsessel aus, der auch in einem Puff stehen könnte, sein Vorhaben, einen Kohlemagnaten zum Umweltminister zu machen. Ich könnte kotzen! Da haben mein Mann und ich unser Leben umgestellt, essen nur noch biologisch, haben ein winziges Auto und eine kleine Wohnung. Da hat Barack Obama ein Umdenken in den USA erreicht und sich dem Klimavertrag angeschlossen, und nun reißt so ein Horrorclown alles wieder ein. Ich habe jetzt richtig schlechte Laune und lenke meine Aufmerksamkeit zurück zu meiner Arbeit.

Ich setze mich an den Vorschlag eines Studenten für ein Experiment. Mann, ist der gut. Ich denke mich in die Studie hinein. Es geht darum, wie sich materialistische Ziele wie ein Auto oder einen Computer kaufen wollen auf die Kreativität auswirken. Ich vergesse die Zeit. Der Zug hält in Essen, wo zwei Studentinnen einsteigen und mir kurz zulächeln – vermutlich sind sie in meiner Vorlesung, aber ich erkenne sie nicht, der Hörsaal ist riesig, und es kommen jedes Jahr etwa 200 neue Leute. Als sie wegschauen, werfe ich verstohlen meinen Kaffeebecher in den Abfalleimer. Das passt absolut nicht zu meinem Öko-Ich, denke ich, und in den letzten Vorlesungen habe ich ausführlich über ethisches Verhalten doziert. Ich fühle mich irgendwie blöd und schuldig.

Nun spricht mich die eine Studentin an und bedankt sich für die Vorlesungen. Sie strahlt mich dabei an, und ich werde wohl etwas rot. Mein Gegenüber, ein in Mülheim an der Ruhr zugestiegener Herr mittleren Alters, lacht: »Na, das passiert einem doch nicht alle Tage, und vor allem nicht in Deutschland – positives Feedback von Studenten! Gratuliere! Ich bin Juraprofessor, und so etwas hat mir noch niemand gesagt.« Wir reden über Universitäten, Karrieren, Work-Family-Konflikte … Irgendwie neugierig geworden, fragt er mich dann noch: »Und was unterrichten Sie? Lassen Sie mich raten: Design? Irgendwas mit Medien? Und wer ist denn Ihr Chef?« Ich kläre ihn auf, dass ich seit siebzehn Jahren Psychologieprofessor bin. Er entschuldigt sich lachend. »Na, nehmen Sie es als Kompliment, Sie sehen so jung aus und überhaupt nicht wie ein Psychologe.« Ich schaue an mir runter. Stimmt, ich habe einen leuchtend blauen Anzug im skinny look an, dazu bunte Sneakers und eine pinkfarbene Krawatte über dem Hemd. Alles ist ökologisch, aus Fair Trade und mit Freunden geteilt. Und schick. Nach einem 53-Jährigen sieht das nicht aus. Der Kollege hat wohl einiges überhört, was ihm hätte sagen müssen, dass ich älter bin und Professor. Vorlesungen zum Beispiel geben nur Professoren, und ich meine sogar, ich hätte von »meinem Lehrstuhl« gesprochen.

Ich steige aus, und die Sonne scheint. Die Morgenluft riecht gut. Da erreicht mich eine SMS. Mein Mann wünscht mir einen schönen Tag und erinnert mich an ein Lebensmotto, das ich während einer Fortbildung entwickelt hatte: »Du wirst heute Rosenhecken streifen.« Wie kitschig, denke ich. Wie schön. Wie schön, dass er an mich denkt. Ich fühle mich gut. Und aus heiterem Himmel kommt mir eine Idee, wie ich mein neues Buch beginne!

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Teil I Psychologie – Was ist das eigentlich?

»Mein Job? Versuchen, Menschen zu verstehen.«

Ich vermute einmal, dass vielen, wenn sie an Psychologie denken, als Erstes eine Couch einfällt. Auf der liegt ein Patient, und davor sitzt ein bärtiger Mann mit Notizblock und erzählt ihm, was seine Träume bedeuten und was er im Leben alles besser machen soll. Tatsächlich gibt es so etwas noch vereinzelt, es ist aber eher die Ausnahme. Wenn Sie zu mir in die Praxis kommen, dann schaue ich Ihnen in die Augen, Sie dürfen sich einen Stuhl aussuchen, der Ihnen bequem ist, Sie bekommen einen guten Kaffee, und ich versuche, mit Ihnen zusammen herauszufinden, was Ihnen helfen könnte. Sie sind mein Klient, kein Patient, Sie sind der Souverän, und Sie haben auch in meinen Augen keine Störung, sondern ein Anliegen, das wir zusammen bearbeiten. Ich würde Ihnen niemals etwas vorschreiben, was Sie tun müssen, sondern schauen, welche Stärken und Talente Sie persönlich nützen könnten, damit es Ihnen besser geht.

Psychologie kann aber noch mehr als heilen – sie kann uns auch helfen, menschliches Verhalten besser zu verstehen. Diese Seite der Psychologie ist nur wenigen bekannt und spielt sich in den Elfenbeintürmen der Universitäten ab. Dort erforschen Wissenschaftler, was sich zwischen unseren Ohren abspielt. Sie versuchen zu erklären, warum wir in einer bestimmten Weise denken und fühlen und warum wir uns so und nicht anders verhalten. Meine Vorgehensweise als Wissenschaftler ist dabei stets, den ganz normalen Alltag zu beobachten und dabei nichts für selbstverständlich zu erachten. Es ist ja nicht selbstverständlich, dass ich jeden Morgen pünktlich am Bahnsteig stehe. Es ist auch nicht selbstverständlich, dass ich mich schuldig fühle, wenn ich einen Coffee to go kaufe, oder dass ich auf die Idee komme, einer älteren Frau zu helfen.

1 Versuchen, Sinn zu machen

Diese Stunde in der Bahn scheint wie ein Tropfen Wasser zu sein: langweilig und klar – erst bei einer Betrachtung unter dem Mikroskop erkennt man, was sich darin alles tut. In dieser Stunde Alltagsleben verbergen sich tatsächlich Hundertschaften von psychologischen Phänomenen und Effekten! Zu sämtlichen Beobachtungen gibt es in der Psychologie Erklärungsmodelle, Theorien und Hypothesen, die ich Ihnen in diesem Buch nacheinander schildern werde. Wie würden Psychologen auf diese Pendelstunde schauen? Was beobachten sie? Lassen Sie mich einige wenige ansprechen, die mir aufgefallen sind.

Psychologisch ist, dass diese Geschichte eine Aufzählung von Ereignissen ist, wie ich sie subjektiv wahrgenommen habe. Jemand anderes hätte dieselbe Situation höchstwahrscheinlich ganz anders geschildert. Er hätte vielleicht die Reaktion der älteren Dame überhört oder vergessen, und er hätte sich dafür daran erinnert, dass mein Kaffee überschwappte, als ich mich in den Platz drängelte. Vielleicht hätte er auch bemerkt, dass die Mutter dem Kind einen Kuss gegeben hat und dass der Juraprofessor eine unglaublich teure Rolex trug.

Ich habe zudem, wie jeder andere Mensch das auch getan hätte, »Sinn« aus einer Folge von Begebenheiten erschaffen. Ich habe kraft meines Verstandes, meines Wissens und meiner Intuition Dinge bewertet, interpretiert und eingeordnet – dies jedoch aus einer mir eigenen subjektiven Perspektive, die sicher nicht von allen geteilt wird.

Zum Beispiel habe ich geschätzt, dass die beiden zugestiegenen jungen Frauen Studentinnen waren. Das hat sogar gestimmt, hätte aber nicht zutreffen müssen. Ich habe Anhaltspunkte wie »jung«, »steigen in Essen ein in Richtung Bochum«, »große Tasche für den Laptop«, ihr nonverbales Verhalten und das Lächeln als einzige Informationsquellen gehabt, habe sie in Beziehung zueinander gesetzt und geschlussfolgert: »Das sind Studentinnen.« Ich habe sie darüber hinaus aus irgendeinem Grund für intelligent gehalten und im Inneren gedacht: »Schön, dass du so sozial kompetente Menschen ausbilden darfst.« Ich habe sie gemocht, während ich Jacquelines Mutter blöd fand. Das alles hat meine Psyche für mich geleistet, ohne dass ich mich allzu sehr dafür hätte anstrengen müssen.

Personenwahrnehmung ist eine Leistung, die wir immer dann erbringen, wenn wir mit anderen Menschen zusammentreffen. Natürlich kann sie manchmal auch zu Urteilsfehlern oder Verzerrungen führen. Der Kollege Juraprofessor hat zum Beispiel Sinn aus meinem Verhalten konstruiert. Für ihn war ich so angezogen und habe mich wohl so verhalten wie ein wissenschaftlicher Mitarbeiter, der »irgendwas mit Medien« macht. Das ist verständlich, denn in der Tat bemühe ich mich, bloß nicht so auszusehen wie viele meiner Kollegen, die sich entweder zu lässig oder zu konservativ anziehen. Ich habe dem Prototyp eines Psychologieprofessors nicht entsprochen, während die jungen Frauen dem Prototyp der Psychologiestudentin voll entsprochen haben.

Ich behaupte, dass auch Sie sich gerade aus wenigen Informationen Sinn »machen« (müssen). Haben Sie sich etwa nicht die aggressive Mutter als ungebildete Frau aus einem Mietblock vorgestellt? Jedenfalls passt dieses Erziehungsverhalten eher zu einer Person mit einem niedrigen sozialen Status als zu einer Ärztin. Außerdem klingt der Name Jacqueline eher nach sozialem Wohnungsbau als nach Villengegend, und in Ersterem isst man wohl auch eher Pommes.

Unsere Forschung beschäftigt sich damit, wie Wahrnehmungen entstehen, die ja häufig durch Vorurteile oder Stereotype geprägt sind. Letztendlich können solche Schubladen im Kopf Diskriminierung erklären, wie wir später noch sehen werden. Tatsächlich, so unsere Forschung, finden wir in allen Bildungsschichten Gewalt, ungünstige Erziehungsmethoden und schlechte Ernährung – zudem weiß ich ja auch kaum etwas über die Familie. Häufig scheinen wir mit unseren Interpretationen zu schnell vorzupreschen. Psychologische Forschung hilft also nicht nur bei der Erklärung des Verhaltens, sondern belehrt uns bisweilen sogar eines Besseren. Diskriminierungen laufen nicht immer bewusst ab; viele Schlussfolgerungen geschehen unbewusst. Was wiederum bedeutet, dass wir nicht unbedingt schlechte Menschen sind, wenn wir Jacquelines Mutter für doof halten. Das Unbewusste spielt in diesem Buch immer wieder eine Rolle.

Aber nicht nur die Art und Weise, wie wir Personen wahrnehmen, ist Psychologie, sondern auch andere Aspekte des Verhaltens zeigen, wie die Psyche arbeitet. Ich habe mich im Zug mehrere Male zurückgenommen. Auf das für mich quälend gewalttätige Verhalten der Mutter habe ich nicht äußerlich reagiert. Ich habe mich zurückgehalten, obwohl ich tatsächlich so etwas gedacht habe wie: »Blöde Kuh, lass das Kind in Ruhe.« Wir können uns selbst kontrollieren, und dies ist tatsächlich ein kleines Wunder – angeblich ist der Mensch das einzige Tier, das seine Impulse kontrollieren kann. Natürlich nicht immer: Ein Versagen meiner Selbstregulation wird zum Beispiel beim Coffee to go sichtbar, denn eigentlich ist eines meiner Lebensziele ein nachhaltiges und ökologisch korrektes Verhalten, das an diesem frühen Morgen aber meinem recht egoistischen Verlangen nach Genuss zum Opfer gefallen ist. Das Setzen (und auch die Verletzung) von Lebenszielen kann man inzwischen psychologisch erklären, und an diesem Beispiel zeigt sich schon, wie die Gesellschaft, in der wir leben, unser Verhalten mit prägt. In anderen Teilen der Welt scheint nämlich ein ökologisches Gewissen weniger ausgeprägt zu sein, dort haben die Menschen andere Lebensziele, die auch andere Verhaltensweisen mit sich bringen.

Lebensziele sind globale, abstrakte Vorstellungen vom Leben, die dazu dienen, unser allgemeinstes Ziel zu erreichen: Glück. Oder bescheidener ausgedrückt: dass es uns gut geht. Lebensziele haben mit Werten und sozialen Normen zu tun, ungeschriebenen Gesetzen, die unser Verhalten prägen. Sie sind nicht in Stein gemeißelt und verändern sich stets, wie das Beispiel mit der älteren Dame zeigt. Während es in meinen Kindertagen noch die soziale Norm war, vor allem älteren Frauen (die man Damen nannte) Hilfe anzubieten, ihnen die Koffer zu tragen und den Platz anzubieten, kann das heute als beleidigend aufgefasst werden, ja als schlechtes Benehmen. Und ebenso hat sich die Kleidungsnorm für Professoren geändert: Statussymbole und fragwürdige Anzugkombinationen in Beige und Grau sind weiterhin möglich, aber outdated. Mein Lebensmotto haben Sie gehört: »Du wirst Rosenhecken streifen.« Dieses Motto hatte mit einem gestiegenen Interesse an Achtsamkeit zu tun, beobachtete ich doch kürzlich an mir, dass ich für so etwas wie Rosenhecken in der Hetze des Alltags gar keine Zeit hatte – dass ich nichts Schönes mehr um mich herum wahrnahm. Achtsamkeit ist ebenfalls ein Trend auf dem bunten Psychomarkt – und auch in der Forschung, wie wir noch sehen werden. Achtsames Handeln scheint demnach unsere Stimmung zu verbessern, die, wie in der Beschreibung der Zugfahrt deutlich wurde, ständig schwankt. Da schmeckt uns der Kaffee, und wir fühlen uns behaglich; da nervt ein Kind, und wir regen uns auf; da lesen wir Zeitung und werden wütend; da macht uns einer ein Kompliment, und wir sind stolz; da beurteilt uns jemand falsch, und wir sind irritiert; und da scheint die Sonne, und wir fühlen uns richtig gut. Es ist nicht gleichgültig, welche Stimmung und wie intensiv wir sie erleben. Es hätte gut sein können, dass ich die Mutter an einem anderen Morgen gar nicht bemerkt hätte, oder dass sie mich im Gegenteil richtig aggressiv gemacht hätte. Und auch die Mutter ist natürlich nicht frei von Emotionen.

Kinder nerven manchmal, ohne Frage. Die Emotionen von Kindern nicht ernst zu nehmen oder Kinder schlecht zu behandeln ist allerdings nichts, was man einfach so hinnehmen sollte. Die Entwicklungspsychologie zu Bindungsstilen zeigt nämlich, wie gravierend eine wertschätzende Erziehung ist und welche verheerenden Folgen körperliche Strafen und die Verletzung des Selbstwerts (»Jacqueline, wie blöd bist du denn?«) haben können. Mich selbst regen solche Szenen auf, die man, wenn man häufig Bus und Bahn fährt, nicht selten erlebt, und ich bin tatsächlich schon ein paar Mal dazwischengegangen, weil ich der Überzeugung bin, dass man bei Gewalt, auch von Eltern gegenüber ihren eigenen Kindern, einschreiten sollte.

Das Beispiel macht auch deutlich, wie wichtig eine angemessene Kommunikation ist. Neuere Erziehungsmethoden, wie die »neue Autorität« von Haim Omer und Arist von Schlippe, erinnern nachdrücklich daran, dass unsoziales Verhalten wie das Stören eines anderen Reisenden zur Sprache kommen sollte. Dabei ist das Wie entscheidend. Statt mit verbaler Gewalt wäre ein »Jacqueline, in unserer Familie schreien wir nicht so rum. Und schau, der Mann möchte gern arbeiten« nicht nur moralisch angemessener, sondern auch pädagogisch wirksamer gewesen.

Es ist dabei bemerkenswert, wie häufig wir nichts sagen und trotzdem kommunizieren. Ich habe die Meckerei über die Deutsche Bahn ignoriert, obwohl ich als 30-Jähriger sogar einmal ein Theaterstück – »Zug um Zug« – zu diesem Thema geschrieben habe. Allerdings hatte ich mir zum Ziel gemacht, mit 50 ein Minimum an Weisheit erreicht zu haben, die es mir gebietet, mich über unkontrollierbare Ereignisse wie das Wetter, die Bahn oder einen Stau nicht mehr aufzuregen. Aber selbst meine Nicht-Kommunikation hatte eine Wirkung und hat somit paradoxerweise etwas kommuniziert – die Meckernden sahen irritiert aus, gerade weil ich mich ihrem Gejammer nicht anschloss. »Man kann nicht nicht kommunizieren«, sagte schon Paul Watzlawick, und mein Beispiel und zahlreiche andere, über die ich noch berichten werde, illustrieren dieses Axiom.

Manche Psychologen würden ein Einmischen in die harsche Mutter-Tochter-Interaktion auch als Zivilcourage begreifen, und erforschen, wann Menschen den Mut haben, andere vor Gewalt zu schützen. Menschen sind prosoziale Säugetiere und helfen selbst dann, wenn sie dafür nicht belohnt werden. Manchmal selbst dann, wenn sie negative Folgen zu erwarten haben. Woher kommt das? Warum sind wir empathisch, warum helfen wir, warum spenden wir, warum betätigen sich manche von uns im Ehrenamt? Wir hören sogar immer wieder davon, dass Menschen gar ihr eigenes Leben einsetzen, um andere zu retten. Manchmal helfen wir jedoch auch nicht. Mein Nicht-Eingreifen würden viele Kollegen wohl damit erklären, dass es zu viele Beobachter der Szene gab – Forschung zeigt, dass Menschen eher helfen, wenn es wenige andere Beobachter gibt, weil sie sich dann eher verantwortlich fühlen. Zudem zeigen Studien der Sozialpsychologen Bibb Latané und John Darley, dass wir weniger helfen, wenn wir befürchten, dass uns dies die gute Laune verhagelt. Vermutlich hätte mich die Frau, die ja nicht auf den Mund gefallen war, in einen Streit verwickelt. Da überlegt man sich, ob man sich das um sechs Uhr morgens antun möchte.

Menschen können allerdings auch unglaublich böse sein, und hier zeigt Jacquelines Mutter, verglichen mit der Brutalität in den Krisengebieten der Erde, nur eine milde Variante von Aggression. Die Sozialpsychologie, die nach dem Dritten Reich nachzuvollziehen versuchte, wie Nazischergen überhaupt dazu in der Lage waren, ihre unbeschreiblichen Grausamkeiten zur Routine zu machen, erkannte schnell, dass die Täter auf geradezu erschreckende Weise »normal« waren. Es folgten Experimente, die belegten, wie wenig es braucht, um harmlose Studierende zu unglaublich aggressivem Verhalten zu verführen. Demnach scheint ein aggressives Potenzial in uns allen zu schlummern. Sozialpsychologische Forschung untersucht, wann es an die Oberfläche kommt und wie wir es im Zaum halten können.

Die Psychologie kann auch erklären, warum mir in Bochum die Idee kam, einen Pendelmorgen zum Beginn des Buches zu machen. Man könnte diesen Einfall kreativ nennen, denn ich hatte mich davor einige Wochen damit herumgeschlagen, wie ich ein Buch zur Alltagspsychologie gut einleiten könnte. Sollte ich, wie die meisten Lehrbücher zur Sozialpsychologie, mit der Geschichte der Sozialpsychologie beginnen? Oder Sie durch die Methoden der Sozialpsychologie scheuchen? Sie haben Glück gehabt, dass ich aufgrund meiner Kreativität, einer Gabe, die ich mit allen Menschen teile, die Idee hatte, das Ganze mit Alltagserfahrungen zu beginnen!

Die kognitive oder Denkpsychologie, die Problemlöseprozesse erforscht, zeigt, dass kreative Einfälle häufig in Phasen emporschießen, in denen wir gar nicht an das Problem denken, das wir gerade lösen wollen. Man nennt es Heureka-Moment oder Aha-Erlebnis, wenn einem plötzlich, scheinbar ohne Grund, eine neue Idee oder Lösung einfällt. Studien unter anderem von Ron Friedman und mir zeigen auch, dass besonders eine gute Stimmung und ein positives Körperempfinden neue Ideen oder Problemlösungen zutage fördern – so wie an diesem Morgen, als die Sonne strahlte und ich in Gedanken Rosenhecken streifte.

Neben den Emotionen spielen im Alltag die Kognitionen, also unser Gedächtnis, unsere Wahrnehmung und unser Denken eine große Rolle. Dabei stehen sowohl die Leistungen als auch die Fehler im Fokus der Forschung. Eine Frage zum Beispiel wäre, ob ich nicht doch Teile der Gesichter der Studentinnen erkannt habe? Das wäre dann ein unbewusster Erkennungsprozess gewesen, da ich mich ja bewusst partout nicht daran erinnern konnte, woher ich sie kannte. Unbewusste Gedächtniseffekte sind nicht selten. In vielen Multiple-Choice-Tests steht auf der ersten Seite: »Wenn Ihnen keine der Lösungen bekannt vorkommt, dann kreuzen Sie diejenige an, die Ihnen spontan als Erstes richtig erschienen ist.« Hier macht man sich Studienergebnisse zunutze, die zeigen, dass manchmal ein »Gefühl« für die korrekte Lösung vorhanden ist.

Dieses feeling of knowing, wie es der Gedächtnispsychologe Ascher Koriat nennt, entsteht, weil letztendlich ja die gelernten Informationen irgendwo im Hinterstübchen gespeichert sind. Sicherlich habe ich alle Studierenden in meinem Gedächtnis gespeichert – ich nehme sie ja wahr, auch wenn sie zig Meter von mir entfernt im Dunkeln sitzen, und speichere sie selbst dann ab, wenn sie nur selten kommen. Das mündet zwar nicht in einer expliziten Erinnerung, aber das feeling of knowing ermöglicht mir unter anderem, höflich nachzufragen, woher wir uns denn kennen.

Allerdings wäre ein derlei vages Erinnerungsgefühl nicht tauglich, wenn es wirklich auf Genauigkeit ankommt, wie etwa bei einer Zeugenaussage. So gut unser Gedächtnis ist, so fehlerträchtig ist es auch. Zahlreiche Studien zeigen, welche Fehler bei der Identifizierung von Personen auftreten können, und belegen systematische Gedächtnisverzerrungen.

Unsere Vorannahmen, so die Gedächtnispsychologie, die ich vor allem in Kapitel 6 beschreiben werde, beeinflussen unsere Erinnerungen ständig. So erinnern wir uns besser an die vielen Fehler, die unser unbeliebter Mitarbeiter begangen hat, als an seine Leistungen. Und wenn wir unseren Partner lieben, dann nehmen wir auch eher seine Stärken wahr und vergessen kleinere Streitereien. Erinnerungen verändern sich auch über die Zeit hinweg. So werden Erinnerungen an einen Familienausflug, etwa einen Besuch in einem Vergnügungspark, immer positiver, je mehr Zeit vergeht. Wären wir gestern da gewesen, würden uns die vielen Schlangen vor den Fahrgeschäften, die labbrigen Pommes frites und die Magenverstimmung noch einfallen – in 20 Jahren ist das, was häufig bleibt, die »wunderschöne Kinderzeit, als wir uns immer köstlich im Park amüsiert haben«.

Dies hört sich ein wenig gestört an. Es hört sich so an, als erfinde unser Gedächtnis Fakten, so wie wir das vielleicht aus Filmen wie Shutter Island kennen, in denen Psychopathen unterwegs sind. Tatsächlich aber zeigen vor allem gesunde Menschen derartige Verzerrungen ins Positive, während bei Menschen, die über depressive Verstimmungen klagen, die kleinen störenden Details nicht aus dem Gedächtnis schwinden wollen. Psychologen wie Daniel Gilbert sprechen vom psychischen Immunsystem, das unsere Wahrnehmung auf das Positive ausrichtet. So kommt es auch zu Verzerrungen unsere Fähigkeiten und unser Selbstkonzept betreffend. Die meisten von uns halten sich für schlauer, fleißiger, gewissenhafter und sozialer als das Mittel der Bevölkerung. Zur Illustration: Wenn Versuchsteilnehmer in Studien gefragt werden, ob sie eher in der unteren oder der oberen Hälfte der Verteilung bezüglich ihrer sozialen Kompetenz liegen, platzieren sich die meisten im oberen Drittel. Das muss bei den meisten eine Fehleinschätzung sein, denn so viele können allein statistisch gesehen nicht über dem Mittel liegen.

Auch bei Paaren gibt es solche selbstwertdienlichen Verzerrungen. Die einzelnen Partner geben meist sehr hohe Häufigkeiten an, wenn sie gefragt werden, wie oft sie den Müll wegbringen. So sagt er zum Beispiel: »In 60 Prozent der Fälle«, und sie sagt: »In 80 Prozent.« Ein solches Paar wäre also 140-prozentig beim Entsorgen. Und noch einmal: Ein solches Verhalten ist nicht nur normal, sondern sogar gesund. Gut – oder in diesem Fall besser – über sich zu denken stärkt den Selbstwert und die Psychologie des Selbst, die ich in den Kapiteln 14 und 15 darstellen werde, zeigt, wie wichtig ein hoher Selbstwert nicht nur für die psychische, sondern sogar für die körperliche Gesundheit ist.

Für die Gesundheit wichtig sind zudem, wen wundert’s, positive soziale Beziehungen. Freunde, Partner, gute Bekannte, sie passen, so viele Psychologen, zu unserer Natur als Rudeltier[2]. Mit »unseren Leuten« teilen wir Werte, fühlen wir uns sicher, wertvoll und wohl. Umso erstaunlicher ist es, dass manche von uns in sogenannten dysfunktionalen Beziehungen leben – auch das ist Thema der Beziehungspsychologie. Warum verlassen Menschen ihre Partner nicht, wenn sie ihnen nicht (mehr) guttun? Und welche Kontakte und Beziehungen helfen uns, weiter zu wachsen? Welche behindern unser Glück, und welche fördern es? Warum finden überhaupt manche den richtigen Partner und andere nicht? Liegt es daran, wie elterliche Beziehungen in der Kindheit empfunden wurden? Ein Entwicklungspsychologe könnte düstere Prognosen für Jacqueline aussprechen, denn elterliche Gewalt gepaart mit Nichtbeachtung scheinen keine guten Voraussetzungen für stabile Bindungen im Erwachsenenalter zu sein.

Die Forschung zu Beziehungen zeigt erstaunliche Effekte. So verändern sich Beziehungen auf systematische Weise, und manchmal ist diese Forschung beruhigend. Einige meiner Patienten klagen zum Beispiel, dass sie nach drei Jahren Beziehung die Lust am Sex verloren haben. Forschung zeigt, dass dies ein ganz normales Schicksal ist. Während Beziehungspartner im ersten Jahr noch übereinander herfallen wie die Wilden, wird im Lauf des Lebens für viele eine Freundschaft daraus. Und wenn auch bei manchen Paaren die Sexualität ab und zu wieder aufflammt, so werden gemeinsame Interessen doch mit der Zeit wichtiger (wie zum Beispiel für meinen Mann und mich die gemeinsame Teilnahme an Fortbildungen, wobei dann so kitschige Rosenheckenmottos herauskommen, die keiner versteht außer ihm und mir). Warum ist das so? Mehr davon in Kapitel 18.

Menschen sind im Allgemeinen erstaunlich flexible Wesen, sie können sich an fast alle Umgebungen anpassen und lernen manchmal dazu, ohne es zu merken. Mir wurde beim Schreiben noch einmal deutlich, wie schnell ich eine Expertise entwickelt habe, beim Pendeln einen Platz zu ergattern. Mir hat niemand gesagt: »Du positionierst dich auf jeden Fall ganz vorn am Bahnsteig, sodass keiner an dir vorbeikommt, und stellst dich unter das Schild, weil da, wenn der Zug zum Stehen kommt, gewöhnlich eine Tür ist. Dann drückst du dich möglichst an die linke Seite der Tür, denn da versiegt der Strom der Aussteigenden eher, da diese Seite die Leute aus der oberen Ebene nehmen, wo deutlich weniger sitzen wollen als unten. Dann gehst du rein, auch wenn auf der rechten Seite noch Leute aus der Tür strömen, und schnappst dir den ersten Fensterplatz im Vierer. Wenn dich jemand anmuffelt, mach dir nichts draus, denn wenn du deine Ellbogen nicht gebrauchst, stehst du eine Stunde lang im Gang.« Ich habe das, denke ich, unbewusst gelernt und fühle mich gerade ein wenig asozial – vermutlich habe ich das aber morgen beim Einsteigen wieder vergessen, was mir erlaubt, den Kampf um den Platz ohne schlechtes Gewissen wieder aufzunehmen.

Wenn Vergessen nicht gelingt, helfen uns Rechtfertigungen, unethisches Verhalten zu erklären, wie die Sozialpsychologie lange untersucht hat. Meine Entschuldigung für morgendliches Rempeln haben Sie eben gehört: Ich will nicht im Gang stehen. Hinzu kommt: Wenn ich stehe, verliere ich eine Stunde Arbeitszeit, weil ich dann nicht schreiben kann. Die Konstruktion von Rechtfertigungen nimmt Tausende Formen an und geht uns sehr schnell von der Hand – manche nennen die Sozialpsychologie deshalb auch die »Psychologie der Entschuldigungen«. Unser psychisches Immunsystem scheint Rechtfertigungen zu kreieren, damit wir uns gut fühlen. So wird sich Jacquelines Mutter ihre vermeintliche Gewalt vermutlich damit erklären, dass ihre Tochter aber auch wirklich unerträglich ist oder dass sie selbst zu viel Stress hat. Wenn meine Studentinnen mich irgendwann nicht mehr anlächeln, weil sie eine Vier in der Klausur geschrieben haben, dann sind sicher nicht sie schuld an der schlechten Note, sondern der »blöde Förster«. Dies ist selbstwertdienlich und damit ein Zeichen eines gut funktionierenden psychologischen Immunsystems.

Nun habe ich Ihnen also eine Stunde Pendeln unter dem Mikroskop eines Psychologen erläutert und könnte noch stundenlang so weitermachen. Allerdings sollte ich vorab einmal beschreiben, was ich auf den letzten Seiten getan habe. Um Ihre Aufmerksamkeit zu wecken, habe ich in eine harmlose Pendelstunde viele Probleme hineininterpretiert – das ging von Vorurteilen, Diskriminierung zu Aggression; ich habe von Bindungsstörungen, Urteilsfehlern und Gedächtnisverzerrungen gesprochen. Tatsächlich bin ich damit der Regel »Only bad news is good news« gefolgt. Zudem aber habe ich damit die methodische Herangehensweise vieler wissenschaftlicher Kolleginnen und Kollegen beschrieben: »Finde etwas, was verheerend, schädlich, in seinen negativen Folgen unterschätzt wird, oder am besten gleich eine neue Störung oder gar Krankheit, und schon ist deine Karriere gesichert.« Diese Methodik trifft das menschliche Wesen nur zu einem Teil, daher hat sich die moderne Sozialpsychologie neu erfunden und auf die Suche nach dem Guten im Menschen gemacht.

2 Psychologie im Wandel

Mord und Totschlag, elterliche Gewalt, Gedächtnisfehler – ein Fokus auf das Schlechte im Menschen herrschte lange Zeit in der Psychologie vor. Auch die Sozialpsychologie, die das alltägliche Leben von Menschen ohne nennenswerte psychische Probleme erforscht, erhielt Aufwind durch die Erforschung des Bösen, Asozialen oder Unmoralischen. Tatsächlich erhielt sie die erste große Aufmerksamkeit durch die Forschung zum Dritten Reich. Nach dem Zweiten Weltkrieg wollte man das Unfassbare erklären: den blinden Gehorsam genauso wie die Entstehung von Intergruppenkonflikten, Brutalität und das massenhafte Töten. Die Themen wechselten zwar im Lauf der Jahre zu weniger grausamen Alltagsphänomenen wie Personengedächtnis, Entscheidungskonflikten oder Selbstregulation, aber der Fokus auf Fehlern, Problemen und Verzerrungen blieb. Woran liegt das?

Die Forschung von Ap Dijksterhuis und Henk Aarts legt nahe, dass Menschen Negatives im Allgemeinen eher erkennen als Positives. Offensichtlich interessiert es uns auch mehr. Das reicht bis in die Gremien hinein, die unsere Forschung finanzieren – nicht umsonst hat der großartige Daniel Kahneman[3] einen Nobelpreis für seine Untersuchungen zu Urteilsfehlern erhalten, und zwar nicht nur zu solchen im wirtschaftlichen Umfeld. Das Fehlerhafte, das Unfaire, das Böse sind faszinierend, vor allem, wenn sie uns selbst nicht betreffen, sondern uns lediglich einen Schauer über den Rücken jagen. Ich werde auch hier immer wieder über scheinbar unerklärliche, unmoralische oder unsoziale Handlungen reden, denn die Forschung ist voll davon, und natürlich wollen wir wissen, wie so etwas zustande kommt, und natürlich ist das bedeutsam und auch unterhaltsam.

Allerdings befanden Kollegen in den 90er-Jahren unter den mächtigen Wortführern Martin Seligman und Mihaly Csikszentmihalyi, dass 50 Jahre Fokus auf dem Schlechten im Menschen genug wären. Sie schufen eine Richtung, die sie Positive Psychologie nannten. Hier interessierte, wie Menschen ihre Ziele normalerweise gut erreichen, warum sie sich Tag um Tag so gut motivieren können, wie sie in einen Flow geraten, wenn sie neue Ideen entwickeln, warum sie fair und gerecht sind, warum sie biologische und Fair-Trade--Produkte kaufen, welchen Sinn sie im Leben sehen und wie sie Arbeitskontexte so gestalten, dass sich alle Mitarbeiter wohlfühlen. Themen wie die menschliche Kreativität, Neugierde, Zivilcourage und die Gesundheitspsychologie kamen auf und vervollständigten das Bild vom Menschen, das bis dahin ins Negative verzerrt war.

Nachvollziehbar wird diese historische Entwicklung, wenn man berücksichtigt, dass die Klinische Psychologie und die Therapieforschung, also das Kerngeschäft der Psychologie, vor allem auf sogenannten menschlichen Störungen fokussieren und es sich zur Aufgabe gemacht haben, pathologisches Verhalten zu mindern. Klinische Psychologen wollen leidenden Menschen, die zum Beispiel »Depressionen« oder »Angststörungen« entwickelt haben, schlichtweg helfen und verhindern, dass sozial desorientierte Menschen anderen schaden. Dieser Blick auf Störungen, Symptome und unerwünschtes Verhalten färbte schließlich auch auf diejenigen Subdisziplinen ab, die die psychischen Prozesse von »normalen« Menschen verstehen wollen, von Menschen, die ihr Leben im Großen und Ganzen bewältigen.

Der Ausdruck »normaler« Mensch ist an sich problematisch, und ich werde ihn in diesem Buch höchst selten verwenden. Er dient hier der Abgrenzung zu den Forschungsgebieten der Klinischen Psychologie, die sich mit Stichproben von Menschen beschäftigen, die die Kriterien einer klinischen Diagnose erfüllen und längere Zeit unter schweren psychischen Störungen leiden. Dabei versuche ich, »normal« nicht nur aus Gründen der Political Correctness zu vermeiden, sondern weil der Begriff auf verschiedenen Verständnisebenen in die Irre führt. »Normal« könnte zunächst einmal »statistisch normal« bedeuten. Wir wissen zum Beispiel, dass eine »schwere Depression« nur bei ca. einem Prozent der Bevölkerung zu finden ist, genauso wie etwa ein Prozent »schizophren« ist. In diesem Sinne könnte man »unnormal« also als eine Abweichung von der Norm verstehen, vom gedachten Mittelwert einer Verteilung, die von höchst dysfunktional bis höchst funktional reicht. Allerdings hat diese Betrachtung einen Haken, denn zwischen diesen Polen gibt es vielfältige Schattierungen.

Abb. 1 Normalverteilung. Hier wird »normal« statistisch als das definiert, was die Mehrheit der Menschen ausmacht. Hier z. B. sind es wenige Menschen, die »immer gesund« oder »sehr krank« sind – die meisten sind gesund, aber ab und zu mal krank.

Normal, so könnte man auch meinen, wäre jemand, der noch nie psychologische Hilfe in Anspruch genommen hat. Das aber wäre eine mühsam zu verteidigende Definition, denn mittlerweile, so zeigt Forschung, nutzen ca. 50 Prozent aller Deutschen irgendwann einmal in ihrem Leben psychotherapeutische Beratungen im weiteren Sinne. Eine kürzlich erschienene Langzeitstudie von Jonathan Schaefer und einem internationalen Team aus Dunedin kommt sogar auf 83 Prozent, die in ihrer ersten Lebenshälfte eine »psychische Störung« hatten. Viele von uns haben irgendwann mal einen Durchhänger – bei manchen ist eine Trennung die Ursache, ein Todesfall, eine berufliche Krise, bei anderen eine »depressive Verstimmung«, »Burn-out«, Alkoholmissbrauch, Selbstwertprobleme oder plötzlich auftretende »Angststörungen«. Es scheint also »normal« zu sein, einmal in eine Krise zu geraten. Zudem, so ist meine Erfahrung als Therapeut, sind es gerade diejenigen Menschen, die sich gut um sich kümmern, die unsere Hilfe in Anspruch nehmen und so leidvolle Störungen präventiv verhindern. Es ist so wie bei einer Krebserkrankung: Je früher man die Sache mit einem Experten angeht, umso weniger schlimm wird es. Zum Therapeuten zu gehen heißt für mich nicht: »Ich bin verrückt«, sondern: »Ich habe eine gute Selbstregulation.« Normalsein ist also relativ.

Natürlich würde ich dieses Wort sowieso nie als Wertung gebrauchen, also in dem Sinne von: »Manche spinnen, und manche kommen gut durchs Leben.« Tatsächlich schwingt das aber ständig mit, wenn wir es verwenden. Der Begriff Normalität impliziert eine Teilung in Gut und Verrückt, und ich werde Ihnen zeigen, wozu wir »normalen« Menschen so alles fähig sind – im Guten wie im Bösen. Um Ihre Neugierde kurz zu befriedigen: Die Beobachtung der politischen Philosophin Hannah Arendt, dass die KZ-Wärter erschreckend normal waren, wird durch unsere Forschung bestätigt: Es braucht nicht viel, um aus einem »normalen« Menschen einen Folterer werden zu lassen.

Ich habe es mir grundsätzlich abgewöhnt, als Wissenschaftler und Therapeut Verhalten einseitig zu bewerten. Mein Ansatz basiert nicht nur auf der Perspektivenverschiebung durch die Positive Psychologie, sondern auch aus meiner Beschäftigung mit der menschlichen Selbstregulation und dem systemischen Denken. Sie erlaubt es mir, fast jedes Verhalten als funktional in seiner Situation zu interpretieren. Anders formuliert: Fast alle Verhaltensweisen haben eine Funktion – Menschen machen Gebrauch von bestimmten Strategien, um zu einem Ziel zu kommen oder das System, in dem sie leben, aufrechtzuerhalten. So wird mancher durch diszipliniertes Lernen einen guten Beruf ergreifen können. Lernen ist also funktional. Ein anderer wird durch liebevolles Verhalten ein Kind erziehen, das später ebenfalls glücklich ist. Liebevolles Verhalten ist also funktional.

Jedoch erreichen Menschen nicht selten auch durch unmoralische Mittel ihre Ziele. Die grausamen Enthauptungen von Journalisten durch den sogenannten Islamischen Staat haben uns entsetzt und panisch werden lassen – das war jedoch, wenn man es nüchtern betrachtet, genau das, was die Mörder beabsichtigten. Und ein Student, der sich dazu entschließt, lieber in einem Flüchtlingsheim zu arbeiten, als sich Vorlesungen anzuhören, die ihm langweilig vorkommen, und der aufgrund dessen mit 30 immer noch keinen Berufsabschluss hat, entspricht zwar nicht unseren Vorstellungen von einem erfolgreichen Leben, aber er kann sich natürlich trotzdem wohl in seiner Haut fühlen – und es ist davon auszugehen, dass seine Arbeit sehr nützlich war.

Gut und Böse sind also abhängig vom Betrachter. Selbst ein Verhalten, das wir gesellschaftlich für nützlich halten, kann einem einzelnen Individuum schaden. Ich habe nicht nur eine Studentin in meinen Beratungen erlebt, die nicht zu wenig, sondern zu viel gelernt hat. Ich habe Manager als Klienten gehabt, die überarbeitet waren, und Väter, die ihre Kinder so »gut« beschützt hatten, dass sie deren Autonomie behindert haben. Ich habe Mütter erlebt, die ihren Kindern so sehr bei den Hausaufgaben geholfen haben, dass diese unmotiviert verdummten. Wir können es also auch zu gut meinen – selbst Verhaltensweisen wie lernen, helfen, lieben müssen nicht immer zielführend sein. Damit verschwimmen die Grenzen von Gut und Böse, von Normal und Verrückt, und daher stelle ich mir lieber die Frage: »Welches Verhalten war in der Situation, in der es passierte, nützlich?« Und, genauso wichtig: »Für wen ist was nützlich?« Jeder von uns braucht etwas anderes, und jeder von uns braucht etwas anderes in verschiedenen Situationen.

Eine etwas ältere Dame, nennen wir sie Frau Müller, besuchte mich einmal. Ihr Mann war drei Jahre zuvor verstorben. Sie hatte immer sehr gesund gelebt, aber nach dem Tod des Mannes wieder mit dem Rauchen angefangen. Jetzt wollte sie von mir wissen, wie sie es sich wieder abgewöhnen könnte: »Herr Förster, ich will doch nicht mit so einem Scheiß meine Gesundheit gefährden. Wie konnte ich mit so einem Scheiß überhaupt anfangen? Das ist doch pubertär. Das ist doch nicht normal?« Die Selbstregulationslogik im Kopf, ging ich erst einmal auf die Funktionalität des Rauchens während des Trauerns ein: »Frau Müller, ich verstehe, dass Sie sich das Rauchen abgewöhnen wollen. Aber es nützt nichts, wenn Sie es verteufeln, das ist ja nur ein Teil der Geschichte. Das Rauchen hat Ihnen vermutlich geholfen?«

»Ja, klar, das können Sie sich doch denken. Das war so eine Krücke. Es entspannt mich halt irgendwie.«

»Okay, dann können wir das doch einmal kurz würdigen. Wenn es Ihnen geholfen hat, dann hat es doch einen Zweck gehabt. Sie hätten sich ja auch totsaufen können. Die paar Zigaretten werden Sie nicht umbringen. Außerdem können wir das nicht mehr ändern.«

»Wollen Sie damit sagen, ich soll weiterrauchen und schließlich an Krebs verrecken?«

»Nein, Sie wollen ja aufhören.«

»Also?«

»Die Frage ist doch: Das Rauchen hat Ihnen geholfen. Gut so. Aber passt es noch in die Jetztzeit?«

»Ja, da haben Sie recht. Es hat geholfen, wenn ich mir in meinem Schmerz einfach eine reingepfiffen habe. Aber das war damals. Das war mein damaliges Leben. Aber jetzt ist damit Schluss.«

Frau Müller illustriert hier eine Einsicht, die sich auch in der Psychologie verbreitet hat: Was verrückt, ungesund, schlecht in der einen Situation ist, erscheint hilfreich in der anderen. In den systemischen Therapieschulen werden Auszubildende daher auch in Wertneutralität geschult. Sie versuchen, Menschen wertschätzend und ihr Verhalten zunächst einmal wertneutral zu betrachten, um ihre Probleme besser verstehen zu können und letztlich hilfreich zu sein.

Für Frau Müller war es förderlich, zu erkennen, dass ein Teil von ihr das Rauchen brauchte. Dieser Teil stand jetzt, nach drei Jahren Trauern, aber nicht mehr im Vordergrund. Sie wollte wieder nach vorn schauen, und dies mit 100 Prozent ihrer Energie, für die sie ihre Gesundheit brauchte. Hätte sie ihr unliebsames Verhalten weiterhin verteufelt und sich darüber geärgert, dass sie diesen »Scheiß« macht, hätte sie sich immer wieder aufs Neue mit dem Vergangenen beschäftigt und keine Ressourcen für einen Neuanfang gehabt. Wenn man aber mit einem liebevollen Danke Adieu sagt, fällt es leichter, die Zukunft in die Hand zu nehmen. Ohne den »Scheiß« weiterhin im Kopf zu haben, begann sie nun, einem neuen Teil in sich Raum zu verschaffen, der in der letzten Zeit zu sehr geschwächt worden war und nun wieder aufgebaut werden konnte.

Dies ist also ein Buch über die 95 Prozent der Menschen, die ab und zu, so wie Frau Müller, schlimme Phasen oder Krisen erleben, aber nicht wegen einer chronischen Störung ständig betreut werden müssen.[4]Mit Letzteren beschäftigt sich die Psychiatrie oder die Klinische Psychologie, und solche und ähnliche Extremfälle menschlichen Erlebens kommen in diesem Buch nur dann vor, wenn es zum Verständnis des Alltagslebens beiträgt.

Die Psychologie des Alltagslebens untersucht das, was Menschen normalerweise tun. Natürlich ist jeder Mensch etwas Besonderes und Einzigartiges, aber dennoch verbinden uns Menschen bestimmte psychologische Gemeinsamkeiten. Von der Psychologie allgemeinpsychologischer Prozesse soll die Rede sein, davon, welche psychologischen Faktoren unser alltägliches Leben bestimmen. Ab und zu werde ich aber auch Einzelfälle aus meiner Praxis berichten, denn Menschen sind komplexer, als Forschung je sein kann. Und ich habe Ihnen ja bereits anhand der Negativsicht der Kollegen gezeigt, dass unsere Forschung bei Weitem nicht frei ist von Trends und persönlichen Vorlieben und dass sie manchmal, so ist das bei normalen Menschen, die wir Psychologen ja sind, auch von mangelndem Selbstwert, Eitelkeiten sowie Grenzen der Intelligenz und Kreativität mitbestimmt wird. Ich werde mich bemühen, die besonders spannenden Erkenntnisse aus der Masse der Forschungsdaten herauszufiltern. Dabei hilft die Unterscheidung von Teildisziplinen der Psychologie, die ich in diesem Buch unter dem Sammelbegriff »Alltagspsychologie« zusammenfasse.

3 Alltagspsychologie und ihre Disziplinen

Die Psychologie beansprucht für sich wie keine andere Disziplin, menschliches Verhalten in einer bestimmten Situation vorherzusagen. Kein anderes Fach weiß so viel darüber, wie Menschen die Umwelt in ihrem mentalen System verarbeiten. Dabei gibt es zahlreiche Subdisziplinen, für die mittlerweile eine eigene Ausbildung nötig ist, um sie voll und ganz erfassen und würdigen zu können.

Die Kognitionspsychologie untersucht das Denken und das Gedächtnis des Menschen und Lernprozesse. Die Entwicklungspsychologie beschäftigt sich mit Veränderungen über die Lebensspanne, das heißt, wie sich Denken, Fühlen und Verhalten vom Baby bis zum Greis entwickeln. Die Motivationspsychologie widmet sich den allgemeinen Gesetzmäßigkeiten der menschlichen Antriebe: Was trauen wir uns zu und warum, und warum schreiten wir manchmal sofort zur Tat und kommen ein anderes Mal nicht in die Gänge? Die Emotionspsychologie konzentriert sich auf die Entstehung von Emotionen und wie sie sich auf Verhalten und Denken auswirken. In der Persönlichkeits- und der Differentiellen Psychologie geht es um den eher »stabilen Teil« oder »den Kern der Psyche« des Menschen und welche Möglichkeiten es gibt, bestimmte Persönlichkeitseigenschaften festzustellen. Diese Disziplin entwirft zum Beispiel Fragebögen, um eruieren zu können, wie chronisch ängstlich, extravertiert, integer oder politisch interessiert eine Person ist.

Auch die Physiologie und die Neurowissenschaften spielen eine Rolle. In diesen Teilgebieten der Psychologie wird die Frage erörtert, wo in unserem Hirn etwas passiert und welche körperlichen und stofflichen Reaktionen psychische Veränderungen begleiten oder hervorrufen.

Die Ergebnisse dieser psychologischen Disziplinen werden weiterhin in der Wirtschaftspsychologie, der Arbeits- und Organisationspsychologie und der Konsumenten- und der Medienpsychologie genutzt. Auch aus diesen Disziplinen werde ich schöpfen, wobei man mir verzeihen mag, wenn ich mich auf meine Hausdisziplin konzentriere: die Sozialpsychologie, die all diese Aspekte des alltäglichen Lebens und Erlebens in einem gesellschaftlichen, kulturellen oder Gruppenkontext untersucht. In dieser Disziplin entwerfen wir ebenfalls Emotions-, Motivations- und Gedächtnistheorien, jedoch setzen wir sie immer in Beziehung zur Umwelt oder zu anderen Menschen.

Hier ein Beispiel: Stehen Menschen gemeinsam an einem Busbahnhof und warten, dann speichern sie die Szene nicht eins zu eins ab, als wäre das Gedächtnis eine Kopiermaschine, oder als gäbe es keinen Kontext: Wenn es geregnet hat, »erinnern« sich Menschen eher an Regenmäntel, die die Wartenden angeblich anhatten. Und jeder Wartende wird Unterschiedliches erinnern: Während der eine einen Blick für die handgearbeiteten Schuhe des Mannes neben ihm hat, nimmt die andere den kleinen nassen Hund der alten Dame wahr. Objektive Wirklichkeit gibt es in der Sozialpsychologie nicht – die Umwelt oder der Kontext verändert unser Denken, Fühlen und Verhalten und relativiert alles. Daher nennen wir Gedächtnisinhalte Repräsentationen: Das, was unser Gedächtnis abspeichert, ist nicht das Objekt, das wir wahrnehmen – es repräsentiert das Objekt nur in einer individuellen Weise.

Die Psychologie profitiert zudem von den vielen Nachbardisziplinen. Wir lernen immer wieder von der Philosophie, zum Beispiel in der Theorienbildung. Wir übernehmen Konzepte aus der Soziologie, den Wirtschaftswissenschaften, den Politikwissenschaften und der Kulturanthropologie. Auch die Biologie und die Gesundheitswissenschaften wie Medizin und Pädagogik liefern uns wertvolle Erkenntnisse.

Unser Fokus auf das Individuum und sein Denken, Fühlen und Verhalten in seinem sozialen Kontext ist jedoch speziell uns Psychologen überlassen. In unseren Studien untersuchen wir eine einzelne Person oder eine Gruppe und versuchen zu ermitteln, wie sie sich in bestimmten Situationen fühlt, was sie denkt, was sie letztendlich tut und was sie antreibt. Zentral ist die Erforschung der sozialen Informationsverarbeitung: Wie verarbeiten wir die Umwelt in unserem mentalen System? Eine recht strittige Frage ist dabei, ob Repräsentationen eher von »innen« – vom Kern unserer Persönlichkeit – beeinflusst werden oder eher von »außen«, also vom Kontext, von anderen Menschen, der Gesellschaft oder der Umwelt.

4 Was treibt uns Menschen an?

Um eine jahrzehntelange Debatte[5]in einem Satz abzukürzen: Menschliches Denken und Verhalten gehen auf eine Kombination von Persönlichkeit und Umwelt zurück:

Abb. 2 Verhalten ist eine Funktion von Person und Umwelt

Diese Formel geht auf Kurt Lewin zurück, einen der größten Pioniere der Psychologie, der kurz vor dem Krieg noch vor den Nazis nach Amerika fliehen konnte und dort mit seiner Feldtheorie weltberühmt wurde. Kurt Lewin interessierte die Gesamtgestalt eines Menschen in der Umwelt, dem Feld, in dem er lebt.[6] Der Mensch wird demnach genauso von der Umwelt beeinflusst, wie er sie beeinflusst. Mehr noch: Beide, Person wie Umwelt, sind in einem ständigen, lebendigen Austausch miteinander, womit sich die Gesamtgestalt fortwährend verändert und somit auch die Persönlichkeit und die Umwelt. Diese simple, aber brisante Formel fand ihre Bestätigung in den fast 100 Jahren intensiver Forschung, die folgten. Vor allem der Gedanke, dass menschliches Verhalten nicht allein auf der Basis der Persönlichkeit, der Biologie oder der Genetik zu verstehen ist, setzte sich immer mehr durch. Wir haben es beim Menschen mit einem höchst dynamischen System zu tun, und Persönlichkeit ist stets die Wirkung von persönlichen Eigenschaften, Talenten und Fähigkeiten in einem bestimmten Kontext. Und der Kontext ist das von der Persönlichkeit Wahrgenommene. Dabei bezweifeln die meisten von uns nicht, dass es da draußen in der Welt etwas gibt. Wir bilden uns die Welt nicht ein. Allerdings wird alles, was wir wahrnehmen, von unserem Wahrnehmungsapparat verzerrt und unseren psychischen Bedürfnissen angepasst. Wir nennen das Konstruktionen.

Nehmen wir als Beispiel die Wirtschafts- und Finanzkrise 2007, die als Umweltfaktor einen starken Einfluss auf die Bevölkerung hatte. Dieses Ereignis wurde von vielen als negativ erfahren, und so mancher hatte kurzzeitig das Gefühl, die Kontrolle über seine finanzielle Sicherheit verloren zu haben. Einige machten sich Sorgen um ihre Rente, manche um ihre Firma, um ihre Aktien oder Ersparnisse, und andere erlitten in der Tat schwere Verluste. Grundsätzlich löst ein derartiges Ereignis bei vielen Beunruhigung aus. Jedoch ist zu vermuten, dass nicht jeder sich durch so eine Krise in gleicher Weise beeinflussen lässt. Einige Menschen wird sie kaltlassen, während andere, die speziell um ihre Finanzen fürchten oder sich vielleicht auch in anderen Situationen eher ängstigen, stärker oder nachhaltiger in ihrem Verhalten beeinflusst werden. Es gibt unter uns ängstliche und weniger ängstliche Personen. Wir sprechen psychologisch von dispositioneller oder generalisierter Ängstlichkeit.

Aber auch die Umwelt wirkt auf uns ein. Neben eigenen, subjektiven Schwellen (der eine flippt schon beim ersten Auftauchen des Wortes Krise aus, beim anderen muss eine Krise deutlich spürbar sein) gibt es auch Einflüsse, die (fast) jeden tief treffen. Natürlich bringt ein Brand in der Küche jeden von uns dazu zu erschrecken, und hätten wir vermutlich alle Angst bekommen, hätte man uns in der Wirtschaftskrise von heute auf morgen enteignet oder unsere Konten genullt. Kontextfaktoren beeinflussen uns, aber natürlich sind sie häufig nicht so objektiv und eindeutig einzuschätzen wie ein Brand. Es ist hoch wahrscheinlich, dass wir Menschen aufgrund des Klimawandels in 20 Jahren viel weniger zu essen haben werden – viele wissenschaftliche Befunde sprechen dafür. Es wird zu Flüchtlingswellen kommen, es wird Unruhen geben, es wird neue Krankheiten geben. Doch weil der Klimawandel für viele noch nicht stark genug spürbar ist, handeln viele so, als hätte die Klimaerwärmung nichts mit ihnen zu tun, und verschwenden weiterhin Energien (indem sie sich teure Autos kaufen, zu viel Plastik verwenden oder zu häufig fliegen). Aus der Kombination des Kontextfaktors (zum Beispiel: Wie stark ist die Bedrohung?) und der Disposition (etwa: Wie verängstigt bin ich persönlich?) könnte man Vorhersagen entwickeln, wie stark Menschen in einer bestimmten Situation der Unsicherheit reagieren.

Jedoch ist die Formel von Lewin viel aufregender, als man bis hierhin vermuten mag, denn sie besagt, dass sich unsere Persönlichkeit, unsere Urteile und unser Verhalten unmittelbar in der Situation verändern, dass wir keine feste Persönlichkeit haben, dass wir kein Computer sind, aus dem man mühelos abrufen kann, was wir in der nächsten Minute tun werden – ganz im Gegenteil. Wir verändern unsere Gedanken, Einstellungen und Urteile unbemerkt und fortwährend aufgrund von internen Abläufen und von Umweltfaktoren. Um die Computermetapher zu gebrauchen: Wir machen permanent Updates.

Nehmen wir als Beispiel ein Experiment aus der Forschung. Die Psychologen Norbert Schwarz und Jerry Clore riefen Unbekannte an, die nach dem Zufallsprinzip aus Telefonbüchern von ganz Amerika zusammengesucht wurden, und befragten sie nach ihrer Lebenszufriedenheit. Die Frage war deutlich gestellt: »Wie zufrieden sind Sie mit Ihrem Leben im Allgemeinen?« Jemand, der argumentiert, dass wir eine feste Persönlichkeit haben, sollte annehmen, dass wir irgendwo abgespeichert haben, wie wir im Leben klarkommen. Dass irgendwo die Summe der positiven und negativen Erfahrungen zusammengerechnet würde und dann ein Wert herauskäme, den wir immer wieder aus dem Gedächtnis abrufen könnten. So funktioniert Homo sapiens aber wohl nicht. Die Situation, in der die Frage gestellt wurde, spielte nämlich eine große Rolle und verfärbte das Urteil.

Schwarz und Clore schauten bei ihren Anrufen nach, wie das Wetter in der jeweiligen Region war, und stellten fest, dass Personen, die sie bei schönem Wetter interviewten, eine höhere Lebenszufriedenheit angaben als jene, die sie an einem regnerischen Tag befragten. Es spricht viel dafür, dass diese Effekte unbewusst auftraten. Diese und zahlreiche andere Studien, von denen ich noch berichten werde, zeigen, wie sehr wir mit der Umwelt verbunden sind, wie stark sie uns bewusst oder unbewusst beeinflusst und wie unstabil und konstruiert unsere Einstellungen manchmal scheinen.

Auch die Frage, warum manche Menschen über verschiedene Situationen hinweg ängstlicher sind als andere, ist wiederum durch Umwelt- wie Persönlichkeitsfaktoren zu erklären. Häufig denken Laien, dass die Gene uns bestimmen würden, doch Sozialisations- oder Erziehungsprozesse spielen eine ebenso wichtige Rolle: Viele Studien belegen den Einfluss der Erziehung, der gesellschaftlichen und der kulturellen Prägung, der Familie, Lehrer, Freunde usw. Das, was uns widerfährt, setzt sich in unserem Gedächtnis fest und bestimmt letztendlich unsere Werte, unsere Ziele und somit unsere Persönlichkeit.

Um beim Thema Angst noch etwas zu verharren: Angst auslösende oder gar traumatische Ereignisse können sich im Gedächtnis festsetzen und chronisch das Leben bestimmen. Jemand, dessen Kindheit durch finanzielle Nöte gekennzeichnet war, könnte bei einer Krise im Erwachsenenalter mehr Angst empfinden. Und lebt ein Individuum in einer Gesellschaft, in der viele ängstliche Menschen leben und vorsichtiges sowie wachsames Verhalten belohnt wird, kann sich dies ansteckend auswirken. Die Niederländer und die Amerikaner glauben zum Beispiel, dass wir Deutschen ängstlicher seien als andere Nationen; sie haben sogar einen eigenen Begriff dafür: »German Angst«. Als Beleg wird unter anderem angeführt, dass wir Deutschen gern überversichert seien, und es werden Beispiele zitiert, in denen wir verglichen mit anderen Völkern, angeblich überreagiert haben: bei BSE (dem Rinderwahn), der Vogelgrippe oder angeblich beim Atom-GAU in Fukushima.[7]

Auch andere Verhaltensweisen werden durch gesellschaftliche Strukturen und kulturelle Standards entscheidend mitbestimmt. So wird der Fokus auf Leistung durch gesellschaftliche Werte vermittelt, und wenn die direkten und indirekten Belohnungen wie ein »anständiges« Gehalt, Prestige, Status und gesellschaftliche Anerkennung in Krisenzeiten nicht verfügbar sind, kann das Panik verursachen. Ich hatte den Eindruck, dass aus diesem Grund die Niederländer ein viel größeres Problem mit der Wirtschaftskrise hatten – materieller Besitz ist in der calvinistisch geprägten Gesellschaft dieses Landes ein recht deutliches Lebensziel, das nun plötzlich unerreichbar schien. Ich lebte damals in Amsterdam und konnte durch meine leicht andere Prägung den fast panischen Verarmungswahn nicht nachvollziehen, jedenfalls nicht in der Intensität. Keiner der allesamt gut verdienenden Kollegen ist wirklich komplett ruiniert worden, aber zu jener Zeit gab es kaum ein anderes Thema an der Universität.

Das Drama spielte sich vor allem in den Köpfen ab. Ein Kollege beklagte sich allen Ernstes, dass man »zum Leben« doch monatlich 8000 netto brauche und wie er denn mit weniger überleben solle. Natürlich ist auch ein solcher Standard, den er vermutlich irgendwann einmal von anderen übernommen hatte, eine Konstruktion. Er hatte ihn wohl so verinnerlicht, dass er darüber vergaß, wie gut es sich auch mit weniger leben lässt. Und machte sich damit das Leben schwer, denn natürlich kann man sich ein Shampoo für zehn Euro durchaus auch dann noch leisten, wenn man die Hälfte verdient, und natürlich muss man in einer Wohnung, die kleiner ist als 180 Quadratmeter, nicht dahinvegetieren.

Verzerrte Konstruktionen können manchmal zu großen Problemen führen. Viele Opfer von Burn-out geben an, dass sie so viel arbeiten mussten, weil andere es von ihnen verlangten oder weil es die moderne Zeit von uns fordert, oder weil ihr Partner einen hohen Lebensstandard hätte. Das mag bei manchen so sein, vielleicht ist unsere westliche Welt arbeitswütig und werden die Arbeitsbedingungen tatsächlich immer unmenschlicher bei sinkenden Löhnen, jedoch spielen sich in vielen Fällen Anforderungen, die das Verhalten der Betroffenen leiten, allein zwischen den Ohren ab und entbehren einer Faktenbasis. Paradoxerweise haben gerade Burn-out-Opfer in den letzten Phasen vor dem Zusammenbruch häufig kaum noch Kontakt zu anderen. Dies bedeutet aber, dass sie sich die Anforderungen möglicherweise nur einbilden – denn wenn sie niemanden mehr um sich herum haben, kann ihnen auch niemand Anforderungen kommunizieren. Frage ich als Therapeut zum Beispiel nach: »Wer hat Ihnen denn konkret gesagt, dass Sie Ihr Büro nicht vor 22 Uhr verlassen können?«, oder: »Fordert Ihr Partner wirklich, dass Sie so viel verdienen?«, haben manche erschöpften Klienten keine Antwort. Ihr Zusammenbruch beruht – nicht immer, aber häufig – auf einer Konstruktion der Realität. Die Systemiker, wie zum Beispiel Niklas Luhmann, nennen das auch Erwartungs-Erwartungen: Ich denke, die anderen wollen etwas von mir, was diese tatsächlich nie als Erwartungen formuliert haben.