Was das Haben mit dem Sein macht - Jens Förster - E-Book

Was das Haben mit dem Sein macht E-Book

Jens Förster

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Beschreibung

Nie gab es so viel Konsum wie heute. Und nie eine solche Sehnsucht nach Sinn. Was das eine mit dem anderen zu tun hat, erklärt der Sozialpsychologe Jens Förster und entwickelt eine neue Theorie der Beziehung zwischen Konsum und Verzicht. Das Haben ist auch in der Wegwerfgesellschaft nicht per se zu verdammen, das Sein nicht unbedingt allein erfüllend. Jens Förster hilft, die eigene Position zu bestimmen. Jeder kann seinen Weg zu einem glücklichen und sinnvollen Leben finden.

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Seitenzahl: 421

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Jens Förster

Was das Haben mit dem Sein macht

Die neue Psychologie von Konsum und Verzicht

Knaur e-books

Über dieses Buch

Wie unterschiedlich wir Menschen doch sind. Manche sind im Konsumrausch – sie kaufen in volle Schränke, erfreuen sich an materiellen Gütern und schöpfen daraus Selbstbestätigung. Andere wiederum lässt Besitz gleichgültig – sie sind auf der Sinnsuche und auf außergewöhnliche Erfahrungen ausgerichtet, die sie weiterbringen.

Inhaltsübersicht

WidmungVorwortDas TrüffelschweinDie TrüffelI Haben als ProblemDie subjektive Sicht: Haben wir überhaupt ein Problem?Wer hat, der hatDer gute und der schlechte MenschGedächtnis und AufmerksamkeitTeure MoralDer schlechte und der gute ReicheI, RolexDie objektive Sicht: Wir haben ein ProblemDie Explosion der DingeHyper-IchKinderzimmerfreiheitHaben als KatastropheWas ist die Lösung?Weniger ist das neue MehrZusammenfassungII Haben und Sein – Worum geht es?Von der Schwierigkeit zu seinHabenziele und SeinszieleHabenmittel und SeinsmittelErich FrommIII Versionen des HabensHabenwollenRaffen und PrassenImpulsives KaufenPathologisches KaufverhaltenHorten, Sammeln, Festhalten, SparenDer gute Grund der »Störungen«MaterialismusNichts-Haben, Armut, KnappheitÜberlappungenBewertungen des HabensGute und schlechte ProdukteIV Versionen des SeinsVerzicht und freiwillige EinfachheitTeilen, Tauschen, Leihen, SpendenErleben im Hier und JetztPersönlichkeitsentwicklung, Identitätssuche, SinnsucheReligion und SpiritualitätSoziales Leben und ArbeitFreizeit, Party, Hobbys, SexNatur und KunstNichts-Sein, Leere, Langeweile, geistige und emotionale ArmutBewertungen des Seins – und Übergänge zum HabenSein und Haben als Mittel und ZielV Warum wollen wir haben?GierNeid und PrestigesuchtHedonismus und Konsumierenwollen – zwei Basismotive?SicherheitHaben als SelbstexpansionZugehörigkeit und BesonderheitKontrolleStimulierungZusammenfassungVI Warum wollen wir etwas sein?HedonismusZugehörigkeit und BesonderheitSelbstverwirklichungUnsicherheit und KontrolleGier und NeidTranszendenz und LebenssinnEpistemische Motivation, Bedürfnis zu denken und StimulierungSattheitZusammenfassungVII Macht Haben glücklich?Materialismus und GlückBesitz und LebenszufriedenheitArmutGeld als Ressource oder als SuchtVIII Macht Sein glücklich?Verzicht und freiwillige EinfachheitTeilen, Tauschen, Leihen, SpendenErleben im Hier und JetztPersönlichkeitsentwicklung, Identitätssuche, SinnsucheReligion und SpiritualitätSoziales Leben und ArbeitFreizeit, Party, Hobbys, SexNatur und KunstIX Eine selbstregulatorische Theorie vom Haben und SeinHaben, um zu habenHaben, um zu seinSein, um zu habenSein, um zu seinSchlussGlossarDanksagungenLiteraturVorwortI Haben als ProblemWer hat, der hatDer gute und der schlechte MenschGedächtnis und AufmerksamkeitTeure MoralDer schlechte und der gute ReicheI, RolexDie Explosion der DingeHyper-IchKinderzimmerfreiheitHaben als KatastropheWeniger ist das neue MehrII Haben und Sein – Worum geht es?Von der Schwierigkeit zu seinHabenmittel und SeinsmittelIII Versionen des HabensRaffen und PrassenImpulsives KaufenPathologisches KaufverhaltenHortenMaterialismusNichts-Haben, Armut, KnappheitÜberlappungenGute und schlechte ProdukteIV Versionen des SeinsVerzicht und freiwillige EinfachheitTeilen, Tauschen, Leihen, SpendenErleben im Hier und JetztPersönlichkeitsentwicklung, Identitätssuche, SinnsucheReligion und SpiritualitätSoziales Leben und ArbeitFreizeit, Party, Hobbys, SexNatur und KunstNichts-Sein, Leere, Langeweile, geistige und emotionale ArmutBewertungen des Seins – und Übergänge zum HabenSein und Haben als Mittel und ZielV Warum wollen wir haben?GierNeid und PrestigesuchtHedonismus und Konsumierenwollen – zwei Basismotive?SicherheitHaben als SelbstexpansionZugehörigkeit und BesonderheitKontrolleStimulierungVI Warum wollen wir etwas sein?HedonismusZugehörigkeit und BesonderheitSelbstverwirklichungUnsicherheit und KontrolleGier und NeidTranszendenz und LebenssinnEpistemische Motivation, Bedürfnis zu denken und StimulierungSattheitVII Macht Haben glücklich?Materialismus und GlückBesitz und LebenszufriedenheitArmutGeld als Ressource oder als SuchtVIII Macht Sein glücklich?Verzicht und freiwillige EinfachheitTeilen, Tauschen, Leihen, SpendenErleben im Hier und JetztPersönlichkeitsentwicklung, Identitätssuche, SinnsucheReligion und SpiritualitätSoziales Leben und ArbeitFreizeit, Party, Hobbys, SexNatur und KunstIX Eine selbstregulatorische Theorie vom Haben und SeinHaben, um zu habenHaben, um zu seinSein, um zu habenGlossar
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Für Manfred

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Vorwort

Es ging mir nicht gut. Der Arzt sagte, ich solle kürzertreten, eine Zeitlang nicht arbeiten. Ich saß zu Hause an meinem drei Meter langen Gesindetisch, an dessen einer Seite ich normalerweise arbeitete und an dessen anderer ich aß. Nun aß ich nicht mehr und arbeitete auch nicht, sondern starrte ins Leere – stundenlang. Midlife-Crisis.

Ich konnte doch eigentlich froh sein in dieser schönsten Wohnung der Welt, wie mein bester Freund immer gesagt hatte. An der Brouwersgracht in Amsterdam. Draußen die mächtigen Ulmen, die Hausboote, Fischreiher, Möwen, Eichelhäher – und auf meinem englischen Marmortisch auf der Terrasse saß die zahme Amsel, die ich täglich mit Müsli fütterte. Aber es ging mir nicht gut. Ich durfte nicht arbeiten. Konnte ja auch nicht. Und wollte nicht. Doch nur dasitzen? Fernsehen?

Das ging natürlich nicht. Sie können jemandem, der die letzten Jahre täglich achtzehn Stunden gearbeitet hat und von einem Kongress zum anderen hetzte, nicht plötzlich totalen Müßiggang verschreiben. Mir fiel nichts Besseres ein, als zu putzen. Das befriedigte mich nicht sonderlich, zerstreute jedoch ein wenig die grauen Gedanken und lenkte meinen Blick auf all die Dinge, die ich abstauben musste. Was hatte sich in den fünfzig Jahren meines bisherigen Lebens nicht alles so angesammelt! Bei den Umzügen war nie Zeit zum Aussortieren gewesen, und Geld für die immer länger werdende Kolonne von Umzugslastwagen war ja da gewesen. Und für eine größere Wohnung. Alle fünf Jahre hatte ich mich »verbessert« – will sagen, mir für einen höheren Lohn höhere Verantwortlichkeiten aufgehalst. Und immer hatte ich die neue Herausforderung sofort angepackt. Mit Alltäglichem wie dem Putzen oder dem Betrachten der Dinge, die mir gehörten, konnte ich mich nicht aufhalten.

Auf einer Kommode erblickte ich einen vergoldeten Steingutpokal, den mir ein Freund – oder war es eine Sekretärin? – einmal geschenkt hatte. Vor Jahren war das Ding tatsächlich cool gewesen, jetzt empfand ich es als potthässlich. Daneben stand eine marokkanisch anmutende Bonbonniere, die ich von einer Mitarbeiterin bekommen hatte. Auch gruselig. Sie war gefüllt mit Stiften aller Art, alten Schlüsseln, Gummibändern, Schlafbrillen, Hotelseifen, Tortendekorationen und anderem Zeug. Ich schaute in die Schubladen der Kommode. Die oberste war voll mit verstaubten Stofftieren, die darunter mit alten Lampen, die ich eventuell mal wieder brauchen könnte; die dritte war gefüllt mit Plastikdosen, und in der untersten waren Tischdecken gestapelt – allesamt inzwischen ästhetische Herausforderungen. Nein, so etwas wird nicht mehr modern. So etwas wird produziert, damit man es ein halbes Jahr später nicht mehr ertragen kann.

Ich holte mir ein paar Abfallsäcke – in den Niederlanden kann man so viele Säcke vor die Tür stellen, wie man will – und füllte sie mit all dem Zeug, das ich seit Jahren nicht mehr benutzt hatte. Dann packte ich die Dinge ein, an denen ich nie wieder Gefallen finden würde, und anschließend alle Stehrümmchen, wie man sie im Rheinland treffend nennt, von denen ich nicht mehr wusste, wer sie mir vermacht hatte. Nach drei Tagen hatte ich ungefähr dreißig Sechzig-Liter-Säcke gefüllt. Es fühlte sich gut an. Ich sortierte Gebrauchsanweisungen und Fotos, und ich stellte meine Schallplattensammlung, die seit zehn Jahren in Vergessenheit geraten war, vor die Tür. Dazu gesellten sich ca. zwanzig Paar Schuhe und all die Bücher, die ich nie wieder lesen würde. Es ging mir immer besser. Am Ende der Woche beschloss ich, die Wohnung zu verkaufen. So schön sie war, erschien sie mir letztendlich wie ein Klotz am Bein. Riesengroß – kein Mensch braucht drei Etagen für sich allein, kein Mensch braucht all den Krempel. Außerdem konnte ich die Hypotheken ja nur zahlen, wenn ich weiter an dieser Universität arbeiten würde, an der ich krank geworden war. Wollte ich denn wirklich dahin zurück?

Nach einem Monat hatte ich siebzig Säcke weggeworfen, über 300 Bücher vor die Tür gestellt und besaß nur noch ein Zehntel meiner Kleidung und meiner Schuhe. Ich beschloss, mir einen anderen Job zu suchen, schrieb die Kündigung und legte sie vorerst in die Schublade. Doch ich fühlte mich sofort gut, ungebunden – frei.

Das Trüffelschwein

Letztlich begann ich dann doch wieder wissenschaftlich zu arbeiten. Erst einmal las ich wieder. Beim Aufräumen der Bücher war mir nämlich Erich Fromms Haben oder Sein in die Hände gefallen. Ein Buch, das mich neben Sigmund Freuds und Kurt Lewins Werken vor langer Zeit dazu gebracht hatte, Psychologie zu studieren. Ich las es also wieder – dann noch ein zweites Mal –, und da kehrte die alte Motivation zurück. Die Lust an diesem spannenden Fach, der Psychologie, die ich in dieser Wissensfabrik wohl komplett verloren hatte. Ich erfreute mich an der Wissensdichte des Werks, an der Disziplinen übergreifenden Analyse, an dem weltverbesserischen Ton, an der Parteinahme für den Menschen. Fromm schreibt nicht für die Wissenschaft, nicht für seine Karriere, sondern er schreibt für uns. Um uns zu retten, verteufelt er das Habenwollen, die Gier, das Streben nach materiellem Besitz und stellt diesem das Sein gegenüber, einen Lebensstil, der auf Lernen und Lieben und Erfahren abzielt. Ich saß auf dem Boden und verschlang die Botschaft wie ein Jugendlicher auf der Suche nach dem richtigen Glauben. Nachdem die erste Begeisterung verflogen war, kam ich allerdings ins Grübeln. Vieles, was bei Fromm als Erklärung für Gier und Sinnsuche gegeben wird, gilt mittlerweile als wissenschaftlich widerlegt. Immer wieder hatte ich beim Lesen über die theoretische Grundlage des Buches schmunzeln müssen: über die Idee etwa, dass es »orale« und »anale« Phasen gäbe und dass Materialisten Geld schlucken, so wie bekanntlich Babys alles in den Mund stecken. Fromms Beobachtungen hingegen erschienen mir modern; das Thema war wieder da, und mir wurde klar, dass es nicht nur mein Thema war.

Ich verbrachte ein paar Wochen in Deutschland und bemerkte, dass die Wirtschaftskrise die Menschen, vor allem junge, wachgerüttelt hatte. Einige, wenn auch vergleichsweise wenige, gingen plötzlich wieder gegen die Banken und soziale Ungerechtigkeit auf die Straße – so wie ich es aus meiner Jugend kannte. Sie zögerten auch nicht, antikapitalistische Ideen zu propagieren, und forderten, dass wir endlich aufhören sollten, die Ressourcen dieser Welt auszubeuten. Im Netz scheint diese Bewegung größer zu sein – für Revolutionen muss man nicht mehr auf die Straße gehen.

In zahlreichen Chatrooms entdeckte ich Menschen, die alles andere als Konsum wollten, die in ihre Lebenskonzepte Teilzeitarbeiten wie selbstverständlich integrierten und Tipps gaben, wie man sich vegan, günstig und politisch korrekt ernähren kann. Ich gesellte mich zu diesen »Minimalisten«, sprach mit ihnen und bat sie um Buchtipps. Empfohlen wurden mir Werke von Serge Latouche, Niko Paech, Jonathan Safran Foer und solche über Veganismus und Selbstbeschränkung. Einige verwiesen auch auf Fromm, Sartre (»Musste mal lesen, Alter!«), Heidegger und, ja, Marx. Ich fühlte mich wie ein Trüffelschwein, entdeckte immer mehr Interesse und Material für »mein Thema«. Im Sommer 2013 widmete sich dann schließlich Harald Weinrich, ein hervorragender Linguist, der Thematik und begeisterte mich einmal mehr. Das Buch erlaubte einen neuen Blick auf Heideggers Sein und Zeit, Sartres Sein und das Nichts, und, ja, auch Karl Marx; vor allem die Ökonomisch-philosophischen Manuskripte las ich, als seien sie gestern neu erschienen. Besonders die Frage, wie Haben und Sein zusammenhängen, was wichtiger ist und was uns glücklicher macht, ließ mich nicht los. Und war es nicht auch so, dass die Serviceteile der Zeitschriften »meine« Fragestellung ebenfalls aufnahmen? Über »Achtsamkeit« wurde geschrieben, als hätte man eine neue Elefantenart im Busch entdeckt. Die Fülle an Artikeln zu Burn-out oder Bore-out, zu freiwilligem Verzicht und zu einfachem schönem Leben passten wie die Faust aufs Auge. Auch der Mindestlohn, der ökologische Fußabdruck – er beschreibt die Menge Land, die nötig ist, um den Lebensstil eines Menschen zu ermöglichen, der essen muss, sich kleidet, irgendwo wohnt und reist – und die Kapitalismusdebatte waren in den politischen Teilen Dauerthema. Es schien mir, dass die Fragestellung über die Disziplinen hinweg starke Beachtung fand.

Irgendwann begab ich mich auf die Suche nach psychologischer Literatur, die ich während meiner Auszeit ja eigentlich meiden sollte. Aber es interessierte mich brennend und schadete mir nicht. Was war in der Psychologie eigentlich nach Fromm passiert? Hatte er, der eine ganze Generation geprägt hat – sein Buch wurde weltweit millionenfach verkauft –, eine psychologische Forschungsrichtung geschaffen, die mir entgangen war? Zwanzig Jahre lang hatte ich Sozialpsychologie unterrichtet, doch über Haben und Sein hatte ich, um ehrlich zu sein, nicht ein Wort verloren. Zu meiner Verteidigung muss ich allerdings sagen, dass diese Thematik in der großen Auswahl der Lehrbücher, die mir als Professor jährlich zur Ansicht zugeschickt werden, kaum eine Rolle spielt.

Doch: Wer sucht, der findet. Ich fand zwar keine zusammenhängende wissenschaftliche Abhandlung zum Themenbereich »Haben und Sein«, stieß jedoch auf mehr und mehr vereinzelte Forschungsprojekte, die man grob zu diesem Themenkomplex rechnen konnte. Es kam mir vor, als hätte ich Trüffel entdeckt – seltene Pilze, die man ausgraben muss und die größtenteils hervorragend schmecken. Als Nächstes stellte sich die Frage, wer daraus etwas Feines kochen sollte, damit sie voll zur Geltung kämen. Mit Trüffeln muss man eigentlich nicht viel machen. Man muss sie (vorsichtig) putzen, in etwas Butter oder Sahne schwenken und mit wenigen Gewürzen zum Leben erwecken. Nennen Sie mich überheblich, aber ich traute mir zu, dieses Gericht zu kochen. Im übertragenen Sinn wollte ich aus den bestehenden, aber vereinzelten Forschungsprojekten eine Theorie bilden, die einerseits die Stärken der einzelnen Ideen und Befunde hervorhebt und andererseits etwas Neues hervorbringt. Eine neue Theorie, die jeder nach eigenem Ermessen loben oder kritisieren kann – die man an sich selbst oder wissenschaftlich überprüfen kann.

Die Trüffel

Im Bereich der Sozialpsychologie wie in der Konsumenten- und Werbepsychologie, aber auch in der Entwicklungs- und Biopsychologie fand ich Untersuchungen, die der Frage nachgehen, ob das Anhäufen von Gütern oder eine materialistische Lebenseinstellung zu einem glücklichen Leben führt – ob und wozu wir Objekte brauchen, ob Geld süchtig machen kann, was der Kauf bestimmter Dinge über unsere Persönlichkeit aussagt, warum wir bestimmte Produkte kaufen und andere nicht. Wie bereits angemerkt, stehen diese Befunde isoliert nebeneinander – es scheint kein Gedankenaustausch zwischen »Glücksforschern« der »Suchtpsychologie des Geldes« oder den »Konsumentenpsychologen« stattzufinden. Von einem gut definierten, einheitlichen und integrativen Forschungsbereich kann überhaupt nicht die Rede sein.

Das ist besonders dann problematisch, wenn Befunde sich offenbar widersprechen. Irgendwann fragte ein Journalist an, ob ich nicht in einer Fernsehdiskussion etwas über das Thema »Reiche in Deutschland« sagen könne. Ich lehnte ab, weil mir nicht klar war, was ich dazu sagen sollte. Wenn zum Beispiel die Materialismus-Forschung zeigt, dass die fortwährende Beschäftigung mit seinem Besitz oder dem Erwerb von Gütern letztendlich unglücklich macht, steht das im Gegensatz zur »Psychologie des Geldes«, denn diese verdeutlicht, dass Geld für viele eine psychische Ressource ist, weil es sie von allen möglichen Zwängen befreit. Außerdem belegen neuere Studien, dass die Lebenszufriedenheit mit dem Haushaltseinkommen steigt, statt zu sinken. Was wiederum in Konflikt mit biopsychologischen Erkenntnissen zu stehen scheint, die das Suchtpotenzial von Geld mit dem von Alkohol und Nikotin gleichsetzen.

Dieses Buch ist der Versuch, diese Unstimmigkeiten zu erklären. Es soll Ausgangspunkt für eine Diskussion sein. Ziel ist dabei nicht, recht zu haben; vielmehr will ich zu Widerspruch anregen. Ich will Sie inspirieren, und deshalb breite ich mein erworbenes Wissen vor Ihnen aus – zusammen mit eigenen Gedanken, die ich mit Hilfe von Kollegen und Kolleginnen, Freunden und Freundinnen, Menschen aus der Wirtschaft, dem sozialen Bereich, der Politik und der Kunst weiterentwickeln durfte. Ich würde mich freuen, wenn Sie dieses Buch zum Nachdenken anregt und wenn es Sie inspiriert, das von mir Gesagte zu verfeinern, zu verbessern – oder gar zu widerlegen: Fordern Sie ruhig meine Gedanken heraus. Widersprechen Sie mir. Zeigen Sie mir, wo ich etwas treffend beschreibe und wo nicht! Und haben Sie keine Angst vor dem Wort »Theorie«. Eine sozialpsychologische Theorie ist immer auch eine Theorie über das Alltagsleben, über völlig normale psychologische Prozesse, die man fast überall vorfinden kann. Wenn Sie sie nicht verstehen können, dann taugt die Theorie sowieso nicht viel. Ich sprach oben von den Befunden, die mir wie Trüffel erschienen. Damit sie gut zur Geltung kommen und sich zu einem Genuss verbinden, benötigen sie eine solide Basis – bestenfalls Nudeln. Genau das ist eine sozialpsychologische Theorie für mich: Nudeln. Nudeln machen glücklich und sind gut verdaulich.

Im Gegensatz zu Erich Fromm werde ich Sie nicht zum Verzicht auffordern oder Tiraden gegen den Materialismus schreiben. Dieses Buch wird die Welt vermutlich nicht verändern, wenn das auch wahrscheinlich jeder Autor hofft, der ein Buch über dieses Thema schreibt. Wir sind dabei, diesen Planeten zu vernichten, und die Psychologie kann das nicht verhindern. Ich kann jedoch versuchen zu verstehen, warum wir so sind, wie wir sind, und vielleicht hilft das unseren Urenkeln, uns zu vergeben. Und vielleicht führt ja doch ein Weg zur Veränderung über das Verständnis der Dinge. Die Hoffnung stirbt zuletzt.

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I Haben als Problem

Die subjektive Sicht: Haben wir überhaupt ein Problem?

»Du hast doch schon ein Fahrrad!«

Der kleine Junge trampelte auf dem Boden herum, weinte bitterlich und boxte gegen die schöne Ledertasche seiner Mutter.

»Aber doch nicht so eins! Das, was ich hab, ist doch für die Schule, und das hier ist ein Mountainbike!«

Die Mutter wurde wütend, erinnerte sich aber schnell daran, was die Super-Nanny im Fernsehen gesagt hatte. Sie holte also tief Luft und zählte rückwärts von 23 bis 20. Danach entschuldigte sie sich augenrollend bei den anwesenden Kunden für das Spektakel. Der Junge gab jedoch nicht nach: »Mama, bitte!« Der Mutter fiel nichts anderes ein, als ihr Argument zu wiederholen: »Du hast doch schon ein Rad!« Da wurde der Junge erneut zornig und schrie: »Aber du hast auch nicht nur ein Paar Schuhe. Du hast tausend!«, woraufhin die umstehenden Kunden lachten, die Mutter mit einstieg (Ach, was habe ich für ein schlaues Kind!) und den Verkäufer heranwinkte.

Vermutlich ist es aus ökologischer Sicht Schwachsinn, mehrere Räder zu haben. Auf der anderen Seite hatte das Kind bestimmt nicht unrecht, wenn man mal von der Übertreibung absieht. Die Mutter besitzt sicherlich nicht nur ein Paar Schuhe, und sie wird auch mehr als drei Teller im Schrank stehen haben. Und wer weiß, vielleicht besitzt das Kind ja gar nicht viel – im Vergleich zu anderen. Schaut man sich um, so haben viele Kinder ein Stadt- und ein Rennrad. Mindestens – neben Longboards, Rollern, Einrädern und Rollschuhen. Und wenn die Mutter sich das Geld hart erarbeitet hat, warum sollte sie ihrem Sohn nicht ein schönes Leben ermöglichen? Wo ist also das Problem?

Wer hat, der hat

»Haben wir zu viel?« Es hängt ganz davon ab, wie und wo man fragt. Hätten wir gerade eine Sendung über Arbeitsbedingungen in Textilfabriken in Indien gesehen, würden wir, sicherlich berührt, zugeben: »Klar, viel zu viel.« Würde die Frage lauten: »Sollen wir uns nicht ab und zu mal etwas gönnen?«, und wir sehen nach einem anstrengenden Arbeitstag diese Wahnsinnsschuhe, die um hundert Euro heruntergesetzt sind, dann greifen wir, ohne mit der Wimper zu zucken, zu und stellen sie neben unsere anderen zwölf Paar. Schon sind wir in einem psychologischen Prozess: Soziale Vergleiche – also der Standard, von dem wir unseren Besitz aus betrachten – bestimmen, ob wir meinen, genug zu haben und dass wir sogar etwas abgeben sollten, oder ob wir noch mehr haben wollen. Der Sozialpsychologe Leon Festinger stellte als Erster heraus, dass Menschen viele Informationen über sich gewinnen, indem sie sich mit anderen vergleichen.

Ob wir zu viel oder zu wenig haben, ob wir das Bedürfnis haben, zu kaufen oder zu konsumieren, hängt also häufig von einer subjektiven Perspektive ab, die sich je nach Situation schnell verändern kann. Sehen wir unseren Nachbarn, der seinen drei Kleinkindern gerade jeweils ein iPad gekauft hat, dann finden wir es vielleicht ein wenig albern, dass wir aus lauter Knauserigkeit bisher gar kein Tablet haben, und erwägen plötzlich, ob es nicht endlich an der Zeit wäre, sich so ein Ding zuzulegen. Damit hat der Nachbar durch sein Verhalten nicht nur eine Idee gesät (»Tablets sind sicher cool«), sondern gleichzeitig einen hohen Standard gesetzt (»Das hat heutzutage jedes Kind«) und damit unsere Vorstellung (»Wir brauchen keines«) herausgefordert. Die Schlussfolgerung könnte sein: »Wenn die sogar mehrere haben, sollte ich mir wenigstens eines zulegen.« Selbst wenn meine Einstellung, mir keines anzuschaffen, nicht nur auf Sparsamkeit oder gar Geiz beruht, sondern mit rationalen Argumenten untermauert war (»Mir ein Gerät anzuschaffen, das kaum etwas anderes kann als mein Computer, ist Verschwendung von Ressourcen und schadet der Umwelt«), kann sie durch den sozialen Vergleich ins Wanken geraten. Man könnte sich zum Beispiel auch sagen: »Im Vergleich zum Nachbarn, dem die Umwelt offensichtlich völlig egal ist, stehe ich mit einem einzigen Tablet noch immer ziemlich gut da.« In diesem Fall würde das ökologische Argument durch den sozialen Vergleich untergraben und schließlich außer Kraft gesetzt.

Warum beginne ich dieses Buch mit einem so einfachen Prinzip? Weil es uns manchmal motiviert, zu konsumieren, und manchmal nicht. Wir haben es doch sicherlich alle schon erlebt, dass wir eine unsinnige Anschaffung machten, die die nächsten Umzüge originalverpackt überlebte. Auf der anderen Seite haben wir sicherlich häufig schon aus Vernunftgründen verzichtet – oder ziemlich gewissenhaft eingekauft und uns dieses moralische Verhalten auch etwas kosten lassen. Heute Konsummonster, morgen bescheidenes Veilchen, übermorgen Klassensprecher der Vernunftbegabtenklasse. Dieses ständig wechselnde Verhalten gibt uns Konsumenten beinahe etwas Unberechenbares. Ein berechenbarer psychologischer Faktor ist jedoch der soziale Vergleich: Wenn wir gerade an einen hohen Besitzstandard denken, konsumieren wir im Regelfall mehr; denken wir an einen niedrigen, konsumieren wir weniger. Dies bedeutet: Wir sind alles andere als eine stabile Persönlichkeit mit klaren Zielen oder Einstellungen, was den Kaufwunsch oder das Habenwollen angeht. Mal entscheiden wir uns dazu, weniger zu kaufen, weil wir gehört haben, dass ein Drittel unserer produzierten Lebensmittel in den Müll wandert. Das nächste Mal kaufen wir doch wieder zu viele Tomaten, die in ein paar Tagen vor sich hin gammeln werden, und können auch an dem schönen Schal nicht vorbeigehen, obwohl wir ihn nie tragen werden, weil er farblich nicht perfekt zu unseren Jacken passt. Vielleicht wurde das Verhalten durch die Passantin ausgelöst, die wir eben wegen eines ähnlichen Schals bewunderten. Und vielleicht wurde der Tomatenkauf im Supermarkt durch einen sozialen Vergleich ausgelöst – aktiviert durch ein Plakat, auf dem sich ein Topmodel, das drei süße Kinder und trotzdem eine tolle Figur hat, eine riesige Schüssel Tomatensalat schmecken lässt (hoher Standard). Mit anderen Worten: Durch einen sozialen Vergleich wurde ein dem Verzicht entgegengesetztes Ziel präsent, das uns zuflüsterte: »Kauf!«, statt: »Das brauchst du nicht!« Wenn wir dagegen gerade gelesen haben, dass Mahatma Gandhi nur fünf Objekte besaß (niedriger Standard), weil er sich durch Materielles nicht korrumpieren lassen wollte, wird uns das vielleicht eher ausbremsen, und wir lassen die Eiswürfelzange aus poliertem Chrom im Design Store hängen.

Sozialer Vergleich schürt aber auch einen gewissen Wettbewerb, der eher eine Quelle des Neides als der Zufriedenheit ist. Der Soziologe und Ökonom Thorstein Veblen hat in seiner Theorie der feinen Leute Prestigesucht zu einem Hauptmechanismus des Habenwollens erklärt. Seiner Meinung nach häufen Menschen materielle Annehmlichkeiten nicht deshalb an, um versorgt zu sein oder um die schönen Dinge des Lebens zu genießen, sondern vor allem, um anderen überlegen zu sein. Reichtum ermöglicht Veblen zufolge Ehre und Prestige, wobei die Unterscheidbarkeit grundlegend ist. Demnach reicht es nicht aus, sich einen Lebensstandard in Saus und Braus zu ermöglichen, sondern es geht darum, mehr zu haben als die meisten anderen. Aus diesem Grund kann es nach Veblens Auffassung nie eine glückliche Konsumgesellschaft geben; selbst wenn wir alles haben, was ein sorgloses Leben ermöglicht, werden wir irgendwann bemerken, dass jemand anders mehr hat. Das nagt an unserem Selbstwert und ermuntert uns, den Wettbewerb aufzunehmen. Schon sitzen wir mit unserem neuen Tablet auf der Fensterbank – natürlich dem neuesten mit Retina-Display, das unser Nachbar nicht hat. Dieses Motiv, anderen überlegen sein zu wollen, könnte im Moment des Kaufs alle vernünftigen Gedanken verdrängt haben. Hätten wir nämlich an die Berichte über Produktionsskandale in China gedacht oder an die Ausbeutung der Rohstoffe unseres Planeten, hätten wir vermutlich widerstehen können. Veblen, der die Theorie der feinen Leute1899 publizierte, wird von Biographen als ein unterhaltsamer Menschenhasser skizziert – seine zynischen Analysen sind Klassiker. Aber werden Menschen tatsächlich eher von niederen Motiven wie Wettbewerb und Prestige angetrieben als von Menschenliebe und Vernunft? Der soziale Vergleich jedenfalls ist in der modernen Psychologie zunächst einmal ein wertneutraler Prozess, denn nach demselben Prinzip könnte jemand einen hohen moralischen Standard auslösen. Eine Diskussion letzte Woche in meinem Seminar zur Psychologie von Sein und Haben, bei der wir herausfanden, dass vier der Studierenden vegan und drei vegetarisch leben, motivierte mich, wenigstens an diesem Abend auf Fleisch zu verzichten. Die Studierenden hatten einen hohen moralischen Standard gesetzt, der sich unmittelbar auf mein Konsumverhalten ausgewirkt hat.

Der gute und der schlechte Mensch

Als Psychologe beschäftigt mich im Allgemeinen weniger, ob wir Menschen schlecht oder gut sind. Es interessiert mich eher, wieso wir zum Beispiel die schöne Wanderjacke, die uns in einem Werbebanner auf der Website unseres E-Mail-Anbieters angeboten wird, spontan kaufen, obwohl wir schon eine haben und obwohl wir im Prinzip wissen, unter welch menschenunwürdigen Bedingungen sie produziert wurde und wie wenig umweltverträglich der Kunststoff ist, aus dem sie gefertigt wurde. Ist jemand, der hier zugreift, gierig? Prestigesüchtig? Oder egoistisch? Alles möglich. Es kann aber auch sein, dass er sich gerade jämmerlich fühlt und die Jacke ein recht billiges Mittel ist, ihn aufzumuntern. Es kann sogar sein, dass einer meiner Kollegen ihm in einem therapeutischen Prozess geraten hat, sich auch einmal etwas zu gönnen. Vielleicht handelt es sich ja um einen Menschen, der sich vor allem um andere kümmert oder der sich für zu hässlich oder wertlos hält, eine solche Jacke zu kaufen. Was ich damit sagen will, ist nichts anderes, als dass ein und dasselbe Verhalten, auch simples Kaufverhalten, verschiedene Motive haben kann. Die Beurteilung, ob diese Motive gut oder schlecht sind, ist häufig schwierig. Wenn beispielsweise ein eigentlich geiziger und knurriger Chef bei einem Betriebsausflug nach einem Glas unfair erzeugten Weins in Spendierlaune gerät und eine Runde ausgibt – ist das jetzt gut oder schlecht? Es ist mir jedoch wichtig dahinterzukommen, warum jemand etwas tut und was ihn daran hindert, alternative Ziele zu verfolgen. Fast wertneutral könnte man die bisher beschriebenen Motive zum Konsumieren als ichbezogen beschreiben. Durch den Kauf der Jacke tut die Person etwas für sich (sie will sich etwas aneignen, sie will ihren eigenen Selbstwert erhöhen, sie will ihre eigene schlechte Laune bekämpfen etc.) und ignoriert für einen Moment über sie selbst hinausgehende Motive (wie etwa Umwelt und Arbeitsbedingungen). Wenn durch das Ausleben dieser ichbezogenen Motive tatsächlich Schäden für andere entstünden, würde man dies landläufig vermutlich als unmoralisch und letztendlich als unvernünftig bezeichnen.

Wir beobachten beim Konsumverhalten aber auch andere, weniger ichbezogene Motive. Viele von uns kaufen Bio-Eier und fair produzierten Kaffee und greifen dafür tiefer in die Tasche. Vielen kommen die Tränen, wenn sie Kinder bei der Arbeit sehen, bis zu den Knöcheln in stinkender Chemikalienbrühe stehend, und googeln daher nach fair produzierter Kleidung. Diese Ziele sind deshalb weniger ichbezogen und können als altruistisch bezeichnet werden, weil sie das Wohl der anderen (der Tiere, der Arbeiter) im Blick haben und die eigenen Bedürfnisse für einen Moment hintanstellen. Menschen tun dies gar nicht so selten.

In Köln-Bayenthal, wo ich wohne, gibt es mittlerweile auf kleinstem Raum drei große Bio-Märkte. Einer davon war ein Pilotprojekt und hatte solchen Erfolg, dass nun ähnliche Märkte an vielen Orten Nordrhein-Westfalens gebaut werden.[1] Und in vielen herkömmlichen Supermärkten werden die Regale für Bio-Produkte immer größer. Inzwischen ist bekannt, dass sich Bio-Produkte in Blindtests selten als geschmacklich besser erweisen, und für mich als Psychologen ist es nicht trivial, dass immer mehr Menschen willens sind, aus ethischen Überlegungen heraus tiefer in den Geldbeutel zu greifen. Mit den höheren Ausgaben wollen sie bewirken, dass Tiere freien Auslauf haben, nicht mit Medikamenten vollgepumpt werden und die Arbeiter in den Betrieben gerecht bezahlt und behandelt werden. Im Prinzip ist das wie eine Spende an eine bessere Landwirtschaft oder eine finanzielle Unterstützung fairer Betriebe – die Kasse wird gleichsam zum Klingelbeutel. Außerdem boomen vegane Restaurants, die Slow-Food-Bewegung hält Einzug in stinknormale Brauhäuser, das Luxusobjekt Auto verliert nach neuesten Umfragen bei deutschen Jugendlichen an Bedeutung, und meine Studierenden wollen, so habe ich den Eindruck, wieder mehr über politische Themen diskutieren als über ihre Zwei in der Hausarbeit, die doch eigentlich eine Eins hätte sein sollen. Verantwortung für andere und für die Umwelt, soziales Verhalten, Nachhaltigkeit – wir Menschen halten diese Werte genauso in uns wie andere, weniger moralische, ichbezogene Wünsche. Des Weiteren wollen Studierende bei meiner Karriereberatung immer häufiger wissen, wie viel Zeit sie bei welchem Beruf am Arbeitsplatz verbringen und wie viel sie verdienen müssen, um sorglos zu leben, ohne dabei in den Stress zu geraten, den sie von ihren Eltern her kennengelernt haben. Fragen nach der Vereinbarkeit von Familie und Beruf, nach dem Freizeitleben, nach Möglichkeiten von Teilzeitarrangements höre ich nun öfter – und dies bereits am Anfang des Studiums! Hierin sehe ich zwar ichbezogene Lebensziele, aber sie erscheinen mir vernünftig, und sie schaden niemandem. Im Gegenteil – wenn alle Menschen durch eine kluge Stressreduzierung entspannter durchs Leben driften, muss man sich sicherlich die ein oder andere Unfreundlichkeit im Alltag künftig nicht mehr anhören. Mit anderen Worten: Ein ichbezogenes Verhalten könnte je nach Fall positive soziale Konsequenzen haben.

Ergo: Ichbezogene Ziele können sinnvoll sein, entweder therapeutisch gesehen für das Individuum oder für die anderen in seinem Umfeld. Dagegen kann jemand, der dauernd verzichtet, um die Welt zu retten – und dadurch chronisch schlechte Laune hat –, zwar moralisch im Vorteil sein, aber sein Verhalten könnte im menschlichen Miteinander durchaus als eine Störung wahrgenommen werden. Es scheint mir nicht nur für Psychologen sinnvoll zu sein, sich an einer Wertefreiheit solcher Motive und Ziele zu üben. Im Gegensatz zu manchem Vorgänger liegt es mir fern, das Habenwollen zu verteufeln. Es erfüllt in bestimmten Situationen eine wichtige psychologische Funktion, die wir übersehen würden, hätten wir moralische Scheuklappen auf. Außerdem konsumieren wir alle zu viel, und eine allein abwertende Haltung zu diesem Verhalten wäre schlichtweg bigott. Wir werden in späteren Kapiteln der Funktionalität von Verhaltensweisen nachgehen.

Ein Verhalten ist funktional, wenn es normalerweise zum Ziel führt und der Mensch sich nach Erreichen des Zieles gut fühlt. Der Weg dorthin ist im Idealfall ebenfalls angenehm – Tätigkeiten, die uns alles vergessen lassen, bei denen wir ein Flow-Erlebnis haben (alles fluppt, alles fließt, alles macht Spaß), sind natürlich erstrebenswert –, viele Ziele erreichen wir jedoch nur durch Schweiß, Blut und Tränen. Während der Lernphasen meines Psychologiestudiums etwa war ich selten im Flow, und trotzdem bin ich mit dem Beruf, der das Ziel war, rundum glücklich (selbst wenn mir an manchen Universitäten traumatische Erlebnisse nicht erspart blieben). Solange sich die Schmerzen in Grenzen halten und man sie eher als vorübergehende »Anstrengungen« oder »Schwierigkeiten«, also Durststrecken, beschreiben kann, wird funktionales Verhalten durchaus auch einmal als unangenehm toleriert. Es sollte dann aber wenigstens zu einem Ziel führen, das uns bereichert oder gar, im Falle eines Berufes, erfüllt. Wie man für sich selbst herausfindet, welche Ziele und Handlungen einem guttun, habe ich in meinem Buch Unser Autopilot detailliert beschrieben. In diesem Buch geht es mir nun eher darum, die Motive und Handlungen beim Haben und Sein zu diskutieren und wann sie funktional oder dysfunktional sind.

Verhalten wird als dysfunktional bezeichnet, wenn es dem Handelnden tatsächlich schadet, also seinem fundamentalen Überlebens- oder Unversehrtheitsmotiv entgegenläuft, oder wenn er damit nicht das erreicht, was er erreichen wollte. Demnach wäre es ebenso dysfunktional, wenn wir durch Verzicht verhungern, wie wenn wir uns durch ständiges Shoppen finanziell so ruinieren, dass uns irgendwann die Lebensgrundlage fehlt. Dies bedeutet auch, dass Verzicht, sowenig ichbezogen oder, im landläufigen Sinne, »gut« er auch sein kann, nicht immer funktional ist. Selbstaufopferung kann durchaus dysfunktional sein. Ebenso würden wir Verhalten als dysfunktional bewerten, wenn jemand Luxusgüter kauft, weil er denkt, dann beliebter zu werden – und schließlich merkt, dass es ihn im Gegenteil nur unbeliebter macht. Dasselbe gilt für jemanden, der glaubt, durch das Konsumieren des Zuckerersatzes Saccharin schlank zu werden – was aber nicht funktioniert, weil das Zeug nur noch hungriger macht; oder wenn sich jemand eine größere Wohnung kauft – weil er denkt, es ginge ihm dadurch besser, es ihn jedoch nur noch ängstlicher werden lässt. Alle diese Beispiele spiegeln dysfunktionales Verhalten wider, weil eine bestimmte Verhaltensweise nicht zum gewünschten Ziel führte. Dies bedeutet auf der anderen Seite, dass viele Verhaltensweisen nicht per se »schlecht« oder dysfunktional sind. Das Erwerben von Luxusgütern könnte dann als funktional angesehen werden, wenn es etwa dem Ziel diente, möglichst viel Besitz anzusammeln oder möglichst viel Macht zu erlangen. Allerdings sollte es dem Menschen tatsächlich gut mit diesem Besitz gehen. Wenn er im goldenen Käfig jeden Abend allein vor einer Weinflasche sitzt, war das Ganze letztendlich dysfunktional. Wenn er jedoch in einer riesigen Wohnung eine Großfamilie beherbergen will und diese sich dort wohl fühlt, kann ihr Erwerb subjektiv sinnvoll sein. Psychologisch gesprochen muss man also immer beleuchten, inwieweit ein Mittel (Verhalten) einem Ziel dient. Ist das Verhalten nützlich? Und wem nützt es? Überspitzt gesagt, würde man sogar aggressives Verhalten als funktional bezeichnen können, wenn es zum Ziel führt – und das tut es ja tatsächlich häufig. Hat man einen unbeliebten Kollegen hinausgemobbt, geht es einem besser. Die Trennung von moralischer Bewertung und Funktionalität erlaubt es einem, das Verhalten besser zu verstehen – was keinesfalls bedeutet, dass im alltäglichen Leben keine Veränderung angestrebt wird. Aus der simplen Feststellung, dass Aggression häufig funktional ist, könnte man zum Beispiel die Maßnahme ergreifen (die in unserer Gesellschaft intuitiv gewählt wurde), Aggression unter Strafe zu stellen. Wird aggressives Verhalten, wie Mobbing, bestraft, wird die Funktionalität ausgehebelt, weil man sich bei der Zielerreichung nicht mehr gut fühlt, sondern die Strafe fürchten muss. Die Strafe macht das Verhalten dysfunktional. Zudem kann ich mir auf der Grundlage der Funktionalität überlegen, welche alternativen Verhaltensweisen zum selben Zielzustand verhelfen, weil ja bekanntlich mehrere Wege nach Rom führen. Vielleicht wäre der unliebsame Kollege zu einem netten Kerl geworden, wenn man es statt Mobbing mal mit einer Supervision versucht hätte. Auf den Erwerb von Konsumgütern bezogen: Eventuell ist für das Ziel, glücklich zu werden, die alleinige Beschäftigung mit dem Erwerb von Gütern ein schlechter Ansatz und deshalb dysfunktional. Wäre dem so (wir werden weiter unten die Forschung zu diesem Thema näher beleuchten), dann könnte ich mir eine Alternative ausdenken.

Nichtsdestotrotz verfolgen Menschen teils ichbezogene und teils moralische Ziele, die über die Befriedigung eigener Bedürfnisse hinausgehen und Verantwortungsgefühl für andere reflektieren. Um zu begreifen, wann welche Ziele besonders verhaltenssteuernd sind, lohnt sich ein Blick in das menschliche Gedächtnis, in dem alle unsere Ziele, Mittel, Gedanken und Vorstellungen abgespeichert sind.

Gedächtnis und Aufmerksamkeit

Hätten wir unsere ethischen Werte ständig »auf dem Schirm«, würden wir vermutlich weder die problematisch erzeugte Jacke noch ein Tablet kaufen, dessen Funktionen nicht besonders weit über die unseres Computers hinausgehen. Aber wir können, so die Sozialpsychologie, nicht immer alle Ziele und Motive, die im Gedächtnis abgespeichert sind, gleichzeitig wahrnehmen oder »denken«. Normalerweise steht in einer bestimmten Situation nur ein einziges Ziel im Zentrum unserer Aufmerksamkeit und treibt damit unser Verhalten voran. Sehe ich also die Wanderjacke, ist das Ziel in meinem Aufmerksamkeitsfenster entweder »Versuche, gut auszusehen« oder »Versuche, besser auszusehen als der andere«, oder »Mach ein Schnäppchen«, oder »Lass dich nicht von dieser Werbung beeinflussen«, oder »Denk daran, dass das ökologischer Schwachsinn ist«, oder »Jetzt gönn dir mal was«. Dabei ist es möglich, dass alle vorgenannten Ziele und Motive – sogar die widersprüchlichen – in einer Person abgespeichert sind, und vielleicht noch viele mehr. Jeder ist demnach ein Dr. Jekyll und ein Mr. Hyde, das heißt, jeder hat in seinem Langzeitgedächtnis sowohl soziale, altruistische als auch deviante, ichbezogene Werte verankert; man hat, um nur einige zu nennen, fürsorgliche, hedonistische und aggressive Ziele abgespeichert, spürt Liebe und Hass. Sie alle stellen Teile unseres Selbst dar und ermöglichen letztendlich ein großes Repertoire an Handlungsspielräumen. Welches Ziel schlussendlich unser Verhalten lenkt, hängt von der Aktivierung in der Situation ab. Die beiden Sozialpsychologen Bob Wyer und Tory Higgins haben Metaphern wie Batterie oder Synapse verwendet, um zu beschreiben, dass eine bestimmte Erinnerung entweder aktiv beziehungsweise aufgeladen oder aber inaktiv ist.

Nehmen wir ein Beispiel: David beschäftigt sich seit langem mit den negativen Folgen von Plastik. Er findet es grauenhaft, dass so viele Fische am Plastikmüll im Meer verenden, und unbegreiflich, dass aus lauter Bequemlichkeit Rohstoffe verschwendet und Gifte produziert werden. Soweit es geht, meidet er daher Plastik. Bei David ist das Ziel, Plastik zu meiden, ständig aktiviert, das heißt, die Batterie für das Ziel ist hoch aufgeladen – oder, wenn man die Synapsenmetapher bevorzugt: Das Ziel hat ein hohes Aktionspotenzial, das relativ langsam verfällt. Dieser kraftvolle Gedächtnisknoten erinnert ihn unter anderem daran, vor dem Einkaufen in seinem Rucksack nachzusehen, ob er eine Stofftasche dabeihat.

Davids Freund Kalle, dem ökologisches Verhalten durchaus imponiert, für den die Angelegenheit aber nicht so zentral ist wie für David, hat entsprechend ökologische Ziele weniger stark aktiviert. Das führt dazu, dass er die Stofftasche gelegentlich vergisst und sich dann eine Plastiktüte kauft. Wenn das passiert, ist er sich selbst gegenüber nachsichtig. Diese Angelegenheit ist ihm ja nicht so wichtig, und er ist schon ganz zufrieden, wenn er wenigstens manchmal daran denkt.

Ziele, die wir seit langem und nachhaltig verfolgen und die somit ein fester Bestandteil unserer Persönlichkeit sind, nennen wir chronische Ziele. Sie sind generell sehr aktiv und bestimmen nicht nur unser Verhalten, sondern fesseln auch ständig unsere Aufmerksamkeit. David wird häufiger bemerken, wie sehr andere Plastik vergeuden. Er wird eher Produkte im Regal erkennen, die in Papier verpackt sind; und wenn er durch die Zeitung blättert, fällt ihm eher ein Artikel über das neue Geschäft auf, in dem alles aus Schütten heraus in von Kunden mitgebrachte Behälter verkauft wird. Stark aktivierte Gedächtnisknoten ermöglichen es einem sogar, völlig automatisch, also unbewusst zu handeln. Sieht David das grüne Bio-Zeichen auf einem Müsli, greift er, ohne viel nachzudenken, nach dieser Packung.

Daneben können Ziele jedoch auch in bestimmten Situationen geweckt werden. Sie sind weniger chronisch, also ein weniger wichtiger Bestandteil unserer Persönlichkeit, aber ebenso verhaltensleitend. Kalle hat zwar eine Neigung, fair einzukaufen, aber er hat dieses Ziel nicht immer auf dem Schirm. Übernachtet er jedoch bei David, führt allein die Präsenz ökologischer Gedanken zu einer Aktivierung seiner moralischen Ziele, und so kommt es, dass er, ohne viel nachzudenken, morgens beim Brötchenholen zur Stofftasche greift. Das tut er selbst dann, wenn David noch gar nicht aufgestanden ist, ihn also nicht explizit dazu auffordern konnte, und obwohl er vom gestrigen Kaltgetränkkonsum vollkommen übermüdet und daher geistig recht abwesend ist. Die Werte seines Freundes wurden unbewusst aktiviert, denn sobald Kalle an David auch nur erinnert wird, steigt bei ihm das Aktionspotenzial ökologischer Ziele und leitet sein Verhalten. Kalle verhält sich also nachhaltiger in bestimmten Situationen, die ihn an dieses Ziel erinnern. Wir sprechen bei einer solchen Aktivierung von einer situationalen (in der Situation ausgelösten) Zielaktivierung.

Ziele können also mehr oder weniger aktiv sein, und normalerweise sind widersprüchliche Ziele in unserem Gedächtnis unterschiedlich stark aktiv. Unser Gedächtnissystem hilft uns teils sogar unbewusst, unangenehme Konflikte gar nicht erst zu erleben. Wenn allerdings doch einmal zwei gegensätzliche Werte ständig abwechselnd in unseren Aufmerksamkeitsfokus geraten, entsteht ein unangenehmer Zwiespalt. Wie letztens bei mir, als die Bio-Hähnchenbrust fünfzehn Euro kostete und die vom Freilandhuhn daneben nur fünf. Da habe ich bemerkt, wie sich mein Körper widerwillig mal zum einen, mal zum anderen Produkt neigte – und weil mir der Konflikt zu unangenehm wurde, habe ich letzten Endes keine von beiden gekauft. Meistens tritt jedoch ein bestimmtes Ziel in den Vordergrund. Falls hier zum Beispiel die ethischen Werte irgendwo in unserem Langzeitgedächtnis ruhig vor sich hin schlummern und sich so ein eher hedonistisches Ziel (wie Geiz) ungehindert durchsetzen kann, wird kein Konflikt empfunden, und wir kaufen das billigere Hühnchen, ohne ein schlechtes Gewissen zu haben. Sind dagegen ethische Werte aktiver, kaufen wir das Bio-Huhn und sind vermutlich stolz auf uns. Ziele können durch alles Mögliche, durch nahezu alle Reize der Umgebung aktiviert werden. Erinnern wir uns an die Standards vom Anfang – sie sind eine klassische Quelle für Aktivierungen von Zielen. Sehe ich auf Tablets patschende Nachbarskinder, aktiviere ich in meinem Gedächtnissystem Begehrlichkeiten. Andere Beobachtungen, wie ein Werbeplakat, auf dem die neue HDTV-Glotze angepriesen wird, damit man endlich einmal die WM scharf genug sehen kann, aktivieren genauso Ziele wie eine Sendung, in der auf den Trinkwassermangel in der Welt aufmerksam gemacht wird. Der Psychologie-Journalist Martin Tschechne beschrieb in einer Radio-Glosse vor kurzem das Phänomen, dass achtzig Prozent der Waren, die man an der Kasse im Supermarkt bezahlt, nicht auf der Einkaufsliste standen, und wie uns die Marketingexperten »auf die Idee« bringen, dass wir diesen elektronischen Dosenöffner oder jene Trinkschokolade noch brauchen. Das kennen wir sicherlich alle, und wir mögen es bizarr oder skurril finden. Es ist aber vor dem Hintergrund der Motivationspsychologie vollkommen normal, wenn man schlichtweg unterstellt, dass in Supermärkten mit allen Mitteln vor allem ein Ziel aktiviert werden soll: kaufen. Da haben andere Ziele häufig keine Chance mehr, sosehr wir sie sonst bei uns zu Hause und gegenüber Freunden vertreten.[2]

Teure Moral

Bleiben wir noch einen Moment bei Zielkonflikten. Viele moralische Ziele erfordern, dass wir uns selbst zurückstellen. Wenn ich etwa einem Obdachlosen abends auf der Fahrt ins Theater helfe, komme ich eventuell zu spät zur Vorstellung. Wenn ein Bio-Produkt nicht in mein Budget passt und ich keine billige Alternative will, muss ich mich vielleicht zusammenreißen, um dem Konsum zu entsagen – oder zähneknirschend den hohen Preis bezahlen und dafür auf etwas anderes verzichten. Ökologische und faire Güter kann man schlichtweg nicht billig produzieren. Bezahlt ein Winzer seine Arbeiter anständig und verliert ab und zu eine Jahresernte, weil sich die Reblaus nicht so einfach durch seine ökologisch vertretbaren Methoden vertreiben ließ, dann ist eine Flasche Wein nun mal nicht für zwei Euro zu haben. Und wenn wir nicht gerade Leonardo DiCaprio heißen, der sicherlich ohne Probleme jeden Abend in einem Bio-Markt einkaufen und einen fair produzierten begehbaren Kleiderschrank mit fair geklöppelter Designerkleidung füllen kann, steigt die Wahrscheinlichkeit für einen typischen Zielkonflikt: Ich kann nicht sparen wollen und gleichzeitig ethisch einkaufen. Dadurch ist Frust nach der Entscheidung vorprogrammiert, denn eines meiner Ziele bleibt in jedem Fall unbefriedigt. Wähle ich A (Moral: an einer gerechten Welt arbeiten, Verzicht), dann ist B (Freude: kaufen und genießen) nicht befriedigt; entscheide ich mich für B, bleibt A auf der Strecke. Da sich gesunde Menschen frustrierenden Gefühlen zu entziehen versuchen, bedienen sie sich verschiedener Methoden der Konfliktvermeidung.

Eine Möglichkeit ist, Zielkonflikte zu umgehen, indem man eines der Ziele schlichtweg aufgibt. Ich könnte mir beim Klamottenkauf beispielsweise zureden: »Sei nicht so geizig, an diesem T-Shirt klebt wenigstens kein Blut!« – und meinen Sparfimmel hintanstellen. Alternativ könnte ich mir sagen: »Das geht langsam zu weit, achtzig Euro für ein T-Shirt zu verlangen. Ich habe einfach nicht das Geld.« Damit steigt vermutlich die Lust, mal einen Blick in die Läden zu werfen, die mir vorher problematisch erschienen.

Andere Methoden sind Entschuldigungen oder Rechtfertigungen. Bei den Entschuldigungen geben wir nach einem unethischen Verhalten zu, dass wir Mist gebaut haben. Vor kurzem hörte ich einen Ehemann beichten: »Ja, Putzi, ich weiß, dass das scheiße war … das mit der Gabi, das tut mir wirklich leid.« Putzi reagierte nicht darauf, sondern zeigte übertrieben angewidert mit ihren mit Eichhörnchenbildern beklebten Fingernägeln auf einen Ekelfleisch-Hamburger, den der Mann in der Hand hielt. Und rümpfte die Nase wie vor einer Güllegrube. Er wusste natürlich sofort, was er Böses getan hatte: »Ja, Putzi, auch Mäcs essen ist scheiße. Aber nicht so scheiße wie das mit der Gabi.« Beide Male hat uns der Gatte gezeigt, dass er den Widerspruch nicht aufzulösen gedenkt. Er gesteht vielmehr seine Fehler ein. Wird die Entschuldigung angenommen, hat er sein Ziel erreicht – er ist aus dem Schneider.

Im Gegensatz dazu versucht man durch Rechtfertigungen, den Widerspruch aufzuweichen: »War doch eigentlich nicht so schlimm« oder »Es hatte einen bestimmten Grund«. Hätte der Gatte gesagt: »Das mit Gabi, damit wollte ich dich doch nur sexuell entlasten«, oder: »Das Fleisch in diesem Burger ist top, das, was daran stinkt, ist die Landluft«, wäre damit der Versuch unternommen worden, einen Widerspruch aufzulösen oder, wie wir Psychologen gern sagen: »wegzuerklären« oder »umzukonstruieren«. Auf den Konsum bezogen bestätigen wir uns manchmal darin, wie sehr wir die unvernünftigen Dinge einfach »verdient« haben. Oder wir sagen uns, dass wir die Welt nicht retten können mit unserem individuellen Verhalten, dass vielmehr »die Politiker was machen sollen«. Das sind, wie der Psychologe Russell Belk zeigen kann, ebenfalls typische Rechtfertigungen für ein Verhalten, das mit ethischen Maximen im Konflikt steht oder gängigen Normen widerspricht.

Rationalisierungen, die uns zu ethischem Verhalten führen, beinhalten häufig Zweifel am Wert der ichbezogenen Alternative. Nach den Skandalnachrichten aus Fabriken, die Teile für iPhones produzieren, hörte man häufig: »Na, so cool sind die iPhones nun auch wieder nicht.« Die Abwertung von unvernünftigem Verhalten taugt hervorragend zur Selbstregulation. So ist einer meiner bevorzugten Tipps zum Abnehmen, sich zu fragen, ob ein kalorienhaltiges Produkt, das einen gerade anlacht, es wert ist, davon zuzunehmen. Mag ich wirklich so gern Frankfurter Kranz, dass ich in Kauf nehme, davon fett zu werden? Bejahe ich die Frage, entgehe ich dem Konflikt: Dann lasse ich es mit Vergnügen mal krachen und verstehe die Buttercreme (im wahrsten Sinn des Wortes) als Hüftgold. Verneine ich sie jedoch, was relativ häufig passiert, kann ich entsagen, weil ich die Torte innerlich abgewertet habe. Frankfurter Kranz esse ich zum Beispiel nur in den besten Cafés, nie bei einer dieser Bäckerei-Ketten – das setzt dem Verzehr automatisch Grenzen. Und selbst im besten Café sage ich spätestens dann nein, wenn meine Hosen so eng sitzen, dass sich die Falten der Boxershorts in mein Fleisch stempeln.[3]

Bei Konsumentscheidungen können wir grundsätzlich immer hinterfragen, warum wir etwas brauchen, ob wir etwas tatsächlich brauchen und ob es uns glücklich macht. Diese Rationalisierungsprozesse sind natürlich höchst subjektiv, und es ist schwer vorherzusagen, wie jemand entscheiden wird. Ob wir etwas wirklich brauchen, kann psychologisch gesehen nicht durch einen objektiven Blick in den Kleiderschrank oder in die Garage entschieden werden. Selbst jemand, der schon zwölf Autos hat, kann subjektiv das Gefühl haben, einen weiteren Wagen zu brauchen. Und jemand, der einen fünfzig Jahre alten Küchentisch hat, über den sich die Nachbarn schon lustig machen, kann seine Frau jahrelang mit den Sätzen zur Weißglut bringen: »Wozu brauchen wir einen neuen Tisch? Wir haben doch einen.«

All diese Prozesse werden mit mehr oder weniger Erfolg dazu eingesetzt, Konflikte oder schlechte Gefühle zu verringern, die wir beim Aufeinanderprallen von ichbezogenen, lustbezogenen Zielen einerseits und ethischen, vernünftigen Zielen andererseits spüren.

Zusammenfassend betrachtet ist die Psychologie der Ziele, so wie die der Konsumentenziele, eine sehr flexible. Ich werde später noch einmal darauf zurückkommen. Halten wir hier erst einmal fest, dass es nicht nur ein einziges Motiv gibt, um etwas zu kaufen oder nicht zu kaufen – es gibt viele, und ich werde an späterer Stelle einige zur Diskussion anbieten, für die es in der Psychologie auch gute Beweise gibt.

Der schlechte und der gute Reiche

Ziele entstehen nicht im luftleeren Raum, sondern bilden sich innerhalb einer Gesellschaft heraus. Sie können manchmal durchaus widersprüchlich sein und stehen nicht nur in unserem Gedächtnis, sondern auch innerhalb unserer Gesellschaft konfliktreich nebeneinander. So kennen wir die Norm, andere nachts nicht zu stören, und die ihr widersprechende, uns mit Freunden zu Partys zu treffen, um das Leben zu genießen – und da geht es halt manchmal gar nicht leise zu. Ein weiteres Beispiel aus dem wirklichen Leben des Sommers 2014: Trotz des schönen Wetters sollten wir nicht zu häufig grillen, weil der Gestank unseren Nachbarn ins Zimmer dringt; in starkem Gegensatz dazu gab es nichts Cooleres (so die Baumärkte) als die neuen Supergrills, mit denen man jetzt »auch Fisch kann«.

Manche werden sich daran stören, dass ich für Modeerscheinungen wie laute Partys und teure Grills das Wort »Norm« gebrauche, aber ich verstehe darunter wie viele Sozialpsychologen schlichtweg eine gesellschaftliche Verhaltensvorschrift, die kein niedergeschriebenes Gesetz sein muss, sondern einen Aufforderungscharakter haben kann, der Verhalten leitet. Beim Konsumieren ist es häufig so, dass zwar kein expliziter Zwang ausgeübt wird, ein bestimmtes Konsumverhalten zu zeigen, trotzdem aber ein gesellschaftlicher Druck besteht, sich etwas Bestimmtes anzueignen. So werden aus manchen Dingen »Must-haves«. »Jeder« hat einen Flachbildschirm zu besitzen, einen Computer, ein E-Bike, dünne Daunenjacken, beleuchtete Rentiere im Vorgarten oder ein Auto (im Moment so ein überdimensioniertes Geländefahrzeug, SUV, das man eigentlich zur Elefantenjagd einsetzen müsste). Jeder muss ab und zu von dem Besuch eines kulturellen oder sportlichen Großereignisses berichten können, und jeder muss bestimmte Sachbücher auf dem Couchtisch liegen haben – um nur ein paar Beispiele zu nennen.

Natürlich gibt es auch weniger materialistische Normen, die uns dazu aufrufen, zu sein und zu wachsen, statt zu haben. So sind momentan Yoga-Kurse, vegane Restaurants, BioMärkte, Achtsamkeitsbücher und anderes en vogue oder »Must-dos«. Vollkommen widersprüchlich in einer Gesellschaft, in der wir unseren Selbstwert an unserem Besitz ablesen, ist die sehr klare, allgemeine und weitverbreitete (ethische) Norm, es sei nicht gut, viel zu haben. Kirchgänger kriegen ab und an zu hören: »Eher geht ein Kamel durch ein Nadelöhr, als dass ein Reicher in das Reich Gottes gelangt (Mt 19,24).« Ähnlich eindeutig ist das zehnte Gebot: »Du sollst nicht nach dem Haus deines Nächsten verlangen. Du sollst nicht nach der Frau deines Nächsten verlangen, nach seinem Sklaven oder seiner Sklavin, seinem Rind oder seinem Esel oder nach irgendetwas, das deinem Nächsten gehört.« Und es gibt kaum eine Religion – weder die christliche noch die jüdische, die buddhistische oder den Islam –, die uns dazu ermuntern würde, dem Geld und materiellen Gütern nachzujagen. Oder ein T-Shirt für zwei Euro zu kaufen, wohl wissend, dass das nicht ohne Ausbeutung anderer funktioniert. Solche moralischen Grundsätze sind ebenfalls Teil unseres Ichs und wirken selbst da, wo die Religionen an Einfluss verlieren. Folgt man Kant, so benötigt man nicht einmal die Religion, um dergestalt moralisch zu handeln. Es reicht die Vernunft. Auf Konsumverhalten angewandt, würde der Kantsche kategorische Imperativ gebieten, dass ich nicht von etwas profitieren sollte, das unter Umständen produziert wurde, die ich mir selbst nicht wünschen würde beziehungsweise die irgendwem jetzt oder in der Zukunft Schaden zufügen.