Was ein Kind verkraftet - Patricia Vandenberg - E-Book

Was ein Kind verkraftet E-Book

Patricia Vandenberg

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Beschreibung

Sein Vater hat eine große Aufgabe übernommen: Dr. Daniel Norden leitet ab sofort die Behnisch-Klinik. Das führt natürlich zu entscheidenden Veränderungen in seiner Praxis. Jetzt wird es ernst für Danny, den Mädchenschwarm und allseits bewunderten jungen Mediziner. Er ist nun für die Praxis allein verantwortlich. Privat ist Dr. Danny Norden dabei, sein großes Glück zu finden. Seine Freundin, die sehbehinderte, zauberhafte Tatjana, ist mehr und mehr zu seiner großen Liebe geworden. Die neue Serie Praxis Dr. Norden ist prädestiniert, neben den Stammlesern der Erfolgsserie Dr. Norden auch viele jüngere Leserinnen und Leser hinzuzugewinnen. »Hilfe, Mama, komm schnell! Es ist was Schreckliches passiert! Der Opa wollte das nicht!« So hatte die zehnjährige Josefine noch nie geschrien. Johanna fuhr vom Tisch hoch, an dem sie gerade gesessen und an einem Kranz gearbeitet hatte. Sie stürzte aus der Küche hinaus auf den Flur. Ihre Schuhe klapperten auf den Steinfliesen. Diesmal dachte sie nicht daran, sie zu wechseln. Lief einfach mit den Hausschuhen hinaus auf den Platz vor dem Hof, wo Josy stand und die Hände rang. Johannas Blick glitt über ihre Tochter hinweg, hinüber zum Traktor auf der Wiese, halb verdeckt von einer Traube Menschen. Ihr Sohn Michel war nicht unter ihnen. Dabei hatte er dem Opa doch versprochen, mit ihm Heu zu machen. Johanna wusste selbst nicht, woher die Gewissheit kam. Plötzlich war sie da. Ein Schrei rang sich aus ihrer Kehle, aus den Tiefen ihrer Seele. »Es ist sieben Uhr. Guten Morgen meine Damen und Herren, Sie hören die Nachrichten. München …« Johanna fuhr hoch. Schwer atmend saß sie im Bett.

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Praxis Dr. Norden – 18 –

Was ein Kind verkraftet

… und die Eltern vergehen vor Angst

Patricia Vandenberg

»Hilfe, Mama, komm schnell! Es ist was Schreckliches passiert! Der Opa wollte das nicht!«

So hatte die zehnjährige Josefine noch nie geschrien. Johanna fuhr vom Tisch hoch, an dem sie gerade gesessen und an einem Kranz gearbeitet hatte. Sie stürzte aus der Küche hinaus auf den Flur. Ihre Schuhe klapperten auf den Steinfliesen. Diesmal dachte sie nicht daran, sie zu wechseln. Lief einfach mit den Hausschuhen hinaus auf den Platz vor dem Hof, wo Josy stand und die Hände rang. Johannas Blick glitt über ihre Tochter hinweg, hinüber zum Traktor auf der Wiese, halb verdeckt von einer Traube Menschen. Ihr Sohn Michel war nicht unter ihnen. Dabei hatte er dem Opa doch versprochen, mit ihm Heu zu machen. Johanna wusste selbst nicht, woher die Gewissheit kam. Plötzlich war sie da. Ein Schrei rang sich aus ihrer Kehle, aus den Tiefen ihrer Seele.

»Es ist sieben Uhr. Guten Morgen meine Damen und Herren, Sie hören die Nachrichten. München …«

Johanna fuhr hoch. Schwer atmend saß sie im Bett. Ihr Herz raste. In Strömen lief ihr der Schweiß von der Stirn. Ihr Blick klebte auf dem orangefarbenen Radiowecker. Ein Fossil aus einem anderen Leben. Doch das war nicht der Grund für ihren Schrecken.

»Verdammt. Schon sieben Uhr!« Sie sprang aus dem Bett, stolperte über die Teppichkante und landete mit einem dumpfen Knall der Länge nach auf dem Boden. Rauer Teppich auf weicher Wange. Das konnte nicht gut gehen. Tränen schossen ihr in die Augen. Eine Mischung aus Wut, Verzweiflung und Schmerz. Johanna rappelte sich hoch. Auf dem Weg ins Kinderzimmer warf sie einen Blick in den Flurspiegel. Die Schleifspur war unübersehbar. Das würde eine ordentliche Kruste geben. Na, wenigstens würden die Kollegen ihren Spaß haben. Johanna eilte weiter ins Kinderzimmer.

»Josy, aufwachen. Wir haben verschlafen!« Sie rüttelte ihre Tochter an der Schulter.

Statt einer Antwort hustete Josy. Ihre Mutter erschrak. Das, was sie am Abend zuvor schon befürchtet hatte, war Wirklichkeit geworden.

»Du klingst wie ein alter Wolf.« Sie legte die Hand auf die Stirn ihrer Tochter. »Außerdem hast du schon wieder Fieber.« Auch das noch! Blitzschnell dachte Johanna nach. »Wir müssen zum Arzt.« Sie griff zum Mobiltelefon, öffnete das Internet. »Die Praxis Dr. Norden öffnet heute schon um halb acht. Wenn alles gut geht, komme ich noch pünktlich zur Arbeit.« Wenigstens ein Lichtblick an diesem Morgen. Sie trieb Josy zur Eile an. »Wasch dich und zieh dich an! Frühstücken kannst du danach. Ich rufe inzwischen in der Schule an und sage Bescheid, dass du heute nicht kommst.«

»Aber morgen kann ich schon in die Schule gehen, oder?«

»Wir müssen abwarten, was Dr. Norden sagt.« Johanna schob ihre Tochter ins Badezimmer.

Schon zehn Minuten später waren sie auf dem Weg. Der Schnee knirschte unter ihren Schritten. Ihr Atem stand in Wölkchen vor den Mündern. Früher, auf dem Land, war Josy mit dem Bus in die nächstgrößere Stadt gefahren. Seit Trennung und Umzug benutzten Mutter und Tochter U- und Trambahn, um ans Ziel zu kommen.

»Ich muss aber morgen unbedingt in die Schule«, beharrte Josy. Sie musste sich anstrengen, um mit ihrer Mutter Schritt zu halten. Das war gar nicht so einfach.

Johanna schlängelte sich so geschickt an Kinderwagen, eingemummelten Pärchen und Geschäftsleuten mit Aktenkoffern vorbei, dass ihre Tochter Mühe hatte, sie im morgendlichen Gewimmel nicht zu verlieren.

»Andere Kinder sind froh, wenn sie mal zu Hause bleiben dürfen«, rief Johanna über die Schulter und zog die Kapuze tiefer ins Gesicht.

»Wir machen aber morgen einen Ausflug zu einem Bauernhof.«

Johanna blieb so abrupt stehen, dass Josy um ein Haar mit ihr zusammengestoßen wäre. Bauernhof. Das Unglückswort. Genau wie Traktor. Oder Wiese. Heu machen. Ohne Bauernhof und all das andere wäre das Unglück nicht passiert!

»Muss das sein? Du weißt doch, wie gefährlich das ist.«

»Wir fahren nicht Traktor. Und wenn Papa und Oma und Opa mich schon nicht mehr sehen wollen, will ich wenigstens einen anderen Hof besuchen.«

Johanna biss sich auf die Unterlippe. Da war sie wieder, die Lüge. Aber wie hätte sie ihrer Tochter sonst erklären sollen, dass sie es war, die dem Opa nicht verziehen hatte. Es nicht konnte.

»Wir werden sehen, was Dr. Norden sagt«, erwiderte sie und nahm Josy an der behandschuhten Hand.

*

»Oh, Fynni, bitte komm endlich! Ich muss in die Praxis.« Danny Norden stand auf dem Gartenweg und sah zum bestimmt dritten Mal auf die Uhr.

Sein Sohn hatte es alles andere als eilig. Über Nacht war wieder einmal Schnee gefallen. Eine Zuckerschicht bedeckte Bäume, Sträucher und Wiese.

»Papa, schau mal!« Fynn zog an einem Ast.

Eine Ladung Schnee löste sich. Lautlos landete er auf Kopf und Kragen seines Vaters.

»Ahhhh, das ist kalt! Na warte, du Bengel!« Fynn kreischte vor Vergnügen, als Danny ihn packte und mit einer Handvoll Schnee einseifte – vorsichtig natürlich, um ihm nicht wehzutun. »Das war die Rache!« Er stellte den Dreijährigen zurück auf den Boden. »Und jetzt komm! Deine Freunde im Kindergarten warten schon auf dich.«

Doch Fynn stand da und rührte sich nicht.

»Kindergarten ist blöd. Ich nehme heute Urlaub.«

Wo hatte er das nur wieder aufgeschnappt? Danny hatte Mühe, nicht laut herauszulachen.

»So einfach geht das nicht. Wenn man Urlaub haben möchte, muss man seinem Chef ein paar Tage vorher Bescheid sagen.«

»Warum?«

»Damit sich der Chef darauf einstellen und jemand anderen suchen kann, der die Arbeit macht.« Danny nahm seinen Sohn an der Hand. Diesmal widersetzte er sich nicht. Das Gespräch forderte Fynns ganze Aufmerksamkeit. Kleine Füße trippelten neben den großen her, zum Gartentor hinaus und den Gehweg entlang.

Und wieder ein »Warum?« Die absolute Lieblingsfrage derzeit.

»Weil die Arbeit sonst liegenbleibt.«

»Warum?«

»Warum ist die Banane krumm?«, fragte Danny, um der Fragerei ein Ende zu bereiten. Vergeblich.

»Warum?«, fragte Fynn wie ein Papagei.

Zum Glück mussten sie die Hauptstraße überqueren, und es gab einiges zu tun für den Dreijährigen. Er musste den Ampelknopf drücken und auf das Signal zum Gehen achten. Sich versichern, dass die Bahn auch wirklich frei war. Nachdem er Hand in Hand liefen die beiden Männer über die Straße. Drüben angekommen, hatte Fynn einen weiteren Anschlag auf seinen Vater vorbereitet.

»Du musst heute mit mir eine Schneeballschlacht machen. Und einen Schneemann bauen. Und Schlitten fahren.«

»Aber so viel Schnee liegt doch noch gar nicht.« Danny zeigte auf die Schneereste, die sich am Straßenrand bereits in eine graue Pampe verwandelten.

»Na gut. Dann nur einen Schneemann«, beharrte Fynn.

»Wie heißt das Zauberwort?«

»Bitte Schneemann bauen. Aber dalli!«

Es fehlte nicht viel, und Danny wäre laut herausgeplatzt. Er musste unbedingt mit seiner Frau Tatjana reden und sie warnen. Mit diesem aufmerksamen Zwerg in ihrem Leben würde jeder Witz, jeder dumme Spruch eines Tages zu ihnen zurückkehren. Und Witze machte das Ehepaar wahrlich genug, wenn es zusammen war.

Über diesen Gedanken erreichten Vater und Sohn schließlich den Kindergarten. Mütze und Anorak hingen kaum am Haken, die Hausschuhe an den Füßen waren noch nicht warm, als Fynn auch schon davonstob. Kein Gedanke mehr daran, dass der Kindergarten blöd war und er eigentlich einen Tag Urlaub nehmen wollte.

Einen Moment lang stand Danny sinnend im Vorraum. Kramte in seinem Gedächtnis nach seiner eigenen Kindergartenzeit, bis ihn eine Glocke daran erinnerte, dass auch er keinen Urlaub hatte.

*

»Die Brezen sind schon wieder aus!« Florentinas Stimme wehte aus dem Verkaufsraum hinüber in die Backstube. »Habt ihr schon ein neues Blech in den Ofen geschoben? Außerdem hat Frau Brenner gerade angerufen. Sie will wissen, ob sie an der Bestellung für die Torte noch etwas ändern kann.«

Tatjana Norden stand an der Arbeitsplatte, einen Pinsel mit Zuckerguss in der Hand, vor sich ein Blech Rosinenschnecken, und rollte mit den Augen.

»Erledigst du die Brezen?«, gab sie Florentinas Bitte an ihren Gesellen weiter.

»Tut mir leid, aber zuerst sind meine Blondinen dran.« Bedauernd schüttelte Titus den Kopf.

»Aber du hast doch gehört …«

»Gemach, gemach.« Titus nahm seiner Chefin den Pinsel aus der Hand. Er packte sie an den Schultern und drehte sie um. Schob sie ein paar Schritte Richtung Vorhang, der die Backstube von Verkaufsraum und Café trennte. »In der Ruhe liegt die Kraft.«

Tatjana seufzte, ehe sie das Schlachtfeld verließ.

»Welche Änderung will sie denn jetzt schon wieder haben?«, erkundigte sie sich. Doch da war niemand mehr.

Florentina stand längst an der Kaffeemaschine und kochte Latte Macchiato. Die Maschine gurgelte und spuckte Wasser und Dampf.

»Was sollen wir an der Torte ändern?«, wiederholte Tatjana ihre Frage.

Florentina stellte die Getränke auf ein Tablett. Sie wischte sich die Hände am Geschirrtuch ab, das in der Kellnerschürze steckte.

»Statt ›Für Helene zum 83. Geburtstag‹ sollen wir jetzt ›für meine liebe Helene zum 83. Geburtstag‹ schreiben.«

»Aber das ist schon die dritte Änderung. Bevor ich die Torte dekoriert habe, habe ich extra noch einmal angerufen und nachgefragt, ob das jetzt wirklich der endgültige Text ist.«

Florentina legte Löffel und kleine Kekse auf die Unterteller und glich die Bestellung mit dem Zettel in ihrer Hand ab.

»Ich gebe nur das weiter, um was Frau Brenner mich gebeten hat. Gehst du jetzt bitte aus dem Weg? Sonst ist der Kaffee kalt, und ich darf noch einmal von vorn anfangen.«

»Sind Sie jetzt endlich fertig mit Ihrem Tratsch?«, schimpfte eine Männerstimme hinter den beiden. »Dann würde ich gern Brötchen kaufen.«

Tatjana fuhr herum. Seit sie bei einem Unfall vor vielen Jahren zeitweise ihr Augenlicht verloren hatte, hatten sich ihre übrigen Sinne auf fast mystische Art und Weise geschärft. Manchmal konnte sie sich selbst nicht erklären, wie das war mit den Schwingungen. Woran sie die Menschen erkannte, die ein Zimmer betraten. Stimmungen erfühlte. Wusste, ob ihr ein Mensch sympathisch war oder nicht. Mit ihrem Mann Danny scherzte Tatjana oft darüber, dass ihr ein weiteres Sinnesorgan gewachsen sein musste. Dieser Leberfleck über dem Bauchnabel vielleicht. Oder die kleine Warze hinter dem Ohr. Doch was es auch war, in diesem Moment hatte es sie im Stich gelassen.

»Tut mir leid. Ich habe Sie nicht gehört.«

»Aber Augen haben Sie doch im Kopf, oder?«, schimpfte der Mann weiter. »Als Sie durch den Vorhang getreten sind, haben Sie mir direkt ins Gesicht gesehen und sich trotzdem nicht um mich gekümmert.«

»Das liegt daran, dass ich nicht gut sehen kann.«

»Ach ja?« Ungläubig musterte er die beiden großen Saphire in Tatjanas Gesicht. »Und ich bin der Weihnachtsmann. Und jetzt geben Sie mir endlich drei Brezen und zwei Dinkelbrötchen.«

Ausgerechnet Brezen!

»Augenblick. Ich sehe nach, ob die Brezen schon fertig sind.« Ehe der Kunde widersprechen konnte, schlüpfte Tatjana durch den rotsamtenen Vorhang, Reminiszenz an eine längst vergangene Zeit. »Sind die Brezen fertig?«, herrschte sie ihren Gesellen an.

»Denkst du etwa, ich kann zaubern?« Titus sah auf die Uhr an einem der Öfen. »In viereinhalb Minuten erfülle ich dir deinen Wunsch.«

»Bis dahin hat der Kunde mir den Kopf abgerissen«, zischte Tatjana.

»Ruhig, Brauner, ruhig«, versuchte Titus, seine gestresste Chefin zu beruhigen. Manchmal funktionierte dieser Spruch aus Richard Wagners Oper ›Die Walküren‹. Doch heute war das Glück nicht auf seiner Seite.

»Wenn du genauso gut arbeiten wie dumme Sprüche klopfen würdest, wären die Brezen längst fertig.«

»Jetzt reicht’s mir!« Titus wandte sich ab. »Lass deine schlechte Laune gefälligst nicht an mir aus.« Er machte einen Schritt nach vorn. Stolperte über einen Hocker und fiel. Haltsuchend riss er die Arme hoch. Doch alles, was er fand, war das heiße Glas des Ofens.

Ein Schrei erschütterte die Backstube. Mit einem Schlag war Tatjanas Zorn verraucht. Sie fiel neben ihrem Gesellen auf die Knie.

»Titus. Oh, Titus. Das tut mir leid. Das wollte ich nicht. Das ist allein meine Schuld.« Die Hand ihres Gesellen war mit Blasen übersät.

Titus schickte einen Blick an die Decke.

»Was ist denn heute los mit dir?«, quetschte er durch die Zähne. »Kannst du bitte aufhören mit dem Quatsch und ein Taxi organisieren, das mich zum Arzt bringt?«

*

»O Wendy, ist das nicht toll da draußen?«, begrüßte Sascha Kronseder die langjährige Assistentin der Praxis Dr. Norden. »Haben Sie Lust auf eine Schneeballschlacht?«

»Nein, vielen Dank. Diese Zeiten habe ich längst hinter mir. Ich bin doch keine zwölf mehr.«