Was ist gerecht? -  - E-Book

Was ist gerecht? E-Book

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Beschreibung

Die Erfolgsserie jetzt auch als Buch! Haben wir etwas verlernt? Ist uns das Selbstverständliche abhanden gekommen? Oder sind urkonservative Werte wie Gerechtigkeit, Solidarität und Respekt einfach überholt? Man könnte es bisweilen glauben. Das aber ist falsch: In Umfragen geben viele Menschen an, dass für sie Gerechtigkeit und Solidarität wichtige Werte sind. Eine Gesellschaft, die den sozialen Ausgleich nicht mehr sucht, verarmt. Sie nimmt Menschen Chancen: auf eine eigene Existenz, auf ein gelungenes Leben – und beraubt sie so ihrer Zukunft. Eine Gesellschaft, die einigen wenigen übergroßen Reichtum zugesteht, ist in Gefahr, das Schicksal des Gemeinwesens in deren Hände zu legen. Das ist nicht nur nicht sozial, das ist auch das Gegenteil von liberal. Und leider bereits Realität. Ohne die Leserinnen und Leser der Frankfurter Rundschau wäre dieses Buch nicht entstanden. Die ersten Texte der Serie waren gerade erschienen, da gingen bereits Anrufe und E-Mails mit der immer gleichen Frage ein: Ist ein Buch geplant? Nein, zunächst war kein Buch geplant. Aber weil die Frage sich wiederholte und auch das Lob für die Serie, wurde uns klar, dass wir die Debatte über Gerechtigkeit nicht nur in der Zeitung führen müssen. Deutschland braucht diese Debatte.

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Bascha MikaArnd Festerling (Hg.)
Was ist gerecht?
Argumente für eine bessere Gesellschaft
Alle Rechte vorbehalten • Societäts-Verlag
© 2015 Frankfurter Societäts-Medien GmbH
Satz: Julia Desch, Societäts-Verlag
Umschlaggestaltung: Julia Desch, Societäts-Verlag
Umschlagabbildungen: © Gary Waters/Getty
Redaktion: Sabine Hamacher, Daniel Baumann, Kai Kämpfer, Viktor Funk
E-Book: SEUME Publishing Services GmbH, Erfurt
ISBN 978-3-95542-163-2

Inhaltsverzeichnis

Vorwort
I. Der (un-)gerechte Mensch
Der Mensch ist nicht des Menschen Wolf – dessen sind sich Neurologen und Psychologen sicher. Aber ob er sich für andere einsetzt, hängt von seiner sozialen Prägung und den Lebensumständen ab. Und so widersprüchlich es klingt: Auch Diktatoren sind manchmal vom Wunsch nach Gerechtigkeit getrieben.
II. Wie wir leben
Der Kapitalismus hat vielen Menschen Wohlstand gebracht. Doch die Kosten sind hoch. Zu hoch. Die einen werden immer reicher, die anderen fallen zurück. Auf Dauer zerstört das unsere Lebensgrundlage, die Demokratie – wer arm ist, hat politisch keine Stimme.
III. Wie wir leben wollen
Es mangelt nicht an Ideen, die Gesellschaft fairer, friedlicher und glücklicher zu machen. Allein der politische Wille der Regierenden fehlt. Also müssen die Bürger ran. Sie müssen Veränderungen von ihren Vertretern einfordern. Im Kleinen können sie die Welt aber schon täglich selbst verbessern.
Herausgeber
Autoren

Vorwort

Haben wir etwas verlernt? Ist uns das Selbstverständliche abhandengekommen? Oder sind urkonservative Werte wie Gerechtigkeit, Solidarität, und Respekt einfach überholt? Man könnte es bisweilen glauben. Da werden Hungerlöhne verteidigt, von denen niemand leben kann. Da werden riesige Vermögen gerechtfertigt, während in der gleichen Gesellschaft zu wenig Geld für die Ärmsten da ist. Da sind die Chancen auf Bildung und Teilhabe dramatisch ungleich verteilt. Und wer nur flüchtig hinschaut, kann glauben, dass es niemanden kümmert.
Das aber ist falsch: In Umfragen geben viele Menschen an, dass für sie Gerechtigkeit und Solidarität wichtige Werte sind. Denn eine gerechte, solidarische Welt ist keine Träumerei blauäugiger Linker. Sie ist uns in gewisser Weise in die Wiege gelegt, wie wir im ersten Teil dieses Buches zeigen. Und es ist gut, wenn wir uns das bewusst machen.
Eine Gesellschaft, die den sozialen Ausgleich nicht mehr sucht, verarmt. Sie nimmt Menschen Chancen: auf eine eigene Existenz, auf ein gelungenes Leben – und beraubt sie so ihrer Zukunft. Eine Gesellschaft, die einigen wenigen großen Reichtum zugesteht, gibt ihnen Macht über ihre Mitmenschen, legt das Schicksal des Gemeinwesens in deren Hände und erlaubt ihnen zu viel Einfluss auf die Politik. Das ist nicht nur nicht sozial, das ist auch das Gegenteil von liberal. Und leider bereits Realität.
So extrem, wie es in den USA ist, zeigt sich das Verhältnis zwischen Reich und Arm in Deutschland zwar nirgends, aber der Trend ist auch hier zu spüren. Das zeigen wir im zweiten Teil des Buches. Bereits heute besitzt ein Prozent der Bevölkerung in Deutschland ein Drittel des Vermögens. Das ist so viel, wie die unteren 90 Prozent zusammen besitzen. Und inzwischen arbeitet jeder vierte Arbeitnehmer in Deutschland für einen Niedriglohn.
Wer über soziale Gerechtigkeit sprechen will, bekommt schnell den Vorwurf zu hören, „Verteilungskämpfe künstlich zu produzieren“ (Arbeitgeberpräsident Ingo Kramer). Doch was heißt hier „künstliche Verteilungskämpfe“? Wenn reiche Erben sagen, dass sie sich mit dem geerbten Reichtum nicht wohlfühlen, wenn die Bildungschancen immer noch vom Wohlstand einer Familie abhängen, wenn Investmentbanker leicht in wenigen Monaten mehr Geld verdienen, als ein Handwerker in seinem ganzen Berufsleben – kann dann tatsächlich die Rede von „künstlichen Verteilungskämpfen“ sein?
Der Internationale Währungsfonds (IWF), die Industrieländerorganisation OECD und sogar die Ratingagentur S&P warnen vor zu viel Ungleichheit. Was also tun? In einem Punkt sind sich Oben und Unten, sind sich Reich und Arm, Arbeitgeber und Arbeitnehmer einig: Die Chancengleichheit muss verbessert werden. Industrie-Präsident Ulrich Grillo drückt es so aus: „Die Priorität muss eine Gesellschaft mit Chancengerechtigkeit sein, damit jeder Chancen erhält und sie nutzen kann.“
Und was folgt daraus? Wir zeigen in diesem Buch: Wer das liberale Versprechen einlösen möchte, dass jeder seine faire Chance bekommt – und das heißt in einer modernen Gesellschaft nicht nur eine Startchance, sondern immer neue Chancen ein Leben lang – der kommt am sozialen Ausgleich nicht vorbei. Das ist den Reichen gegenüber nicht ungerecht. Denn was häufig vergessen wird, ist ja, dass die großen Vermögen von vielen Menschen erarbeitet worden sind, die auf diesem Weg etwas von ihrer Arbeitsleistung zurückbekommen. Deshalb darf auch ungeniert die Frage gestellt werden, wie wir mit den großen Erbschaften in diesem Land umgehen wollen.
Zudem führt Solidarität im Inneren gleichzeitig zu mehr Verantwortung und Solidarität im Äußeren. Denn soziale Verwerfungen in den entwickelten Staaten wirken sich auch auf deren Außenpolitik aus, sie können über Krieg und Frieden anderswo auf der Welt entscheiden.
Wie wir solidarischer handeln könnten, davon handelt der dritte Teil des Buches. Wir fragen, wie sich der Kreislauf der Chancenlosigkeit durchbrechen lässt, und machen uns Gedanken, wie eine gerechtere Wirtschaft aussehen könnte. Andere Länder zeigen, warum sich mehr Gerechtigkeit und mehr Gleichheit lohnen. Die Dänen zum Beispiel sind nicht nur gleicher als viele andere Völker, sie sind auch glücklicher. Das müsste das eigentliche Ziel von guter Politik sein: glückliche Menschen.
Diesem Ziel ist dieses Buch gewidmet, mit vielen Fakten, Argumenten und Ideen, die helfen, ihm näherzukommen. Es wäre nicht entstanden ohne die Leserinnen und Leser der Frankfurter Rundschau. Die ersten Texte unserer Gerechtigkeitsserie waren gerade erschienen, da gingen bereits Anrufe und E-Mails mit der immer gleichen Frage ein: Ist ein Buch geplant?
Nein, zunächst war kein Buch geplant. Aber weil die Frage sich wiederholte und auch das Lob für die Serie, wurde uns klar, dass wir die Debatte über Gerechtigkeit nicht nur in der Zeitung führen müssen. Deutschland braucht diese Debatte.
Bascha Mika,
Arnd Festerling
Frankfurt, im April 2015

I.Der (un-)gerechte Mensch

„Geld und Geldgewinne aktivieren das Belohnungssystem besonders gut und schalten den ,vernünftigen‘ Teil des Gehirns aus.“

Auf der Suche nach dem Gerechtigkeitsgen

Von Pamela Dörhöfer
Wenn wir sehen, wie ein Mensch sich verletzt, leiden wir mit, wir können nachempfinden, welchen Schmerz der andere fühlt. Sehen wir in einem Film eine traurige Szene, den herzzerreißenden Abschied zweier Liebender oder den Tod des Helden, so berührt uns das trotz des Wissens um die Fiktion; bei sensiblen Gemütern fließen sogar die Tränen. Und – wer kennt es nicht: Lachen kann ebenso ansteckend sein wie Gähnen.
Menschen spüren Mitgefühl, schon kleine Kinder sind dazu in der Lage: Die Empathie scheint Homo sapiens in die Wiege gelegt. Bahnt uns diese Fähigkeit automatisch den Weg zu moralischen Wesen, ist uns Gerechtigkeitssinn angeboren? So einfach ist das nicht, sagt Simon Eickhoff, Professor für Kognitive Neurowissenschaften an der Heinrich-Heine-Universität in Düsseldorf und dem Forschungszentrum Jülich. „Empathie, Moral, Gerechtigkeit – sie alle haben etwas miteinander zu tun, sind aber doch verschiedene Dinge.“
Wobei der Hirnforscher den Begriff der Gerechtigkeit im Zusammenhang mit menschlichen Anlagen etwas problematisch findet: „Gerechtigkeit ist abstrakt und normenbedingt, sie ist letztendlich Auslegungssache.“ Fairness als Teil dessen, was man unter Gerechtigkeit verstehen kann, hätten Menschen aber sehr früh gelernt; sie habe ihnen den einzigartigen Fortschritt in der Evolution mit geebnet: „Fairness bedeutet, sich eine Beute zu teilen, die man zusammen erlegt hat. Das unterscheidet den Homo sapiens selbst von seinen nächsten Verwandten, den Menschenaffen. Dort nehmen sich die Stärksten die besten Brocken. Die Rangniedrigsten können sehen, wo sie bleiben.“
Zu gewissen Formen von Mitgefühl sind unsere nächsten Verwandten jedoch wahrscheinlich fähig. Die dafür vermutlich hauptverantwortlichen Nervenzellen, die Spiegelneuronen, wurden 1992 sogar erstmals bei Makaken beschrieben. Im Gehirn von Primaten (zu denen die Menschen gehören) reagieren diese Nervenzellen sowohl bei eigenen Handlungen als auch dann, wenn man jemand bei derselben Handlung beobachtet. Sie „spiegeln“ somit Beobachtungen im eigenen neuronalen System, sie liefern einen „einzigartigen Zugang zum Innenleben anderer“, erklärt Simon Eickhoff. Diese speziellen Nervenzellen reagieren dabei so, als wäre man an einem Geschehen aktiv beteiligt und würde nicht nur zusehen.
Spiegelneuronen sind nach aktuellem Stand der Wissenschaft von Geburt an im menschlichen Gehirn angelegt; bereits Säuglinge sind in der Lage, Handlungen ihrer Eltern zu erkennen, zu imitieren und somit an deren Gefühlswelt teilzuhaben. Damit sie sich weiterentwickeln, brauchen die Spiegelneuronen Bezugspersonen. Aktuell geht die Forschung davon aus, dass sie zwischen dem dritten und vierten Lebensjahr voll ausgebildet sind.
Auch mehr als 20 Jahre nach ihrer Entdeckung gibt es indes noch immer viele offene Fragen zur Funktion dieser Zellen. „Es gab eine Phase, da mussten sie für alles herhalten: für Imitation und Intuition, das Lesen und Lernen bis hin zum Gerechtigkeitsempfinden. Inzwischen wird ihre Rolle aber zurückhaltender interpretiert“, sagt Simon Eickhoff. Der Hirnforscher geht nicht davon aus, dass die Fähigkeit zum Nachempfinden zugleich auch moralisch gerechtes Handeln bewirkt. Das müsste sonst auch für die Menschenaffen gelten. „Die Spiegelneuronen sind wahrscheinlich ein wichtiger Bestandteil unseres sozialen Gehirns, aber eben nur ein Baustein.“
Was aber sonst versetzt Menschen letztlich in die Lage, fair und unfair, moralisch und unmoralisch oder eben auch gerecht und ungerecht zu unterscheiden? Wenn wir Situationen beurteilen und unser eigenes Handeln darauf abstellen, gehe das nicht allein und vermutlich auch nicht in erster Linie auf die Spiegelneuronen zurück, sagt Eickhoff. Es hat vor allem auch mit einer Fähigkeit zu tun, die Wissenschaftler als „Theory of Mind“ bezeichnen. Diese beschreibt die menschliche Gabe, sich in einen anderen hineinzuversetzen, dessen Perspektive einzunehmen. „Man kann nachvollziehen, was man sieht, kann einschätzen, was jemand denkt, welche Absichten er hat. Das ist eine wichtige Abgrenzung zur Empathie, die gefühlsmäßiges Nachempfinden ermöglicht“, sagt Eickhoff.
„Theory of Mind“ bedeutet auch, die Ansichten anderer von den eigenen unterscheiden zu können. Diese Fähigkeiten entwickeln Kinder etwa ab dem vierten Lebensjahr, sie bilden sich im Laufe des Lebens immer stärker aus. Hirnschädigungen und bestimmte psychische Erkrankungen können diese Funktionen stören. Während die Spiegelneuronen einen „schnellen, intuitiven, aber unpräziseren Zugang“ zur Welt der Gefühle, Intentionen und Gedanken anderer ermöglichten, eröffne ihn die „Theory of Mind“ „langsamer, abstrakter, aber genauer“, erklärt Simon Eickhoff.
Dass die „Theory of Mind“ stärker als die Empathie an moralischen Einschätzungen beteiligt ist, haben mehrere Studien ergeben. Dabei wurden die Teilnehmer mit verschiedenen Situationen konfrontiert und anschließend gefragt: Darf man das, ist das richtig, wie sollte sich die Person entscheiden? „Es zeigte sich, dass die Hirnaktivität sich bei diesen Prozessen sehr stark mit der Aktivität überlappt, die man bei der ,Theory of Mind‘ findet – und sehr viel weniger mit dem Geschehen, das bei Empathie zu beobachten ist“, sagt der Düsseldorfer Wissenschaftler. Vieles deute darauf hin, dass Moral eher ein rationales, kognitives Konstrukt sei. Dieser Annahme stehe indes entgegen, dass Patienten mit Demenz, deren rationale Urteilsfindung stark beeinträchtigt ist, in ihrem Handeln trotzdem oft moralischen Grundsätzen folgen können. Letztlich, so der Hirnforscher, sei noch offen, in welcher Weise bei moralischem – oder auch als gerecht empfundenem – Handeln „Theory of Mind“ und Empathie zusammenspielten.
Bekannt ist, dass an diesen Prozessen mehrere Hirnregionen beteiligt sind. Ein spezielles Areal, das für Mitgefühl, die Fähigkeit zum Perspektivwechsel und moralisches Handeln zuständig wäre, existiert nicht. Jedoch, so Eickhoff, gebe es einige „Hotspots“ sozialer Kognition, die bei der Interaktion mit anderen Menschen eine wichtige Rolle spielen. Der dorsomediale präfrontale Kortex ist einer davon, ein Teil des an der Stirnseite sitzenden Frontallappens der Großhirnrinde. Dort würden unter anderem Urteile gefällt, Entscheidungen vorbereitet, andere Menschen bewertet: „Zum Beispiel, wie vertrauenswürdig oder attraktiv man jemand findet“.
Die Fähigkeit, verschiedene Perspektiven einzunehmen wiederum ist im temporoparietalen Übergang angesiedelt, einer seitlichen Region nahe der Schläfe. Aber auch jene Areale, in denen das autobiografische Gedächtnis sitzt, trügen ihren Teil dazu bei, wie Menschen Situationen einschätzen und als Reaktion darauf selbst handeln.
Jeglichen Versuchen, moralische Urteile im Gehirn zu lokalisieren und zu verfolgen, seien allerdings Grenzen gesetzt, räumt der Neurowissenschaftler ein: So lasse sich echte Empathie oder moralisches Handeln im Experiment nur schwer untersuchen. „Die Teilnehmer wissen, dass es ein Test ist, dass sie sich nicht tatsächlich in der Situation befinden. Was passiert, hat für sie nicht wirklich eine Bedeutung. Das ist etwas völlig anderes, als wenn es sie selbst betreffen würde. Das ist ein Problem aller Studien im Bereich der sozialen Neurowissenschaften.“ Wenn es um Themen wie Fairness oder Moral gehe, sei es deshalb eine Möglichkeit, die Probanden um echtes Geld spielen zu lassen: „Das schafft dann eine größere Relevanz.“
Versuchsanordnungen, in denen das Verhalten der Teilnehmer in einer Art Rollenspiel untersucht wird, seien hingegen mit größter Vorsicht zu genießen, sagt Eickhoff und verweist auf das berühmte Stanford Prison Experiment von 1971, bei dem die Probanden in Wächter und Gefangene eingeteilt wurden. Weil die Situation eskalierte, musste es abgebrochen werden. Aus dem teils sadistischen Verhalten einiger Männer, die sich in der Machtposition der Wächter befanden, Rückschlüsse auf allgemein menschliche Eigenschaften zu ziehen, hält der Düsseldorfer Wissenschaftler für unzulässig: „Es kann sein, dass die Teilnehmer Stereotype auslebten, von denen sie glaubten, dass sie erwartet würden. Oder dass der Versuchsleiter das Experiment unbewusst beeinflusst hat. Letztendlich ist es auch möglich, dass sich von vornherein Probanden mit schwierigen Persönlichkeitszügen gemeldet haben.“
Hielte man es für wissenschaftlich seriös, so würde das Stanford Prison Experiment wenig Schmeichelhaftes über menschliches Miteinander offenbaren. Mitgefühl, Moral, Fairness – das alles könnte das Recht des Stärkeren dann sehr schnell verdrängen. Dass auch die menschliche Evolution alleine auf das Ziel der natürlichen Auslese der Stärksten ausgerichtet sei, haben viele Forscher im Gefolge von Charles Darwin lange geglaubt. Die Mehrheit der Wissenschaftler teilt heute diese Sicht nicht mehr.
Fakt ist: Die weitaus meisten Menschen kennen Mitgefühl und Fairness und treffen moralische Urteile, wie auch immer diese individuell ausfallen mögen. Viele Forscher gehen zudem davon aus, dass es natürliche Schranken gibt, anderen Menschen Gewalt anzutun. Doch ob uns das alles angeboren ist? Selbst wenn davon auszugehen ist, dass „Theory of Mind“ und Spiegelneuronen die Grundlagen liefern und auch beteiligte Hirnregionen bekannt sind: „Es lässt sich nicht klar beantworten“, sagt Simon Eickhoff.
Denn unser Gehirn kommt keineswegs „fertig“ auf die Welt: Wir werden vom Tag unserer Geburt an durch Bezugspersonen geprägt und sind auf deren Zuwendung angewiesen. Das, was wir von frühester Kindheit an erleben, jede Erfahrung beeinflusst die weitere Entwicklung dieses so zentralen Organs ein Leben lang. „Das Gehirn ist darauf ausgerichtet, aus der Umwelt zu lernen und sich optimal an seine Anforderungen anzupassen“, sagt der Forscher: „Einen von äußerer Prägung freien Urzustand des Gehirns kann es nicht geben.“

Wie das Hirn Fairness steuert

Von Pamela Dörhöfer
Menschen lernen früh, sich fair zu verhalten – diese Ansicht vertreten heute die meisten Forscher. Bereits unsere Vorfahren lebten in Gemeinschaften, teilten sich Aufgaben, die im Team gejagte Beute und die von anderen Mitgliedern der Gruppe gesammelte Nahrung. Vermutlich war es eine der wichtigsten Fähigkeiten der Gattung Homo, die wesentlich zur Entwicklung unserer Spezies beitrug und auch in der Gegenwart heute eine Grundvoraussetzung für unser Zusammenleben darstellt.
Die Anlage zu fairem Verhalten scheint den Menschen angeboren zu sein, so der aktuelle Stand der Wissenschaft. Eine Hirnregion, die eine wichtige Rolle dabei spielt, ist der dorsolaterale präfrontale Kortex im Stirnlappen. Wissenschaftler der Universitäten Bonn und Maastricht haben nun in einem Experiment nachgewiesen, dass ein direkter Zusammenhang zwischen der Funktion dieses Areals und dem Einhalten sozialer Normen besteht. Dafür nutzten sie die Transkranielle Magnetstimulation, eine Technologie, bei der mit Hilfe starker Magnetfelder Bereiche des Gehirns stimuliert oder gehemmt werden können. In diesem Fall unterdrückten die Wissenschaftler bei den Versuchsteilnehmern die Aktivität dieser Hirnstruktur – und lösten mit dieser Manipulation bei den Probanden prompt unfaires Verhalten aus.
„Diese Gehirnregion ist für die Selbstkontrolle verantwortlich“, erklärt Sabrina Strang, Mitarbeiterin von Professor Bernd Weber am Center for Economics and Neuroscience der Universität Bonn: „Davon brauchen wir ein gehöriges Maß, um unsere eigennützigen Impulse zurückzudrängen.“ Denn auch das ist bekannt: Menschen sind eher bereit zu teilen, wenn ihnen ansonsten Sanktionen drohen: „Bei Kindern ist die Bereitschaft viel größer, Süßigkeiten zu teilen, wenn ihnen als Strafe angedroht wird, die Leckereien ganz weggenommen zu bekommen“, führt Sabrina Strang aus. Und das verhalte sich auch bei Erwachsenen nicht anders.
Diese Erkenntnisse nutzten die Forscher als Basis eines „Diktator-Spiels“ im Labor der Universität Maastricht. 17 von insgesamt 77 Teilnehmern schlüpften dabei in die Rolle der Diktatoren. Sie durften frei entscheiden, welchen Anteil eines vorher festgelegten Geldbetrages sie mit ihren Mitspielern teilen wollten.
Diese Situation ließen die Wissenschaftler in zwei Varianten durchspielen: In einer Version mussten die Geldempfänger hinnehmen, welche Entscheidung die Diktatoren trafen. In der zweiten Variante hatten sie dagegen die Möglichkeit, die Herrschenden zu bestrafen: Fiel der Betrag ihrer Ansicht nach zu gering aus, konnten sie den Diktatoren eine Geldstrafe auferlegen. Die Folge: Mussten letztere keine Sanktionen befürchten, so waren sie deutlich knausriger, als wenn die Empfänger sie für ihren Geiz bestrafen konnten.
Wie nun die Gehirnfunktion ins Spiel kommt? Kurz vor Beginn des Experiments schalteten die Forscher den dorsolateralen präfrontalen Kortex mit Hilfe der Transkraniellen Magnetstimulation kurzfristig aus. Das funktionierte, indem mit einer Spule von außen durch die Schädeldecke der Teilnehmer hindurch ein Magnetfeld erzeugt wird, das wiederum die Aktivität bestimmter Hirnregionen hemmen kann: „Diese Methode ist für die Testpersonen ungefährlich und nach wenigen Minuten reversibel“, versichert Sabrina Strang.
Das Ergebnis: War bei den Diktatoren diese Region gehemmt, so handelten sie beim Verteilen der Geldbeträge egoistischer und waren auch schlechter darin, ihr Verhalten den drohenden Sanktionen anzupassen. „Obwohl die Probanden genau wussten, dass ihr unfaires Verhalten zu einer Geldstrafe führen würde, konnten sie offensichtlich aufgrund der eingeschränkten Aktivität der Hirnstruktur nicht mit angemessenen Strategien reagieren“, erklärt Weber. Es sei „ganz erstaunlich, dass ein solch komplexes Verhalten möglicherweise auf eine einzige Gehirnstruktur zurückzuführen“ sei. Auf jeden Fall sei der dorsolaterale präfrontale Kortex ein Schlüssel dazu: „Es gibt allerdings noch keine Möglichkeit, die Gehirnstruktur bei einer Unterfunktion langfristig zu steigern, um faires Verhalten zu befördern“, sagt Weber.

Moral entwickelt sich ein Leben lang

Ein Gastbeitrag von Werner Stangl
Unter Moral versteht man die Übereinstimmung des Verhaltens eines Menschen mit sozial vorgegebenen Erwartungen und Normen, wobei diese im Laufe des Lebens erlernt werden müssen. Solche Normen sind später Grundbausteine für das moralische Verhalten eines Menschen, wobei diese Rechte und Pflichten sowie Gebote und Verbote umfassen. Viele Normen entstammen kulturellen, oft religiösen Traditionen einer Gemeinschaft. Moralische Normen können daher mit kulturell vorherrschenden Erwartungen gleichgesetzt werden, wobei der Einzelne den Erwartungen gerecht werden möchte und daher versucht, negative interne (schlechtes Gewissen) oder externe Sanktionen (Strafen) zu vermeiden. Auch wird erwartet, dass ein Mensch auch dann den Regeln gemäß handelt, wenn er die Neigung spürt, diese zu übertreten, auch wenn weder eine Überwachung vorhanden ist noch Strafen zu fürchten sind.
Daher ist auch der Aspekt des Schuldgefühls wichtig, das heißt, dass nach der Verletzung von Normen selbstbestrafende Empfindungen wie Reue und Angst auftreten. Aus diesem Lernprozess folgt schließlich auch, dass ein Mensch nicht nur Urteile über eigenes, sondern auch fremdes Verhalten fällen kann.
Zusätzlich spielt Freiheit eine entscheidende Rolle, wenn es darum geht, Handlungen eines Menschen als moralisch zu bewerten. In Gesellschaften, in denen Moralität gleichgesetzt wird mit strikter, nicht hinterfragbarer Anpassung an Normen, fehlt jede Möglichkeit, zwischen wichtigen und unwichtigen Normen zu unterscheiden, so dass Gebote wie „Du sollst nicht töten“ den gleichen Rang wie Kleiderregeln haben.
Obwohl Gerechtigkeit sich als Prinzip einer ausgleichenden Ordnung in allen Kulturen finden lässt, basiert diese weniger auf moralischen Normen, sondern ist der Verantwortung untergeordnet, die mit sozialer und moralischer Kompetenz einhergeht. Was als gerecht empfunden wird, verändert sich im Laufe der Entwicklung, wobei diese auf einem zweistufigen Lernprozess basiert: Der erste Schritt ist der frühe und allgemeine Erwerb moralischen Wissens, der zweite ist der langsamere, mühevollere Prozess des Aufbaus einer moralischen Motivation. Dieser zweite Lernprozess wird von Kindern in unterschiedlicher Art und Weise durchlaufen. Manche entwickeln eine tief verankerte und umfassende moralische Motivation, manche ein eher oberflächliches und eng umgrenztes Engagement. Kinder unterscheiden sich daher in Entwicklungsgeschwindigkeit, Intensität und Inhalt ihrer moralischen Motivation. Moralische Entwicklung ist letztlich ein lebenslanger Prozess, wobei die kindlichen und jugendlichen Lernprozesse für die spätere Entwicklung von zentraler Bedeutung sind.
Zunächst muss man von einer Abfolge von Entwicklungsschritten ausgehen, die mit der geistigen Entwicklung einhergehen. Die meisten basieren auf den drei Stufen Jean Piagets. Er unterschied zwischen einem einfachen moralischen Realismus (Was nicht bestraft wird, ist erlaubt. Was bestraft wird, ist verboten), einer fremdbestimmten Moral (Was andere Personen gutheißen beziehungsweise vormachen, ist erlaubt. Was andere Personen nicht gutheißen, ist verboten) und schließlich einer selbstbestimmten Moral, die unabhängig von anderen ist, wobei man sich an allgemeinen ethischen Prinzipien orientiert, wie etwa dem kategorischen Imperativ.
Es ist problematisch, genaue Altersangaben zu den einzelnen Stufen zu machen, doch mit dem Abschluss der Adoleszenz sollten die in der jeweiligen Kultur gültigen Normen verinnerlicht sein. Aber es gibt bekanntlich auch Menschen, die auf Dauer moralisches Desinteresse zeigen.
Zahlreiche moralische Normen sind kulturspezifisch, denn so können in den westlichen Kulturen Kinder im Alter zwischen zweieinhalb und fünf Jahren meist gut zwischen moralischen Regeln, die auf dem Verständnis von Gerechtigkeit beruhen und sich damit egoistischer Willkür entziehen, und Konventionen, die nur bei Zugeständnis aller Beteiligten geändert werden dürfen, unterscheiden. So akzeptieren Kinder etwa das Essen mit den Fingern, wenn alle Beteiligten damit einverstanden sind, verneinen aber das Schlagen anderer Menschen, auch wenn es nicht verboten wäre. Hingegen sehen indische Hindu-Kinder das Schlagen der „ungehorsamen“ Ehepartnerin nicht als moralisch verwerflich an. In Korea wird selbst das nicht herzliche Grüßen der Eltern, das tief in ihrer Tradition verwurzelt ist, als unmoralisch angesehen.
Individualistische Kulturen wie die westlichen Kulturen werden durch die moralischen Rechte auf Selbstbestimmung sowie individuelle Freiheiten gekennzeichnet, was sich auch in der Bedeutung von Verträgen und Konventionen widerspiegelt. Im Gegensatz dazu sind kollektivistische Kulturen, wie jene in Asien, dem mittleren Osten, Afrika und Lateinamerika, durch eine gegenseitige Abhängigkeit sowie die Verpflichtung gegenüber der Gemeinschaft geprägt.
Diese Unterschiede in den Kulturen begründen daher auch Unterschiede in den moralischen Normen. Während westlich orientierte Kinder und Jugendliche das Stehlen eines Zugtickets, um rechtzeitig zu einer Hochzeit zu gelangen, bei der man den Ehering dem Brautpaar überreichen muss, als moralisch falsch einstufen, bejahen indische Kinder und Jugendliche einen solchen Diebstahl, da sie das Wohlergehen der Gemeinschaft stärker gewichten.
Der Mensch kennt bekanntlich so etwas wie eine doppelte Moral: Was für mich gilt, muss noch lange nicht für Menschen gelten, die nicht meiner Gruppe angehören. So unterscheidet sich zum Beispiel das Völkerrecht vom allgemeinen Recht. Man kann in den meisten Kulturen eher dann Hilfsbereitschaft beobachten, wenn es um die eigene Familie oder Freunde geht. Je fremder ein Mensch ist, desto weniger Hilfe kann er meist erwarten. Das bedeutet, dass etwa allgemeinverbindliche Menschenrechte eher naturfern sind und somit durch menschliche Verantwortlichkeit eingehalten werden müssen, um solche wohl biologisch verankerten Prinzipien zu überwinden.
Um die Herkunft von moralischen Verhaltensweisen zu bestimmen, muss man sich erst einmal klar machen, wodurch sie sich eigentlich auszeichnen. Moralisches Handeln setzt absichtliches Agieren, eine freie Entscheidungsmöglichkeit zwischen verschiedenen Handlungsalternativen, die Möglichkeit der Abschätzung der eigenen Folgen und die Wahrnehmung einer personalen Identität in Bezug auf sich selbst und auf andere voraus. Erst wenn diese Bedingungen erfüllt sind, kann man von moralischem Handeln sprechen. Erst das soziale Umfeld eines Menschen setzt allgemeingültige Verhaltensregeln, die bei Verstoß mit Sanktionen belegt werden können.
In Tierversuchen mit Primaten konnte gezeigt werden, dass schon diese einen Sinn für Gerechtigkeit entwickeln, was aber auch damit zusammenhängen dürfte, dass solche instinktgeleiteten Verhaltensweisen evolutionär sinnvoll sein können, sofern sie der Art einen Überlebensvorteil verschaffen.
Übrigens hat Friedrich Nietzsche trefflich formuliert: Moralische Entrüstung besteht in den meisten Fällen nur zu zwei Prozent aus Moral, 48 Prozent aus Hemmung und 50 Prozent aus Neid.
Werner Stangl ist Psychologe und war bis zu seinem Ruhestand im Jahr 2012 Assistenzprofessor am Institut für Pädagogik und Psychologie der Johannes Kepler Universität Linz.

Das feine Gespür der Kinder

Von Franziska Schubert
Ist es gerecht, wenn die Mehrheit der Schüler bei einer Abstimmung, wohin der Klassenausflug dieses Mal gehen soll, immer wieder für den Besuch des Schwimmbads stimmt – aber alle anderen Kinder, die lieber in den Zoo gegangen wären, jedes Mal von dieser Entscheidungsfindung enttäuscht sind? Mit solchen Fragen hat die Frankfurter Familienforscherin Sabine Andresen in einer Studie untersucht, wie stark das Gerechtigkeitsempfinden bereits bei Kindern ausgeprägt ist.
Bei der Befragung von 2.500 Kindern im Alter von sechs bis elf Jahren ist herausgekommen, dass schon Grundschüler einen guten Gerechtigkeitssinn haben, vor allem wenn es um konkrete Alltagssituationen, um Konflikte in der Familie, der Klasse oder im Verein geht. Andresen findet es erstaunlich, mit welcher Klarheit Kinder ihre Umwelt und ihre Mitmenschen betrachten und bewerten. „Selbst Kinder ab drei Jahren haben bereits ein ausgeprägtes Gerechtigkeitsempfinden und teilen beispielsweise Süßigkeiten relativ gerecht auf.“
Laut der 2013 veröffentlichten Studie des Kinderhilfswerks World Vision zum Wohlbefinden der Kinder in Deutschland finden 75 Prozent, dass es nicht immer gerecht zugeht. Jedes fünfte Kind dagegen hält die Welt für gerecht, so wie sie ist. „Vor allem Armut ist aus Sicht der Kinder die Hauptursache für Ungerechtigkeit“, sagt Andresen im Gespräch an der Frankfurter Goethe-Universität, wo die 48-Jährige seit drei Jahren als Professorin für Sozialpädagogik und Familienforschung forscht und lehrt.
„Kinder aus armen Familien erfahren die Ungerechtigkeit besonders stark, sie fühlen sich benachteiligt, ihr Wohlbefinden ist eingeschränkt, weil ihre gesellschaftliche Teilhabe begrenzt ist und sie Mangelerfahrungen ausgesetzt sind“, kritisiert die Wissenschaftlerin. Zwölf Prozent der Befragten kommen demnach aus Familien, wo das Geld knapp ist.
Viele Kinder auch aus besseren Verhältnissen plädieren aus diesem Grund dafür, dass die Reichen von ihrem Geld etwas abgeben sollen. In einem Fallbeispiel ging es um einen Flohmarkt, den die Schulklasse organisierte. Mit dem eingenommenen Geld wollten sie gemeinsam in den Zirkus gehen. „Jedes Kind sollte etwas zum Verkaufen mitbringen, doch drei hatten nichts dabei“, erläutert Andresen, die wissenschaftliche Leiterin der Studie, die Fragestellung. „Und dürfen sie dann trotzdem mit zum Zirkus kommen?“ Die Befragten interessierten sehr detailliert die Gründe für das Verhalten der drei Schüler.
„Haben sie gute Gründe, dann müsste die Gemeinschaft sie unterstützen“, lautete der Urteilsspruch der Kinder. „Die Verantwortung dafür, dass die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter auseinandergeht, liegt aus ihrer Sicht bei den Wohlhabenden“, betont Andresen.
Knapp ein Drittel der Kinder fühlt sich aufgrund ihres niedrigen Alters ungerecht behandelt, zudem gibt jeweils ein Fünftel an, dass sie Ungerechtigkeiten erfahren, weil sie einen Migrationshintergrund haben oder aber Mädchen sind. Dagegen empfinden nur acht Prozent der Jungen, ungleich behandelt zu werden.
Insgesamt erkennt Andresen bei Kindern eine große Ablehnung gegenüber Ungleichheit – sowohl wenn es um die eigene Person geht als auch bei anderen Menschen. Ob jemand Einzelkind ist oder Geschwister hat, mache dabei aber keinen Unterschied. „Sich damit auseinanderzusetzen, was gerecht ist, fanden die Kinder sehr spannend“, hat Sabine Andresen beobachtet. „Sie hatten großen Spaß, sich Lösungen zu überlegen.“
In qualitativen Interviews wurden zwölf Kinder zudem gefragt, was sie zu folgendem Fall sagen: Bei einem Streit auf dem Schulhof prügeln sich zwei Kinder. Der Erwachsene, der hinzukommt, sieht aber nur das Ende und bestraft nur ein Kind. „Da lautete die Antwort, dass es gerecht sei, beide Kinder anzuhören und erst dann ein Urteil zu fällen“, sagt Andresen.
Grundsätzlich sei es den Kindern sehr wichtig, dass Leistungen und Fehler transparent bewertet würden – gerade auch, wenn es um Belohnungen geht. Entscheidungen sollten erklärt werden, nachvollziehbar und überprüfbar sein. „Das wäre auch wichtig in Kitas und Schulen“, sagt Andresen. Mit Hilfe eines Beschwerdesystems in diesen Einrichtungen könnten Kinder sicher sein, dass sich jemand ihrer Sache annimmt.
Die Autoren der Studie kommen zu dem Ergebnis, Kinder mehr einzubeziehen, da sie sehr wohl beurteilen können, wie wir unsere Gesellschaft gerechter machen können. „Viele fühlen sich nicht genug beteiligt“, sagt Andresen. In der Konsequenz daraus erfahren sich die Kinder selbst gar nicht oder nur selten als handlungsmächtig. „Es geht natürlich nicht darum, jedem ihrer Vorschläge zu folgen, aber die Meinung der Kinder sollte zu Hause, in der Schule oder im Verein wertgeschätzt werden.“

Verteilen macht glücklich

Ein Gastbeitrag von Hans Diefenbacher
Statistiken der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit in Europa (OECD) zeigen, dass die Einkommensungleichheit in vielen Industriestaaten seit Mitte der 1980er Jahre fast kontinuierlich zugenommen hat. Gemessen wird dies – unter anderem – an der Entwicklung des Gini-Index, der vom Wert 0 (vollkommene Gleichheit) bis zum Wert 1 (eine Person besitzt alles) reicht. In den USA veränderte sich dieser Wert für das verfügbare Einkommen von 0,34 im Jahre 1985 auf 0,39 im Jahre 2011, in Frankreich von 0,28 (1996) auf 0,31 (2011), in Finnland von 0,21 (1986) auf 0,26 (2011). In Deutschland geht die Entwicklung von 0,25 (1985) auf 0,29 (2011), wobei der Wert hier im Jahr 2005 noch höher lag.
In Lehrveranstaltungen und Vorträgen habe ich ein von Christian Felber, Autor des Buches zur „Gemeinwohlökonomie“, ebenfalls häufig durchgeführtes Experiment übernommen: Das Auditorium soll angeben, das Wievielfache der Vorstand eines Unternehmens im Verhältnis zu den Beschäftigten mit den niedrigsten Löhnen verdienen darf, damit die Verteilung noch als gerecht angesehen werden könne. In der Regel empfinden Studierende der Wirtschaftswissenschaften im Vergleich zu Studierenden anderer Fächer deutlich ungleichere Verteilungen noch als gerecht, wirtschaftsnahe Kreise finden gegenüber Teilnehmerinnen und Teilnehmern kirchlicher Tagungen ebenfalls viel höhere Einkommensunterschiede akzeptabel.
Im Ländervergleich kann es zu paradoxen Ergebnissen kommen, wie Judith Niehues vom Institut der Deutschen Wirtschaft gezeigt hat. In vielen Ländern weicht die Wahrnehmung der Ungleichheit der Verteilung durch die Bevölkerung von den tatsächlichen Verhältnissen deutlich ab. In Deutschland sind die Menschen in der Mehrheit der Auffassung, dass die größte Gruppe der Bevölkerung in der Schicht der Niedrigverdiener lebt; tatsächlich sind die mittleren Einkommen weitaus häufiger anzutreffen. In den USA ist die Differenz zwischen Wahrnehmung und der Realität gerade umgekehrt: Die untere Einkommensklasse ist viel größer als von der Bevölkerung vermutet.
Unterschiede bestehen aber nicht nur zwischen der Realität und ihrer Wahrnehmung, sondern auch in der Bewertung von Einkommensunterschieden durch die Bevölkerung. Es kann in einem Land die Einkommensverteilung deutlich ungleicher sein als in einem anderen, und trotzdem kann dessen Bevölkerung sie als gerechter empfinden als in dem Land mit den geringeren Einkommensunterschieden.
Der Befund lässt die Frage aufkommen, wie Gerechtigkeitsurteile entstehen. Hängen Sie von der tatsächlichen Veränderung der Einkommensverteilung ab oder von ganz anderen Faktoren? Forschungsergebnisse der letzten beiden Jahrzehnte zeigen ein vielschichtiges Bild. Menschen werden bei der Entwicklung ihrer Gerechtigkeitskriterien stark durch die eigene soziale Lage und auch durch die Höhe der eigenen Einkommen beeinflusst. So fanden im Jahre 2010 in Deutschland 86 Prozent der leitenden Angestellten und höheren Beamten, dass sie einen „gerechten Anteil“ am Lebensstandard hätten, aber nur 28 Prozent der Arbeitslosen in Westdeutschland und nur zehn Prozent dieser Gruppe in Ostdeutschland. Studierende fanden dagegen zu 75 Prozent (West) und 63 Prozent (Ost) ihren Anteil als gerecht (Datenreport 2013).
Genau diese Einschätzungen können von Land zu Land aber stark variieren. Diese Verschiedenheiten können kulturell und von der aktuellen wirtschaftlichen und sozialen Situation geprägt sein und, wie Studien von Bodo Lippl gezeigt haben, durch die Frage, wie das Verständnis von Wohlfahrt und das soziale Sicherungssystem eines Landes generell beschaffen ist. Je weniger die Bevölkerung traditionell Leistungen des Wohlfahrtsstaates in Anspruch nehmen kann, weil dessen Institutionen weniger entwickelt sind, desto weniger wird soziale Ungleichheit abgelehnt.
Weiter kann die Einstellung zu Einkommensungleichheit stark dadurch bestimmt sein, wie sich die Menschen das Zustandekommen von Reichtum erklären: Ist es Fleiß und die Bereitschaft, unternehmerisches Risiko zu tragen, oder hält man andere Gründe dafür überwiegend verantwortlich wie Erbschaften, soziale Beziehungen oder gar Korruption? Außerdem scheinen Menschen bereit zu sein, in Krisenzeiten ihre Ansprüche zu reduzieren und empfinden Ungleichheit daher weniger ungerecht, in Zeiten des wirtschaftlichen Aufschwungs wollen sie aber an Einkommenssteigerungen teilhaben.
Auffallend ist schließlich eine recht deutliche Korrelation des Gini-Index mit der Zufriedenheit mit dem „Funktionieren“ der Demokratie im eigenen Land: In der Tendenz ist die Zufriedenheit in Europa umso höher, je weniger ungleich das Einkommen verteilt ist. In Dänemark etwa sind 88 Prozent der Bevölkerung mit der Demokratie im Land zufrieden, in Finnland 76 Prozent, in Deutschland insgesamt 68, in Ostdeutschland aber nur 50 Prozent.
Insgesamt besteht aber – wie die viel diskutierten Forschungsergebnisse von Kate Pickett und Richard Wilkinson zeigen – ein ausgeprägter Zusammenhang zwischen Ungleichheit in einer Gesellschaft und einer Vielzahl von Faktoren, die deren Lebensqualität entscheidend beeinflussen: Lebenserwartung, Gesundheit, Bildung, Kriminalität, soziale Mobilität. Betrachtet man diese Befunde im Licht der Entwicklung, der Wahrnehmung und der Einschätzung von Einkommensungleichheit, so wird deutlich, dass man die Unterschiede in der subjektiven Bewertung nicht gegen objektive Faktoren ausspielen sollte, die nur gemeinsam das Verständnis von Gerechtigkeit bestimmen können.
Hans Diefenbacher ist Professor für Volkswirtschaftslehre am Alfred-Weber-Institut der Universität Heidelberg und stellvertretender Leiter der Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft in Heidelberg.

„Wir alle wollen unsere Gier befriedigen“

Ein Gespräch mit Hirnforscher Christian Elger
Christian Elger leitet die Epileptologie an der Universitätsklinik Bonn. Im Jahr 2003 war der Neurologe Mitbegründer des ebenfalls auf dem Gelände der Uniklinik gelegenen Instituts Life & Brain, das er seit 2006 leitet. Es erforscht auch im Auftrag von Unternehmen das menschliche Gehirn.
Herr Professor Elger, was ist ein gerechter Lohn?
Das kann ich Ihnen nicht pauschal beantworten. Ich kann Ihnen aber darlegen, was unser Gehirn dazu sagt.
Ja bitte!
Wir haben Probanden parallel in unsere Kernspintomographen gelegt und gegeneinander antreten lassen. Sie mussten Punktewolken schätzen. Wenn sie richtig lagen, wurde ihnen gesagt, dass sie beispielsweise 100 Euro bekommen – und der in der Nachbarröhre nur 80 Euro, obwohl der auch richtig geschätzt hatte. Die Folge: Der eine freute sich wie Bolle, das Belohnungszentrum im Gehirn wurde aktiviert. Der andere, der weniger bekam, fühlte sich sehr schlecht. Dabei kam es aber bei der Aktivierung des Belohnungssystems nicht darauf an, wie hoch die gewonnene Summe war und auch nicht, wie viel weniger der andere bekam – es ging alleine darum, dass man eben mehr bekam. Das sind wichtige Erkenntnisse, die die meisten Unternehmen leider ignorieren.
Inwiefern?
Die Unternehmen müssten noch stärker an anderen Anreizsystemen arbeiten. Geld alleine macht Mitarbeiter nicht zufrieden, denn sie vergleichen sich immer. Und wenn jemand mehr erhält, sind sie gleich unzufrieden – auch wenn sie eigentlich sehr gut verdienen. Firmen müssten vermutlich individualisiertere und weniger vergleichbare Prämien anbieten. Zum Beispiel einem Mitarbeiter, der Kinder hat, freistellen, dass diese ein Jahr lang von einer von der Firma organisierten Nanny mit dem Auto aus der Kita abgeholt werden.
In Deutschland gibt es eine Debatte über maßlose Managergehälter. Wenn ich Sie richtig verstehe, müssten die aber gar nicht so hoch sein. Solange alle weniger bekämen, wären auch alle zufrieden?
Ich saß bei einem Abendessen mal neben Josef Ackermann, dem damals noch amtierenden Chef der Deutschen Bank. Wir redeten an dem Abend auch über Gehälter und da sagte er: „Ich kann doch nicht weniger verdienen als der Chef der Commerzbank.“ Ich glaube, dass es ihm egal war, ob er vier oder zehn oder acht Millionen Euro verdient. Aber eine Rolle spielte für ihn offensichtlich, dass er mehr verdient als der Chef der Konkurrenz. Es wäre vermutlich schwer, die Gehälter der Manager jetzt einfach zu reduzieren. Aber sie würden sich daran gewöhnen, spätestens in der nächsten Generation.
Sie haben kürzlich in Frankfurt einen Vortrag darüber gehalten, was man von Hirnforschern aus der Finanzkrise lernen könnte. Was sind Ihre Erkenntnisse?
Die zentrale Aussage ist erst einmal: Wir alle haben in uns einen Bedarf, Gier zu befriedigen. Schon in den 50er Jahren wurde getestet, wie Tiere reagieren, wenn man mit Hilfe von Elektroden ihr Belohnungssystem aktiviert. Sobald die Tiere gelernt hatten, wie sie die Elektroden selbst bedienen konnten, taten sie nichts anderes mehr. Am schlimmsten waren die Makaken: Sie stimulierten nur noch das System; sie verhungerten, verdursteten und wollten sich nicht mehr paaren, alleine die Aktivierung des Belohnungssystems zählte. Es erzeugt ein wunderbares Wohlgefühl. Ähnlich verhält es sich bei Drogen- und Spielsüchtigen. Die Drogeneinnahme und das Spielen aktivieren das Belohnungssystem, den Leuten wird alles egal, auch wenn sie sich damit ruinieren.
Was genau hat das mit der Finanzkrise zu tun?
Besonders großen Schaden haben in den Banken die Hochfrequenzhändler angerichtet, die mit riesigen Beträgen jonglieren. Das Belohnungssystem eines Händlers wird aktiviert, wenn er Gewinne macht – und noch stärker, wenn er mehr Gewinn macht als sein Kollege. Er ist wie auf Kokain. Das Belohnungssystem regelt die Vernunft herab. Für vernünftige Entscheidungen ist nämlich ein anderer Teil des Gehirns verantwortlich, im mittleren Stirnhirn. Geld und Geldgewinne aktivieren das Belohnungssystem besonders gut und schalten den „vernünftigen“ Teil des Gehirns aus, das haben auch andere Tests gezeigt.
Was für Tests?
Wir haben Leute in den Kernspintomographen darauf untersucht, wie sie auf Rabatte reagieren. Wir haben Rabattzeichen auf Kleidungsstücke gepackt, die sich in Qualität und Optik kaum unterschieden. Durch die Rabattzeichen wurde das Entscheidungszentrum, das uns sagt, ob wir etwas überhaupt brauchen oder der Preis wirklich angemessen ist, total herunterreguliert und das Belohnungssystem aktiviert. Dabei wurde das Belohnungssystem umso stärker aktiviert, je höher der Rabatt war. Wir haben etwa zwei Mäntel auf 450 Euro heruntergesetzt, einen von 1.000 Euro, den anderen von 800 Euro. Die Leute wollten unbedingt das Kleidungsstück haben, das stärker heruntergesetzt war als das ursprünglich teurere. Wir haben auch Tests auf der Straße gemacht, wo wir Menschen Einzelpaare Socken für drei Euro anboten oder drei Paar Socken im Paket für zwölf Euro. Mehr als 80 Prozent kauften das Dreierpack, obwohl das einzeln teurer war.
Kommen wir zurück auf die Hochfrequenzhändler der Banken. Sie sagen also, dass sie wie auf Drogen sind – also quasi nichts dafür können, wie sie sich benehmen?
Es ist auf jeden Fall so, dass das Belohnungssystem der Händler ständig aktiviert wird, wenn sie Gewinne machen. Sie werden dadurch sehr unkritisch. Aber eine Frage an Sie: Ist Ihr Ringfinger länger, oder ihr Zeigefinger?
Mein Zeigefinger.
Tja, dann würden Sie vermutlich keinen guten Hochfrequenzhändler abgeben.
Den Zusammenhang verstehe ich jetzt nicht.
Es gibt empirische Belege, dass besonders risikobereite – und dadurch häufig auch sehr erfolgreiche – Hochfrequenzhändler einen längeren Ringfinger als Zeigefinger haben. Das ist eine seriöse Publikation, und die Untersuchung ergab statistisch hochsignifikante Unterschiede zwischen Händlern und anderen Berufsgruppen. Die Entwicklung von Hand und Gehirn hängt sehr eng miteinander zusammen.
Hieße das aber nicht auch, dass die Risikobereitschaft eines Menschen angeboren ist? Der Ringfinger wächst ja nicht plötzlich, wenn man Händler wird.
Das ist eine interessante Frage. Aber leider nicht untersucht.
Woher haben Sie eigentlich Ihre Erkenntnisse? Hatten Sie schon mal Hochfrequenzhändler in Ihrer Röhre?
Nein, leider nicht – hätte ich aber wirklich sehr gerne mal. Was ich Ihnen berichte, sind Erkenntnisse, die wir aus Untersuchungen mit unseren Probanden gewinnen und mit großer Verlässlichkeit auf andere Bereiche und Situationen übertragen können.