Was ist Gerechtigkeit? - Hans Kelsen - E-Book

Was ist Gerechtigkeit? E-Book

Hans Kelsen

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Beschreibung

Hans Kelsen erörtert In seinem kleinen, aber gewichtigen Aufsatz von 1953 die Frage nach Gerechtigkeit als Problem der Lösung von Interessen- und Wertkonflikten und als Problem der Rechtfertigung menschlichen Verhaltens: Absolute Gerechtigkeit, so Kelsen, kann es nicht geben, relative Gerechtigkeit aber führt immerhin zu Toleranz. Angesichts der Herausforderungen durch die Flüchtlingsströme der Gegenwart gewinnt diese Fragestellung über ihre grundsätzliche Bedeutung hinaus besondere Aktualität und Brisanz.

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Hans Kelsen

Was ist Gerechtigkeit?

Nachwort von Robert Walter

Reclam

Der Text der vorliegenden Ausgabe folgt dem Erstdruck der Schrift im Verlag von Franz Deuticke, Wien 1953, und wurde in der Rechtschreibung dem heutigen Gebrauch angeglichen. Das Nachwort des verstorbenen Robert Walter wurde durch Klaus Zeleny behutsam gekürzt und in den bibliographischen Angaben ergänzt und aktualisiert.

 

2016 Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

Herausgegeben mit freundlicher Genehmigung der Verlag Österreich GmbH und des Hans Kelsen-Instituts, Wien

Covergestaltung: Cornelia Feyll, Friedrich Forssman

Gesamtherstellung: Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

Made in Germany 2021

RECLAM ist eine eingetragene Marke der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart

ISBN978-3-15-961001-6

ISBN der Buchausgabe 978-3-15-019366-2

www.reclam.de

Inhalt

Ausführliches Inhaltsverzeichnis

Da Jesus von Nazareth ...

I. Gerechtigkeit als Problem der Lösung von Interessen- oder Wert-Konflikten

II. Die Rangordnung der Werte

III. Gerechtigkeit als Problem der Rechtfertigung menschlichen Verhaltens

IV. Platon und Jesus

V. Die inhaltsleeren Formeln der Gerechtigkeit

VI. Kant

VII. Aristoteles

VIII. Das Naturrecht

IX. Absolutismus und Relativismus

Ich habe diese Abhandlung ...

Nachwort

I. Biographisches

II. Werk, Allgemeines

III. Werk, Erkenntniskritik

Inhalt

I. Gerechtigkeit als Problem der Lösung von Interessen- oder Wert-Konflikten

1. Gerechtigkeit und Glück

2. Das Glück des einen das Unglück des anderen

3. Das größte Glück der größten Zahl (Bentham)

4. Der Bedeutungswandel des Begriffes »Glück« analog dem Bedeutungswandel des Begriffes »Freiheit«. – Gerechtigkeit als Freiheit

5. Interessen- oder Wert-Konflikte. – Das Problem der Rangordnung der Werte. – Subjektivität und Relativität der Werte

 

II. Die Rangordnung der Werte

6. Das Leben des Individuums oder das Interesse der Nation als höchster Wert. – Das Töten im Krieg, die Todesstrafe

7. Leben oder Freiheit als höchster Wert: Selbstmord

8. Individuelle Freiheit oder wirtschaftliche Sicherheit als höchster Wert. – Werturteile und Wirklichkeitsurteile

9. Wahrhaftigkeit oder Menschlichkeit als höchster Wert

10. Wahrheit oder Gerechtigkeit als höchster Wert. – Platons Lehre von der Zulässigkeit der nützlichen Lüge

11. Spiritualismus oder Materialismus. – Liberalismus oder Sozialismus

 

III. Gerechtigkeit als Problem der Rechtfertigung menschlichen Verhaltens

12. Allgemeine Anerkennung von bestimmten Werten innerhalb einer bestimmten Gesellschaft mit der Subjektivität und Relativität dieser Werte vereinbar. – Individualhaftung und Kollektivhaftung

13. Das Rechtfertigungsbedürfnis des Menschen, sein Gewissen

14. Die Rechtfertigung eines Verhaltens als geeignetes Mittel zu einem vorausgesetzten Zweck. – Mittel und Zweck, Ursache und Wirkung

15. Die Rechtfertigung des Zwecks. – Annahme eines höchsten Zwecks. – Bedingte und unbedingte Rechtfertigung. – Rechtfertigung der Demokratie

16. Rationale Rechtfertigung immer nur bedingte Rechtfertigung; unbedingte Rechtfertigung irrational

17. Die metaphysisch-religiöse und die rationalistische Lösung des Gerechtigkeitsproblems

 

IV. Platon und Jesus

18. Die Philosophie Platons: Gerechtigkeit eine transzendente Idee

19. Die Predigt Jesu: Gerechtigkeit ein göttliches Geheimnis

 

V. Die inhaltsleeren Formeln der Gerechtigkeit

20. Jedem das Seine (suum cuique)

21. Das Prinzip der Vergeltung

22. Gerechtigkeit als Gleichheit

23. Gleichheit vor dem Gesetz

24. Kommunistische Gleichheit

25. Die Goldene Regel

 

VI. Kant

26. Der kategorische Imperativ Kants

27. Der kategorische Imperativ: eine Rechtfertigung der jeweils bestehenden Gesellschaftsordnung

 

VII. Aristoteles

28. Die Ethik des Aristoteles: die Tugend als die Mitte zwischen zwei Lastern

29. Gerechtigkeit als die Mitte zwischen Unrecht-Tun und Unrecht-Leiden

 

VIII. Das Naturrecht

30. Die Lehre vom Naturrecht. – Der Schluss vom Sein auf das Sollen: ein Trugschluss

31. Die Widersprüche in der Naturrechtslehre

 

IX. Absolutismus und Relativismus

32. Absolute Gerechtigkeit: ein irrationales Ideal. – Vom Standpunkt rationaler Erkenntnis kann es nur eine relative Gerechtigkeit geben, die ein entgegengesetztes Ideal nicht ausschließt

33. Die Moral relativistischer Gerechtigkeitsphilosophie: Toleranz

34. Demokratie und Wissenschaft: Geistesfreiheit und Toleranz

 

Anmerkungen

 

Nachwort

Da Jesus von Nazareth in dem Verhör vor dem römischen Statthalter zugab, ein König zu sein, sagte er: »Ich bin geboren und in diese Welt gekommen, um Zeugnis zu geben für die Wahrheit.« Worauf Pilatus fragte: »Was ist Wahrheit?« Der skeptische Römer erwartete offenbar keine Antwort auf diese Frage, und der Heilige gab auch keine. Denn Zeugnis zu geben für die Wahrheit war nicht das Wesentliche seiner Sendung als Messianischer König. Er war geboren, Zeugnis zu geben für die Gerechtigkeit, jene Gerechtigkeit, die er in dem Königreich Gottes verwirklichen wollte. Und für diese Gerechtigkeit ist er auf dem Kreuze gestorben.

So erhebt sich, hinter der Frage des Pilatus: Was ist Wahrheit?, aus dem Blute des Gekreuzigten eine andere, eine noch viel gewaltigere Frage, die ewige Frage der Menschheit: Was ist Gerechtigkeit?

Keine andere Frage ist so leidenschaftlich erörtert, für keine andere Frage so viel kostbares Blut, so viel bittere Tränen vergossen worden, über keine andere Frage haben die erlauchtesten Geister – von Platon bis Kant – so tief gegrübelt. Und doch ist diese Frage heute so unbeantwortet wie je. Vielleicht, weil es eine jener Fragen ist, für die die resignierte Weisheit gilt, dass der Mensch nie eine endgültige Antwort finden, sondern nur suchen kann, besser zu fragen.

I.

1. Gerechtigkeit ist in erster Linie eine mögliche, aber nicht notwendige Eigenschaft einer gesellschaftlichen Ordnung. Nur in zweiter Linie eine Tugend des Menschen. Denn ein Mensch ist gerecht, wenn sein Verhalten einer Ordnung entspricht, die als gerecht gilt. Was bedeutet es aber, dass eine Ordnung gerecht ist? Dass diese Ordnung das Verhalten der Menschen in einer Weise regelt, die alle befriedigt, so dass alle ihr Glück unter ihr finden. Die Sehnsucht nach Gerechtigkeit ist des Menschen ewige Sehnsucht nach Glück. Da er dieses Glück nicht als isoliertes Individuum finden kann, sucht er es in der Gesellschaft. Gerechtigkeit ist gesellschaftliches Glück, ist das Glück, das eine gesellschaftliche Ordnung garantiert. In diesem Sinne identifiziert Platon Gerechtigkeit mit Glück, wenn er behauptet, nur der Gerechte sei glücklich, der Ungerechte aber unglücklich.

Mit der Behauptung, Gerechtigkeit ist Glück, ist die Frage offenbar noch nicht beantwortet, sondern nur verschoben. Denn jetzt stellt sich die Frage: Was ist Glück?

2. Es ist klar, dass es eine gerechte, d. h. das Glück aller gewährleistende Ordnung nicht geben kann, wenn man mit Glück, dem ursprünglichen Sinne des Wortes gemäß, das subjektive Gefühl, das ist dasjenige meint, was ein jeder darunter für sich selbst versteht. Denn dann ist es unvermeidlich, dass das Glück des einen mit dem Glück eines anderen in Konflikt gerät. Ein Beispiel: Liebe ist die wichtigste Quelle für Glück sowohl als für Unglück. Nehmen wir an, dass zwei Männer eine und dieselbe Frau lieben und dass beide – mit Recht oder Unrecht – glauben, nicht glücklich sein zu können, ohne gerade diese Frau für sich allein zu haben. Aber nach dem Gesetz und vielleicht auch nach ihrem eigenen Gefühl kann die Frau nur einem angehören. Das Glück des einen ist unweigerlich das Unglück des anderen. Keine gesellschaftliche Ordnung kann dieses Problem in einer gerechten Weise, d. h. so lösen, dass beide Männer glücklich werden. Selbst nicht das berühmte Urteil des weisen König Salomon. Er entschied, wie bekannt, ein Kind, um dessen Besitz sich zwei Frauen stritten, in zwei Teile zu teilen, aber war willens, das Kind jener zuzusprechen, die ihren Anspruch zurückziehen würde, um das Leben des Kindes zu retten. Denn diese – so setzte der König voraus – würde damit beweisen, dass sie das Kind wahrhaft liebe. Das salomonische Urteil ist, wenn überhaupt, gerecht nur unter der Bedingung, dass bloß eine der beiden Frauen das Kind liebt. Wenn es beide lieben – was möglich und sogar wahrscheinlich ist, da beide es haben wollen – und wenn daher beide ihren Anspruch zurückziehen, bleibt der Streit unentschieden; und wenn dann das Kind schließlich doch einer der beiden Parteien zugesprochen wird, ist das Urteil sicherlich nicht gerecht, denn es macht die andere unglücklich. Unser Glück hängt sehr häufig von der Befriedigung von Bedürfnissen ab, die keine gesellschaftliche Ordnung gewährleisten kann.

Ein anderes Beispiel: Der Führer einer Armee soll ernannt werden. Zwei Männer stehen im Wettbewerb; aber nur einer kann berufen werden. Es scheint selbstverständlich zu sein, dass der für das Amt Geeignetere zu berufen ist. Aber wie, wenn beide gleich geeignet sind? Dann ist eine gerechte Lösung ausgeschlossen. Nehmen wir an, dass der eine darum für geeigneter gehalten wird, weil er eine gute Figur und ein schönes Gesicht hat und so den Eindruck einer starken Persönlichkeit macht, während der andere klein ist und ein unscheinbares Äußeres hat. Wenn der erste die Stelle bekommt, wird der andere die Entscheidung keineswegs als gerecht empfinden; er wird sagen, warum sehe ich nicht so gut aus wie der andere, warum hat die Natur meinen Körper so viel weniger anziehend gestaltet? Und in der Tat, wenn wir die Natur vom Standpunkt der Gerechtigkeit aus beurteilen, müssen wir zugeben, dass die Natur nicht gerecht ist: sie macht den einen gesund und den anderen krank, den einen klug und den anderen dumm. Keine gesellschaftliche Ordnung kann die Ungerechtigkeit der Natur völlig ausgleichen.

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