Was ist mit unseren Jungs los? - Allan Guggenbühl - E-Book

Was ist mit unseren Jungs los? E-Book

Allan Guggenbühl

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Beschreibung

Gewalttätige Jugendliche gehören fast schon zum Normalbild unseres öffentlichen Alltags. Müssen wir das akzeptieren? Allan Guggenbühl zeigt, dass Aggression eigentlich zum Menschen dazugehören: Es kommt aber darauf an, zu wissen, wo sie ihren Ursprung haben und gut mit ihnen umzugehen. Aus seiner langjährigen Erfahrung zeigt er, wie Jugendliche ihre aggressiven Impulse kanalisieren und in den Griff bekommen können. Es ist ganz wesentlich zu erkennen, wo wir mit Aussicht auf Erfolg positiv einwirken und unterstützen können. Mit viel Hintergrundmaterial, Beispielen und Erkenntnissen aus der Aggressionsforschung zeigt Guggenbühl, wie wir Aggressionsbereitschaft richtig begegnen können.

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Seitenzahl: 256

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Allan Guggenbühl

Was ist mit unseren Jungs los?

Hintergründe und Auswege bei Jugendgewalt

KREUZ

© KREUZ VERLAG

in der Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2011

Alle Rechte vorbehalten

www.kreuz-verlag.de

Datenkonvertierung eBook: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

ISBN (E-Book) 978-3-451-33679-9

ISBN (Buch) 978-3-451-61002-8

1. Nimmt die Jugendgewalt zu?

Schlaglichter aus der Szene

»Total friedlich sind wir den Hirschengraben hinunter spaziert, mein Kumpel und ich. Cecile war auch dabei. Wir wollten in einen Club. Vorher wollten wir noch kurz auf die vordere Schanze. Ich sprach mit meinem Kumpel, worüber weiß ich nicht mehr. Plötzlich taucht dieser Typ vom Gäbelbachquartier auf. Wirklich ein total schleimiger Typ. Prompt hat er meine Freundin angemacht. Ich verlangte eine Entschuldigung. He Man! Respekt! Der Typ gafft mich jedoch nur an! Verpiss dich, habe ich dann gesagt, und lass meine Freundin in Ruhe! Der Typ wurde frech, bedrohte mich. Ich musste mich wehren, nachdem er mir einen Schlag in die Bauchgegend verabreicht hatte!« Bericht eines Jugendlichen über einen Vorfall während eines Spaziergangs. Der Polizeibericht schildert den Vorfall anders: »Die Jugendlichen waren schon ziemlich angetrunken, als sie die Straße hinunterzogen. Sie fielen durch ihre Pöbeleien auf. Eine Freundin eines dieser Jugendlichen begleitete sie. Das spätere Opfer kam ihnen entgegen. Das Mädchen erkannte in ihm einen ehemaligen Klassenkameraden und begrüßte ihn. Als er den Gruß erwiderte, stehen blieb und mit ihr sprechen wollte, rastete der Jugendliche B.O. aus. Er bedrohte ihn, zerrte ihn auf den Boden und begann auf ihn einzuschlagen. Er ließ erst von ihm ab, als der Wirt des Restaurants »National« einschritt. Das Opfer erhielt mehrere Faustschläge ins Gesicht, als es auf dem Boden lag. Es wird befürchtet, dass er dauerhafte Schäden davontragen wird.«

Zwei Schilderungen desselben Vorfalls. Wieso haben die beiden Burschen den zufällig vorbeikommenden Jungen attackiert? War ihnen nicht bewusst, welche Verletzungen sie verursachen, wenn sie ihn mit den Füßen an den Kopf treten?

Leider lesen wir immer wieder von solchen Gewaltexzessen: die Gewaltorgie der Jugendlichen aus Küsnacht auf unbehelligte Passanten in München am letzten Abend eines Klassenausflugs oder die sinnlose Ermordung eines Jugendlichen in Lugano. In München hatten drei Jugendliche ohne ersichtlichen Grund zwei Passanten zusammengeschlagen, in Lugano töteten vier Jugendliche während der Faschingstage einen Festbesucher, der ihnen zufällig im Weg stand. Nach der Tat zechten sie noch weiter und haben sich nicht um den Verletzten gekümmert, der in einer Blutlache liegend starb. Auf solche Vorfälle reagieren wir mit Wut und Verständnislosigkeit. Was ist mit der Jugend los? Ticken sie nicht ganz richtig oder handelt es sich um Psychopathen! Wir fragen uns, ob wir mit einer Welle von Jugendgewalt konfrontiert werden.

Wir stellen auch fest, dass es sich beim Großteil der Jugendlichen, die in die Gewaltszene verwickelt sind, um junge Männer handelt. Sie sind es, die zuschlagen, rauben und andere verdreschen. Sie gehen mit Fäusten oder sogar Waffen aufeinander los, schlagen sich in Gruppen oder kämpfen mit Repräsentanten des Staates. Junge Männer machen Schlagzeilen, kommen ins Gefängnis und sind Thema von Diskussionssendungen. Junge Frauen verhalten sich zurückhaltender. Natürlich sind auch sie aggressiv. Doch neigen sie weniger zu direkten körperlichen Attacken.1 Ihre Delinquenzrate ist entsprechend niedriger.

Natürlich ist nur eine Minderheit der jungen Männer gewalttätig. Die überwiegende Mehrheit der jungen Männer verhält sich zivilisiert. Nach Medienberichten ist die Jugendgewalt ein echtes Problem und bereitet einer Mehrheit der Bevölkerung große Sorge. »Heute kann man sich auf der Straße nicht mehr sicher fühlen!« hörte ich einen Fahrgast im Zug klagen. Der Verweis auf die friedlichen jungen Männer klingt in den Ohren der breiten Öffentlichkeit und vor allem der Opfer zynisch. Es darf einfach nicht sein, dass man unschuldige Menschen brutal traktiert und dass Gewalt zu einer Freizeitaktivität wird. Jede Schlägerei ist inakzeptabel und ein Zeichen von Verrohung. Sicher: früher, da hat man sich auch geprügelt. Es gab Raufereien auf der Kirchweih, Auseinandersetzungen zwischen verschiedenen Stadtbezirken, und an Pop-Konzerten wurden regelmäßig die Stühle zertrümmert. Wir sind jedoch überzeugt, dass man damals noch die Grenzen beachtete oder vielleicht einen Ehrenkodex respektierte. Ein Kampf war vorbei, wenn der Kontrahent wehrlos am Boden lag. Schlägereien waren keine Freizeitaktivität, und sicher hat man niemanden »einfach so« oder aus »Langeweile« zusammengeschlagen. Wo liegen die Ursachen für diese Gewalttaten? Hat sich die Jugend verändert? Liegt es an der mangelnden Erziehung, der Immigration, den Killerspielen, dem veränderten Ausgangsverhalten?

Maßnahmen werden diskutiert: Menschen, die solche Taten begehen, müssen härter bestraft werden, wird gefordert.2 Die Abgabe von Alkohol muss strikter geregelt werden, die 24-Stunden-Gesellschaft muss abgeschafft werden3, und in der Schule müssen alle Schüler ein Anti-Aggressionstraining durchlaufen. Da uns das Wohlbefinden der unschuldigen Jugendlichen und die Sicherheit im öffentlichen Bereich am Herzen liegt, muss etwas unternommen werden. Vielleicht sollten Kinder bereits in der Grundschule lernen, wie man auf Gewalt verzichtet und gewaltfrei kommuniziert? Vielleicht müssen mehr Videokameras in Kernzonen montiert werden?4 Vielleicht kann man aggressionsbereite Jugendliche dank neuer Screening-Verfahren frühzeitig identifizieren und einer Therapie zuführen?5 Wir sind um die Sicherheit im öffentlichen Raum besorgt. Vor allem in städtischen Kernzonen äußern viele Eltern die Befürchtung, dass es für Jungen zu gefährlich wird, nach draußen zu gehen. Strolche, Banden lauern ihnen auf und bestehlen, erpressen sie oder attackieren grundlos Passanten. Müssen die friedlichen Jungen, die in der Mehrzahl sind, ihr Ausgangsverhalten ändern? Braucht es mehr Polizeikontrollen oder ein schärferes Durchgreifen der Gerichte?

Wie kann man die zunehmende Gewalttätigkeit der Jugendlichen eindämmen? Diese Frage wird regelmäßig von Journalisten in Podiumsveranstaltungen oder Fernsehsendungen gestellt. Wie selbstverständlich wird davon ausgegangen, dass wir mit einem Gewalttsunami konfrontiert werden. Es müssen sofort Maßnahmen ergriffen werden. Doch hat die Jugendgewalt wirklich zugenommen? Gibt es heute mehr gewalttätige Jugendliche als früher? Für die Medien scheint es eindeutig: Die Jugendgewalt steigt. In der Fachliteratur äußern sich unterschiedliche Stimmen. Die Alarmisten malen die Entwicklungen in der Jugendszene in düsteren Farben und warnen vor noch extremeren Vorfällen. Die Relativisten glauben an eine grundsätzliche Stabilität der Gesellschaft und sehen in den erhitzten Diskussionen über Jugendgewalt eine kollektive Hysterie.

Der Frage nach der Zunahme der Jugendgewalt können wir uns auf verschiedene Weise nähern. Wir können versuchen sie zu beantworten, indem wir auf unsere eigene Kindheit und Jugend zurückblicken. Wie stand es um die Gewalt, als wir selber junge, ungestüme Wesen waren? Wir verhielten uns schließlich auch nicht immer lammfromm. Es tauchen Bilder in uns auf, wie man herumhing, haschte, heimlich die »Bravo« las und die Beatles oder die Rolling Stones hörte. Man fühlte sich mutig, wenn man per Autostopp bis nach Turin fuhr oder zu den Konzerten von Animals, The Who oder Jimmy Hendrix pilgerte. Vielleicht haben wir sogar noch ein paar vergilbte Fotos, auf denen wir uns frech mit blumigen Hemden und Föhnfrisuren präsentieren. Wer in den Sechzigerjahren aufwuchs, hat Bilder von Happenings, Love-Ins und dem gemeinsamen Singen von »Give peace a chance« im Kopf. Wer in den Siebzigerjahren aufwuchs, schwärmte von ABBA und heißen Nächten in den Discos. Natürlich hörte man damals auch von Schlägereien, und selber verhielt man sich keineswegs immer brav, doch Raubzüge, Handyklau oder brutale Überfälle kamen nach den Erinnerungen der meisten Menschen nicht in Frage. Wir sind der Überzeugung, dass die Städte damals sicherer waren und man nicht weiter auf jemanden einschlug, wenn er auf dem Boden lag. Gewalt, wie sie heute in den Medien geschildert wird, kam kaum vor. Wir sind überzeugt, dass es die sinnlosen, hemmungslosen und brutalen Gewaltexzesse nicht gab.

Erinnerungen sind trügerisch. Obwohl wir sie als authentisch erleben und uns nicht selber belügen wollen, können sie täuschen. Bei den Vorfällen und Erlebnissen, an die wir uns erinnern, handelt es sich nicht um Tatsachen, sondern um eine spezielle Auswahl. Wir konstruieren eine Vergangenheit. Welche Ereignisse zu einer Erinnerung werden, hängt von unseren persönlichen Einstellungen ab. Die persönliche Vergangenheit ist nicht das Resultat einer objektiven Berichterstattung, sondern wir geben uns die Vergangenheit, die uns entspricht und die der soziale Kontext von uns verlangt. Vieles lassen wir aus und anderes fantasieren wir hinzu. Wir erheben einzelne Zeiten zu Kernphasen, während wir andere Perioden ausradieren.

Jugendgewalt im historischen Rückblick

Die Frage nach der Zunahme der Jugendgewalt versuchen wir historisch zu beantworten. Dieses Unterfangen ist nicht einfach, weil jede Epoche unter einem bestimmten Stern steht. Jugendgewalt war in der Vergangenheit oft Folge politischer oder kultureller Veränderungen. Im Verhalten und der Wahrnehmung der Jugend widerspiegelten sich Zeitströmungen. Ende des 19. Jahrhunderts ärgerte man sich in London über die massive Zuwanderung von jungen Menschen aus Irland, fürchtete die »arab boys«,6 die die Straßen verunsicherten und warnte vor den Hooligans.

»Was machen wir mit den ›Hooligans‹? Wer oder was ist schuld daran, dass es immer mehr werden? Jede Woche zeigt irgendein Vorfall, dass manche Teile von London für den friedlichen Reisenden gefährlicher sind als entlegene Gegenden in Kalabrien, Sizilien oder Griechenland, wo sich einst die klassischen Schlupfwinkel der Räuber befanden. Jeden Tag werden vor dem einen oder anderen Polizeigericht Einzelheiten über brutale Misshandlungen berichtet, die ganz unbeteiligte Männer und Frauen erleiden mussten. Solange nur der eine Hooligan den anderen malträtierte – solange wir in der Hauptsache von Angriffen und Gegenangriffen zwischen Banden hörten, auch wenn dabei manchmal tödliche Waffen gebraucht wurden – war die Angelegenheit bei weitem nicht so ernst, wie sie mittlerweile geworden ist …« (The Times, 30. Oktober 1890).

In den Fünfzigerjahren begann sich die Jugend aufmüpfig zu verhalten, man gab sich cool, rauchte Gauloise oder North Pole und signalisierte, dass man die enge bürgerliche Welt sprengen wollte. Man versammelte sich an Straßenecken, trug enge Bluejeans, spitze Schuhe und verrenkte sich die Glieder zur Rock’n’Roll-Musik von Bill Healey and Comets. Elvis Presley sang Jailhouse Rock und galt als extrem. Sein Hüftschwung durfte wegen zu großer Laszivität nicht im Fernsehen gezeigt werden. James Dean stieg nach seinem Tod zu einem Jugendidol auf. In den Straßen standen sich verschiedene Jugendgruppen auf ihren Mopeds gegenüber. Die Jugend profilierte sich über die leicht provokative Geste. In der Schweiz und in Deutschland regte man sich über die Halbstarken7 auf und in England beklagte man sich über das Verhalten der Teddy Boys. Man sprach von einer Zunahme der Jugendgewalt. Sie wurde auf die Traumatisierungen durch die Kriegserlebnisse im Militärdienst zurückgeführt.8 Bei Rock’-n’Roll-Konzerten kam es zu Schlägereien. Jugendgewalt war dennoch ein Randthema. Es wurde als Problem spezifischer Gruppen angesehen, so wie es in der West Side Story dargestellt wurde.

Am 22. Mai 1967 brannte in Brüssel das Kaufhaus A l’Innovation. 322 Menschen kamen dabei ums Leben. Dieses Ereignis inspirierte die Berliner Kommune 1 zu Flugblättern, in denen einerseits das menschliche Leid bedauert, andererseits aber auch die Freude an der Zerstörung des kapitalistischen Symbols zum Ausdruck gebracht wurde.

»Ein brennendes Kaufhaus mit brennenden Menschen vermittelt zum ersten Mal in einer europäischen Hauptstadt jenes knisternde Vietnamgefühl (dabei zu sein und mitzubrennen), das wir in Berlin bisher noch missen müssen […] Wann brennen die Berliner Kaufhäuser!«

Flugblatt vom 24. Mai 1967

Wenig später erfolgte ein wenig erfolgreicher Anschlag auf Berliner Kaufhäuser. Protest wurde wieder salonfähig. Im Vietnamkrieg und in den verkrusteten Gesellschaftsstrukturen hatte die Jugend willkommene Feindbilder. Man konnte sich auflehnen. Die Jugend protestierte gegen die Bomben auf Hanoi und den gottähnlichen Status der Professoren. An der Sorbonne von Paris, der freien Uni Berlins, der Tokai in Tokio, in Berkeley oder der Kent State Universität schlugen sich Studenten mit »Polizistenschweinen« oder der Nationalgarde. Den Aufstand empfand man damals als Beginn einer neuen Epoche. In Zürich kam es zu den Globuskrawallen und in Berlin wurde der Student Rudi Dutschke angeschossen.9 Typisch für die Sechzigerjahre war die direkte oder indirekte Unterstützung der Jugendproteste durch intellektuelle Kreise. »… gerade jenen Menschen, die in der Gesellschaft als Rebellen auftraten, diejenigen waren, welche die Geschichte vorantrieben, indem sie Missstände aufzeigten und Anstoß zu wichtigen Veränderungen waren«, schrieben die bekannten deutschen und österreichischen Schriftsteller Louise Rinser, Hans Helmut Kirst und Jean Amery im Juni 1967 unmittelbar nach den Anschlägen. Wie in den Zwanzigerjahren wurden der anti-bürgerliche Gestus und die alternativen Lebensstile bewundert. Gewalt wurde zwar scheinbar verurteilt, doch vor allem Schriftsteller und Intellektuelle brachten den Protesten junger Menschen wie Gudrun Ensslin und Andreas Baader großes Verständnis entgegen. Ihre Gewalt wurde nicht mehr einhellig abgelehnt, sondern als Ausdruck kritischen Denkens aufgefasst. Max Frisch setzte sich im Zürcher Manifest nach den gewalttätigen Globuskrawallen für die Jugend ein, so wie in Deutschland Herbert Marcuse, in Frankreich Jean Paul Sartre und den USA Timothy Leary. Die gewalttätige Jugend konnte mit einer »kritischen« Elite gemeinsame Sache machen. Beide sahen in den Protesten Vorzeichen gesellschaftlich notwendiger Veränderungen.

Hat es damals weniger Gewalt gegeben? Die Protestbewegungen waren für viele junge Männer eine Möglichkeit, Emotionen auszuleben und in einem Mythos aufzugehen. Sie konnten im halb-chaotischen Raum, der von Teilen des Establishments toleriert wurde, Aggressionen abreagieren. Sowohl die Protest- wie auch die Hippiebewegung gaben den jungen Menschen Gelegenheit, sich als Einheit zu erleben. Man war überzeugt, dass man es als Gruppe schaffen würde, den Alten die Stirn zu bieten; man schrieb bereits in jungen Jahren Geschichte. Aufbruch und Heldentum waren angesagt. Der Jugend bot sich eine Möglichkeit, sich antagonistisch zu präsentieren und die eigenen Größenphantasien auszuleben.10 Dieser gesellschaftliche Kontext hat sich auch auf die Gewalt ausgewirkt. Die kollektive Bewegung neutralisierte, kanalisierte oder legitimierte Gewalt. Gewalt wurde im Rahmen politischer Aktionen abreagiert. Junge Männer warfen Steine auf die amerikanische Botschaft, schlugen sich mit Polizisten. Aggressionsbereiten oder problematischen jungen Männern wurde eine Bühne geboten. Ihre Gewalt galt halbwegs als legitim. Es ging darum, diesen grässlichen Krieg in Südostasien zu beenden und eine verkrustete Gesellschaft aufzubrechen! Obwohl die Auseinandersetzungen äußerst heftig waren und oft mit großer Brutalität geführt wurden, hat man den schlagenden Studenten verziehen. Sie setzten sich ja für eine gute Sache ein, und der Vietnamkrieg galt vielen als eine Ungeheuerlichkeit!

Heute geht man vielleicht wegen des Bankenskandals oder der Atommülltransporte auf die Barrikaden, so wie man früher gegen autoritäre Strukturen oder gegen die Pershing Raketen protestierte. Wie später erläutert wird, entsteht Gewalt nicht nur als Folge einer problematischen Situation, sondern wird auch als Erlebnis gesucht.11 Gewalt ist nicht nur ein Fehlverhalten, sondern auch ein existentieller Akt. Ein Teil der Jugendlichen – jedoch auch der Erwachsenen – schwärmt von Gewalt und sucht durch das Eintauchen in reale oder fiktive Gewalt nach einem Lebensinhalt. Man verbirgt seine Aggressionslust hinter einer akzeptierten Begründung. Gewalttätige Jugendliche konnten damals unter dem Deckmantel einer Protestbewegung ihre Gewalt ausleben, sie brauchten keine Überfälle zu veranstalten. Die brutalen Attacken und wüsten Schlägereien sind nicht nur Ausdruck der Verzweiflung, Folgen gesellschaftlicher Umstände oder einer Soziopathie, sondern oft geht es um die pure Lust an der Gewalt. Gewalt ist geil. Vergleiche mit heute sind schwierig, da wir in anderen Kategorien denken und den jugendlichen Gewalttätern keine halbwegs nachvollziehbare Begründung für ihre Taten liefern.

In den Siebzigerjahren standen die Anti-AKW-Bewegungen im Vordergrund. Es gab einen Sündenbock. »Atomkraft – Nein danke!« wurde skandiert. Es galt, sich gegen die mächtige Industrielobby zu wehren und ihre größenwahnsinnigen Projekte zu stoppen. Die geplanten Atomkraftwerke Brokdorf, Kaiseraugst oder Zwentendorf sollten verhindert werden. Die Anti-AKW-Bewegung entstand basisdemokratisch und profilierte sich über Besetzungen12, Demonstrationen und Initiativen. Und sie verstand sich als gewaltfreie Aktion, wie alle Kampagnen, in denen mit Gewalt gerechnet wird. Die Protestmärsche verliefen nicht immer friedlich. Aufstand war angesagt, der Gegner sollte sofort aufgeben. Solche Aktionen gaben jungen, aggressionsbereiten Männern und Frauen eine Möglichkeit, ihre Aggressionen und Lust an der Gewalt halbwegs legitim abzureagieren. Man kämpfte für eine gute Sache, eine bessere Welt. Die eigenen Aggressionen wurden zu einem Mittel, sich für ein Ideal einzusetzen. Gewalttätige junge Männer konnten sich unter die friedlichen Demonstranten mischen und ihrer Wut Ausdruck geben. Ähnlich war die Situation in den Achtzigerjahren. In Zürich kam es zur Jugendbewegung. Ausgelöst durch den Opernhausskandal, lehnte sich die Jugend gegen die Kulturpolitik der Stadt auf und forderte das AJZ, das Autonome Jugendzentrum! Wie bei den Hippies, den Anti-AKW-Bewegungen verhielt sich ein Teil der Bevölkerung ambivalent. Man begrüßte die Ziele der Jugend. Es kam zu Demonstrationen der Kulturschaffenden und Intellektuellen. Der Jugendbewegung wurde Originalität zugeschrieben und sie wurde als Wiedergeburt des Dadaismus gefeiert. »Macht aus dem Staat Gurkensalat« und »Nieder mit den Alpen – freie Sicht auf das Mittelmeer!« wurden zu Kultsprüchen. Aber: Wieder kam es zu Schlägereien und hässlichen Auseinandersetzungen mit der Polizei. Wie beim Kampf gegen den Vietnamkrieg wurde den jungen Männern eine Gelegenheit geboten, sich aggressiv in Szene zu setzen.

Da jede Zeit ihr Kolorit und ihre besonderen Themen hat, ist es schwierig, Vergleiche zu ziehen. Die Frage der Zunahme der Jugendgewalt ist nicht zu beantworten, wenn man politische Proteste oder gesellschaftliche Umwälzungen nicht dazu zählt. Eigentlich waren der Erste und Zweite Weltkrieg die Epochen, in denen Europa am meisten unter Jugendgewalt litt. Nur geschah sie damals unter der Ägide der Alten, die die aggressionsbereiten Jugendlichen für ihre Ziele instrumentalisierten. Gewalt ist nicht nur Fehlverhalten kranker, dissozialer oder fehlgeleiteter Menschen, sondern es gibt auch junge Männer, die Szenen, Bewegungen und Begründungen suchen, um loszuschlagen. Gewalterlebnisse geben dem Leben einen Kick, sind geil und vermitteln vielen jungen Männern das Gefühl einer existentiellen Berechtigung.13 Wenn man auf eine »berechtigte« Weise losschlagen kann, umso besser! Eine Protestbewegung, ein Krieg, gesellschaftliche Konflikte sind willkommene Anlässe, sich gewalttätig in Szene zu setzen. Wir können nicht nachträglich herausfinden, was die wirklichen Motive der jungen Männer waren, die an der Anti-AKW-Bewegung, den Protestmärschen gegen den Vietnam-Krieg oder für ein Autonomes Jugendzentrum teilnahmen. Jeder Einzelne wird natürlich behaupten, dass er sich aus idealistischen Gründen engagiert habe. Um herauszufinden, ob die jungen Männer aus Lust an der Gewalt agierten oder aus einem aufrichtigen politischen Interesse, müsste man nachträglich eine Tiefenanalyse durchführen. Es gibt Epochen, in denen der Jugend politisch-soziale Arenen geboten wurden, um sich lärmig und aggressiv zu inszenieren, in anderen Zeiten war dies nicht möglich.

Zahlen und scheinbar harte Fakten

Statt unser trügerisches Gedächtnis zu konsultieren oder historische Dokumente zu studieren, könnte man die Anzahl der jährlichen Gewaltvorfälle zählen und vergleichen. Vielleicht geben uns Statistiken eine Antwort. In der Schweiz ist nach den Zahlen des schweizerischen Bundesamts für Statistik von 1999 bis 2006 die Anzahl der mutwilligen Körperverletzungen durch Jugendliche von 769 auf 152514 gestiegen, und die Zahl der Jugendstrafurteile aufgrund von Gewaltdelikten hat sich von 1241 auf 2268 erhöht.15 Der Soziologe Martin Killias sprach aufgrund dieser Zahlen von einer besorgniserregenden Zunahme der Gewaltbereitschaft unter Jugendlichen.16 Mittels einer Fragebogenuntersuchung an 5200 Oberstufenschülern der neunten Klasse glaubt er diesen Trend bestätigen zu können. In seiner Untersuchung beantworteten die Jugendlichen online einen Fragenkatalog. Sie beantworteten Fragen wie: »Hast du schon einmal jemanden geschlagen oder verprügelt (mit den Fäusten, mit einer Waffe, mit Fußtritten etc.), sodass er/sie ernsthaft verletzt wurde (blutende Wunde, blaues Auge usw.)?« Ein Viertel der befragten Schüler berichtet von Gewalterfahrungen. Entsprechend bringt Killias Maßnahmen wie eine Abkehr von der 24-Stunden-Freizeitgesellschaft und Wiedereinführung der Polizeistunde in die Diskussion.17 Lange Zeit schien klar: Jugendgewalt nimmt zu! Der Trend hat sich jedoch nicht fortgesetzt. Folgt man den Zahlen des Eidgenössischen Bundesamts für Statistik, blieben sie stabil. 2009 lag die Anzahl der Gewaltstraftaten bei 2376.18 Bei 22 Jugendlichen handelte es sich um schwere Körperverletzungen, bei 654 um einfache Körperverletzungen. Bei 776 handelte es sich um Tätlichkeiten, bei 126 waren es Raufereien, bei 347 um Angriffe, bei 332 um Raub. Bei der Altersgruppe unter 15 Jahren gab es eine Abnahme von 3630 auf 3565.19 In Deutschland sind die Tendenzen ähnlich. Laut der polizeilichen Kriminalstatistik des Bundeskriminalamts ist die Zahl tatverdächtiger Jugendlicher bis 1998 auf 300 000 angestiegen, seither stellt man einen Rückgang fest: bei den jugendlichen Tatverdächtigen um 20 000 auf 280 000. 2009 wurden 39 700 Straftaten Jugendlichen zwischen 14 und 18 Jahren zugeschrieben. Im Vergleich zu 2008 ist die Zahl um 9 Prozent zurückgegangen. Bei den Körperverletzungen betrug der Rückgang 7 Prozent.20

Aber auch hier bleibt genügend Spielraum für subjektive Wahrnehmung. Ein Beispiel: Ein Junge wurde bei mir von der Schule angemeldet. Mein Auftrag war abzuklären, ob es sich bei ihm um eine dissoziale Persönlichkeit und um einen potentiellen Gewalttäter handelt. Der zwölfjährige Junge war von der Schule suspendiert worden, nachdem eine Mutter eine Strafanzeige wegen massiver Bedrohung gegenüber ihrem Sohn erstattet hatte. Der Vorfall: Die beiden Kontrahenten hatten sich zufällig nach Schulschluss auf dem Pausenplatz getroffen. Der angeblich gewalttätige Junge ist auf den anderen zugegangen, hat mit der Hand eine Pistole imitiert und laut gerufen: »Jetzt knalle ich dich ab!« Der andere Junge ist davongerannt, nicht ohne seinem Angreifer zuzuwinken. Der Junge erzählte zuhause von dem Vorfall, woraufhin es zur Anzeige kam.

Bei der Interpretation von aggressiven Auseinandersetzungen zwischen Menschen bleibt immer ein großer Spielraum. Wir kommen nicht um subjektive Bewertungen herum, wenn wir uns mit gewalttätigen Auseinandersetzungen befassen. Was für eine Person ein heftiger Streit und der Beginn einer gewalttätigen Auseinandersetzung ist, bleibt für eine andere Person ein lustvoller Zweikampf. Was wir sehen und wo wir die Grenze zwischen effektiver Gewalt und harmloseren Streits ziehen, hängt von unserem Sensibilisierungsgrad ab. Wenn wir vom Thema Jugendgewalt im Fernsehen hören und in den Zeitungen lesen, dann ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass wir mehr Gewalt um uns herum erleben. Wir sind alarmiert und übernehmen die Brille, die uns der öffentliche Diskurs bietet. Wir reden von Gewalt, wo man früher nur natürliche Aggressionen oder Temperamentsausbrüche wahrnahm.

Konflikte sind in jeder Alters- und Menschengruppen verbreitet. Überall, wo Menschen zusammenarbeiten, kooperieren, sich lieben oder gleiche Ziele anstreben, kann es auch zu Problemen kommen. Man streitet sich, bekämpft sich, hasst sich oder geht sogar aufeinander los. Aggressive Auseinandersetzungen gehören zum Leben. Wie diese ausgefochten werden, hängt von der Persönlichkeit der Beteiligten, ihrem Alter und dem Milieu ab. Die meisten aggressiven Auseinandersetzungen werden jedoch intern geregelt oder zivilisiert ausgefochten. Nur ein kleiner Teil dieser Konflikte ist strafrechtlich relevant. Der Großteil der Jugendgewalt spielt sich im niederschwelligen Bereich ab. Er kann von beteiligten Personen bewältigt werden, ohne dass der Staat eingreifen muss oder Fachleute mobilisiert werden müssten. Wie groß das Ausmaß der Jugendgewalt ist, hängt darum von unserem Sensibilisierungsgrad ab. Eine Rauferei oder eine Wirtshausschlägerei wurde früher hingenommen, doch heute sieht man darin ein kriminelles Delikt. Die Sensibilisierung führt zu einer veränderten Wahrnehmung. Aus diesem Grund muss man Befragungen gegenüber skeptisch sein. Sie geben nicht zwingend die effektive Situation wieder, sondern drücken unseren Sensibilisierungsgrad für ein Thema aus.

Unter Gewalt verstehen wir die Durchsetzung des eigenen Willens oder der eigenen Macht mit physischen Mitteln und unter Missachtung der Integrität der anderen Person. Um ein Ziel zu erreichen und den eigenen Willen durchzusetzen, nehmen wir in Kauf, dass ein Mitmensch geschädigt wird oder leidet.

Der Gewaltbegriff wurde inzwischen ausgeweitet. Nicht nur effektive Gewaltakte werden als Gewalt bezeichnet, sondern auch die Androhung einer Handlung. »Was fällt Ihnen ein zu behaupten ich drohe! Geht’s noch: Sie werden noch etwas erleben!«, schrie ein Junge unserer Gruppe den Jugendrichter an, als dieser ihn wegen Bedrohung seines Lehrers verurteilen wollte. Man spricht von Gewalt, wenn eine Handlung als Möglichkeit in einer verbalen Interaktion erwähnt wird. »Dich mach ich fertig!« gilt nach dieser Sichtweise als Gewaltakt. Es ist kein konkreter Akt mehr nötig, sondern es genügt eine vorgestellte Handlung. Diese Definition von Gewalt ist inzwischen in vielen Schulen verbreitet. Die Lehrerschaft reagiert, wenn ein Schüler oder eine Schülerin mit Gewalt droht. Verbalinjurien werden als Gewaltakte bezeichnet. Wenn wir jemanden durch Worte »fertigmachen«, beleidigen oder in Angst versetzen, dann hat man auch Gewalt angewendet: der Schüler, der seine Lehrerin »Schlampe«, oder »Dreckfutze« nennt oder die Frau, die ihre Arbeitskollegin als »dumme Gans« betitelt. Wenn Gewalt breit definiert wird, dann steigt folgerichtig auch die Anzahl der Vorfälle.

Ein Beispiel aus der jüngeren Vergangenheit:

Die Schule wurde sofort evakuiert und alle Schüler und Schülerinnen von der Polizei und den Lehrern befragt. Die Polizei führte eine minuziöse Durchsuchung der Klassenzimmer und Gänge durch und forderte die Schüler auf, ihre persönlichen Gegenstände aus dem Schulhaus zu entfernen. Ein Care-Team aus Psychologen kümmerte sich um die Ängste, die der Vorfall bei den Jugendlichen ausgelöst haben könnte. Der Grund: auf einem Schülerpult hatte jemand den Satz »Ich sprenge die Schule in die Luft!« gekritzelt. Die Schule hatte verbale Aussagen wörtlich genommen und wollte sich nicht dem Vorwurf aussetzen, sie habe Warnsignale missachtet.

Die Ausweitung des Gewaltbegriffs kann als Zeichen einer größeren Sensibilisierung aufgefasst werden. Wenn jemand herumflucht und Drohungen ausstößt, legen wir nicht die Hände in den Schoss und denken, der beruhigt sich schon wieder, sondern wägen ab, ob er es ernst meint oder – fluchen zurück. Worte und Gewaltankündigungen werden ernst genommen. Wenn jedoch, wie es zum Teil in Schulen geschieht, bei Verbalinjurien sofort eine staatliche und juristische Maschinerie in Gang gesetzt werden muss, dann sind wir zu weit gegangen. Es ist nachvollziehbar, wenn ein Pilot sich entschließt seinen Flug abzubrechen und die Polizei alarmiert, weil eine Stewardess auf einem Spiegel in einer Flugzeugtoilette den Satz »I blow up aireplan« entdeckt hat. Aber macht es Sinn, wenn eine Lehrerin einen Schüler sofort von der Schule suspendiert, einen Schulpsychologen einbezieht und sofortige Maßnahmen fordert, weil ein Junge während einer Schlägerei auf dem Pausenhof seinem Kontrahenten »ich bring dich um« zugerufen hat? In den meisten Fällen muss keine staatliche Behörde intervenieren oder das Gericht bemüht werden, sondern die Lehrerschaft ist gefordert. Wir müssen nicht gleich mit einer Anzeige reagieren, wenn ein Schüler einem entgegen schleudert, man sei eine Missgeburt oder er wisse, wo man das Auto abgestellt hat, sondern wir müssen den direkten Kontakt zum Schüler suchen und mit ihm sprechen. Überreaktionen sind oft sogar kontraproduktiv. In der Meinung, dass man durch eine kompromisslose Reaktion Gewalt besser in den Griff bekommt, werden junge Menschen nach Affektausbrüchen kriminalisiert und zu einem juristischen Fall. Die Gefahr ist, dass nicht mehr zwischen unüberlegten, doofen, jedoch nicht ernst gemeinten Worten und der effektiven Gewalt unterschieden wird. Man sieht plötzlich überall Gewalt und natürlich steigt dann auch die Anzahl der Vorfälle.

Gewaltprävention und -intervention ist nicht nur eine Angelegenheit des Staates. Wir alle sind aufgefordert, Gewalt zu verhindern und tun dies auch tagtäglich durch viele kleine Handlungen. Der Lehrer, der einen guten Draht zu einem problematischen Jugendlichen aufbaut, hat vielleicht damit auch Delikte verhindert, die Fasnachtsclique, die ein Dorffest organisiert, hat damit vielleicht auch der Dorfjugend eine Freizeitbeschäftigung gegeben und sie von Blödsinn abgehalten. Es hängt primär von den Mitgliedern der jeweiligen Gesellschaft ab, ob Gewalt Überhand nimmt, und nicht nur von der Arbeit der Polizei und den Gerichten. Beginnen wir uns bei der Gewaltprävention auf die Polizei zu fixieren, dann haben wir eigentlich schon verloren. Die Polizei kann nur in extremen Fällen und oft nur zur Unterstützung von Zivilpersonen eingreifen. Sie kann und soll nicht überall präsent sein und juristische Paragraphen zur Anwendung bringen. Die überwiegende Mehrzahl der Gewaltvorfälle wie auch der größte Teil der Präventionsarbeit wird nicht von Experten, der Schule oder Polizei durchgeführt, sondern von den Mitgliedern der jeweiligen Gesellschaft. Wir verhindern Gewalt in der Rolle des Vaters, der Mutter, des Lehrers oder Bruders. Hier wird entscheidende Arbeit geleistet: der Cousin wird beruhigt, als er wegen eines Nebenbuhlers außer sich gerät, eine Frau besänftigt ihren Mann, als er wegen eines anderen Autofahrers wütend wird, oder ein Lehrer bespricht sich mit einem Schüler, der das Gefühl hat, ungerecht behandelt worden zu sein. Wird der Gewaltbegriff zu weit ausgedehnt und juristisch definiert, dann führt dies zu einer schleichenden Ausweitung des staatlichen Einflusses. Ein Wutausbruch mutiert zu einem Tatbestand, der eine Außenintervention erfordert.

Ob die Gewalt tatsächlich zugenommen hat oder sich nur ihre Qualität verändert hat, kann nicht abschließend beantwortet werden. Wenn wir einen nüchternen Blick auf die Gesellschaft werfen und alle Gewaltakte mitberücksichtigen, also auch Protestmärsche, kriegerische Auseinandersetzungen und politische Auseinandersetzungen, dann hat die Gewalt abgenommen. Unsere Gesellschaft ist bedeutend friedlicher als vor 60, 90 oder 150 Jahren. Grausame Gewaltexzesse, wie das Verbrennen von Katzen zur Belustigung, wie es in Paris Ende des18. Jahrhunderts noch üblich war, oder das Schlagen von Schülern mit dem Stock sind heute undenkbar. Wenn wir uns jedoch auf jugendlich delinquentes Verhalten, körperliche Angriffe und Schlägereien beziehen, dann ist die Quote stabil geblieben. Wenn trotzdem von einer Zunahme der Jugendgewalt geredet wird, dann hat dies andere Gründe. Man schildert das Verhalten in den schwärzesten Farben, damit Maßnahmen gefordert, staatliche Programme lanciert werden können oder die eigene Arbeit legitimiert wird.

2. Wie viel Gewalt ist normal?

Wie Codes und Rituale unser Zusammenleben regeln

»Dass ich Liebe bringe, wo man sich hasst; dass ich Versöhnung bringe, wo man sich kränkt; dass ich Einigkeit bringe, wo Zwietracht ist; dass ich Hoffnung bringe, wo Verzweiflung droht …«

Franz von Assisi

Stellen Sie sich Folgendes vor: Auf rätselhafte Weise oder weil man endlich eine Zeitmaschine erfunden hat, werden Sie ins Jahr 1908 zurückversetzt! Sie dürfen 48 Stunden in der Vergangenheit verbringen. Sie landen in Wien in einer rauchigen Spelunke und sind von trinkenden Männern und Frauen umgeben. Sie sitzen vor einem Glas Bier, hören, wie über das richtige Telefonieren geredet und über Kriminalität in Ottakring debattiert wird. Sie sind der Einzige, der weiß, welch grässliche Ereignisse bevorstehen: Der erste Weltkrieg wird ausbrechen, die Wirtschaftskrise kommen, der Nationalsozialismus sich ausbreiten, das Dritte Reich errichtet und der Holocaust stattfinden. Plötzlich geht die Türe auf und ein junger Maler aus Linz tritt ein: Adolf Hitler. Er nimmt neben Ihnen Platz und bestellt ebenfalls ein Bier. Was machen Sie? Der Mann wird Grauenhaftes anrichten, Millionen von Menschen auf dem Gewissen haben. Deutschland und ganz Europa werden seinetwegen in eine Katastrophe stürzen.

Wollen Sie den neunzehnjährigen Mann in ein Gespräch verwickeln? Versuchen Sie ihn zu beeinflussen? Wollen Sie ihm ein paar seiner Bilder abkaufen, damit er eine Künstlerkarriere wählt, statt in die Politik einzusteigen? Wollen Sie mit ihm debattieren und ihn von den pangermanischen Ideen Georg von Schöneres abbringen? Ist das wirklich das richtige Vorgehen angesichts des Grauens, das dieser junge Mann anrichten wird? Wäre es nicht besser, ihn anzugreifen und gleich umzubringen? Man könnte ja geschickt vorgehen und einen perfekten Mord ausführen! Und: was bedeutet schon der eigene Tod gegen die Abermillionen Menschen, die dadurch gerettet würden!

Diese kleine Zeitreise bringt zwei Dinge an den Tag: Die Mehrheit der Leser ist wahrscheinlich mit mir einig, dass ein Mord an diesem Mann gerechtfertigt wäre, ja man würde der Menschheit einen unglaublichen Dienst erweisen. Die Geschichte würde eine andere Wende nehmen und Gräueltaten würden verhindert. Das Gedankenexperiment zeigt, dass es Situationen gibt, in denen Gewalt legitimiert ist, in denen wir uns das Recht nehmen, jemanden umzubringen. Gleichzeitig ist diese Schlussfolgerung ungeheuerlich: Wir maßen uns an, über Leben und Tod zu entscheiden! Das Gewalttabu wäre dann nicht mehr ein absolutes moralisches Gebot, sondern kann durch Situationen und Umstände relativiert werden. »Du sollst nicht töten!« gälte dann nicht immer, sondern hinge von der Situation ab.

Wahrscheinlich würde es jedoch nie so weit kommen. Ziemlich sicher wären wir nämlich zu feig, unseren Tischnachbarn zu erstechen oder zu erschießen. Wir würden verwirrt dort sitzen, wilde Gedanken würden durch unseren Kopf rasen, wir könnten uns nicht entscheiden und würden uns selber hinterfragen: Wie ist der Krieg entstanden? Wir würden nach einer Entschuldigung suchen. Und natürlich wollen wir ja nach zwei Tagen zurück in unser aktuelles Leben, zu Familie, Kindern und Freunden. Wir wollen unser Dasein nicht riskieren und hängen an unserem Leben. Die eigenen Kinder brauchen einen Vater, eine Mutter und außerdem hat man ja Ferien auf