Was ist schon für immer - Katja Lewina - E-Book

Was ist schon für immer E-Book

Katja Lewina

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Beschreibung

»Berührend und brillant, ernst und trotzdem beschwingt und so gut geschrieben: Katja Lewina führt uns mit kühner Leichtigkeit durch die schwersten Gefilde des Lebens. Kann man ein schönes Buch über das Sterben schreiben? Eigentlich nicht. Katja Lewina ist es trotzdem gelungen.« DANIEL SCHREIBER Sterben – das tun doch immer die anderen. Die Alten vielleicht, die Kranken. Aber was, wenn der Tod näher ist als gedacht? Und unser Leben unwägbarer, als wir annehmen? Seit zwei Jahren weiß Katja Lewina von ihrer Herzerkrankung und dass sie ihr jederzeit das Leben kosten kann. Die Diagnose bekam sie kurz nach dem plötzlichen Tod ihres siebenjährigen Sohnes. Mit einem Mal wurde die Möglichkeit zu sterben Teil ihres Alltags. In ›Was ist schon für immer‹ beschäftigt sich Katja Lewina mit dem Thema Sterblichkeit und Verlust. Ausgehend von ihrer eigenen Situation, erkundet sie eine Erfahrung, die uns am Ende alle betrifft. Was macht unsere Endlichkeit mit der Liebe? Wie erklärt man sie den Kindern? Was wollen wir hinterlassen? Was holen wir aus unserem Leben raus – sollen wir der Gesundheit zuliebe es ruhig angehen lassen und damit eine Menge verpassen oder ganz im Gegenteil aufs Gas treten? Wie reagiert das Umfeld auf Krankheit und Tod? Gibt es richtige und falsche Worte? Was gehört geklärt und was vergessen? Diesen Fragen stellt sich Katja Lewina in elf Essays ohne die üblichen Carpe-diem-Plattitüden, aber mit dem unliebsamen Reminder: Sterben geht uns alle an.

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EPUB
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Seitenzahl: 148

Veröffentlichungsjahr: 2024

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»Berührend und brillant, ernst und trotzdem beschwingt: Kann man ein schönes Buch über das Sterben schreiben? Eigentlich nicht. Katja Lewina ist es trotzdem gelungen.« Daniel Schreiber

Sterben – das tun doch immer die anderen. Die Alten vielleicht, die Kranken. Aber was, wenn der Tod näher ist als gedacht? Und unser Leben unwägbarer, als wir annehmen? Seit zwei Jahren weiß Katja Lewina von ihrer lebensgefährlichen Herzerkrankung. Die Diagnose bekam sie kurz nach dem plötzlichen Tod ihres siebenjährigen Sohnes. Mit einem Mal wurde Sterblichkeit Teil ihres Alltags, und Verdrängtes rückte ins Bewusstsein. Was macht unsere Endlichkeit mit der Liebe? Wie erklärt man Kindern Krankheit und Tod? Was wollen wir hinterlassen, was noch erleben? Was gehört geklärt und was vergessen? Diesen Fragen stellt sich Katja Lewina in elf Essays ohne die üblichen Carpe-diem-Plattitüden. Dafür mit dem unliebsamen, aber heilsamen Reminder: Sterben geht uns alle an.

© Julija Goyd

Katja Lewina wurde 1984 in Moskau geboren, studierte Slawistik sowie Literatur- und Religionswissenschaften. Sie arbeitete als freie Lektorin und im Künstler*innenmanagement. Heute ist sie freie Autorin für namhafte Medien. Bei DuMont erschienen die SPIEGEL-Bestseller ›Sie hat Bock‹ (2020), ›Bock. Männer und Sex‹ (2021) und ›Ex. 20Jahre, 10Männer und was alles so schiefgehen kann‹ (2022).

Katja Lewina

Was ist schon für immer

Vom Leben mit der Endlichkeit

Von Katja Lewina sind bei DuMont außerdem erschienen:

Sie hat Bock

Bock. Männer und Sex

Ex. 20 Jahre, 10 Männer und was alles so schiefgehen kann

Einige der Texte erschienen erstmalig im Nachrichtenmagazin DER SPIEGEL. Für die Buchveröffentlichung wurden sie von der Autorin überarbeitet.

E-Book 2024

© 2024 DuMont Buchverlag, Köln

Alle Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung: Lübbeke Naumann Thoben, Köln

Satz: Fagott, Ffm

E-Book Konvertierung: CPI books GmbH, Leck

E-Book ISBN 978-3-7558-1052-0

www.dumont-buchverlag.de

Für Edgar, natürlich.

Und in Erinnerung an Jürgen, der bis zum Schluss noch Sprüche klopfte. Zum Beispiel diesen hier:

»Sterben. Ich weiß gar nicht, wie das geht.

»Im Übrigen sind es immer die anderen, die sterben.«

Sterben

Für alle und umsonst

Wir werden alle sterben.

Das ist jetzt vermutlich keine große Überraschung. Klar werden wir eines Tages gehen müssen, der Mensch ist nun einmal nicht für die Ewigkeit gemacht. Davon, dass wir grundsätzlich sterblich sind, muss ich Sie gar nicht überzeugen. Nein, das, worüber ich mit Ihnen sprechen will, liegt vielmehr in der niedlichen kleinen Wortkombination eines Tages. Eines Tages ist so verdammt weit weg. Eines Tages, das betrifft die Alten und die Kranken, die, von denen man ohnehin nicht mehr viel mitbekommt. Andere sterben. Aber doch nicht ich. Jedenfalls nicht jetzt!

Und in den meisten Fällen haben wir ja auch recht. Die Wahrscheinlichkeit, dass wir es in unsere Achtziger hineinschaffen werden, ist ziemlich hoch. Doch was, wenn wir wider Erwarten zu denen gehören, denen das nicht gelingt? Wenn wir unser Leben noch gar nicht oder nur zum Teil gelebt haben, bevor es schon wieder vorbei ist? Jeder und jedem von uns kann das jederzeit passieren. Wir haben nur keine Ahnung, ob, warum und wann. Und was danach wohl kommt? Ein Eins-a-Kontrollverlust, würde ich sagen. Und genau dieser Kontrollverlust ist es, der das Bewusstsein der eigenen Sterblichkeit so wahnsinnig beängstigend macht. Wir wissen nichts und haben es ebenso wenig in der Hand. Also beschließen wir, die ganze Nummer zu verdrängen. Kein Problem heutzutage: Raffte der Tod bis vor wenigen Jahrzehnten noch alle naselang Onkel, Mütter, Kinder, ja sogar Säuglinge hinfort, bekommen wir ihn inzwischen dank medizinischem Fortschritt und wegorganisierter Bestattungsrituale nur selten zu Gesicht. Der erste bewusst erlebte Todesfall ist oft das Ableben von Oma oder Opa – und das mit Anfang dreißig.

So ganz abschütteln lässt sich Gevatter Tod jedoch nie. Wie ein unheimlicher Schatten bleibt er uns stets auf den Fersen. Er ist da, wo wir sind, ob wir wollen oder nicht. Jedes Leben muss eines Tages zu Ende gehen, so auch unseres. Insgeheim wissen wir das alle – nur es uns eingestehen, das wollen wir ums Verrecken nicht. Also suchen wir uns Schlupflöcher, in denen wir den Thrill der Todesangst zwar fühlen dürfen, aber den Tod selbst nicht erleben müssen. Fahren Achterbahn, schauen Horrorfilme, machen Bungee-Jumping. Heulen auf Beerdigungen von Menschen, die wir nicht mal kannten. Oder ängstigen uns über die Maßen um das Leben anderer, der eigenen Kinder beispielsweise. Mit Sicherheit hätten etliche der lauten Stimmen, die sich während der Corona-Pandemie in Sorgen um Alte und Vorerkrankte ergingen, vielmehr selbst Angst vor dem Sterben gehabt, schreibt Bernhard M. Scheurer in Der Tod, der Teufel und das Glück. Vom Sinn der Endlichkeit: »Denn es ging eben nicht nur um die Befürchtung, die hochbetagte Oma oder den geliebten Vater zu verlieren, sondern um die befremdliche Vorstellung: Ich werde sterben, vielleicht schon sehr bald, und alle anderen werden am Tag darauf weiter atmen, essen, trinken und Witze erzählen.«

Das Leben wird auch ohne uns weitergehen, das ist mehr als bitter. Wir zählen nicht, weder als Individuen noch als Spezies. Das Universum ist auf uns nicht angewiesen. Wer will angesichts seiner oder ihrer eigenen Bedeutungslosigkeit nicht den Kopf verlieren – wo wir uns doch selbst so gern als den Nabel der Welt, die Krönung der Schöpfung betrachten? Dann lieber nicht auf die Stelle schauen, an der wir am verletzlichsten sind.

Mein Vater beispielsweise sagt: »Wenn ich sterben soll, dann sterbe ich.« Er weigert sich schon sein ganzes Leben lang beharrlich, sich bei etwaigen gesundheitlichen Beschwerden untersuchen zu lassen, und ließ uns, seine Familie, bereits vor Jahren wissen, dass er seinem Leben sofort ein Ende setzen werde, sollte sich eine ernsthafte Erkrankung bemerkbar machen. Nix mit lebenserhaltende Maßnahmen, die Maschinen werden gar nicht erst eingeschaltet! Und bis es so weit sei, wolle er nichts mit diesem Thema zu tun haben.

Bis ich sechsunddreißig Jahre alt war, ging es mir nicht anders. Doch seitdem befasse ich mich mit kaum etwas anderem. Dass ich das gerne mache, würde ich nicht gerade behaupten – oder zumindest tat ich das am Anfang nicht. Vor zwei Jahren wurde bei mir eine lebensbedrohliche Herzerkrankung diagnostiziert. Die medizinischen Details sind eher was für einen langen gemütlichen Nerd-Abend vor dem Kamin (den Grog nicht vergessen, bitte!), daher hier nur die relevanten Details: Mein aktuelles Problem sind gefährliche Rhythmusstörungen, die, wenn ich Pech habe, zum plötzlichen Herztod führen können. Irgendwann später werde ich mich vielleicht mit einer progredierenden Herzschwäche befassen müssen, aber darum kümmere ich mich, wenn es so weit ist. Das Ganze ist genetisch bedingt und nicht heilbar, also ist alles, was ich tun kann, die Symptome in Schach halten und Risiken vermeiden. Als man die Erkrankung bei mir entdeckte, war sie schon ziemlich fortgeschritten. »Was für ein Glück, dass Ihnen bisher nichts passiert ist«, sagte die Kardiologin. Was sie damit meinte: Ich hätte jederzeit mir nichts, dir nichts tot umfallen können. Und ich hatte absolut nichts von dieser Gefahr geahnt.

Wäre mein Leben ein Film, wäre das ein Moment der Epiphanie gewesen. Ich hätte begriffen, dass meine Existenz ganz und gar nicht selbstverständlich ist (wahrscheinlich hätte man in einem Rückblick all die anrührenden Szenen meines Lebens zusammenmontiert), und natürlich hätte ich mein ganzes, im Augenblick eher bescheiden laufendes Leben zum Besseren geändert. Allerdings waren wir nicht im Film, sondern in der Realität, und in der Realität hat man dann meistens ganz andere Probleme. Probleme, die sehr viel größer sind.

Nur wenige Monate zuvor war Edgar, mein siebenjähriger Sohn, gestorben. Einfach so, aus dem Nichts heraus. Gerade noch hatte er Bauchschmerzen gehabt, im nächsten Moment lag er bewusstlos in meinem Armen. Zugegeben, es fällt mir schwer, das zu schreiben. Nicht nur meinetwegen, sondern vor allem Ihretwegen. Natürlich trauere ich noch immer um mein Kind, und so, wie es aussieht, werde ich das für den Rest meines Lebens tun. Aber der Gedanke an seinen Tod ist für mich ein alltäglicher geworden, er begleitet mich schließlich schon seit zweieinhalb Jahren jeden einzelnen Tag. Ihnen hingegen wird es vermutlich nicht viel anders gehen als den meisten Menschen, die mit meiner Geschichte konfrontiert sind: Sie fühlen sich sehr, sehr unangenehm berührt. Ungefähr so unangenehm, als würde sich ein Elefant mit all seinen vier stämmigen Stampfern auf ihren Brustkorb stellen. Klar, dass das sich nach viel zu viel anfühlt. Der Tod ist an sich ja schon ein unbegreifliches Monstrum. Aber der Tod eines Kindes? Ich kann da jeden emotionalen Fluchtreflex verstehen. Und deswegen will ich Sie auch gar nicht so irre lang mit diesem schicksalhaften Winter behelligen. Doch der Vollständigkeit halber muss ich ihn natürlich erwähnen, schließlich sollen Sie ja wissen, woher mein eher unfreiwilliges, aber doch unbändiges Interesse an diesem crazy little thing called Sterben kommt. Über die Frage, woran mein Sohn gestorben ist, werden wir wohl keine abschließende Klarheit mehr bekommen. Der plötzliche Herztod aber ist für die behandelnden Ärztinnen und Ärzte die Erklärung mit der höchsten Wahrscheinlichkeit. Und weil mein eigenes, bereits angegriffenes Herz in dieser Zeit weder aus noch ein wusste und nur noch ausrastete, kam ich dann schließlich zu meiner Diagnose. Nun werden Sie verstehen, dass ich nicht »Wow, ich lebe noch!« dachte, sondern eher: »Fuck, auch das noch!« Obwohl ich dem Tod dann ziemlich schnell von der Schippe sprang. Denn dank moderner Medizintechnik wurde ich ein halber Cyborg: Mein Defibrillator gibt seit der Implantation in bedrohlichen Situationen derart zuverlässig Schocks ab, dass er mir vermutlich schon mehr als einmal das Leben gerettet hat. Besiegelt ist mein Schicksal also zum Glück noch lange nicht. Die Möglichkeit, früher als normal zu sterben, ist für mich dennoch allgegenwärtig. Und dann gab es ja auch noch meine beiden anderen Kinder und all die Verwandten, die den Gendefekt geerbt haben und sich in Lebensgefahr befinden konnten … Meine sonst so kontrollierbar erscheinende Welt war plötzlich zu einem einzigen Minenfeld geworden, es gab keine Sicherheit, kein Versteck, nirgendwo. Aus jeder Richtung konnte ein weiterer Schlag kommen, die Hiobsbotschaften prasselten nur so auf uns ein. Auf nichts war mehr Verlass. Alles, was ich liebte, konnte mir entrissen werden, jederzeit. Noch lange überprüfte ich nachts die Atmung meiner Kinder, als wären sie Neugeborene, erstarrte beim Klang von Krankenwagen-Sirenen und schreckte schweiß- und tränengebadet aus meinen Träumen auf. Wenn ich eins gelernt habe aus alldem, dann das: Wir haben wirklich gar nichts in der Hand. Weder unsere Gesundheit noch die unserer Lieben, weder unser Leben noch unseren Tod. Alles, was uns bleibt, ist, uns an dem zu freuen, was wir in diesem Moment haben. Denn es kann jederzeit vorbei sein.

Das mit der Epiphanie kam dann aber trotzdem noch. Langsam, aber sicher manifestierte sich das Gefühl in mir, dass ich die Sache mit dem Leben vielleicht doch ein bisschen bewusster angehen könnte. Weil ich möglicherweise nicht die von mir anvisierte Ewigkeit zur Verfügung haben würde, um mir irgendwann in der Zukunft ein besseres Leben zu machen. Denn wenn Fortuna es nicht gut mit mir meint, baut mein Herz ab, bis nichts mehr geht. Und wenn es ganz hart kommt, bin ich einfach morgen tot. Oder nachher. Da braucht nur einmal der Defibrillator auszusetzen. Allerdings rückte diese Erkrankung auch nur das Offensichtliche in mein Bewusstsein. Nämlich die Tatsache, dass ich sterben werde. Was mich allerdings höchstens im Rahmen einer komplizierten Wahrscheinlichkeitsrechnung von Ihnen unterscheidet. Vielleicht tickt meine Uhr schneller als Ihre, vielleicht aber auch nicht. Wenn ich unverschämtes Glück habe, werde ich trotz meiner Diagnose achtzig, wenn Sie Pech haben, werden Sie nachher, wenn Sie sich auf Ihr Fahrrad schwingen, von einem Laster überfahren. Oder erfahren wie die Mutter meiner Freundin Klara (die, wie die meisten Personen in diesem Buch im echten Leben anders heißt) bei einer Routineuntersuchung, dass Sie Krebs im Endstadium haben, und sind ein paar Wochen später Geschichte. Was auch immer es ist – es kann uns allen jederzeit passieren.

Nicht alles in meinem Leben wurde mit dieser Erkenntnis von heute auf morgen anders, an solche wundersamen Verwandlungen glaube ich ohnehin nicht. Ein Schicksalsschlag macht höchstens kurzzeitig einen besseren Menschen aus uns. Im Grunde sind wir, wer wir sind, und ändern uns, wenn überhaupt, erschreckend langsam. Und doch, Veränderung ist möglich, wenn wir ihr den Boden geben, den sie braucht.

Meine Erkrankung bremst mich zwar körperlich aus, aber sie hilft mir gleichzeitig jeden Tag dabei, nicht zu vergessen, dass ich keine Zeit für Bullshit habe. Und ich helfe wiederum Ihnen dabei, das ebenfalls nicht zu vergessen. Denn der Tod geht uns alle etwas an, egal, ob wir morgen sterben oder erst in hundert Jahren. Wir alle werden ihn erleben und auf dem Weg dahin wahrscheinlich Menschen gehen lassen müssen, die wir lieben.

Epikur und seine Kumpel sahen in der menschlichen Furcht vor dem Tod die Grundwurzel allen Leids, für das die Philosophie zum Gegengift gereichen möge. Also lassen Sie uns gemeinsam ein bisschen unsere Gedanken schweifen. Der Tod gehört nun einmal zum Leben dazu. Uns nicht nur als Lebe-, sondern auch als Sterbewesen zu akzeptieren, ist der einzige Weg, mit ihm zurechtzukommen. So ähnlich formulierte das auch Michel de Montaigne in seinen Essais: »Um damit anzufangen, ihm [dem Tod] seinen großen Vorteil über uns abzugewinnen, müssen wir eine der gewöhnlichen ganz entgegengesetzte Methode einschlagen. Benehmen wir ihm das Fremde, machen wir seine Bekanntschaft, halten wir mit ihm Umgang […]. Es ist ungewiss, wo uns der Tod erwartet; erwarten wir ihn also allenthalben! Sinnen auf den Tod ist Sinnen auf Freiheit. Wer Sterben gelernt hat, versteht das Dienen nicht mehr.« Und an einer anderen Stelle: »Wer die Menschen sterben lehrte, würde sie leben lernen.« Natürlich lässt sich das Sterben nicht im wörtlichen Sinne lernen, wir tun es schließlich nur ein einziges Mal. Und doch können wir uns im Umgang mit ihm üben, ganz so, wie jemand mit Höhenangst diese nur überwinden kann, wenn er oder sie sich der Höhe stellt. Wer den Tod nicht fürchtet, wer auf ihn vorbereitet ist, ist wirklich frei.

Und darum gehört der Sensenmann auch dringend aus dem Untergrund in unser Bewusstsein geholt; mit ihm vor Augen lebt es sich besser als ohne ihn. Das verspreche nicht nur ich Ihnen, sondern auch Franz Joseph Wetz in Tod, Trauer, Trost. Was am Ende hilft: »Wer das Leben will, muss lernen, den Tod hinzunehmen.« Und das Leben, das wollen wir doch alle. Voll und reif und süß und saftig! Schauen wir es uns an, wie so ein Leben aussehen kann, wenn man gelernt hat, den Tod hinzunehmen. Wie läuft das so, in all seinen kleinen Einzelteilchen? Was verschiebt sich in Beziehungen, was verändert sich bei der Arbeit? Schreibt man plötzlich Bucket Lists und Testamente? Und wie wird man nicht verrückt über alldem?

Und keine Sorge, ich werde hier nicht mit Carpe-Diem-Plattitüden um mich werfen. Höchstens ein bisschen Memento-Mori-Duft versprühen (für irgendetwas soll sich das große Latinum schließlich auch gelohnt haben). Wie er wohl riecht, dieser Duft? Für mich definitiv leicht und frei. Nach Maiglöckchen vielleicht. Und Aperol Spritz in der Sonne. Er duftet nach Aufbruch in Richtung Wolken.

Als ob es dein letzter Tag wäre

Mit Vollgas, aber ohne Bucket List

Den ganzen Vormittag schon knurrt mein Magen wie ein wütender Hund. »Aus!«, zische ich ihm in regelmäßigen Abständen zu, aber er will nicht hören. Er fordert sein Frühstück, sofort! Dabei mache ich doch jetzt Intervallfasten, Essen nur von zwölf bis acht, und außerdem, bei dem Gedanken muss ich seufzen, ausschließlich vegan. Ich habe mir das nicht selbst ausgedacht, nein, Studien weisen darauf hin, dass Intervallfasten und pflanzenbasierte Ernährung einen positiven Effekt auf die Herzgesundheit haben. Und Herzgesundheit habe ich nun einmal bitter nötig, denn mit ein bisschen Glück kann man das Fortschreiten meiner Erkrankung verlangsamen. Medikamente und der Verzicht auf Sport helfen dabei, ansonsten gelten die üblichen Empfehlungen für Herzkranke: nicht rauchen, wenig trinken, Vorsicht mit Koffein, ausreichend schlafen, kein Stress.

Nicht dies, nicht das, nicht jenes. An manchen Samstagabenden, wenn ich um zehn Uhr nach einer auf der heimischen Couch genossenen Tasse Kräutertee ins Bett gehe, frage ich mich, wessen Leben ich hier eigentlich lebe. Von Natur aus bin ich doch ganz anders. Rauchen, Trinken, Achterbahn: Ich nehme jedes Drama mit, das ich bekommen kann, jede Sahnetorte, jeden Spaß. Sollte ich es nicht jetzt erst recht krachen lassen, statt Partys, Termine und lukrative, aber stressige Jobs abzusagen? So machen das doch die Todgeweihten in den Filmen immer: klauen besoffen Autos, um ans Meer zu fahren, fliegen in einem Privatjet um die Welt oder fangen gleich an, Meth zu kochen. Auf die Kacke hauen – das ist, was mein Naturell von mir verlangt. Statt nervös vor Hunger auf meiner Fitnessuhr rumzutippen, um herauszufinden, wie weit ich noch von meinen täglichen zehntausend Schritten entfernt bin. Will ich mich den möglicherweise kümmerlichen Rest meines Lebens mit Ertüchtigungsmaßnahmen quälen, wenn ich mich genauso gut von einem Exzess zum nächsten schmeißen, das Leben in vollen Zügen auskosten könnte?

»Du willst doch bestimmt noch irgendetwas Krasses machen, bevor du stirbst«, sagte letztens ein Bekannter. »Mit Delfinen schwimmen, die Niagarafälle sehen oder so etwas.« Schließlich sei das doch die typische Reaktion auf die Endlichkeit des Lebens: Erstmal eine Bucket List erstellen. Mit Coffee-to-go-Bechern in der Hand liefen wir unter frühsommerlich ausladenden Bäumen an saftigen Wiesen entlang. Schwanenbabys drehten im Teich ihre Runden, Kinder kreischten fröhlich. Alles um uns herum machte voll einen auf Leben, während wir über den Tod sprechen wollten. Und meine Bucket List. Dabei hatte ich nicht mal eine.