Was man noch sagen darf - Steve Ayan - E-Book

Was man noch sagen darf E-Book

Steve Ayan

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Beschreibung

Was darf man heute noch sagen? Eigentlich alles. Dennoch stellen sich viele Menschen genau diese Frage. Sie haben das Gefühl, man könne sich mit bestimmten Redeweisen oder Aussagen schnell den Mund verbrennen, werde für die falschen Ansichten geschasst und diffamiert. Stimmt das? Tatsächlich laden manche den Appell zu gendergerechter, mitmeinender, antistigmatisierender oder respektvoller Sprache moralisch extrem auf. Die so erzeugte Scham soll bestimmte Aspekte und Argumente aus der Diskursarena ausschließen. Doch sie bewirkt eher das Gegenteil: Die Folgen sind Trotz und verhärtete Fronten. Letztlich dienen solche moralisierenden Vorhaltungen und das »Shaming« in sozialen Medien also nicht der Sache, sondern der Aufwertung des eigenen Egos. Es ist ein Spiel um Status und Zugehörigkeit. Andere wiederum, vor allem am rechten Rand des politischen Spektrums, reden Tabus bewusst herbei, um sich als Freiheitskämpfer zu inszenieren. Beides geht an der Realität vorbei und vergiftet die Debattenkultur. So entsteht eine Spirale aus Empörung und Tabubrüchen, die uns nicht weiterbringt. Was wir stattdessen brauchen, ist mehr Mut zur gegenseitigen Zumutung, Klarheit im Argumentieren und ein ironisches Verhältnis zum Tabu.

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»Wer denkt, ist nicht wütend.«

Theodor W. Adorno

Steve Ayan

WAS MAN NOCH SAGEN DARF

Die neue Lust am Tabu

2022

Mitglieder des wissenschaftlichen Beirats des Carl-Auer Verlags:

Prof. Dr. Rolf Arnold (Kaiserslautern)

Prof. Dr. Dirk Baecker (Witten/Herdecke)

Prof. Dr. Ulrich Clement (Heidelberg)

Prof. Dr. Jörg Fengler (Köln)

Dr. Barbara Heitger (Wien)

Prof. Dr. Johannes Herwig-Lempp (Merseburg)

Prof. Dr. Bruno Hildenbrand (Jena)

Prof. Dr. Karl L. Holtz (Heidelberg)

Prof. Dr. Heiko Kleve (Witten/Herdecke)

Dr. Roswita Königswieser (Wien)

Prof. Dr. Jürgen Kriz (Osnabrück)

Prof. Dr. Friedebert Kröger (Heidelberg)

Tom Levold (Köln)

Dr. Kurt Ludewig (Münster)

Dr. Burkhard Peter (München)

Prof. Dr. Bernhard Pörksen (Tübingen)

Prof. Dr. Kersten Reich (Köln)

Dr. Rüdiger Retzlaff (Heidelberg)

Prof. Dr. Wolf Ritscher (Esslingen)

Dr. Wilhelm Rotthaus (Bergheim bei Köln)

Prof. Dr. Arist von Schlippe (Witten/Herdecke)

Dr. Gunther Schmidt (Heidelberg)

Prof. Dr. Siegfried J. Schmidt (Münster)

Jakob R. Schneider (München)

Prof. Dr. Jochen Schweitzer (Heidelberg)

Prof. Dr. Fritz B. Simon (Berlin)

Dr. Therese Steiner (Embrach)

Prof. Dr. Dr. Helm Stierlin † (Heidelberg)

Karsten Trebesch (Berlin)

Bernhard Trenkle (Rottweil)

Prof. Dr. Sigrid Tschöpe-Scheffler (Köln)

Prof. Dr. Reinhard Voß (Koblenz)

Dr. Gunthard Weber (Wiesloch)

Prof. Dr. Rudolf Wimmer (Wien)

Prof. Dr. Michael Wirsching (Freiburg)

Prof. Dr. Jan V. Wirth (Meerbusch)

Reihe »update gesellschaft«

hrsg. von Matthias Eckoldt

Umschlagentwurf: B. Charlotte Ulrich

Layout und Satz: Heinrich Eiermann

Redaktion: Nora Wilmsmann

Printed in Germany

Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck

Erste Auflage, 2022

ISBN 978-3-8497-0453-7 (Printversion)

ISBN 978-3-8497-8405-8 (ePUB)

© 2022 Carl-Auer-Systeme Verlag

und Verlagsbuchhandlung GmbH, Heidelberg

Alle Rechte vorbehalten

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Informationen zu unserem gesamten Programm, unseren Autoren und zum Verlag finden Sie unter: https://www.carl-auer.de/.

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Carl-Auer Verlag GmbH

Vangerowstraße 14 · 69115 Heidelberg

Tel. +49 6221 6438-0 · Fax +49 6221 6438-22

[email protected]

Inhalt

Tabu oder nicht tabu?

Moralisieren für die gute Sache

Dabei sein ist alles

Krieg der Sternchen

Schreckgespenst der Spaltung

Von der Verletzlichkeit

Wie sensibel sind wir wirklich?

Kein Leben ohne Vorurteil

Bigotterie-Maschine

Die Illusion der Tugendhaftigkeit

Klarheit, Mut, Ironie

Literatur

Weitere Informationen zur Reihe update gesellschaft finden Sie hier:

https://www.carl-auer.de/programm/update-gesellschaft

Tabu oder nicht tabu?

»Das wird man doch wohl noch sagen dürfen!« Dieser Satz, meist in beleidigtem Ton geäußert, fällt heute in vielen Debatten. Die Standardantwort darauf lautet: »Klar darf man! Wir leben in einem freien Land, hier kann jeder seine Meinung sagen.« Doch so einfach ist es nicht.

Natürlich droht niemandem Gefängnis oder eine Geldstrafe, der1 »Mohrenkopf« sagt oder ein »Zigeunerschnitzel« bestellt oder der erzählt, er wollte als Kind gern »Indianerhäuptling« sein. Man darf auch durchaus meinen, es gebe bloß Frauen und Männer und wenige Desorientierte dazwischen. Man kann es für Privatsache halten, ob jemand heterooder homosexuell, bi, trans, nonbinär, asexuell oder polyamor ist. Man muss keinen Unterschied machen zwischen »Autist« und »Mensch mit Autismus« und darf »Downies« mögen, weil die immer so fröhlich sind. Man kann exotische Gerichte zubereiten, Dreadlocks, Tribal Tattoos oder Kimono tragen und sich damit fremde Kultur »aneignen«. Und man darf auch finden, dass Übergewichtige weniger essen und sich mehr bewegen sollten. Niemand ist zum Setzen von Gendersternchen oder Sprechpausen (»Kolleg*innen«) verpflichtet oder muss die neusten Anti-Stigmaregeln mitmachen. Zum Beispiel »Betroffene« sagen, wenn er Patienten meint. Ja, jeder darf sogar kundtun, Corona sei »nicht schlimmer als die Grippe« oder – um Herrgottswillen – »Unter Hitler war nicht alles schlecht«.

Allerdings wird ihm dann unter Umständen widersprochen. Er läuft Gefahr, dass man ihn kritisiert, belehrt, verspottet oder schneidet. Selbst Beschimpfungen und Shitstorms muss er in Kauf nehmen. Für viele wiegt diese soziale Ächtung schwerer als jeder Bußgeldkatalog – denn sie bedeutet einen Verlust an Status. Daher die häufige Klage, man werde doch wohl noch sagen dürfen … Natürlich darf man! Fragt sich nur, um welchen Preis.

Was haben diese Beispiele mit Tabus zu tun? Ein Tabu ist ein ungeschriebenes, meist sogar unausgesprochenes Geoder Verbot, dem sich die Mitglieder einer Gemeinschaft verpflichtet fühlen und dessen Verletzung den Einzelnen teuer zu stehen kommt. Tabus prägen unseren zwischenmenschlichen Umgang (niemand, der Sie dumm oder nervig findet, sagt Ihnen das ins Gesicht), die Partnerwahl (Sex mit Minderjährigen oder Verwandten ist undenkbar) oder auch Esssitten (die Vorstellung, sein Haustier zu verspeisen, erscheint grotesk). Dass wir solcherlei Tabus gar nicht als auferlegte Pflicht, sondern als simple Selbstverständlichkeit empfinden, zeigt nur, wie tief wir sie verinnerlicht haben. Wirksame Tabus machen sich selbst quasi unsichtbar.

Die genannten Merkmale – Stillschweigen, Allgemeinverbindlichkeit und gravierende Sanktionen – gelten hingegen für die Dinge, die man wohl noch sagen darf, nicht unbedingt. Erstens wird viel über die Sinnhaftigkeit solcher Sprachcodes diskutiert. Sie bleiben also keineswegs unausgesprochen, sondern werden im Gegenteil oft hochemotional und unversöhnlich verhandelt. Zweitens fühlen sich längst nicht alle daran gebunden. Ihre Einhaltung wird zwar gern mit augenrollender Gereiztheit gefordert, so als verstehe sich das für jeden denkenden Menschen von selbst, doch sie erregen auch Widerspruch. Mancher empfindet sie als bevormundend und verweigert sich trotzig. Und drittens sind die Folgen solchen Zuwiderhandelns nicht immer furchteinflößend. Einige brüsten sich damit, die Maßgaben der Moralwächter aus Prinzip zu ignorieren, und sprechen den »Sprachpolizisten« das Recht ab, von ihrem hohen Ross herab zu bestimmen, wie man zu reden habe.

Vieles, was heute vermeintlich nicht gesagt werden darf, entspringt purer Unachtsamkeit. Man redet aus Gewohnheit so, wie es lange Zeit üblich war. Aber das ist nach verbreiteter Ansicht überholt. Man kann benachteiligte oder verfolgte Gruppen nicht mehr als Mohren, Zigeuner oder Indianer bezeichnen. Diese Vokabeln sind historisch belastet; wir wissen zu viel, als dass wir sie noch verwenden könnten. Und es ist wichtig, respektvoll und vorurteilsfrei zu kommunizieren, möglichst alle mit zu meinen sowie Minderheiten so anzusprechen, wie diese es selbst wünschen. So sehen es die Vertreter der einen Seite. Die der anderen erwidern: »Sonst noch was? Warum soll ich nicht reden, wie es früher auch niemanden gestört hat? Macht mich das etwa zu einem schlechteren Menschen? Muss die Sprache von allen Spuren der Geschichte, die uns heute suspekt sind, gereinigt werden?«

Keine schlechte Idee, finden progressive Sprachregulierer und plädieren dafür, belastete Wörter nicht nur aus dem Alltagsgebrauch, sondern auch aus distanzierteren, etwa akademischen Kontexten zu verbannen. Historikern, die Quellen aus der Zeit der Sklaverei zitieren, wird nahegelegt, das »N-Wort« zu vermeiden. Selbst Begriffe oder grammatische Formen, deren diffamierender Charakter weit weniger eindeutig ist, geraten ins Visier. Sind generische Maskulina wie Berufsbezeichnungen (Bäcker, Lehrer, Arzt etc.) oder »Teilnehmer« und »Experte« Residuen des Patriarchats und folglich inakzeptabel? Wie wichtig ist es, möglichst niemanden zu vergessen oder zu verletzen? Und wie geht das überhaupt? »Als Kind wollte ich Oberhaupt einer Gruppe amerikanischer Ureinwohner sein.« Oder: »Jahrhunderte lang florierte der Handel mit afrikanischen People of Color.« Suggerieren solche Formulierungen nicht bloß, die Vergangenheit könne korrigiert werden?

Eine sich daran anschließende Frage lautet: Wo zieht man die Grenze? Sollen Songs eines womöglich pädophilen Künstlers, Filme eines der sexuellen Nötigung verdächtigten Regisseurs, Romane von Autoren mit sonderbaren Ansichten oder auch Namen von Gebäuden, Straßen, Speisen, Kleidern, Tieren, Spielzeugen etc. – soll letztlich alles einem Gesinnungs-TÜV unterzogen werden? Und wer nimmt den ab?

Es geht längst nicht mehr nur um potenziell rassistische, sexistische oder stigmatisierende Wörter. Es geht ums Prinzip. In den Augen vieler fortschrittlich gesinnter Menschen ist ausgrenzende, belastete oder belastende Rede tabu. Respekt, Rücksicht und Anteilnahme heißen die Maßstäbe, an denen wir uns und unsere Ausdrucksweise messen lassen müssen. Die Sprache wird zur Kampfzone für eine bessere Welt. Den Gestus des Progressiven pflegen dabei vor allem Menschen aus bestimmten Milieus: Großstädter eher als Landbewohner, Gebildete eher als geringer Qualifizierte, Gutverdienende eher als sozial Schwache und Junge eher als Alte. Der ökonomische Status spielt eine wichtige Rolle. Sensible Sprache scheint ein Luxus zu sein, den sich nicht jeder leisten kann oder will. Sie ist eine Domäne urbaner Wohlstandsbürger. Diese vertreten ihre Maximen gern offensiv, vor allem in der digitalen Kommunikation; sie laden das, was sie als richtig und notwendig erachten, moralisch auf. Darin liegt eine auffällige Parallele zu klassischen Tabus: Sie wirken implizit, durch sozialen Druck und das Einflößen von schlechtem Gewissen. Tabus setzen einen Kodex, den niemand ignorieren kann, ohne seinen Status als respektabler, »guter Mensch« zu gefährden. Hier endet zugleich jede Diskussion.

Wer ausschert, wird vorgeführt. In den sozialen Medien ist »Shaming« an der Tagesordnung. Behauptet jemand, Frauen hätten beruflich oft nicht so hohe Ambitionen, sondern wollten sich lieber um den Nachwuchs kümmern, oder der Pay-gap existiere, weil sie weniger selbstbewusst als er um das Gehalt verhandelten, ist die Entrüstung groß. »Rückständig! Chauvinistisch! Reaktionär!« Nicht viel anders ist es, wenn jemand vor Gefahren warnt, die islamische Einwanderer ins Land bringen. Oder anmerkt, der Klimawandel bedeute nicht das Ende des Planeten und werde nicht in Deutschland aufgehalten. Oder findet, dass die Rechte von Minderheiten nicht nur von diesen selbst vertreten werden können. Oder zu bedenken gibt, dass erhöhte Aufmerksamkeit für seelische Nöte solche Nöte produzieren kann.

All dies lässt sich im Grunde ruhig und rational abwägen, aber meist scheitert das daran, dass solche Aussagen für die einen ein rotes Tuch, für die anderen ein Aufstand gegen das »Meinungsdiktat« sind. Jene lehnen ab, was aus ihrer Sicht nicht sein darf, und scheuen dabei weder Unterstellung noch Verleumdung. Diese reiten auf vermeintlichen Tabus herum und stilisieren sich als Kämpfer gegen Denk- und Redeverbote. Beides geht an der Realität vorbei.

Reden wir also von der neuen Lust am Tabu. Sie gehorcht dem uralten Prinzip des Loyalitätsbeweises: Wer nicht für uns ist, ist gegen uns. Dieses Denken dringt heute zunehmend von den Rändern des politischen Spektrums in die Mitte der Gesellschaft vor und verhindert eine offene, auf Vernunft und Verständigung zielende Debatte.

1 Ich verwende zur besseren Lesbarkeit das generische Maskulinum und meine damit alle Geschlechter.

Moralisieren für die gute Sache

Das Wort »Tabu« stammt aus Polynesien. Der Weltumsegler James Cook brachte es von seiner großen Südseefahrt 1777 nach Europa mit, mutmaßlich aus Tonga. Lange wurde der Begriff nur auf Naturvölker angewandt, bis unter anderem der Psychologe Wilhelm Wundt (1832–1920) die Ansicht verbreitete, alle menschlichen Gemeinschaften – auch die »Kulturvölker« Europas – pflegten Tabus.

In Totem und Tabu