Was mich umtreibt - Galen Strawson - E-Book

Was mich umtreibt E-Book

Galen Strawson

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Beschreibung

Gehört es zum Wesen des menschlichen Selbst, dass sein Leben wie eine Geschichte erzählt werden kann? – Galen Strawson ist maßlos neugierig, ungemein gelehrt, ohne jede Scheu vor abwegigen, schwierigen oder provokanten Thesen. Selbst wenn man ihm in seinen Anschauungen nicht beipflichten möchte, folgt man seinen Fragestellungen und Argumentationen gespannt, ja belebt und äußerst angeregt!

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GALEN STRAWSON

Was mich umtreibtTod, Freiheit, Ich …

Philosophische Essays

Aus dem Englischenvon Wera Elisabeth Homeyer

Inhalt

Vorwort

Einleitung

1Das Bewusstsein vom Ich

2Ein Irrtum unserer Zeit

3Ich habe keine Zukunft

4Alles eine Frage des Glücks

5Wie man ist, dazu kann man sich nicht machen

Ein Gespräch mit Tamler Sommers

6Die dümmste Behauptung

7Wahrhafter Naturalismus

8Das ungeschichtliche Leben

9Two Years’ Time

Anmerkungen

Vorwort

Die meisten der vorliegenden Arbeiten sind Versuche, Gedankengänge besser darzulegen, mit denen ich mich ursprünglich an ein Publikum professioneller Philosophen gewandt hatte. Den ersten Essay schrieb ich 1995, den letzten 2016. Zwei Essays erschienen im London Review of Books («Das Bewusstsein vom Ich» 1996 und «Wahrhafter Naturalismus» 2013), weitere zwei in The Times Literary Supplement («Alles eine Frage des Glücks» 1998 und «Ein Irrtum unserer Zeit» 2004). «Wie man ist, dazu kann man sich nicht machen» erschien zum ersten Mal im März 2003 in The Believer; thematisch stimmt dieser Essay zum Großteil mit «Alles eine Frage des Glücks» überein, er ist jedoch weniger formal. «Die dümmste Behauptung» ist eine Kurzfassung des 2017 am Wolfson College in Oxford gehaltenen Isaiah Berlin-Vortrags unter dem Titel «A Hundred Years of Consciousness: A Long Training in Absurdity». «Das ungeschichtliche Leben» wurde für die von Zachary Leader herausgegebene Sammelschrift On Life-Writing verfasst, die 2015 bei Oxford University Press erschienen ist. Eine Kurzfassung von «Ich habe keine Zukunft» erschien in Philosophy Now im Jahr 2007. «Two Years’ Time» wurde 2016 in der Zeitschrift Areté unter dem Titel «Whisper, Memory» veröffentlicht.

Die meisten Essays habe ich geringfügig überarbeitet und Zitate aus anderen Arbeiten übernommen. Sie sind nicht zusammenhängend, stehen aber im Hinblick auf einige wichtige Aspekte in einer äußerst nützlichen Beziehung zueinander. Mein besonderer Dank gilt Edwin Frank bei New York Review Books, der mich dazu ermuntert hat, die Essays zusammenzustellen und gemeinsam in einem Band zu veröffentlichen. Thematisch überschneiden sie sich in gewissen Punkten direkt, was sicherlich stören würde, wäre das Buch dazu bestimmt, an einem Stück gelesen zu werden; das ist es aber nicht. Die Quellenangaben zu den zahlreichen Zitaten liefere ich am Ende des Buches.

Vor zwanzig Jahren waren Arbeiten zu breit angelegten Themen rar und oftmals schwer zugänglich. «Things are different today» («Heute sehen die Dinge anders aus»), um mit Mick Jaggers zeitlosen Worten zu sprechen. Bulletins über den Tod, die Ewigkeit, das Bewusstsein, die Willensfreiheit, die Liebe, das Gedächtnis, die Wahrheit, die Existenz, das Selbst und den Kosmos treffen täglich in den E-Mail-Accounts ein. Viele von ihnen sind mitreißend, fundiert und kenntnisreich. Manchmal fühlt man sich allerdings förmlich überschwemmt. «Es gibt einfach zu vieles, um darüber nachzudenken.» Das von Saul Bellow beklagte «schwachsinnige Inferno» der Mainstream-Kultur ist schon schlimm genug, das sophistizierte Dampfbad sofort verfügbarer Hochkultur ist nicht immer besser. Steigt der Druck, gilt es noch immer, so seltsam restaurativ dies auch erscheinen mag, sich der Worte zu erinnern, die Descartes 1642 schrieb: «Es ist dem Individuum unmöglich, die große Anzahl neuer Bücher zu studieren, die jeden Tag veröffentlich werden.»

Ich habe mich mit vielen, vielen Menschen unterhalten oder mit ihnen korrespondiert. Sie haben mir geholfen, über diese Themen nachzudenken. Darunter Miri Albahari, Andrea Ashworth, David Auerbach, Anita Avramides, Julian Barnes, Barry Dainton, Daniel Dennett, Rosemary Dinnage, Francis Duncan, Owen Flanagan, Jerry Fodor, Helen Frowe, Rebecca Goldstein, Mark Greenberg, Simon Halliday, Paul Harris, Aaron Hauptman, Robyn Hitchcock, Mark Johnston, Jean Knox, Robert Kuhn, Douglas MacLean, Avishai Margalit, Annalena McAfee, Ian McEwan, Michelle Montague, Iris Murdoch, Thomas Nagel, Redmond O’Hanlon, Derek Parfit, David Pears, Philip Pettit, Antonia Phillips, Amélie Rorty, John Ryle, Marya Schechtman, Claude Silvestre, Michael Smith, David Sosa, Patrick Stokes, P. F. Strawson, Charles Taliaferro, Rosemary Twomey, Samantha Vice, Kathy Wilkes, Susan Wolf, Paul Woodruff, und Dan Zahavi.

Ich danke Susan Barba, Daniel Drake, Sara Kramer sowie Gregory Nipper für ihre professionelle Hilfe bei der Nachbearbeitung und in den verschiedenen Phasen des Korrekturlesens.

Einleitung

Manche Menschen bekommen schon sehr früh einen Begriff von Unendlichkeit. Vor allem bei kleinen Kindern mit einer Vorliebe für Zahlen ist dies durchaus nicht ungewöhnlich – erst kürzlich konnte ich das bei einem meiner Enkel beobachten. Ein Leben lang bleibt die Unendlichkeit verstörend für uns Menschen, insbesondere, wenn sie als Ewigkeit verstanden wird und, was unweigerlich geschieht, zum Gedanken an den Tod weiterführt. Doch gerade als Kinder trifft uns diese Erkenntnis mit großer Wucht, wie ich aus eigenem Erleben bestätigen kann. Obwohl es keinen Todesfall in meiner Familie gegeben hatte und meine Freundin aus Kindertagen (mit fünf Jahren hatten wir uns «verlobt») auch erst sehr viel später durch einen tragischen Unfall ums Leben kommen sollte, hatte ich seit meinem vierten Lebensjahr panische Angst vor dem Tod. Als ich mit 22 Monaten ganze drei Tage ohne Besuchserlaubnis meiner Familie im Krankenhaus verbringen musste, kam mir dies schier unendlich vor. (Es half auch nichts, dass man mir sagte, dass meine Eltern sonst ernstlich erkranken könnten.) Das areligiöse Umfeld, in dem ich aufwuchs, war für eine Bewältigung dieser Angst auch nicht gerade zuträglich. Am schlimmsten jedoch litt ich in meiner Kindheit unter dem Umstand, dass ich kaum schlafen konnte – zum einen, weil ich ein ungemütliches Armeebett im Dachzimmer eines großen, kalten Hauses mein Eigen nannte, vor dessen Tür sich obendrein ein feuerverzinktes Ungetüm von einem Wassertank befand, zum anderen, weil alle Übrigen weit weg waren. Mein Bruder und meine Schwester schliefen in dem Stockwerk unter mir und meine Eltern sogar zwei Treppenfluchten (21 Stufen und noch einmal 16 Stufen) tiefer. So lag ich Nacht für Nacht allein in der Dunkelheit wach und dachte über den Tod nach, über die zukünftige ewig währende Nicht-Existenz meiner selbst, und noch viel schlimmer, meiner gesamten Familie. (Auf S. 93 werde ich kurz darauf eingehen.) Sehr viel später habe ich während einer kurzen Psychotherapie meinem Therapeuten gegenüber geäußert, ich sei «mit dem Tod aufgewachsen», was etwas melodramatisch klingt, aber in gewisser Weise durchaus zutrifft. Bis ins junge Erwachsenenalter hinein beschäftigte mich das Thema Tod nachhaltig. Der Friedhof St. Giles lag nur ein paar hundert Meter von unserem Haus in Oxford entfernt. Und obwohl ich ja wusste, dass es für die unendliche Dauer des Totseins, also der Nicht-Existenz, keinen Unterschied macht, beunruhigte es mich stark, dass auf dem Friedhof offensichtlich kein Platz mehr war. Ich wünschte mir, wenn es schon für eine so lange Zeit sein müsste, wenigstens an einem Ort gemeinsam mit meiner Familie begraben zu sein.

Wie vielleicht alle Kinder, sehnte ich mir, als ich noch sehr klein war, eine gute Fee herbei, die mir jedweden Wunsch erfüllen könnte. Ich wusste bereits aus den mir bekannten Märchen, dass es wohl wenig klug wäre, alle meine zukünftigen Wünsche von dieser Fee erfüllen zu lassen, denn wenn sich etwas rächt, dann Habgier. So wünschte ich mir also ausschließlich, endlich schlafen zu können, wann immer ich wollte – auch wenn es noch so verlockend erschien, sich eine Süßigkeiten-Maschine herbeizaubern zu lassen.

Eine kindliche Fixierung auf den Tod ist zwar eine Besonderheit, ungefähr so, wie als Linkshänder oder mit roten Haaren geboren zu werden, aber nicht unbedingt außergewöhnlich, wie ich 1974 herausfinden sollte, als mir das Buch The Discovery of Death in Childhood and After von Sylvia Anthony in die Hände fiel. Bereits Dreijährige können sich des Todes sehr bewusst sein. In den späten Siebzigerjahren, meine Tochter war ungefähr drei, hatte einer ihrer Spielkameraden mit starken Todesgedanken zu kämpfen. Im Gegensatz zu mir war er jedoch in der Lage, seinen Ängsten offen Ausdruck zu geben. Wurde die Angst des Nachts zu groß, schrie ich manchmal. Kamen dann meine Eltern zu mir, was durchaus nicht immer der Fall war und lang anhaltendes Weinen erforderte, behielt ich alles für mich und erfand schnell einen Albtraum, in dem ich von Wölfen verfolgt wurde. Ein Grund dafür, dass ich meinen Eltern die Gedanken über Tod und Ewigkeit nicht anvertrauen konnte, war sicherlich, dass ich tief im Innern bereits wusste, dass ich richtig lag, und dies nicht auch noch aus ihrem Mund bestätigt wissen wollte. Vergeblich versuchte ich dann, die Ritterfiguren von meiner Zimmertapete zu meiner Verteidigung einzusetzen – auch sie waren nicht gegen die Ewigkeit gewappnet. Immer wieder erfand ich eine Geschichte von einem kleinen Jungen, der mit seiner Mutter in einem rot-weiß gepunkteten Fliegenpilz wohnte, nur um meine Gedanken vom Tod abzulenken. An viel erinnere ich mich nicht mehr, aber meine Einbildungskraft reichte nie lang genug aus, um alles Düstere aus meinen Gedanken zu verbannen.

Der Tod war also eines der ersten Themen (und damit meine ich die eigentlichen, großen Themen, Fragen «kosmischer Ordnung», nicht Dinge wie die Größe meiner Ohren oder die Gepäckausgabe in Heathrow), die mich nachhaltig beschäftigten, und doch nimmt er in diesem Buch nur einen marginalen Platz ein. Seither bin ich mein Leben lang ein Mensch geblieben, der von Besorgnis umgetrieben wurde, und damit bin ich nicht allein. Wir alle sind im «kosmischen Sinne» verstört, sobald wir uns nicht ausschließlich darum kümmern müssen, zu überleben, es warm zu haben oder uns zu ernähren, wie es leider viel zu vielen Menschen auf dieser Welt ergeht. Natürlich sind einige Menschen in höherem Maße besorgt als andere, aber dies kann allein der Tatsache geschuldet sein, dass wir mehr Zeit dazu haben, uns Gedanken zu machen. Vielleicht haben wir nur deshalb mehr Zeit, weil wir «Schlaflose» sind. Besäße ich ein magisches, unfehlbares Instrument zum Messen meiner Betroffenheit, einen «Sorgometer», ich läge bestimmt oberhalb der 85 Prozent – wie weit darüber, vermag ich nicht zu sagen –, und doch mäße dieser «Sorgometer» nur die bewussten, offen zutage tretenden Ängste.

Die hier zusammengestellten Texte beschäftigen sich mit der Freiheit des Willens, dem Bewusstsein, dem Tod, aber auch damit, was es bedeutet, als Philosoph ein wahrhafter «Naturalist» zu sein, einer, der an nichts Übernatürliches glaubt. Sie handeln von der Idee des Ichs, dem Bewusstsein, ein Selbst zu sein oder eines zu besitzen; von diesem Selbst in der Zeit, vom Narrativen im Leben und en passant von menschlicher Leichtgläubigkeit ohne Grenzen. Bei den Kapiteln, welche das «Narrative», also das «Erzählerische» abhandeln («Ein Irrtum unserer Zeit» und «Das ungeschichtliche Leben») schwingt etwas Polemik mit, denn ich schrieb sie gegen den anscheinend allgemein verbreiteten Konsens, dass jeder, der sein Leben in irgendeiner Form «anpasst», notwendigerweise auch ein «narratives» Leben führt. Meines Erachtens liegt dieser Sicht eine schwerwiegende, ja sogar schädliche Fehleinschätzung zugrunde. Es berührt mich immer noch zutiefst, wie viel Dankbarkeit mir im Laufe der Jahre dafür entgegengebracht wurde, dass ich dem meine eigene Position entgegengesetzt habe. All jene Menschen bestätigten mir, dass sie sich immer irgendwie «falsch» gefühlt hätten, nicht in der allgemein anerkannten «narrativen» Art zu leben. Ihr Echo macht all die Feindseligkeiten wett, die ich durch Verfechter des «Pro-Narrativen» erfahren musste. (Was bedeutet es überhaupt, «narrativ» zu leben? Ich weiß es bis heute nicht, und ich glaube, ich kann auch keinen besseren Erklärungsversuch unternehmen als auf den Seiten 255f.)

Vor rund zehn Jahren, kam es mir in den Sinn, dass meine «nicht-narrative» Sicht des Lebens (wie auf den Seiten 65-68 erläutert) in der 1995 begonnenen Einnahme des Antidepressivums Fluoxetin begründet liegen könnte. Zumindest könnte dies jemand mutmaßen, der nicht daran glaubt, dass ein Mensch von Natur aus überhaupt in der Lage ist, eine «ungeschichtliche» Sicht auf das Leben zu haben. Zu keinem Zeitpunkt war ich selbst jedoch von der Richtigkeit dieser Annahme überzeugt, denn ich kannte zahlreiche Personen, die trotz der Einnahme von Fluoxetin eine stark narrative Sichtweise beibehielten. Einige Jahre später stieß ich auf einen Tagebucheintrag aus dem Juli 1994, einer Zeit, lange bevor ich mich mit diesem Thema befasst hatte: «Nichts Narratives, keinerlei Entwicklung in meinem Leben. Es scheint mir, mein Leben habe keine weitere Ausdehnung als über den jeweiligen Moment hinaus – dass ich eine Person bin, die von einem Tag zum anderen fortbesteht. Zum Teil traf dies wohl schon immer zu, es hat sich allerdings in letzter Zeit gravierend verstärkt. Was den einzelnen Tag überdauert und ihn mit dem folgenden verbindet, sind Probleme oder noch zu erledigende Dinge. Sie halten mein Leben zusammen. Ich besitze nicht wirklich ein Selbst. Ich denke, im Vergleich zu anderen, entspricht das der Wahrheit.» Manch einem mag es seltsam erscheinen, dass eine Person zutiefst von der Vorstellung des Todes verängstigt sein kann, ohne das eigene Leben wirklich als «Lebensgeschichte» zu begreifen. Eigentlich ist die Erklärung recht einfach, sie bedarf allerdings auch einer näheren Erläuterung, da die Diskussion um das «Narrative» oft recht konfus geführt wird.

Für alle «Nicht-Narrativen» sind Søren Kierkegaards Schriften Inbegriff der irrigen Annahme, dass nur ein strikt auf die eigene Geschichte gerichtetes Leben dem Urteil der Unendlichkeit standhält. Kierkegaard postuliert, dass es absolut notwendig sei, sich selbst im Blick zu behalten. In Die Krankheit zum Tode, unter dem Pseudonym Anti-Climacus veröffentlicht, schreibt er: «Im Grunde kommt jeder in der Ewigkeit so an, dass er die genaueste Anzeige auch von jeder geringsten Kleinigkeit, die er verübte oder unterließ, selbst mitbringt und abliefert.» Jeder habe also «bis ins kleinste Detail» Rechenschaft über sein Leben abzulegen.

Johann Wolfgang von Goethe bietet ein erstes Gegenargument:

«Nehmen wir sodann das bedeutende Wort vor: ‹erkenne Dich selbst›, so müssen wir es nicht im asketischen Sinne auslegen. Es ist keineswegs die Heautognosie (i.e. Selbst-Erkenntnis) unserer modernen Hypochondristen, Humoristen und Heautontimorumenen (i.e. Masochisten) damit gemeint; sondern es heißt ganz einfach: gib einigermaßen Acht auf Dich selbst, nimm Notiz von Dir selbst, damit du gewahr werdest, wie Du zu Deinesgleichen und der Welt zu stehen kommst. Hierzu bedarf es keiner psychologischen Quälerei, jeder tüchtige Mensch weiß und erfährt, was es heißen soll; es ist ein guter Rat, der einem Jeden praktisch zum größten Vorteil gedeiht.»

In ihrem Buch The Sovereignty of Good untermauert Iris Murdoch diese These. Sie stellt die Idee der Selbst-Erkenntnis als Befreiung infrage und bringt ihr ein tiefes Misstrauen als «Mechanismus der Phantasie» entgegen. Ihrer Auffassung nach kontrolliere dieser Mechanismus unser ethisch-emotionales Welt-Verständnis:

«Selbst-Erkenntnis im Sinne eines minutiösen Verstehens des eigenen ‹Apparats›, erscheint mir, bis vielleicht auf sehr rudimentärem Niveau, meistens enttäuschend … Es ist nicht die Untersuchung des ‹Phantasie-Apparats› selbst, die befreiend wirkt, sondern etwas außerhalb desselben Gelegenes. Eine eingehende Betrachtung des ‹Phantasie-Apparats› fungiert wohl eher als Wirkungsverstärker.»

Albert Camus bringt dies wie folgt auf den Punkt – und damit stimmen wohl auch religiös eingestellte «Narrative» überein:

«Denn wenn es eine Sünde gegen das Leben gibt, so besteht sie vielleicht nicht so sehr darin, an ihm zu verzweifeln, als darin, auf ein anderes Leben zu hoffen und sich der unerbittlichen Größe dieses Lebens zu entziehen.»

Auch in den beiden Essays, in denen ich mich mit der Frage nach dem Bewusstsein beschäftige, klingt durchaus eine gewisse Polemik an. (In «Die dümmste Behauptung» und weniger direkt in «Wahrhafter Naturalismus»). Polemik deshalb, weil ich die aktuelle Debatte zutiefst deprimierend finde. Auf beiden Seiten sind die Fronten verhärtet und es besteht kaum Offenheit für die Argumente der jeweils anderen. Da sind zum einen diejenigen, die, so wie ich selbst, wissen, dass Bewusstsein existiert, und die von Grund auf respektieren, dass wir genau wissen, was dieses Bewusstsein ist und dass nichts im Leben mit größerer Gewissheit existiert. Ihnen gegenüber stehen die Zweifler, die all dies negieren oder doch zumindest zum Teil ablehnen, auch wenn sie selbst das nicht unbedingt so von sich behaupten würden – zwecklos, jemanden aus dieser Liga überzeugen zu wollen, man wird noch nicht einmal Gehör finden. Trotzdem möchte ich drei Dinge mit Nachdruck klarstellen:

Erstens ist es absolut inkohärent, einzuräumen, dass Bewusstsein zwar «irgendwie» existiert, gleichzeitig aber die Realität von Bewusstsein anzuzweifeln oder gar zu verneinen. Zweitens gibt uns auch die Naturwissenschaft keinerlei Grund, auf irgendeine Weise anzuzweifeln, dass bewusste Erfahrungen etwas anderes sind, als sie zu sein scheinen; vor allem das subjektive Erleben in all seiner Vielfalt und Fülle von Geruch, Geschmack, Fühlen, Sehen, Hören, Denken und Emotionen. Drittens kann auch die Naturwissenschaft nicht widerlegen, dass bewusste Erfahrungen etwas zutiefst Physisches sind, ebenso physisch wie die Erdanziehungskraft, wie Bewegung oder Elektrizität. Bei diesem dritten Punkt bedarf es einer gewissen Erklärungsarbeit, da viele von uns einen blinden Fleck entwickelt haben, wenn es darum geht, was überhaupt als physisch begriffen werden kann. Aber der Schlüssel zur Erklärung ist einfach: Wir haben keine Kenntnis darüber. Wie kommen wir dann dazu, zu denken, wir wüssten mehr über die eigentliche Natur des Physischen, als es in Wahrheit der Fall ist?

Nirgends jedoch scheiden sich die Geister so sehr wie an der Frage nach dem freien Willen. Wenngleich diese Fragestellung eine der ältesten der Menschheit überhaupt ist, erfährt man wohl schwerlich sonst so viel Ablehnung, wie wenn man das Fehlen der Willensfreiheit postuliert. Man wird von Hass-Briefen förmlich überschwemmt, äußert man sich nur in diese Richtung. Einige dieser Nachrichten sind hässlich, andere bedrohlich, doch allesamt sprechen sie für die Stichhaltigkeit des Arguments. Eine zehn Jahre alte Mail bewahre ich noch immer: «Ich möchte Ihnen nur sagen, dass Sie wohl der bescheuertste Idiot überhaupt sind und dass dies das schlimmste, zusammenhangloseste und absurdeste philosophische Argument ist, das ich je gelesen habe. Schreiben Sie nicht – nie wieder!»

Es fällt schwer, dies nicht als Bestätigung zu werten. Die Heftigkeit, die einem aus diesen Äußerungen entgegenschlägt, spricht dafür, dass die Schreiber die Berechtigung des Arguments durchaus anerkennen, und dies lässt ihren Ärger etwas deplatziert erscheinen. Stimmen sie im Grunde mit uns überein? Und warum machen sie uns dies dann zum Vorwurf? Und sollten sie denken, dass wir falsch liegen, warum dann dieses Gefühl der Beleidigung? Was wohl hätten sie Einstein erwidert, als er äußerte: «Würde ein Wesen von höherer Intelligenz und Einsicht den Menschen und sein Handeln betrachten, so müsste es unweigerlich über die menschliche Illusion, nach freiem Willen zu handeln, schmunzeln.» (Auf S. 122 zitiere ich diese Passage noch ausführlicher).

Der letzte der hier aufgenommenen Texte handelt von meinen Erfahrungen in den 1960er-Jahren – die mich nicht umtreiben. Als Craig Raine, Herausgeber des literarischen Magazins Areté, dem verlegerischen Äquivalent zu Thompson’s Hound of Heaven, mich bat, meine Erinnerungen an diese Zeit niederzuschreiben, war ich daran absolut nicht interessiert und versuchte auf jede erdenkliche Weise, drum herumzukommen. Ich fragte seine Tochter, die Dramatikerin Nina Rain, wie ich wohl der Forderung ihres Vaters entgehen könne, worauf sie mir schlicht antwortete: «Kannst du nicht.»

Ich empfinde Philosophie – und damit meine ich Philosophie in ihrem umfassendsten Sinne – als eine zutiefst konkrete, sinnliche Aktivität, und damit stehe ich nicht allein. Die Welt der Ideen erscheint mir genauso plastisch wie die Welt der Seen und Berge, ja sogar in noch stärkerem Maße. Die Topographie der geistigen Welt lässt sich ebenso wenig ändern wie man Samarkand in größere Nähe zu Buchara versetzen könnte, selbst wenn man neue Perspektiven entdecken kann oder feststellt, dass man die Landkarte falsch gezeichnet hat oder der Mensch die Erde lange Zeit für eine Scheibe hielt. Ideen besitzen in der Welt des Geistes die gleiche Körperlichkeit in ihrer Ausdehnung, ihrer natürlichen Begrenzung und in ihrem Panorama. Man kann sie berühren. Sie besitzen einen individuellen Geschmack, ästhetische Eigenschaften, emotionale Schattierungen, Kurven, Oberflächen, Innenseiten, versteckte Plätze, Struktur, Geometrie, dunkle Gänge, lichtvolle Plätze, Auren, Kraftfelder und sie sind kombinationsfähig.

Mit den Worten Bertrand Russells: «Reisen ist ein Vergnügen, sowohl in der geistigen als in der physischen Welt, und es ist gut, zu wissen, dass wenigstens in der geistigen Welt es weite Gebiete gibt, die noch sehr unvollkommen erforscht sind.»

Aber ich spürte: Du bist ein Ich.

ELIZABETH BISHOP

1Das Bewusstsein vom Ich

1

Von einem «Selbst» zu sprechen klingt zumeist befremdlich. Einige Philosophen behaupten sogar, dass das «Selbst» oder «Ich» eine Illusion sei, entstanden durch einen inkorrekten Gebrauch der Sprache. Das scheint mir wenig plausibel, denn so dumm ist der Mensch nicht. Die Frage nach dem «Ich», nach dem «Selbst», wird nicht durch einen unsachgemäßen Sprachgebrauch aufgeworfen, der unvermittelt grundlos auftritt. Im Gegenteil, der Ausdruck «das Selbst» erwächst aus dem vorausgehenden eigenständigen Empfinden, dass so etwas wie ein «Ich» existiert. Es entsteht aus dem Bewusstsein vom Ich, vom «Selbst». Der Ausdruck «das Selbst» mag in der Alltagssprache ungewöhnlich anmuten und hat in einigen Sprachen auch keine direkte Entsprechung. Nichtsdestotrotz lassen sich in allen Sprachen Umschreibungen finden, die der Rolle des «self» im Englischen oder «Selbst» im Deutschen vergleichbar sind – mag diese Rolle auch noch so diffus sein. Die meisten Menschen verbinden etwas mit dem Ausdruck «das Ich». Er findet auf natürliche, ungezwungene Weise Eingang in philosophische, psychologische oder religiöse Fragestellungen, die ganz selbstverständlich der menschlichen Natur entspringen. Und doch denke ich, dass die Existenz und die Natur des «Ich» die Philosophie vor ein ernsthaftes Problem stellen, das weit über ein bloßes Gedankenspiel hinausreicht. Anthony Kenny und einige andere Philosophen machen es sich zu leicht, wenn sie die «Essenz der Theorie vom Ich» auf einen «grammatikalischen Fehler» herunterbrechen. Es ist schlicht falsch, wenn man in der Wandlung von myself («ich selbst») zu my self («mein Selbst») keine Bedeutungsverschiebung erkennt, sondern eine bloße grammatikalische Nachlässigkeit, «ein Stück philosophischen Nonsens’, bestehend auf dem Missverständnis des reflexiven Pronomens». Es stimmt allerdings, dass wir die Natur des Ich – die ganz gewöhnliche, zutiefst menschliche Erfahrung, ein «Ich» zu besitzen oder ein «Ich» zu sein – erst einmal genauer beleuchten müssen, bevor wir uns die Frage stellen, ob es überhaupt ein «Ich», ein «Selbst» gibt.

2

Einige bezweifeln, dass es überhaupt so etwas wie ein allen Menschen gemeinsames Bewusstsein vom «Selbst» gibt. Und doch existiert ein psychisches Fundament, das allen Menschen eigen ist, gleich welcher Kultur sie entstammen, sogar in weitaus größerer Übereinstimmung, als dies viele Anthropologen oder Soziologen wahrhaben wollen. Ein gemeinsames «Mensch-Sein», tiefe emotionale und kognitive Gemeinsamkeiten, die alle Differenzen kultureller Prägung übersteigen. Die Psyche des Menschen besitzt ein überaus breit gefächertes Spektrum. Und doch findet man große Varietäten in der psychischen Grundstruktur des Menschen eher innerhalb eines einzelnen Kulturkreises als im interkulturellen Vergleich. Der radikale kulturelle Relativismus, wie ihn der Anthropologe Clifford Geertz vertritt und der von breiten Teilen der akademischen Welt immer noch als bindend angesehen wird, scheint die genetischen Determinanten der menschlichen Natur sowie die unstrittigen Gemeinsamkeiten des menschlichen Lebens an sich außer Acht zu lassen.

Daher und weil ich ein unbekümmertes «kantianisches» Vertrauen in die Fähigkeit der Philosophie hege, zu Schlüssen von hoher Allgemeingültigkeit zu gelangen, wenn es um Fragen dieser Art geht, möchte ich diese Bemerkungen zum gewöhnlichen Bewusstsein des Menschen von seinem Selbst – sollten sie sich als wahr erweisen – der gesamten Menschheit zusprechen. Hinsichtlich der Frage nach dem «Selbst» sind die Unterschiede zwischen denen, die schlafen können, und denen, die es nicht können, wohl größer als alle kulturellen Differenzen. Emil Cioran räumt der Schlaflosigkeit sogar eine so immense Bedeutung ein, dass er geneigt ist, den Menschen als «das übernächtigte Tier» zu bezeichnen.

Mit «Bewusstsein vom Ich» meine ich also das sichere Empfinden des Menschen, eine spezifische mentale Gegenwart zu sein, ein mentaler Jemand, mentaler Ort der Wahrnehmung, ein bewusstes mentales Subjekt, das sich von seinen einzelnen Erfahrungen, Gedanken, Hoffnungen, Wünschen und Gefühlen unterscheidet. Dieses «Selbst-Bewusstsein» bildet sich bei fast allen Menschen bereits in der Kindheit aus. Besonders lebhaft erfahren wir es meistens, wenn wir allein sind und denken, aber auch im Lärm eines überfüllten Raumes kann es deutlich zutage treten. Eng damit verbunden ist für die meisten Menschen der Eindruck, dass ihr Körper bloß Wohnstatt für ihr geistiges Wesen ist, ihr eigentliches «Selbst». Physische Betätigung oder Schmerz verdrängen ihn nicht; vielmehr wirken sie oft verstärkend darauf, dass das «Selbst» als etwas vom Körper Unabhängiges verstanden wird.

Damit meine ich nicht, dass ein Bewusstsein vom «Selbst» mit dem Glauben an eine immaterielle, unsterbliche Seele zusammenfällt. Philosophische Materialisten, die, wie auch ich, davon ausgehen, dass jede Bewusstseinsaktivität ein rein physischer Vorgang ist, erleben das «Selbst» im gleichen Maße wie jeder andere Mensch auch.

Unser allgemeiner, natürlicher und unreflektierter Begriff vom «Ich» lässt sich in sechs bis sieben teilweise ineinandergreifende Aspekte gliedern, die ich im Folgenden näher erläutern möchte. Psychische Störungen oder besondere spirituelle Praktiken, so interessant und berechtigt ihre Betrachtung auch sein mag, werde ich dabei ausklammern.

– Erstens: Das «Selbst» wird als Ding erfahren/verstanden, wenngleich schwer fassbar.

– Zweitens: Es ist etwas ausschließlich Mentales; auch dies bedarf genauerer Erläuterung.

– Drittens: Es ist das erlebende Subjekt, welches ganz bewusst fühlt, denkt oder auswählt.

– Viertens: Es ist singulär, einzigartig.

– Fünftens: Es ist etwas Distinktes, klar Unterschiedenes in folgendem Sinne: es ist nicht dasselbe Ding wie der ganze Mensch, insofern der Mensch als ein Ganzes betrachtet wird.

– Sechstens: Es wird als Agens, als Handelndes, Wirkendes erfahren/verstanden.

– Siebtens: Es besitzt einen Charakter, eine individuelle Persönlichkeit.

3

Was genau bedeutet es also, das «Selbst» als Ding zu verstehen? Erst einmal lässt sich sagen, dass das «Selbst» weder ein Zustand noch eine Eigenschaft von etwas ist. Ebenso wenig wird es als Ereignis oder Prozess erfahren. Also kann es sich notwendigerweise nur um ein Ding handeln. Kein Ding im Sinne der Körperhaftigkeit eines Steines oder eines Stuhls, aber doch im weitesten Sinne ein Ding mit Kausalcharakter. Also etwas, das Veränderungen unterliegen kann und das Einfluss auf andere Dinge nimmt. George Berkeleys Charakterisierung des «Selbst» als «geistiges tätiges Prinzip» kann hier genauso gut dienen wie jede andere. «Prinzip» in seinem alten Sprachgebrauch scheint das Problem auf elegante Weise zu lösen, indem es weitestgehend ein Ding evoziert, ohne gleich an ein fassbares Objekt, wie einen Tisch oder einen Stuhl, zu erinnern. Und doch denke ich, dass wir die Kategorie Ding um den von Fichte geprägten Begriff «Tathandlung» erweitern sollten. Objekte physischer Natur, wie Stühle, Berge, etc., werden auf metaphysisch-wissenschaftlicher Ebene ebenso als Prozess betrachtet. Prozesse, die nichts weiter zu sein brauchen, als sie es bereits sind, und darin weiter existieren oder stattfinden dürfen.

Betrachten wir die zweite Eigenschaft des «Selbst», das rein Mentale. Auf den ersten Blick einleuchtend, bedarf es bei der mentalen Natur des «Selbst» doch einer differenzierteren Erklärung. Die zentrale Idee scheint folgende: Wenn das «Selbst» als Ding gedacht wird, scheint seine Forderung, dem Bereich der Dinge anzugehören, schon durch seine mentale Natur ausreichend begründet zu sein. Nichtsdestotrotz kann es über eine nicht-mentale Natur verfügen, wie ich oder andere Philosophen annehmen – eine nicht-mentale Natur in Form eines Systems oder einer Vielzahl von Systemen innerhalb des Gehirns. Aber die «Dinghaftigkeit» des «Selbst» gründet hier nicht auf der Ebene des Nicht-Mentalen. Das «Selbst» ist ein mentales «Selbst». Es stimmt, dass wir ganz selbstverständlich davon ausgehen, mentale und nicht-mentale Eigenschaften zu besitzen. Das wirkt sich allerdings nicht auf die allgemein verbreitete Auffassung vom «Selbst» als etwas spezifisch Geistigem aus.

Wie bereits gesagt, schließt das Bewusstsein vom «Selbst» als einem spezifisch mentalen Ding nicht notwendigerweise den Glauben an eine immaterielle Seele ein. Es trägt allerdings durchaus Züge, die einen solchen Glauben ganz unweigerlich nach sich ziehen können. Es ist einfach, sich das mentale «Selbst» als autarke, sich selbst genügende Einheit vorzustellen, die innerhalb einer Sphäre existiert, die nichts mit der durch die Physik beschriebenen Realität zu tun hat. Die Dinge sind nicht das, was sie scheinen, wie wir Materialisten sagen, aber sie erscheinen als das, was sie scheinen. Und vor diesem Hintergrund lässt es sich einfach erklären, wie natürlich es ist, das «Selbst» als etwas spezifisch Mentales zu betrachten.

Die dritte Eigenschaft des «Selbst» als Subjekt der Erfahrung und des Erlebens erscheint mir eindeutig und leicht zu verstehen. Was also ist ein Subjekt der Erfahrung? Der eine oder andere mag dies als heikle Fragestellung betrachten, und doch meine ich, dass der gesunde Menschenverstand eine sehr präzise Vorstellung davon hat. Vielleicht ist die Antwort nicht so leicht in Worte zu fassen, aber das Verständnis davon besitzen wir intuitiv, da wir alle Subjekte der Erfahrung sind und uns unserer selbst sehr bewusst sind, unabhängig davon, welche religiöse oder philosophische Überzeugung wir vertreten. Eigentlich wird der Mensch in seiner Gesamtheit von Körper und Geist als Subjekt der Erfahrung betrachtet, wie nebenbei auch alle anderen Lebewesen. Wir Menschen tendieren allerdings dazu, insbesondere unser mentales «Selbst» als erfahrendes, erlebendes Subjekt anzusehen. Das muss nicht notwendigerweise korrekt sein. Ich versuche an dieser Stelle vor allem zu beschreiben, wie wir dies erleben.

Nun zum vierten Aspekt des «Selbst», seiner Singularität. Aber inwiefern ist das «Selbst» denn einzigartig? Nicht in Form eines einzelnen Kollektivs, wie beispielsweise ein Haufen Murmeln singulär ist, sondern eher in dem Sinne, dass eine einzelne Murmel einzigartig ist, wenn man sie in Vergleich zu einem Haufen Murmeln setzt. Das «Selbst» wird standardmäßig als singulär betrachtet. Dies gilt sowohl für sein «synchrones» Erscheinen, also zu einem bestimmten Zeitpunkt während einer einheitlichen, lückenlosen Bewusstseinsperiode, als auch für seine «diachrone» Existenz, d. h. als etwas über einen längeren Zeitraum hinweg Bestehendes. Wirklich ununterbrochene Bewusstseinseinheiten sind, wie ich denke, extrem kurz, wenige Bruchteile einer Sekunde vielleicht, allerhöchstens ein paar Sekunden. Man sollte den Terminus «synchron» durchaus etwas ausdehnen, um solche Abschnitte abdecken zu können.

Manche behaupten, das «Selbst» als etwas Fragmentarisches, Multiples zu erleben, und ich glaube, jeder von uns hat entsprechende Erfahrungen gemacht, um zu verstehen, was damit gemeint ist. Manches Mal sind wir rasch wechselnden, sich überlagernden Stimmungen oder gravierenden inneren Interessenkonflikten unterworfen. Gedankliche Prozesse können mit einer solch rasenden Geschwindigkeit ablaufen, dass sie förmlich auf uns einstürzen und keine gedankliche Ordnung mehr zulassen. Das mag als Beleg für ein multipel-synchrones Erfahren des Selbst genommen werden.

Nehmen wir einander widerstreitende Bedürfnisse in uns wahr, verstärkt dies jedoch meist unseren Eindruck vom «Selbst» als einer singulären Einheit. Ist es nicht letztendlich so, dass man eine derartige innere Diskrepanz nur dann zu registrieren vermag, wenn man sich im Grunde als ein Einziges betrachtet? Wie ist es zum Beispiel, wenn uns eine chaotische Gedankenflut überkommt? Meistens empfinden wir uns dann als hilflose Zuschauer einem mentalen Pandämonium gegenüber. Und auch hier: Die Erfahrung, ein bloßer Zuschauer zu sein, verstärkt doch wieder unsere Wahrnehmung von uns selbst als singulärer Einheit. Und sollte man annehmen, dass es überhaupt möglich ist, sich als multipel-synchrones «Ich» wahrnehmen zu können, setzt dies ein Höchstmaß an selbstreflexivem Denken voraus, das wiederum von vornherein derartige Erfahrungen ausschließt. Die Metapher der Multiplizität ist machtvoll, aber sie bleibt eben doch nur eine Metapher, die ihre Stärke aus der ursprünglichen Erfahrung von Singularität bezieht. Wie Kant in seiner Kritik der reinen Vernunft bemerkt, «… kann doch das subjektive Ich nicht geteilt und verteilt werden, und dieses setzen wir doch bei allem Denken voraus».

Nun zum fünften Aspekt des «Selbst», seiner Unterschiedenheit. Wovon unterscheidet sich das «Selbst»? Auf diese Frage lassen sich gleich mehrere Antworten finden. Zuallererst wird das «Selbst» als etwas von der körperlichen Gesamtheit des Menschen Verschiedenes verstanden. Darüber hinaus unterscheidet es sich zweitens auch von allen mentalen Vorgängen, wie Gedanken und Gefühlen etc., denn es hat Gedanken und Gefühle, fällt aber nicht mit ihnen zusammen oder wird gar von diesen gebildet. – David Hume zog das «Selbst» als Serie mentaler Vorgänge in Betracht. Der gesunde Menschenverstand steht allerdings einer solchen «Bündel-Theorie» entgegen. Hume selbst hat diesen Gedanken am Ende auch wieder verworfen. – Drittens lässt sich sehr wohl denken, dass das «Selbst» von allen unbewusst ablaufenden mentalen Vorgängen, wie Überzeugungen, Vorlieben, Erinnerungen oder Charakterzügen, unterschieden ist. Und zu guter Letzt sei noch erwähnt, dass es sich als getrennt von allem Physischen denken lässt – etwa als immaterielle Seele. Diese Idee ist allerdings nicht integraler Bestandteil des «Ich-Bewusstseins».

Unter dem sechsten Aspekt wird das «Selbst» gemeinhin als Agens, als Handelndes verstanden. Es geht seinen eigenen Aktivitäten nach – Denken, Vorstellen, Wählen –, und das ganz unabhängig von den übrigen Aktivitäten des Körpers, ja es setzt diese sogar selbsttätig in Gang. Um es mit den Worten von William James auszudrücken: «Anstrengung der Aufmerksamkeit ist somit die wesentliche Erscheinung des Wollens.» Für uns alle ist dies wohl ohne Weiteres nachzuvollziehen.

Der siebte Aspekt besteht in der These, dass das «Selbst» einen Charakter, eine Persönlichkeit besitzt, so wie auch der gesamte physische Mensch. Wir alle verstehen unseren individuellen Charakter als die Art, wie wir von unserem Wesen her sind. Gehen wir also davon aus, dass unsere Existenz ein mentales «Selbst» einschließt, so sehen wir ganz selbstverständlich dieses geistige «Ich» als Sitz unserer Persönlichkeit.

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Setzt man voraus, dass diese sieben Aspekte das gewöhnliche «Bewusstsein vom Ich» im Wesentlichen umfassen, stellt sich doch die Frage, ob sie für das genuine, eigentliche «Bewusstsein vom Selbst» allesamt unabdingbar sind. Ich denke nicht – nicht einmal im Falle der menschlichen Spezies.

Der Zweifel an der Charakterlichkeit des Selbst liegt auf der Hand. Für die meisten Menschen ist ihre eigene individuelle Persönlichkeit im jeweilig gegenwärtigen Moment kaum wahrnehmbar. Sie ist der Standpunkt, von dem aus die Welt betrachtet wird, oder das Instrument, durch welches das Äußere erfahrbar wird. Sie stellt sich ihnen als automatische, nicht hinterfragbare Gegebenheit dar, als eine globale, unsichtbare Kondition ihres Lebens, wie die Luft, nicht als ein Objekt der Erfahrung. Ian McEwan spricht von einem «gläsernen Kontinuum unserer Persönlichkeit», wobei er, wie ich glaube, die Transparenz oder Unsichtbarkeit des eigenen «Selbst» meint, das sich der Wahrnehmung durch das «Selbst» entzieht. Sartre äußert sich dazu folgendermaßen:

«Diese Überlegungen ermöglichen eine Erklärung dessen, was wir Charakter nennen. Es ist hierbei ja festzuhalten, dass der Charakter nur als Erkenntnisobjekt für den Andern eine bestimmte Existenz hat. Das Bewusstsein erkennt seinen Charakter nicht – außer, wenn es sich reflexiv vom Gesichtspunkt des Andern aus bestimmt – […] Deshalb bietet die bloße introspektive Selbstbeschreibung nie einen Charakter dar.»

An dieser Stelle sollte unbedingt erwähnt werden, dass die meisten Menschen sich selbst in bestimmten Situationen als «Ort des Bewusstseins», als bloßen «kognitiven Standpunkt» erfahren. Meist sind es kurze Begebenheiten, die in uns ein derartiges Erleben unserer selbst hervorrufen: Erschöpfung, Einsamkeit, Schock, Sex, abstraktes Denken, Langeweile, ein heißes Bad oder einfach das Gefühl beim Aufwachen.

Auch eine klinische Depression kann bei gravierendem Verlauf eine «Entpersonalisierung» mit sich bringen. Ein pathologisches Phänomen, das sich für die erkrankte Person auch über einen längeren Zeitraum hinweg als realer Zustand darstellt. Gleich einer außerirdischen Spezies ohne individuelle Persönlichkeit und dennoch ausgestattet mit einem klaren Verständnis von sich als «Ort des Bewusstseins».

Demgegenüber steht ein starkes Empfinden der eigenen mentalen Individualität, wie es beispielsweise Gerard Manley Hopkins umschreibt:

«Mein Selbst-Sein, mein Bewusstsein und das Gefühl meiner selbst, der Geschmack meines Selbsts, von Ich und mir über und in allen Dingen, der deutlicher ist als der Geschmack von Bier oder Alaun, deutlicher als der Geruch eines Walnussblatts oder von Kampfer, und der für einen anderen Menschen nicht mitteilbar ist auf irgendeine Weise … Nichts anderes in der Natur kommt diesem unbeschreiblichen Akzent von Tonhöhe, Unterscheidungskraft und Selbsterfahrung, dem Bewusstsein meines eigenen Selbst, nahe.»

Mich irritieren Hopkins Zeilen. Es fällt mir schwer, nachzuvollziehen, dass sie der Wahrheit entsprechen sollen, selbst wenn so mancher sie mir als exakt und zutreffend bestätigt hat. Um mit Sartre zu sprechen: Den meisten Menschen entzieht sich ihre Persönlichkeit der eigenen momentanen Wahrnehmung und bleibt für sie schlicht unbemerkt.

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Hartnäckiger hält sich die Idee, das Empfinden vom «Selbst» müsse zwangsläufig eine gewisse Dauerhaftigkeit einschließen. Ich denke jedoch, dass die Selbstwahrnehmung zu jedem gegebenen Zeitpunkt lebhaft und vollständig ist, mag der ununterbrochene «Bewusstseinsabschnitt» auch noch so kurz sein.

Man mag davon ausgehen, dass es dem Menschen unmöglich ist, sich nicht als fortdauerndes «Selbst» zu empfinden, auch, dass eine solche Hypothese der menschlichen Natur und Lebensrealität entgegensteht, und doch bin ich der festen Überzeugung, dass ein Leben ohne das Bewusstsein einer Langzeitkontinuität des mentalen «Ich» durchaus im Bereich menschlicher Erfahrung liegt. Wir können uns sehr wohl im Klaren darüber sein, als mehr oder weniger gleichbleibende körperliche Präsenz zu existieren, ohne dies notwendigerweise für unser mentales «Ich» in Anspruch zu nehmen. Vielleicht spielt diese Vorstellung von emotionaler Warte aus keine große Rolle für uns, vielleicht trägt sie auch nicht grundlegend zu unserer generellen Wahrnehmungsweise bei. Die einzelnen Menschen unterscheiden sich tiefgreifend in ihrem Erleben von Kontinuität.

Diesen Unterschieden Rechnung tragend, möchte ich William James zitieren:

«In der ersten Person überlasse ich meine Beschreibung der Akzeptanz der anderen, für deren Selbstbeobachtung es [die Kontinuität] sich als wahr erweisen mag, und gestehe meine Unfähigkeit, den Anforderungen anderer zu entsprechen, wenn es andere gibt.»

Als James dies schrieb, wird er wohl kaum ernsthaft in Betracht gezogen haben, dass es jemanden gibt, der anders empfindet als er selbst. Ebenso wenig wird Hume davon ausgegangen sein, dass manche Menschen, wenn sie den Blick nach innen richten, ein gleichförmiges, fortdauerndes «Selbst» vorfinden, auch wenn er, Hume, sich sicher ist, dass ein «solches Prinzip» nicht in ihm zu finden sei. Für mich dagegen steht außer Frage, dass andere Menschen anders sind als ich selbst. Allerdings denke ich, dass meine Art des «Selbst-Erlebens» gleichwohl Teil des normalen menschlichen Erfahrungsspektrums ist, auch wenn sie die Normalität einer Minderheit repräsentiert – einer Minderheit, die in etwa der Häufigkeit roter Haare entspricht.

Die gleiche Divergenz findet sich bei der Merkbzw. Erinnerungsfähigkeit der Menschen. Manche verfügen über ein exzellentes «autobiografisches» Gedächtnis und eine außergewöhnlich lebhafte Erinnerung, die nicht nur verlässlich, sondern ebenso nachhaltig ist. Häufig ist dieses Erinnern sehr aktiv und vermischt sich mit gegenwärtigen Gedanken. Andere dagegen verfügen nicht über ein solch ausgeprägtes persönliches Gedächtnis. Ihr Erinnern verläuft in sehr ruhigen Bahnen und greift fast nie in das gegenwartsbezogene Denken ein. Gleichermaßen variierend zeigt sich die Vorstellungskraft der Menschen, ihre Fähigkeit, Dinge zu antizipieren oder Vermutungen über die Zukunft anzustellen.

Diese Differenzen treten in Wechselwirkung miteinander. Es scheint, dass manche Personen in einer «narrativen» Weise leben und fälschlich annehmen, jeder andere tue dies gleichfalls. Sie erfahren ihr Leben als etwas, das eine Gestalt und eine Geschichte aufweist, als eine Erzählhandlung. Einige führen Tagebuch mit Blick auf die Nachwelt oder entwerfen gar ihre zukünftige Biografie. Andere sind in weitaus größerem Maße «Selbst-Erzähler»: Sie repetieren ihre Erinnerungen regelmäßig und ändern die Interpretation ihres Lebens immer wieder von Neuem ab. Manche sind großartige Planer, die ihr zukünftiges Leben in «Langzeitprojekten» durchstrukturieren. Andere dagegen haben keine frühen Ambitionen, keine späte Erkenntnis einer Berufung, kein Interesse daran, eine Karriereleiter zu erklimmen. Sie besitzen nicht die Tendenz, ihr Leben als Entwicklung zu betrachten, als eine aufeinander aufbauende Lebensgeschichte. Für sie stellt es sich vielmehr als episodische Abfolge einzelner Lebenssituationen dar, zwischen denen sie zu gegebener Zeit wechseln. Manche Menschen planen wenig und sorgen sich kaum um die Zukunft. Manche leben intensiv in der Gegenwart. Manche sind einfach ziellos. Dies kann zum einen durch den Charakter bedingt sein, zum anderen als Folge besonderer spiritueller Übungen auftreten. Sowohl Mittellosigkeit – das absolute Fehlen von Chancen – als auch übergroßer Wohlstand können dazu führen. Es sind die Träumer, Mystiker, Freaks