Was tun? - Michail Chodorkowski - E-Book

Was tun? E-Book

Michail Chodorkowski

0,0

Beschreibung

Spätestens seit Beginn des russischen Vernichtungskrieges gegen die Ukraine im Februar 2022 ist klar: Eine friedliche Weltordnung mit Putin ist kaum denkbar. Doch wie kann ein totalitäres Regime beendet werden? Und wer käme dann an die Macht? Diese drängenden Fragen werden nicht nur von Politikern gestellt, sondern im Grunde von allen freiheitsliebenden Menschen in Russland und auf der ganzen Welt. In seinem neuen Buch nennt Michail Chodorkowski die Bedingungen, die für den aktuellen politischen und gesellschaftlichen Status quo in Russland verantwortlich sind. Er möchte eine längst überfällige Diskussion anstoßen und bietet Lösungen für eine Umgestaltung des russischen Staates, die künftigen Machtmissbrauch verhindern könnten. Zurzeit ist der russische Präsident mit einer außerordentlichen Fülle an Befugnissen ausstattet. Das zentrale Argument des Buches lautet deshalb, die faktische russische Autokratie durch eine parlamentarische Republik mit einem sorgfältig austarierten System von Kontrollinstanzen zu ersetzen. Doch zunächst gilt es, den Drachen zu töten …

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 300

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



EUROPAVERLAG

MICHAIL CHODORKOWSKI

WAS TUN?

DAMIT KEIN NEUER DRACHE ERWACHT …

Aus dem Russischen von Olaf Kühl

EUROPAVERLAG

Inhalt

Vorwort

Einführung in die Drachenkunde: Mein Weg in die Politik und meine Ziele darin

TEIL I Wie wird man einen alten Drachen los?

KAPITEL 1 Strategie des Sieges: Friedlicher Protest oder friedlicher Aufstand?

KAPITEL 2 Vereinigung des Protests: Mehrparteien- oder Einparteiensystem?

KAPITEL 3 Wie zieht man den Protest heran: Untergrund oder Exil?

KAPITEL 4 The Point of no Return: Straße oder Kommandohöhen?

KAPITEL 5 Wie organisiert man die neue Macht: Konstitutionelle oder Verordnungs-Demokratie?

KAPITEL 6 Wie beendet man den Krieg: Kampf bis zum siegreichen Ende, Kapitulation oder Suche nach einem Kompromiss?

KAPITEL 7 Wie unterdrückt man die innere Konterrevolution: Lustration oder Besserung?

KAPITEL 8 Wie kontrolliert man den »Mann mit dem Gewehr«: Partei oder Organe?

KAPITEL 9 Wie schafft man einen öffentlichen Dienst: Schlechte eigene Leute oder gute Fremde?

KAPITEL 10 Was ist unter der »linken Wende« zu verstehen: sozialer oder sozialistischer Staat?

KAPITEL 11 Wie erreicht man wirtschaftliche Gerechtigkeit: Nationalisierung oder ehrliche Privatisierung?

TEIL II Wie vermeidet man es, einen neuen Drachen heranzuzüchten?

KAPITEL 12 Die zivilisatorische Alternative: Imperium oder Nationenstaat?

KAPITEL 13 Die geopolitische Alternative: Supermacht oder nationale Interessen?

KAPITEL 14 Die historische Alternative: Moskowien oder Gardariki

KAPITEL 15 Die politische Alternative: Demokratie oder Opritschnina?

KAPITEL 16 Die ökonomische Alternative: Monopol oder Konkurrenz?

KAPITEL 17 Die soziale Alternative: Linke oder rechte Wende?

KAPITEL 18 Die intellektuelle Alternative: Freies Wort oder Glasnost im Reservat?

KAPITEL 19 Die Verfassungsalternative: Parlamentarische oder präsidiale Republik?

KAPITEL 20 Die rechtliche Alternative: Diktatur des Gesetzes oder Rechtsstaat?

KAPITEL 21 Die ethische Alternative: Gerechtigkeit oder Barmherzigkeit?

KAPITEL 22 Der Sieg der Ukraine – Ende oder Anfang?

SCHLUSSBETRACHTUNG

Den Drachen hinter Gitter bringen

Vorwort

Der Archivar in Mark Sacharows Kultfilm Den Drachen töten, der die Anregung für den Untertitel dieses Buches gab, rechtfertigt seinen Konformismus gegenüber dem Ritter mit den Worten: »Die einzige Art, einen fremden Drachen loszuwerden, ist, sich einen eigenen anzuschaffen.« Das ist genau die Art, wie wir leben – erst ertragen wir lange das quälende Joch des fremden Drachen (eigentlich ist es unser eigener, aber ein alter), dann schütteln wir ihn ab und legen uns einen neuen, eigenen Drachen zu, der dann nach einiger Zeit selbst wieder zu einem alten und fremden wird. Ich bin zutiefst überzeugt, dass man diesen Teufelskreis der russischen Geschichte aufbrechen und dass Russland ohne Drachen leben kann, nach eigenem Verstand und Gewissen. Doch damit das geschieht, müssen die jungen Ritter der Revolution bedenken, dass es nicht reicht, den alten Drachen zu töten (wobei schon das nicht einfach ist) – man darf keinen neuen Drachen mit an die Macht bringen, der dann noch schlimmer wird als der vorherige. Dieses Buch handelt davon, wie das in Russland zu erreichen ist.

Wir als Land befinden uns in einer schwierigen Situation: Die Gesellschaft versteht, dass es »nicht so weitergehen kann«, aber sie fürchtet zugleich, es könnte »schlimmer werden«. Die Machthaber, abgesehen vom Präsidenten, ahnen, dass es keinen guten Ausweg gibt, aber sie hoffen, es könnte »irgendwie glimpflich abgehen«. Die Opposition eint das gemeinsame Bestreben, die Macht aus den Angeln zu heben, sie weiß aber nicht, »was danach« kommen soll.

Deshalb ist es meines Erachtens längst an der Zeit, den Menschen klar zu sagen, was wir ihnen vorschlagen, welche Antworten wir auf die philosophischen Schlüsselfragen des Daseins haben. Die Menschen haben ein Recht darauf zu wissen, was sie erwartet, wenn sie auf unsere Seite treten, und für welche Ideale es lohnt, sein ruhiges Leben aufzugeben und Freiheit und Wohlergehen der Angehörigen aufs Spiel zu setzen.

Die Zeit dafür, den Kopf in den Sand zu stecken und sich vor einer Diskussion der ernsten gesellschaftlichen Probleme zu drücken, ist endgültig vorbei.

»Uns geht es nicht um Politik, wir sind nur gegen die Müllhalden vor unseren Fenstern«; »uns geht es nicht um Politik, wir sind gegen Willkür«; »es geht uns nicht um Politik, wir wollen schöpferische Freiheit, keine Korruption, Freiheit im Internet«… Für solche netten Ausflüchte ist die Zeit vorbei. Wenn ihr »nichts von Politik« haltet, dann stellt euch auf die Kirchentreppe und wartet – vielleicht gibt euch jemand aus Barmherzigkeit oder aus guter Stimmung heraus ein Almosen, aber so wie die Zeiten und Sitten heute sind, kriegt ihr eher einen Tritt und verliert auch noch euer letztes Hab und Gut.

Wenn ihr aber eure und die Rechte anderer ernsthaft verteidigen wollt, dann ist das Politik par excellence, was bedeutet – Wahlen, was bedeutet – Widerstand mit all seinen Risiken.

Unter den Oppositionellen befinde ich mich in einer einzigartigen Position (was mich nicht unbedingt freut). Bei meiner großen Verwaltungserfahrung – dazu zählen die Arbeit in der Regierung, aber auch die Leitung einiger der größten Unternehmen von strategischer Bedeutung für das Land, einschließlich der daran hängenden Dutzenden von einem Kombinat geprägten Monostädte und Siedlungen – ist es mir zugleich verwehrt, vor Ort praktische Organisationsarbeit zu leisten.

Die Machthaber haben mich aus dem Land gejagt, die Tür hinter mir zugeschlagen und zugeschlossen. Für den Fall meiner Rückkehr wurde mir direkt und formal die lebenslange Haft in Aussicht gestellt.

Zugleich bin ich einer der wenigen (man könnte sagen, »zum Glück wenigen«, denn diese Erfahrung wird teuer bezahlt), die Wladimir Putin alles ins Gesicht gesagt haben, was ich von der Korruption in den oberen Rängen der Macht halte; der einen Monat später ein Strafverfahren angehängt bekam und mehr als zehn Jahre in Haft verbracht hat (sechs Jahre in der Zelle und vier im Lager). Dazu vier Hungerstreiks, davon zwei »trockene«, und alle – bis zur Erfüllung der Forderungen, drei davon – zum Zeichen der Solidarität.

Zehn Jahre. Das ist fast so viel wie bei meinem Freund Platon Lebedjew. Unvergleichlich viel weniger als bei meinem Kollegen Alexej Pitschugin, der immer noch im Gefängnis ist. Und leichter zu ertragen als das Schicksal meines Kollegen, des Juristen Wassili Alexjanin, der ein Jahr nach seiner Entlassung an der Krankheit starb, deren Behandlung man ihm im Gefängnis verweigert hatte …

Ich habe den Machthabern genug vorzuhalten, habe Erinnerungen, die ich nicht vergessen werde. Aber gerade deshalb will ich nicht über die Vergangenheit sprechen. Ich schlage vor, über die Zukunft nachzudenken.

Ich halte mich nicht für berechtigt, Gerechtigkeit und Barmherzigkeit abzuwägen, den einen zu vergeben und anderen, die meiner Meinung nach eine Strafe verdienen, die Vergebung zu verweigern. Keinesfalls nehme ich für mich in Anspruch, die »Wahrheit in letzter Instanz« zu vertreten.

Jeder von uns hat seine eigene Erfahrung, seine offenen Rechnungen und seine Gedanken über die Zukunft. Aufgrund der mir eigenen geistigen Struktur habe ich nur einfach beschlossen, nicht darüber zu räsonieren, wie gut es wäre, die Machthaber abzulösen, sondern einen praktischen Plan für die Zeit »nach Putin« zu entwerfen.

Nach meinem Zeitgefühl – und nach dem Gefängnis nehme ich die Zeit anders war – bleibt dem Regime nicht viel, vielleicht zwischen fünf und zehn Jahren. Ich weiß nicht, wie es enden wird. Vermutlich mit Putin zusammen. Nach all dem, was in der Ukraine geschehen ist, kann ich mir kaum vorstellen, dass er freiwillig abtreten und das Ende seiner von Gott gegebenen Tage an den Ufern des Athos erleben wird. Das wird ihm nicht vergönnt sein.

So oder so, das Regime wird enden. Wie viel wird dann zu tun sein! Und rasch muss es getan werden. Bis dahin sollte die Gesellschaft sich entschieden haben, wer wir sind und wohin wir gehen, welches unser gemeinsamer Weg in dieser rasch sich verändernden Welt ist …

Einführung in die Drachenkunde:Mein Weg in die Politik und meine Ziele darin

Die Politik als solche war mir nie wichtig. Bevor ich inhaftiert wurde, war ich in sie involviert, soweit es für das Geschäft notwendig war, das heißt, um die wirtschaftlichen Ziele zu erreichen, die damals für mich Priorität hatten. Dann kam das Gefängnis. Das ist nicht gerade der beste Ort für politische Diskussionen, aber ein guter Ort für politische Bildung, der ich mich fleißig widmete, soweit es die sonstigen Beschäftigungen im Gefängnis erlaubten. Ende 2013 beschloss Putin, mich freizulassen. Die Hoffnung stirbt zuletzt, dennoch hielt ich einen solchen Ausgang meiner zehnjährigen Isolation für sehr unwahrscheinlich. Was genau Putins Motiv war, weiß ich bis heute nicht mit Sicherheit. Wahrscheinlich ein wenig von allem. Da war die Olympiade, die vorbildlich abgewickelt werden musste, und eine persönliche Bitte von Angela Merkel, der er in der Hoffnung auf eine künftige Gegenleistung nachkommen wollte – aber auch menschliches Mitgefühl für meine sterbende Mutter, die eine letzte Chance hatte, mich zu sehen. All dies habe ich verstanden und berücksichtigt, während die Vorbereitungen für meine Ausweisung aus Russland in vollem Gange waren. Ich habe auch verstanden, dass diese Freilassung ohne Putins guten Willen und seinen Wunsch niemals erfolgt wäre und dass seine Entscheidung eine Menge Leute in seinem Umfeld verärgert hat. Obwohl ich den FSB-Offizier, der mich aufsuchte, ehrlich warnte, dass ich nicht vorhätte, künftig still zu setzen und mich von der Welt abzusondern, hatte ich daher kein Motiv, mich aus persönlicher Rachsucht politisch zu betätigen. Ich habe mit Putin keine Rechnung mehr offen. Er hat mich ins Gefängnis gebracht und mir und meiner Familie zehn Jahre geraubt, aber er hat mir auch das Leben gerettet. Wäre das damals nicht geschehen, wäre ich dazu verdammt gewesen, den Rest meines Lebens hinter Gittern zu verbringen. Das ist mir im Rückblick ganz klar.

Wenn ich nach meiner Entlassung sagte, dass ich mich nicht in die Politik einmischen würde, war ich also völlig aufrichtig. Den Wunsch, in die Politik zu gehen, um Putin etwas zu beweisen, hatte ich damals nicht und habe ihn auch heute nicht. Paradoxerweise hat sich unsere persönliche Beziehung so entwickelt, dass ich ihm sogar irgendwie etwas schuldig bin. Er hätte mich töten können, aber er hat es nicht getan. Er hätte mich im Gefängnis verrotten lassen können, aber er hat das nicht getan. Und das vergesse ich nicht. Ich hatte vor, mich gezielt in den Bereichen Menschenrechte und Bildung zu engagieren, wo ich ausreichend große Betätigungsmöglichkeiten sah und glaubte, meine Erfahrung und mein Geld sinnvoll einsetzen zu können. Doch mit der Zeit wurde alles, was ich anfasste, irgendwie politisch. Was war passiert? Was hat mich veranlasst, meinen ursprünglichen Entschluss, nicht in die Politik zurückzukehren, wieder aufzugeben?

Um diese Frage zu beantworten, muss ich erläutern, was ich unter politischer Aktivität verstehe und was die Motivation für mein Engagement ist. Politik im eigentlichen und einzig möglichen Sinn ist der Kampf um Macht. Nicht unbedingt für sich selbst, manchmal kann es auch ein Kampf für einen anderen sein. Wenn Sinn und Ziel der Politik nicht die Macht sind, dann ist es keine Politik, sondern eine Täuschung. Oder die Person, die solches behauptet, ist einfach unehrlich gegenüber sich selbst und ihrem Umfeld.

Doch um Macht kämpfen die Menschen aus zwei Gründen: Den einen ist sie Selbstzweck, während andere sie als Mittel benötigen, um andere Ziele zu erreichen. Vereinfachend kann man die Politiker einteilen in Pragmatiker, die nichts anderes als die Macht als solche brauchen, und Ideologen, für die die Machtergreifung nur der Anfang ist. Natürlich ist diese Einteilung relativ, sie kann nicht verabsolutiert werden, aber es ist nützlich, sie im Hinterkopf zu behalten.

Macht an sich, als Attribut des Alphamännchens, als Möglichkeit, zu dominieren und eine höhere Position in der Hierarchie zu genießen, hat mich nie interessiert. Ich bin in meinem Leben schon ganz oben und ganz unten gewesen. Für mich ist es längst kein Geheimnis mehr, dass formale, für alle sichtbare Macht bisweilen wenig wert ist, und reale, manchmal unsichtbare Macht sich nicht in öffentlichen Positionen in der Politik niederschlagen muss. Aus naheliegenden Gründen war ich auch nie an der Macht interessiert, um mich zu bereichern. Ich war und bin immer noch reich genug, um mir keine Sorgen um mein tägliches Brot machen zu müssen, und alles Geld der Welt kannst du auch nicht verdienen. Aber das ist nicht das Entscheidende. Ich war und bin immer sehr misstrauisch gegenüber Menschen, für die Politik Selbstzweck ist. Das Problem ist, dass diese Menschen keine Überzeugungen haben und haben können. Überzeugungen würden sie angreifbar machen und sie daran hindern, ihre Ziele zu erreichen. Im Allgemeinen kommt unter sonst gleichen Bedingungen ein prinzipienloser Mensch, der an keine Konventionen gebunden ist, leichter an die Macht. Ein solcher Mensch wäre einmal »für die Sowjetregierung« und dann wieder gegen sie, und er würde in der Regel in beiden Fällen gewinnen. Wenn es zu viele solcher Politiker gibt, gerät die Gesellschaft in eine lang anhaltende Krise.

Anders ist das bei Politikern mit Überzeugungen. Auch hier ist natürlich nicht alles einfach. Wenn Fanatiker, besessen von menschenfeindlichen Ideen, an die Macht kommen, werden sie nicht nur zu einer Bedrohung für eine bestimmte Gesellschaft, sondern für die gesamte Menschheit. Dennoch wäre die Welt jungfräulich patriarchalisch geblieben, wären nicht Menschen mit Überzeugungen an der Macht gewesen, die sie verändern wollten. Die Frage, ob ich mich politisch engagieren soll oder nicht, lief für mich also immer auf die Frage hinaus, ob ich würdige Überzeugungen habe, für die es sinnvoll ist, sich politisch zu engagieren und damit um Macht zu kämpfen. Wenn auch nicht für mich persönlich, so doch für eine Kraft, die meine Überzeugungen teilt.

Zum Zeitpunkt meiner Entlassung aus dem Gefängnis sah ich keine gewichtigen Gründe, mich in Russland politisch zu engagieren. Ich vertrat allgemeine demokratische Ansichten, so wie Hunderttausende anderer liberal gesinnter Russen. Natürlich war ich in praktisch allen Punkten ein Gegner des putinschen politischen Kurses, aber damit stand ich nicht allein. Um meinen Überzeugungen Ausdruck zu verleihen, genügte es, diejenigen zu unterstützen, die meinen Ansichten nahestanden, was ich sogar im Gefängnis tat. Es gab für mich keinen Grund, mich in die Politik einzumischen. Ich glaubte nicht, dem, was andere sagten und taten, etwas Neues hinzufügen zu können. Bald nach meiner Entlassung jedoch änderte sich die Situation.

Buchstäblich zwei Monate, nachdem ich Russland gegen meinen Willen verlassen musste, hatte das Land sich verändert. Es war, genauer gesagt, zu dem alten geworden, zu dem, das es vor der Perestroika gewesen war. Es war, als wäre das Komitee des Putsches von 1991 wiederauferstanden und hätte alternative Geschichte spielen wollen. Der gescheiterte Versuch, die Revolution in der Ukraine zu unterdrücken, die anschließende Annexion der Krim durch Russland, die wiederum den Krieg im Donbass auslöste, stellte in Russland alles auf den Kopf. Innerhalb weniger Monate war das Land politisch um Jahrzehnte zurückgeworfen. Die erste und wichtigste Annullierung fand statt. Putin und sein Gefolge machten alles zunichte, was meine Generation in der Unterstützung von Gorbatschows und Jelzins Versuchen, Russland zu verändern, erreicht hatte. Das ging über meinen persönlichen Konflikt mit Putin hinaus. Das war eine grundlegende Meinungsverschiedenheit über das Schicksal Russlands, seine Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Auf diese Weise entstand meine Motivation, mich politisch zu engagieren, die ich weder im Gefängnis noch bei meiner Entlassung gehabt hatte. Sie beruhte auf einer ganz einfachen Formel: Ich muss die Überzeugungen und Ideale meiner Generation von Revolutionären verteidigen. Damit Russland seine Zukunft nie wieder an die Vergangenheit verliert und nicht wieder in den Trott zurückfällt, aus dem es Ende der 1980er-Jahre so mühsam herausgerissen werden konnte.

Aber wie sollte das gehen? Für die meisten der mir Gleichgesinnten war und ist die Antwort absolut simpel: Putin und seine Clique von der Macht entfernen. Das klingt verlockend, ist aber in Wirklichkeit gar nicht so einfach. Wir sind Stalin losgeworden – und in den Stalinismus zurückgefallen. Wir haben Breschnew beseitigt und die Stagnation zurückbekommen. Wir haben schließlich die zaristische Autokratie gestürzt – und leben hundert Jahre später erneut unter einem autokratischen Regime.

Ich habe nicht den geringsten Zweifel daran, dass es möglich ist, Putin loszuwerden. Früher oder später wird er diese Welt verlassen: Kein Diktator ist unsterblich. Doch Putinismus, Stalinismus und Autokratie werden Russland immer wieder von Neuem heimsuchen, solange die gesellschaftspolitischen und institutionellen Voraussetzungen dafür bestehen. Es ist immer einfach und bequem, das Böse zu personifizieren, aber hier geht es nicht um Persönlichkeiten, sondern um die objektiven Voraussetzungen, denn sie ermöglichen es jedem, der in Russland an die Spitze der Macht gelangt, ein Putin, Breschnew oder Stalin zu werden. Das funktioniert wie die Gesetze der Physik. Ein Revolutionär, ein Erneuerer, ein Befreier kommt an die Macht – und wird zum Diktator, Satrapen und Unterdrücker der Freiheit, der sich zusammen mit einem erbärmlichen Häufchen korrupter Lakaien an die Macht klammert. Der konkrete Name bedeutet dabei gar nichts, denn die russische Realität bricht jeden. In gewissem Sinne war es nicht Putin, der Russland gebrochen hat, sondern es war das traditionelle Russland, das Putin zerdrückt hat. Das Risiko, dass Russland für immer dazu verdammt sein könnte, seine eigene Geschichte zu wiederholen, hat mich dazu veranlasst, nach angemessenen Lösungen für diese Bedrohung zu suchen.

Ich kam allmählich zu der festen Überzeugung, dass die bestehende Form der Macht die russische Autokratie konserviert und es unmöglich ist, ohne revolutionäre Veränderungen aus der autokratischen Sackgasse herauszukommen Ich erkannte, dass für Russland angesichts seiner historischen Tradition und politischen Erfahrung nur eine parlamentarische Regierungsform annehmbar ist; natürlich im Sinne einer echten parlamentarischen Republik, keine Pappmascheeversion wie der sowjetische Parlamentarismus.

Jede andere Regierungsform, die die gesamte Exekutivgewalt in den Händen eines formellen Staatsoberhauptes konzentriert, führt unweigerlich – entweder sofort oder im Laufe der Zeit – zu einer autokratischen und totalitären Entartung des Regimes, und zwar aus dem einfachen Grund: Die kulturellen, wirtschaftlichen und gesellschaftspolitischen Bremsen, die das Abgleiten des Staates in autoritäre Bahnen verhindern, sind in unserem Land noch sehr schwach ausgebildet. Jede, selbst die schwächste Persönlichkeit gerät an der Spitze der Machtpyramide in die unwiderstehliche Versuchung, sich diese Pyramide zurechtzumodeln. Wir müssen also die Spitze der Pyramide kappen.

Ich sehe meine Aufgabe darin, diejenigen, die meine Ideale teilen und Russland nicht nur für ein paar Monate oder Jahre, sondern auf Jahrzehnte frei sehen wollen, davon zu überzeugen, dass dieses Ziel nur durch den Aufbau einer wahrhaft föderalen parlamentarischen Republik mit einer entwickelten lokalen Selbstverwaltung zu erreichen ist. Es ist wichtig, den Diktator loszuwerden; es ist wichtig, die Verbrechen des Regimes aufzuklären; es ist wichtig, wenigstens elementare demokratische Normen, Rechtstaatlichkeit und Gerechtigkeit im Lande wiederherzustellen. Noch wichtiger aber ist es, dies so zu tun, dass das Erreichte nicht gleich wieder verloren geht. Das ist nur durch den Übergang zu einer parlamentarischen Republik möglich.

Der Aufbau einer solchen Republik in Russland ist viel schwieriger als der Sturz des Putin-Regimes. Er verlangt eine echte Revolution, eine, die nicht nur die Oberfläche des politischen Lebens schönt, sondern die Grundfesten der traditionellen Ordnung des russischen Lebens umstößt. Eine solche Umwälzung wird viele Opfer fordern, mit hohem Risiko behaftet sein und buchstäblich alles von unten nach oben neu ordnen. Aber nur eine solche groß angelegte Revolution kann Russland langfristig immun gegen die Autokratie machen und die Chance auf ein neues Leben in einer modernen, postindustriellen globalen Welt eröffnen.

Hier muss ich klarstellen, was ich mit Revolution meine. Ich bin fest überzeugt, dass eine Revolution in Russland unvermeidlich ist und dass Russland sie dringend braucht. Das ändert nichts an meiner grundsätzlich ablehnenden Haltung gegenüber Revolutionen und an meinem tiefen Bedauern darüber, dass sich Russland in einer historischen Sackgasse befindet, aus der einzig die Revolution einen Ausweg bietet. Eine Revolution bedeutet in jedem Fall eine schwere Prüfung für die Gesellschaft, auch wenn sie die lichte Zukunft verheißt. Gleichzeitig geht es bei einer Revolution längst nicht immer um Straßenschlachten, Erstürmung von Postämtern, Brücken und Telegrafenämtern. Solche Ereignisse sind keine Revolution, sondern eine Revolte. Sie geht oft mit der Revolution einher, ist aber nicht ihr notwendiges, geschweige denn ihr wichtigstes Element.

Nach meinem Verständnis ist Revolution eine tiefgreifende Umgestaltung der fundamentalen Lebensgrundlagen einer Gesellschaft, die den Vektor ihrer historischen Entwicklung verändert. Ob ein solcher Umbau der Grundlagen von sozialen Explosionen begleitet wird oder fast geräuschlos verläuft, ist eine andere Frage. Viel wichtiger ist das Ergebnis. Meiner Ansicht nach ist der Übergang Russlands zu einer parlamentarischen Republik – in der das Land von einer Koalition von Parteien regiert wird, die das Parlament auf der Grundlage echter Wahlen kontrollieren und ihrerseits eine echte, breite Mehrheit der Gesellschaft repräsentieren – nur die Spitze des Eisbergs. Im Kern geht es um grundlegende Veränderungen in einer Vielzahl von Bereichen des öffentlichen Lebens, deren Umsetzung für die Nachhaltigkeit und Stabilität des Systems der parlamentarischen Demokratie unerlässlich ist. Von all diesen Veränderungen ist der Übergang zu einem echten Föderalismus und zur Selbstverwaltung der Städte die wichtigste. Nur sie können die politische Grundlage einer stabilen parlamentarischen Republik sein.

Überhaupt sind im Falle Russlands die parlamentarische Republik und der Föderalismus untrennbar miteinander verbunden. Um Russland aus der Routine der Autokratie zu befreien und es auf stabilem demokratischem Kurs zu halten, ist der Übergang zu einer parlamentarischen Republik notwendig. Damit aber die parlamentarische Republik nicht wieder nur zu einer Fassade der Autokratie wird, muss sie durch den Föderalismus gestärkt werden.

Dies nun ist eine ganz tiefgreifende Revolution: Das Land, das jahrhundertelang daran gewöhnt war, sich selbst von oben zu sehen, muss lernen, sich von unten nach oben zu betrachten. Die Logik ist einfach. In Russland gibt es so gut wie keine demokratischen politischen Traditionen, sondern im Grunde nur antidemokratische. Die Zivilgesellschaft, die sich nicht voll entfalten konnte, ist inzwischen praktisch völlig zerschlagen. Selbst wenn sich günstige, annähernd ideale Bedingungen ergeben (was ich bezweifle), wird es Jahre dauern, bis die Zivilgesellschaft zumindest ihr altes Niveau wieder erreicht hat, zumal sie auf diesem früheren Niveau sehr unreif war. Es gibt weder auf föderaler noch auf lokaler Ebene ein Parteiensystem. Alle bestehenden Parteien sind entweder politische Fälschungen, die von den Behörden selbst geschaffen oder von ihnen unterwandert wurden, oder marginale Sekten, die sich um ihre Mikroführer scharen und in den Massen nicht solide verankert sind.

Was kann unter diesen Umständen einem parlamentarischen System als Alternative zur Autokratie Nachhaltigkeit verleihen? Wo liegt die Kraft in einer Welt der Ohnmacht? Einzig und allein in den Regionen. Einzig die regionalen Eliten mit ihren lokalen Interessen, mit ihrer lokalen Identität, mit ihren lokalen, jahrhundertealten Bindungen sind im modernen Russland potenziell Subjekte und nicht Objekte der Politik. Wenn sie die parlamentarische Republik unterstützen, wird es sie geben. Wenn nicht, wird sie vergehen wie eine weitere russische historische Fata Morgana. Eine parlamentarische Republik ist nur möglich in einer echten föderalen Struktur, in der die lokalen Finanzen und das lokale Leben im Allgemeinen Sache derer sind, die vor Ort leben.

Warum ist das Thema Föderalismus für Russland so wichtig? Als unifizierter Staat kann Russland mit seiner kulturellen, religiösen und natürlich auch wirtschaftlichen Vielfalt nur in Form einer brutalen Diktatur existieren, die sämtliche lokalen Besonderheiten unterdrückt und nivelliert. Ohne eine solche Diktatur können Moskau und Grosny, Kasan und Magadan, Kaliningrad und Chabarowsk, St. Petersburg und Kemerowo nicht auf gleichen Nenner gebracht werden. Wenn wir auch nur ein kleines bisschen Demokratie wollen, müssen wir Vielfalt in Russland ermöglichen – nicht nur wirtschaftlich, sondern auch politisch. Übrigens war das von den Putinisten so verehrte Russische Reich auch politisch vielgestaltig. In ihm koexistierte jahrhundertelang die ganz europäische Selbstverwaltung Finnlands mit den mittelalterlichen Khanaten Zentralasiens. Demokratie in Russland bedeutet Vielgestaltigkeit, und politische Form kann der Vielgestaltigkeit unter modernen Bedingungen nur der Föderalismus verleihen.

Doch das ist nicht leicht zu erreichen. Warum war Russland schon immer ein überzentralisierter Staat? Sobald das Zentrum schwächelte und einen erheblichen Teil der Macht an die Regionen abtrat, traten sofort lokale Zaren auf, die alle noch gieriger und bösartiger waren als der in Moskau. In der Folge suchte das Volk in Moskau Schutz vor den lokalen Satrapen und den von ihnen herangezüchteten Banditen – darauf baute die Zentralregierung seit alters her. Schwacher Zar – starke Regionalzaren, starker Zar –schwache Regionalzaren. Wie kann dieser Teufelskreis durchbrochen werden?

Es gibt einen Ausweg. Ein drittes Element muss eingeführt werden: eine von beiden Polen unabhängige Kraft. Und ein solches Element ist allen wohlbekannt – es ist genau die Kraft, die Putins Regime in den letzten Jahren als Institution am meisten unterdrückt hat. Es ist die lokale Selbstverwaltung. Dem Gouverneur, der nach der Macht greift, während das Zentrum nicht hinschaut, kann von einem unabhängigen und autonomen Bürgermeister oder Verwaltungschef Einhalt geboten werden. Wird der Regionalzar von der lokalen Selbstverwaltung kontrolliert, dann ist er gezwungen, ein verfassungsmäßiger regionaler Monarch zu werden. Und die lokale Selbstverwaltung wird instinktiv Unterstützung in Moskau suchen und damit die Zentralregierung stärken. Dies trägt dazu bei, das System auszubalancieren und jene Elemente von Checks and Balances einzuführen, ohne die eine echte Demokratie undenkbar ist.

Raum für eine unabhängige Justiz entsteht nur dort, wo dieses Dreieck funktioniert. Die Beziehungen in diesem Dreieck können per definitionem nicht ideal sein. Um sie zu klären, bedarf es entweder des permanenten Krieges oder eines allgemein anerkannten Schiedsrichters. Es kann keine unabhängige Justiz geben und wird sie nicht geben, wenn nicht die Starken selbst das Bedürfnis danach entwickeln. Außer den vereinigten lokalen Eliten gibt es im heutigen Russland keine Starken mehr: Alles ist weggebrannt. Das Zentrum, die Regionen und die lokalen Gebietskörperschaften brauchen Regeln und einen Schiedsrichter, der sie durchsetzen kann. Vielleicht kann in einer solchen Situation die Idee einer wahrhaft unabhängigen Justiz zum ersten Mal in Russland Fuß fassen.

Die Entstehung des Justizsystems wird einen allmählichen globalen Wandel im Verhältnis zwischen Bürger und Staat auslösen und die Voraussetzungen für die Wiederherstellung (oder vielmehr den Neuaufbau) einer russischen Zivilgesellschaft schaffen. Fortschritte in dieser Richtung werden früher oder später zum Ergebnis führen. Freiheit, Menschenrechte, faire und ehrliche Wahlen auf der Grundlage politischen Wettbewerbs, stabile Institutionen, die den Rechtsstaat stützen – all dies und viel mehr kann nicht an einem Tag erreicht werden. Zu diesem Ergebnis führt nur eine Kette von ausund aufeinander folgenden Ereignissen. Das wichtigste Glied in dieser Kette ist meines Erachtens die Ausrichtung auf die parlamentarische Republik.

Diese Ausrichtung, nicht der »Kampf gegen das blutige Regime«, ist für mich das Ziel, für das sich der Weg in die Politik gelohnt hat. Die Entwicklung dorthin erfordert viel Geduld, sie wird nicht rasch erfolgen.

Leider ist die genaue Definition des Ziels noch keine Garantie dafür, dass man dieses Ziel auch erreicht. Wir müssen uns klarmachen, was uns auf dem Weg dorthin erwartet. Ganz sicher ist jede Bewegung aus der Sackgasse, in die Putin und seine Freunde uns getrieben haben, mit Unannehmlichkeiten verbunden. Viele der Voraussetzungen, die für die Einführung der Demokratie in Russland erforderlich sind, sind heute einfach nicht gegeben. Diese Situation wird von vielen hochanständigen Menschen, Idealisten im besten Sinne des Wortes, ignoriert, die sich wünschen, dass die Dinge besser werden, aber tief im Inneren wissen, dass es doch so kommen wird wie immer. Auf der einen Seite haben wir eine Terrormaschine mit einem riesigen Dienstapparat, der auch nach dem Abgang Putins seine Positionen nicht aufgeben wird; auf der anderen Seite eine von diesem Terror erdrückte, verängstigte Gesellschaft, die ihre stabilen sozialen Bindungen verloren hat, mit einer Elite, die quantitativ geschrumpft und qualitativ degradiert ist. Es ist offensichtlich, dass dieser Abgrund nicht mit einem Sprung überwunden werden kann. Wir kommen nicht ohne eine Übergangszeit aus, in der die Reste der alten putinschen Gesellschaft unterdrückt und Wachstumszonen für die neue Gesellschaft geschaffen werden müssen. Dieser Gedanke liegt auf der Hand, er wird aber in der allgemeinen Diskussion über die Zukunft Russlands meist ignoriert. In praktischer Hinsicht scheint daher die Organisation des gesellschaftlichen Lebens in dieser Übergangsphase heute das wichtigste Thema zu sein.

Jeder Transit, egal woher und wohin, ist in Russland ein finsterer Wald, in dem man leichter für immer verloren geht, als aus ihm herauszufinden. Und genau dort herauszukommen, wo es geplant war, ist erst recht noch niemandem gelungen. Daher bedarf die Übergangsperiode höchster Aufmerksamkeit. Als sicher gelten kann nur eins: Der Transit nach Putin wird zeitlich sehr begrenzt sein – er kann nicht länger als zwei Jahre dauern. Für diesen Zeitraum wird jede politische Kraft, die Putin ablöst, einen Vertrauensvorschuss bekommen können. Kommt die Übergangsregierung in zwei Jahren nicht voran, dann gibt es zwangsläufig nur zwei Möglichkeiten – entweder wird diese Regierung auf unbestimmte Zeit eine strenge Diktatur einführen müssen, oder sie wird von den Massen hinweggefegt. Das liegt an der großen Zahl unpopulärer Maßnahmen, die in der Übergangszeit unter den ungünstigsten Umständen ergriffen werden müssen, ganz zu schweigen von natürlichen zusätzlichen Faktoren wie dem Widerstand der alten Herrscherclans und dem Sinken des Lebensstandards, mit dem fast jede ohne gesellschaftlichen Kompromiss durchgeführte Revolution einhergeht.

Russland braucht somit einen nachhaltigen institutionellen Rahmen für die Demokratie, was meiner Meinung nach eine parlamentarische Republik sowie eine Rückkehr zu Föderalismus und Selbstverwaltung in Verbindung mit Rechtsstaatlichkeit bedeuten würde.

Paradoxerweise hängt die Erreichbarkeit dieser langfristigen politischen Ziele davon ab, ob es der Übergangsregierung gelingt, kurzfristig das Vertrauen der Mehrheit zu gewinnen. Ohne diesen Vertrauensvorschuss wird es nicht möglich sein, eine wirksame, aber in mancher Hinsicht unpopuläre Politik umzusetzen, die darauf abzielt, den Widerstand der alten Clans zu brechen und die Grundlage für eine neue Staatlichkeit zu schaffen.

Ist die Übergangsregierung in der Lage, einen rigorosen »Neuen Kurs« zu verfolgen, gibt es realistische Aussichten auf die Umsetzung der langfristigen Ziele. Tut sie dies nicht und verfällt in Populismus, das heißt die Erfüllung kurzfristiger Wünsche der Massen, dann kann man diese Aussichten vergessen. Das Vertrauen des Volkes muss dauerhaft sein und sich über einen längeren Zeitraum erstrecken. Eine Unterstützung der Mehrheit für kurze Zeit zu erreichen ist nicht schwer. Die Menschen bekommen diktatorische Regime satt; manchmal reicht dann ein Streichholz, um ihre passive Abneigung in aktivem Hass entflammen zu lassen. Aber solche Ausbrüche verglühen schnell, und die Massen lassen ihre neuen Führer im Stich. Das ist die Schwäche der »Maidans«: Sie lodern leicht auf, aber die Wucht ihres Ausbruchs reicht nicht aus, die Sache zu Ende zu führen. Um nachhaltige Unterstützung zu erreichen, sind andere, systemische Lösungen erforderlich, nicht nur die Nutzung des aufgestauten Ärgers als soziales Dynamit.

Im Kontext dieser Überlegungen ist es endlich möglich, eine genaue Diagnose der 1990er-Jahre zu geben, die in diesen Tagen plötzlich wieder Gegenstand lebhafter Diskussionen sind. Der Versuch, konsequente Reformen durchzusetzen, scheiterte damals meines Erachtens gerade daran, dass es die Reformer versäumten, sich der nachhaltigen Unterstützung der Gesellschaft zu versichern. Sie gingen naiv davon aus, sie könnten die Meinung der Mehrheit bei der Durchsetzung der Reformen ignorieren, bestenfalls mit ihrer Neutralität, schlimmstenfalls durch Brechung ihres Widerstands. Es war ein Kurs, der ideologisch auf einen kleinen Teil der Gesellschaft mit radikal »westlerischen« Ansichten ausgerichtet war. Auch bei den wirtschaftlichen Nutznießern der Reformen handelte es sich um eine sehr gemischte, ganz kleine Gruppe. Der Großteil der Bevölkerung litt nicht nur wirtschaftlich unter den Reformen, ihm blieben auch die von den Reformern vertretenen Werte fremd. Eine natürliche Folge dieses Zustandes war die Entfremdung der Gesellschaft von der Regierung und ihrem Kurs. Diese Entfremdung manifestierte sich in der Folge in der massenhaften Unterstützung für Putins im Grunde konterrevolutionären, reaktionären politischen Kurs. Wenn wir nicht wollen, dass sich diese Geschichte wiederholt, dürfen wir auch die Fehler der 1990er-Jahre nicht wiederholen.

Eine Übergangsregierung wird vor der gewaltigen Aufgabe stehen, jahrzehntelang aufgestaute Probleme inmitten einer tiefen Wirtschaftskrise und einer gespaltenen Gesellschaft zu lösen, die am Rande des Bürgerkriegs balanciert. Wie kann sich die Regierung die Unterstützung der Gesellschaft für ihre Maßnahmen sichern?

Lässt man »Schnellschüsse« wie die Konsolidierung auf der Basis der allgemeinen Abneigung gegen das alte Regime beiseite (die erfahrungsgemäß nie von Dauer ist), bleibt nur die Verfolgung eines »linken Kurses«, der den wirtschaftlichen Grundbedürfnissen der Bevölkerungsmehrheit entgegenkommt. Die Mehrheit muss das Gefühl haben, dass das Handeln der Regierung strategisch auf ihre langfristigen wirtschaftlichen Interessen ausgerichtet ist: Nur dann wird sie bereit sein, diese Regierung auf ihrem beschwerlichen Weg durch die Transitzone politisch zu begleiten. Mit anderen Worten, es gibt eine recht einfache, aber aus irgendeinem Grunde von vielen nicht berücksichtigte Einschränkung für jede tiefgreifende Transformation in Russland: Sie kann nur gleichzeitig mit der Umsetzung eines »Linkskurses« erfolgen. Wenn ich von einem Linkskurs schreibe, meine ich in erster Linie die Ausrichtung auf die sozialen und wirtschaftlichen Bedürfnisse der Massen – im Gegensatz zu einem Rechtskurs, der sich an den Forderungen von Minderheiten orientiert. Hätten sich die Reformer der 1990er-Jahre in ihrer Sozialpolitik nicht von den Massen entfernt, hätten wir es heute vielleicht nicht mit dem Putinismus zu tun. Wenn diejenigen, die das Regime politisch bekämpfen wollen, in der Sozial- und Wirtschaftspolitik erneut keinen Einklang mit der Mehrheit finden, werden sie ihre politischen Ziele nie erreichen.

Das verstehen heute fast alle. Keine oppositionelle Kraft, die der russischen Bevölkerung neben der politischen Freiheit und dem Rechtsstaat nicht auch soziale Leistungen und wirtschaftlichen Wohlstand versprechen würde. Nur glauben die Menschen diesen Verheißungen nicht unbesehen. Einerseits, weil die Erinnerung an die 1990er-Jahre noch zu lebendig ist, andererseits, weil die Versprechungen wenig konkret sind und angesichts der derzeitigen Wirtschaftslage viele unrealistische Versprechungen enthalten.

Das für tiefgreifende Veränderungen notwendige Vertrauen der Mehrheit gewinnt man nicht durch Verheißungen eines schönen Lebens in ferner Zukunft, sondern durch Garantien, die jetzt sofort funktionieren. Solche Garantien existieren bereits, so seltsam das klingt, und die Übergangsregierung könnte sie der Bevölkerung als Gegenleistung für die langfristige Unterstützung ihrer Reformagenda anbieten. Es geht darum, den Menschen zurückzugeben, was ihnen in den 1990er-Jahren genommen wurde, nämlich der Anspruch auf Ressourcenrente und eine gerechte Verteilung des Eigentums.

Die Ressourcenrente ist die wichtigste Quelle des Reichtums in Russland, sowohl im privaten als auch im öffentlichen Bereich. Formal verfügt heute der Staat über die Ressourcenrente, de facto jedoch eine mafiöse Gesellschaft, die sich an die Stelle des Staates gesetzt hat. Alle Vorstellungen zum Schicksal der Ressourcenrente laufen auf eines hinaus: Die Kraft, die Putins Regime ablöst, wird die Verteilung der Ressourcenrente gerechter gestalten, als sie heute ist. Das Volk wird mehr erhalten als jetzt. Da das Volk in Russland jeder Art von Staatlichkeit mit großem Misstrauen begegnet, glaubt es nicht an diese glänzenden Perspektiven.

Denkbar ist aber auch ein ganz anderer Ansatz, der den Staat als Verteiler der Ressourcenrente an die Bevölkerung völlig ausschließt. Allen ist seit den letzten Jahren bekannt, dass es in Russland zwei ungelöste Probleme gibt: die Rentenfrage und die gerechte Verteilung der Gewinne aus dem Verkauf der natürlichen Ressourcen. Warum nicht das eine Problem mithilfe des anderen lösen: die Erlöse aus dem Verkauf von Energieressourcen, die ohnehin getrennt von anderen Einnahmen verbucht werden, auf individuelle Sparkonten der Bürger lenken, die direkt beim Fiskus geführt werden? Die Mittel für die Zahlung einer angemessenen Rente und die Haushaltseinnahmen aus der Ressourcenrente sind ungefähr gleich hoch. Es wäre daher logisch, sie miteinander zu kombinieren. Auf diese Weise wird die russische Bevölkerung in der Lage sein, die Ressourcenrente direkt zu kontrollieren, statt einen gigantischen bürokratischen Apparat mitsamt der an ihr festgesaugten Mafia durchzufüttern. Dies kann und sollte unmittelbar nach der Machtübernahme getan werden. Es eröffnet politischen Spielraum für die Durchführung schwieriger Reformen. Das ist das Wichtigste, aber es ist noch nicht alles.

Ganz offensichtlich wird es unmöglich sein, das Vertrauen zwischen Staat und Gesellschaft in naher Zukunft wiederherzustellen, ohne die Folgen der ungerechten Privatisierung in den 1990er-Jahren zu beseitigen. Dies ist das Erbtrauma, das die Umsetzung jeglicher Maßnahmen zur wirtschaftlichen Gesundung behindert: Der Gesellschaft fehlt nicht nur das Vertrauen zum Staat, sondern auch zum Privateigentum als solchem, der Grundlage jedes politischen Rechtsstaates. In der Wahrnehmung der Mehrheit ist alles Privateigentum das Ergebnis einer ungerechten Verteilung. Diese Auffassung ist überwiegend durch die Privatisierungserfahrungen der 1990er-Jahre bedingt. Sie spiegelt allerdings zum Teil auch die heutige Realität wider, in der eine kleine kriminelle Schicht, die sich den Staat gefügig gemacht hat, über einen beträchtlichen Teil des russischen Staatsvermögens verfügt.

Ohne die Abschaffung dieses rein parasitären Eigentums ist aus gleich zwei Gründen kein Fortschritt in Richtung demokratischer Reformen möglich. Erstens wird dieses Eigentum, wenn es in den Händen der kollektiven Nutznießer des Putin-Regimes verbleibt, sofort dazu verwendet werden, alle konstruktiven Maßnahmen der Übergangsregierung zu blockieren. Zweitens wird es ohne die Beschlagnahmung dieses Eigentums nicht möglich sein, das Vertrauen der Gesellschaft zu gewinnen. Eine Regierung, die Geld in den Händen dieser Leute belassen hat, wird keine Unterstützung finden.

Die zweite unumgängliche soziale Maßnahme der Übergangsregierung wird daher die Enteignung des parasitären Kapitals des Putin-Clans sein müssen. Die beschlagnahmten Vermögenswerte sollten von öffentlichen Investitionsfonds verwaltet werden, die vom Parlament kontrolliert werden. Die Gewinne aus diesen Fonds sollten über individuelle Sparkonten, die für alle Bürger eröffnet werden, in die zusätzliche Finanzierung von Sozialausgaben der Bevölkerung fließen, insbesondere im Bildungs- und Gesundheitswesen. Diese Maßnahme kann als Ausgleichsmaßnahme betrachtet werden: Sie würde Fehler korrigieren, die der Staat bei der Privatisierung gemacht hat, und wäre gewissermaßen ein Schritt, um die soziale und wirtschaftliche Gerechtigkeit wiederherzustellen.