Watch Dogs: Legion – Tag Null - James Swallow - E-Book

Watch Dogs: Legion – Tag Null E-Book

James Swallow

0,0

Beschreibung

Die nervenaufreibende Vorgeschichte zu dem heißesten Videogame-Titel des Jahres, Ubisofts WATCH DOGS: LEGION! Die britische Hauptstadt soll ins Chaos gestürzt werden! Eine geheim operierende Widerstandsbewegung ist die letzte Verteidigungslinie Londons. Fahrradkurier Olly Soames ist der neueste Rekrut der Widerstandsbewegung DedSec, doch als direkt vor seinen Augen ein Fremder erschossen wird, beginnt er zu begreifen, dass die Gefahr viel näher ist, als er dachte … Olly Soames sowie Sarah Lincoln, eine aggressive junge Politikerin mit fragwürdigen Methoden und großen Ambitionen, die ehemalige MMA-Kämpferin Ro Hayesu und ihr Bruder Danny, ein Ex-Soldat, werden in eine mörderische Verschwörung verwickelt, die droht, DedSec zu zerstören und London ins Chaos zu stürzen. Etwas verdammt Übles braut sich über der Stadt zusammen … Watch Dogs, Ubisoft, and the Ubisoft logo are registered trademarks or trademarks of Ubisoft Entertainment. © 2020 Ubisoft Entertainment.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 466

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



VON JAMES SWALLOW& JOSH REYNOLDS

Ins Deutsche übertragen vonStephanie Pannen

Die deutsche Ausgabe von WATCH DOGS LEGION: TAG NULLwird herausgegeben von Cross Cult, Teinacher Straße 72, 71634 Ludwigsburg.

Herausgeber: Andreas Mergenthaler, Übersetzung: Stephanie Pannen; verantwortlicher Redakteur und Lektorat: Markus Rohde; Lektorat: Katrin Aust; Korrektorat: Peter Schild;

Satz: Rowan Rüster; Cover-Illustration: Stonehouse,Printausgabe gedruckt von GGP Media. Printed in Germany.

Titel der Originalausgabe:

WATCH DOGS LEGION: DAY ZERO

First published by Aconyte Books in 2020

Aconyte Books is an imprint of Asmodee Entertainment Ltd

Copyright © 2020 Ubisoft Entertainment. All Rights Reserved. Watch Dogs,Ubisoft and the Ubisoft logo are registered or unregistered trademarks ofUbisoft Entertainment in the U.S. and/or other countries.

German translation copyright © 2020 by Cross Cult.

Print ISBN 978-3-96658-416-6 (November 2020)

E-Book ISBN 978-3-96658-417-3 (November 2020)

WWW.CROSS-CULT.DE

Inhalt

TAG FÜNF: SONNTAG

1: BRICK LANE

2: WHITECHAPEL

3: TOWER HAMLETS SOUTH

4: REDQUEEN

5: TATORT

6: ABENDESSEN BEI FAMILIE HAYES

TAG VIER: MONTAG

7: PERFIDES ALBION

8: ERMITTLUNGEN

9: VORBEREITUNG

10: COYLE

TAG DREI: DIENSTAG

11: BETHNAL GREEN

12: DIE ASSERVATENKAMMER

13: FLUCHT

14: GESCHWISTERRIVALITÄT

15: SIGNAL

16: GEJAGT

TAG ZWEI: MITTWOCH

17: ARRANGEMENTS

18: MASKEN

19: SCHUTZ

20: DIE GARAGE

21: DIE WOHNUNG

22: OPFER

23: VERRAT

TAG EINS: DONNERSTAG

24: POLITIK

25: MARCUS TELL

26: NACHWIRKUNGEN

TAG NULL: FREITAG

27: AUSBRUCH

28: NACHBEBEN

29: THE PINNACLE

30: FEUER FREI

SPÄTER

EPILOG

TAG FÜNF

SONNTAG

Bagley-bytes 13654-9: In Old London Town geht’s hoch her, Leute. Hier eine Zusammenfassung der wichtigsten Ereignisse: Skye Larsen, Futuristin und Irre de jour, hat sich in ihrem #Essay im Grauniad gewaltig im TOAN vergriffen, indem sie argumentiert, dass wir alle besser dran wären, wenn wir ihr endlich erlauben würden, einen ctOS-Chip in unser Hirn zu pflanzen. Echt lachhaft. Ach ja, noch was, was ich nicht kann. Traurig. Fake News.

+++

Hier ist etwas, das nicht neu ist – Überwachungs-Feeds haben einen weißen Transporter bei mehreren ungeplanten, nicht registrierten Stopps in der City aufgenommen, einschließlich der Blackfriars Bridge. Überhaupt nicht verdächtig. Vollkommen unabhängig davon gibt es einen Haufen internes Geplauder auf den Albion-Frequenzen. Ich frage mich, was unser liebstes paramilitärisches Sicherheitsunternehmen so treibt, hmmm? Kennt hier jemand den Begriff LIBRA? Nein? Weiter geht’s.

+++

Und etwas Vertrautes: Die Polizei bekommt einen Haufen Berichte über finstere Machenschaften im Bahnhof von Whitechapel. Mal aufzeigen, wen das überrascht. Bitte nimm die Hand runter, Terry. Du machst uns beide lächerlich. Eine mögliche Beteiligung des Clan Kelley wurde erwähnt. Sergei, sei so nett und forsch da mal nach.

+++

Apropos Whitechapel, Sarah Lincoln, unsere liebste Labour-Abgeordnete, hält nachher im Lister House eine unnötige Rede über Gemeinschaftszusammenhalt, wo doch alle lieber Fußball gucken würden. Scan mal das Publikum, Hannah. Man weiß ja nie, wer sich als ausreichend unzufrieden und nützlich erweist.

+++

Und schließlich das Beste zum Schluss. Laut unserem Dalton sieht es so aus, als würde der MI5 nach dem Vorfall in Newcastle ein bisschen politischen Gegenwind bekommen. Wenn ich ein Herz hätte, würde es bluten.

1: BRICK LANE

Olly Soames erreichte die Brick Lane mit Höchstgeschwindigkeit und ließ das Rad ab hier ausrollen. Er schlängelte sich mit einer Leichtigkeit durch die mittäglichen Besucher des Markts, die auf Erfahrung und einer vollkommenen Gleichgültigkeit gegenüber den Verkehrsregeln beruhte. Als er wieder in die Pedale trat, griff er in seine Tasche und berührte das Display seines Optik AR, um es aufzuwecken. Das Mobilteil mit GPS-Zugang war mit einem winzigen, direkt vor seinem Ohr implantierten Gerät verbunden und legte eine Übersicht des Bezirks auf seine Netzhaut.

Die digitale Karte breitete sich über seinem Sichtfeld aus. Er bemerkte es inzwischen kaum noch, auch wenn es viel Übung erfordert hatte, damit zu fahren. Durch Blinzeln übersprang er die Pop-up-Werbung und gab sein Ziel ein, während er über das Pflaster raste und eine Spur erschrockener Flüche hinterließ.

Nicht alle wussten Ollys gekonnte Navigation zu schätzen und mehr als ein Stück Obst prallte von der Rückseite seiner Crossbag ab. Er ignorierte es. Er hatte größere Sorgen als eine schlecht gezielte Mandarine.

Er war spät dran. Und zwar nicht auf die vornehme Art, sondern die andere. Die Art, die bedeutete, dass er es verbockt hatte. Schon wieder.

Es war nicht seine Schuld. Er hatte eine Entschuldigung, aber Entschuldigungen zählten nur, wenn die andere Person bereit war, sie sich anzuhören. Angesichts ihrer bisherigen Begegnungen bezweifelte Olly, dass seine Kontaktperson Verständnis zeigen würde. Er beugte sich tief über den Lenker und trieb das Rad zu immer höheren Geschwindigkeiten an.

Das Optik-Mobilteil in seiner Tasche vibrierte und auf seinem Display blinkte eine Stauwarnung auf. Er steuerte in eine Sackgasse, hoffte den Stau umgehen zu können. Er hüpfte von der Fahrbahn und fuhr einen parallelen Weg entlang, auf der Suche nach dem geringsten Widerstand.

In seinem Augenwinkel lief ein Newsfeed. London war diese Woche Gastgeber einer großen Tech-Konferenz. Das erklärte all die Sicherheitsdrohnen über der Stadt. Olly hatte aus zuverlässiger Quelle gehört, dass die meisten von ihnen von zwei gelangweilten Bullen in einer klimatisierten Zelle in New Scotland Yard gesteuert wurden.

Aus einer Seitenstraße kam eine Bogen-Limousine und hupte ärgerlich, während er weiter darauf zuhielt. Dann hob er das Vorderrad an und sprang hoch, direkt über die Motorhaube des Wagens. Als er dahinter hart auf der Straße aufsetzte, hätte er sich fast die Zunge abgebissen, konnte das Rad aber gerade noch aufrecht halten.

Hinter Olly ertönte ein »Wichser!« Es war ausgeschlossen, dass er keine Kratzer im Lack hinterlassen hatte. Doch er konnte sich nicht dazu durchringen, sich deshalb besonders schlecht zu fühlen. Was hatte der Kerl erwartet, wenn er an einem Sonntag durch London fuhr? Er hob zwei Finger über seine Schulter, behielt den Blick jedoch nach vorn gerichtet.

Olly wusste, dass ihn die Überwachungskameras im Blick hatten, aber das hieß nicht viel, wenn sich am anderen Ende niemand darum scherte. Soweit sie wussten, war er nur ein weiteres Kurier-Arschloch. Das war ihm auch ganz recht so. Und wenn es nötig werden sollte, kannte er ein paar Tricks, um eine Identifizierung praktisch unmöglich zu machen. Elektronische Augen waren genauso leicht zu täuschen wie die aus Fleisch und Blut, wenn man wusste, wie. Erneut berührte er das Optik-Display und aktivierte einen voreingestellten Befehl. Ein kodierter Datenstrom störte für ein paar Sekunden die Feeds der Überwachungskameras in seiner unmittelbaren Umgebung.

Rechts und links raste ein Regenbogen aus Curry-Restaurants und schicken Graffitis an ihm vorbei. Dann bog er um eine Kurve, erschreckte einen Dogwalker und rammte fast einen Betonpoller. Gebell und Gewinsel verfolgte ihn die Straße entlang.

Sein Optik vibrierte, aber er ignorierte es. Was immer es war, es musste warten. Er war ganz in der Nähe. Vielleicht nah genug. Vielleicht war er gar nicht zu spät. Vielleicht, vielleicht, vielleicht – das Mantra schwirrte ihm unablässig im Kopf herum.

Das hier war seine letzte Chance. Wenn er es diesmal wieder versaute, war es das. Er war erledigt. Bei dem Gedanken wurde ihm ganz flau im Magen. Und das Gefühl wurde nur noch stärker, als er sein Ziel erreichte.

Die Gasse quetschte sich zwischen zwei Gebäuden durch. Ein Teil des alten Londons, verborgen und vergessen in der neuen Stadt – wie eine Narbe, bei der man sich kaum mehr daran erinnerte, wie man sie bekommen hatte. Ein düsteres, mit Müll gesäumtes Stück Kopfsteinpflaster. Die Mauern waren zugepflastert mit alten Theaterflugblättern, Postern für Funkbands und Jahrzehnten überlappender Tags. Neonfarbene Graffitiwirbel vermischten sich mit schlecht kopierten Flyern und zerfledderten Handzetteln für WGs.

Er hatte sich nicht die Mühe gemacht, zu fragen, warum die Übergabe hier stattfinden sollte. Wahrscheinlich gab es einen guten Grund, aber den würde man ihm nicht sagen. Antworten gab es nur bei Vertrauen und ihm war mehr als bewusst, dass er sich weder das eine noch das andere verdient hatte. Und außerdem wusste es ein guter Kurierfahrer besser, als nach solchen Dingen zu fragen. Es spielte keine Rolle, was im Paket war, solange es pünktlich und unversehrt an seinem Ziel ankam.

Er brachte das Rad quietschend zum Stehen. Eine Ratte flüchtete sich in den Müll und ihr Fiepen hallte von den Mauern wider. Ein bisschen Tageslicht kämpfte sich an den Dächern über ihm vorbei. Er stieg ab und schob das Rad mit klopfendem Herzen bis zum Ende der Gasse. Wenn sie schon weg war, würde er das noch ewig zu hören bekommen.

»Sie sind spät dran«, sagte eine Stimme zu seiner Linken. Die Stimme – und ihre Besitzerin – waren vornehm. Zu vornehm für diesen Teil Londons, doch das behielt er für sich.

»Viel Verkehr.« Er drehte sich um. Sie war jung, in seinem Alter, vielleicht ein bisschen älter. Schick angezogen, mit einem schwarzen Hidschab und einem Optik-Audioknopf im Ohr. Sie war süß. Erinnerte ihn an jemand Berühmtes – eine Fernsehköchin, dachte er, auch wenn ihm ihr Name nicht einfiel. Kurz spielte er mit dem Gedanken, eine Bildersuche zu starten, dann überlegte er es sich anders. »Hannah Shah?«

Sie zog eine Augenbraue hoch. »Falls nicht, würde ich jetzt trotzdem kaum widersprechen.«

Er zuckte mit den Schultern. »Stimmt wohl.« Man hatte ihn gewarnt, dass sie nervös sein würde. An ihrer Stelle würde er sich in die Hose machen vor Angst. Daten krochen über seine Sicht. Die gehackte Gesichtserkennungssoftware auf seinem Optik gab ihm alles, was es über sie zu wissen gab, einschließlich ihrer Schuhgröße. Das verlieh dem Ausdruck »wie ein offenes Buch« wirklich eine neue Bedeutung. Eine Mitteilung erschien und er wusste, dass sie das Gleiche versuchte. Olly wünschte ihr viel Glück. Er hatte viele lange, schlaflose Nächte damit verbracht, sein Datenprofil unverdächtig und uninteressant zu machen. Ihres war viel spannender.

Hannah Shah. Dritte Generation bengalischer Einwanderer. Persönliche Assistentin von Sarah Lincoln, der frisch gewählten Labour-Abgeordneten für den Bezirk Tower Hamlets South. »Ein bisschen weit weg von zu Hause, oder?«, fragte er mit einem Lächeln und einer vagen Geste. »Limehouse ist da drüben, Ms Shah.«

Sie runzelte die Stirn. »Das ist eine freie Stadt. Jedenfalls noch.«

»Darum sind wir ja hier«, sagte er. »Haben Sie es bekommen?«

»Woher soll ich wissen, ob Sie derjenige sind, dem ich es geben soll?«

»Falls nicht, würde ich jetzt trotzdem kaum widersprechen«, wiederholte er ihre eigenen Worte und versuchte, schelmisch zu grinsen. Doch ihrem Gesichtsausdruck konnte er ablesen, dass es nicht funktioniert hatte. Sie starrte ihn an und er musste dem Drang widerstehen, sich unter ihrem Blick zu winden. »Hören Sie, ich gehöre nicht zu Albion, wenn es das ist, worüber Sie sich Sorgen machen.«

»Das hab ich nicht, aber jetzt schon.« Sie starrte ihn unbeirrt weiter an.

Er starrte zurück und plötzlich fiel ihm die Parole wieder ein. Peinlich berührt griff er sich an den Kopf. »Ach ja. Die Rote Königin sagt: ›Ab mit ihrem Kopf.‹«

»Das kommt ein bisschen spät«, sagte sie misstrauisch.

Er konnte es ihr nicht verübeln, dennoch war er genervt. Es war nicht seine Schuld, oder? Er war nicht derjenige, der sich in einer dunklen Hintergasse hatte treffen wollen wie in einem schlechten Film. Er war nicht derjenige, der auf dämlichen Kennwörtern bestanden hatte, wenn sie sich auch einfach verschlüsselte Pings an ihre Optiks hätten schicken können.

»Ich hatte es vergessen«, erklärte er trotzig. Als sie nicht antwortete, drehte er sein Rad herum. »Dann fahre ich wohl einfach wieder, ja?« Er versuchte, gleichgültig zu klingen. »Mich juckt das nicht.« Was nicht ganz stimmte. Aber das musste sie ja nicht wissen.

»Warten Sie«, sagte sie schnell. Er blieb stumm. Nach einem Moment seufzte sie. »Hier.«

Sie hielt ihm einen gefalteten A5-Umschlag hin. Darin befand sich etwas Kleines. Wahrscheinlich ein USB-Stick, dachte er. Aber er war nicht so grün hinter den Ohren, dass er den Umschlag aufmachen und nachsehen würde. Nicht vor ihr. Dennoch zögerte er. Er kannte sich mit diesen Angelegenheiten gut genug aus, um zu wissen, dass es wahrscheinlich ein Risiko für sie war, sich so mit ihm zu treffen. »Ihnen ist klar, dass Sie dadurch in große Schwierigkeiten geraten könnten.«

»Nur wenn Sie erwischt werden«, erwiderte sie leise. »Also, um unser beider Willen, lassen Sie sich nicht erwischen.«

»Hatte ich nicht vor.« Er steckte den Umschlag in seine Jacke. »Danke, Süße. Bis dann.« Einen Moment später war er bereits wieder auf seinem Fahrrad und drei Sekunden danach weg.

Er blickte nicht zurück.

Hannah Shah marschierte Richtung Whitechapel und überflog im Gehen wichtige E-Mails auf ihrem Optik-Display. Es war zwar Sonntag, doch das bedeutete nicht, dass keine Arbeit mehr reinkam. Außerdem war es eine gute Ablenkung.

Ein Polizeiauto fuhr mit heulenden Sirenen an ihr vorbei. Auf den Straßen waren mehr Polizisten unterwegs, als sie jemals gesehen hatte. Irgendwas lag in der Luft. Vielleicht hatte es mit der TOAN-Konferenz in ein paar Tagen zu tun. Die Abkürzung stand für Technology for All Nations und war eine Riesensache. Ein Zeichen für Londons Wiederauferstehung, wie manche behaupteten. Insgeheim hatte Hannah ihre Zweifel daran.

Um sie herum erstreckten sich Boutiquen und Hipster-Cafés, so weit das Auge reichte. In Tower Hamlets bekriegte sich Tradition mit Gentrifizierung und Letztere war am Gewinnen. Es gab heutzutage kaum noch Geld für irgendwas, dennoch wurde etwas getan, hauptsächlich von ausländischen Konzernen. London rutschte seit Jahren in die internationale Bedeutungslosigkeit, aber niemand wollte es zugeben. Und wenn das bedeutete, gewisse Elemente einzuladen … dann war das eben so.

Elemente wie Albion.

Ihr war immer noch komisch zumute, die Informationen weitergegeben zu haben. Krish hatte sich für den Kurier verbürgt und er hatte zum Profil ihres Gesichtserkennungsprogramms gepasst, aber nur gerade so. Es war, als hätte er niemals soziale Medien genutzt oder sich fotografieren lassen. Abgesehen von einem Fahndungsfoto, das sie auf eigene Faust ausgegraben hatte. Die Ähnlichkeit war nicht sehr groß, aber es reichte. Der Verdächtige hatte sich kurz in die Systeme einiger neu entwickelter automatischer Auffüllroboter eines gehobenen Supermarkts gehackt und sie in Diebe verwandelt – zwei fürs Regal, einen für den Roboter. Es gab nicht genug Informationen darüber, was mit den gestohlenen Waren passiert war, auch wenn in einer angehängten Notiz angedeutet wurde, dass sie anonym an örtliche Lebensmitteltafeln gespendet worden waren.

Oliver Soames – Olly für seine Freunde – war im Zuge der Ermittlungen befragt worden, doch es war nichts dabei herausgekommen. Das war das ganze Ausmaß seiner Geschichte: eine kurze Erwähnung in einer inzwischen geschlossenen und vergessenen Polizeiakte.

Hannah konnte die Industriebleiche praktisch riechen. Jemand hatte Olly aus dem System geschrubbt. Es war dieser Mangel an Informationen, der sie letztendlich überzeugt hatte. Wenn Olly Soames nicht zu DedSec gehörte, ließ er es auf jeden Fall verdammt so aussehen.

In einem plötzlichen Anflug von Nervosität richtete sie ihren Hidschab. Vielleicht gehörte er doch nicht zu DedSec. Vielleicht war er ein Albion-Spitzel. Ein illegales Tracker-Programm machte sie auf die Anwesenheit diverser Sicherheitsdrohnen über ihr aufmerksam. Mehr, als man einem Sonntagmorgen für gewöhnlich sah. Vielleicht gingen sie gegen Verkaufsstände ohne Gewerbeschein vor – oder sie folgten ihr.

Sie schlängelte sich durch den Markt und ging den Drohnen aus dem Weg, so gut sie konnte. Ihre Akte war tadellos, doch sie wollte kein weiteres Risiko eingehen. Besonders wenn jemand herausfand, was sie getan hatte. Es war ein kalkuliertes Risiko gewesen, aber was hätte sie sonst tun sollen? Albion war gefährlich.

Nicht alle teilten ihre Meinung. Zum Beispiel ihre Chefin. Sie sah Albion als »Chance«. Darum hatte sie Hannah damit beauftragt, ein komplettes Dossier über die Firma anzufertigen – alles, von ihrer Personalpolitik bis zu ihren Finanzdaten. Was immer sie finden konnte, wie unwichtig es auch wirkte. Leider war nicht viel zu finden gewesen. Aber das, was sie gefunden hatte, war erschreckend.

Als eines der weltweit führenden privaten Sicherheits- und Militärunternehmen wollte Albion nun in den privatisierten Strafverfolgungssektor expandieren. Und das Vereinigte Königreich sollte als Testmarkt für langfristige städtische Einsätze und Befriedung fungieren, beginnend mit London. Wenn es Albion gelang, dort Fuß zu fassen, kam das einem Messer an der Kehle des restlichen Landes gleich.

Wenn es ihnen gelang, den Vertrag zu bekommen, würden sie praktisch niemandem Rechenschaft schuldig sein. Eine paramilitärische Macht, die das, was vom Vereinigten Königreich übrig war, besetzt hielt. Der Gedanke war nicht besonders erfreulich.

Glücklicherweise war DedSec ihrer Meinung. Oder zumindest hoffte sie, dass sie das waren. Es war von außen schwer zu sagen, was DedSec tatsächlich wollte. Zuerst hatte Hannah sie nur für ein weiteres Hackerkollektiv gehalten, das Ärger machen wollte. Doch inzwischen wusste sie es besser.

DedSec hatte einen Plan. Wie dieser Plan aussah, wusste sie nicht, abgesehen davon, dass er darauf abzielte, das Leben für alle ein bisschen besser zu machen. Und das beinhaltete, Albion davon abzuhalten, sich in London breitzumachen. Oder zumindest hatte Krish ihr das versichert.

Sie lächelte bei dem Gedanken. Als sie ihn kennengelernt hatte, war er nur ein junger Rapper auf der Suche nach Gigs gewesen. Jetzt war er … was? Ein Hacktivist? Ein Mitglied des Widerstands, alle Macht dem Volke, die ganze Leier.

Und ab heute war sie das auch.

Der Annäherungsalarm ihres Optiks ging los und sie sah auf. Nachrichtendrohnen kreisten in der Luft wie Aasgeier. Whitechapel war in letzter Zeit ein Interessenschwerpunkt geworden. Man hatte Albion gestattet, in Tower Hamlets probeweise ihr Ding zu machen, während die Regierung über die Verlängerung und Ausweitung ihres gegenwärtigen Vertrags debattierte.

Das hatte die Einwohner ziemlich verstört. Besonders seit bekannt geworden war, dass Albion Immobilien aufkaufen wollte, um sie in Einsatzzentren ihrer Londoner Speerspitze umzuwandeln.

Die Sozialwohnungen von Whitechapel standen seit Jahren kurz vor dem Abriss – einschließlich Lister House, wo ihre Chefin heute ihre Rede halten würde und das als Erstes von Albion aufgekauft werden sollte. Lister House war im Laufe der Zeit mehr als einmal den Gentrifizierungsplänen des Stadtrats entkommen und man konnte quasi die Uhr nach den Protesten stellen. Hannah konnte es den Bewohnern nicht verübeln. Falls das Gebäude abgerissen wurde, konnten sie nirgendwo mehr hin.

Unglücklicherweise war das Sarah Lincoln trotz ihres öffentlichen Images vollkommen egal. Tatsächlich vermutete Hannah, dass sie ihren derzeitigen Wahlbezirk nur allzu gern gegen einen schickeren, finanzstärkeren eintauschen würde. Sarah hätte das mit Sicherheit bestritten, doch nach Jahren der Zusammenarbeit wusste Hannah, wie Sarah tickte.

Sarah Lincoln hatte ebenfalls einen Plan. Und sie würde mit Freuden über alles und jeden hinwegtrampeln, um sicherzugehen, dass dieser Plan reibungslos verlief. Nicht dass die Abgeordnete für Tower Hamlets South auf ihrem Weg nach oben nicht auch ein paar gute Dinge bewirkt hatte. Aber das war eher beiläufig passiert – das Äquivalent einer Königin, die ihren Schoßhündchen ein paar Leckerlis hinwarf. Eine großzügige Königin, aber nichtsdestotrotz eine Königin.

Hannah war das zuerst gar nicht aufgefallen. Sie war viel zu beschäftigt gewesen. Die persönliche Assistentin einer Parlamentsabgeordneten zu sein bedeutete, dass sie rund um die Uhr in Bereitschaft zu sein hatte. Und Sarah konnte sehr charmant, sogar freundlich sein, wenn sie wollte.

Doch unter der sanften Fassade verbarg sich ein stählerner Wille. Und obwohl sie in diesem Bezirk geboren worden war, schien ihr egal zu sein, was aus den Menschen hier wurde, solange es sie nicht schlecht dastehen ließ. Und das fiel den Leuten langsam auf.

Darum waren sie heute hergekommen – und darum hatte Hannah Gelegenheit für die Übergabe gehabt. Eine Petition machte die Runde und Sarah hatte sich darauf gestürzt wie ein Tiger auf eine angekettete Ziege. Sie hatte spontan diese Versammlung einberufen, um die Protestler zu beruhigen. Um ihnen zu versichern, dass man sie nicht gewaltsam aus ihrem Zuhause werfen würde. Zumindest noch nicht.

Das Hannahs Meinung nach eigentliche Problem bestand darin, dass sich Sarah noch nicht entschieden hatte, ob sie den Albion-Deal unterstützen sollte oder nicht. Wenn sie es tat, würden dem Bezirk – und ihrem Wahlkreis – große Veränderungen bevorstehen und vielleicht auch ein großes wirtschaftliches Wachstum. Als Gegenleistung mussten sie nur ihre Seele verkaufen.

Ihr Optik vibrierte, als es sich automatisch mit dem ihrer Arbeitgeberin synchronisierte. Sie sah auf. Die Sozialwohnungen von Lister House und seinem Nachbarn Treves House waren modernistische Gebäude, die aus einer traurigen Grünfläche aufragten. Eines bestand aus einer langen Reihe von Arbeiterhäusern, das andere war ein hoher Block mit sauberen Linien und ebenmäßigen Proportionen. Doch beide sahen inzwischen ausgesprochen heruntergekommen aus. Der Gemeinderat schwankte zwischen freundlicher Vernachlässigung und unverblümter Feindseligkeit und den Mietern drohte seit fast dreißig Jahren immer wieder die Zwangsräumung.

Bäume und Hecken hinter schwarzen Metallzäunen markierten die Grenzen des Grundstücks, und Autos säumten die Straßen. Die Leute versammelten sich bereits im Gemeinschaftsbereich zwischen den Wohnblöcken und warteten gespannt darauf, was ihre Abgeordnete zu sagen hatte.

Sarahs schwarze Brubeck-Limo parkte in einer Entfernung, wo ihr nichts passieren konnte. Hannah wich der Menge aus und schlängelte sich an einer unauffälligen Absperrkette vorbei zum Wagen. Sie stieg hinten ein, wo Lincoln in klimatisiertem Komfort saß und auf ihrem Luxus-Optik in Roségold Newsfeeds durchscrollte.

»Sie sind spät dran«, sagte die Abgeordnete, ohne von ihrem Gerät aufzublicken. »Ich dachte schon, ich würde das ohne Sie machen müssen.«

»Tut mir leid.« Hannah hielt kurz inne. »Das muss traumatisch für Sie gewesen sein.«

Sarah schnaubte, sah aber immer noch nicht auf. »Vorsicht. Ich könnte Ihnen das übel nehmen und Sie feuern.«

Hannah war nicht besonders besorgt. »Aber das werden Sie nicht. Fünf persönliche Assistenten in ebenso vielen Jahren. Jemand könnte die falschen Schlüsse ziehen.«

»Da ist was dran. Was halten Sie von dieser TOAN-Sache?«

»Wir haben noch nicht zugesagt.«

»Gut. Ich kann mir nichts Langweiligeres vorstellen als die Teilnahme an einer Technikkonferenz.« Sie sah auf und wechselte erneut das Thema. »Was war denn so wichtig, dass Sie bis zur Brick Lane mussten?«

»Ich hab mich mit einer Freundin getroffen«, sagte Hannah. Sie war an Sarahs abrupte Themenwechsel gewöhnt. Ihre Chefin machte das absichtlich, um ihr Gegenüber aus dem Konzept zu bringen. Da Hannah das wusste, hatte sie ihre Geschichte vor dem Spiegel geübt. Bevor Sarah fragen konnte, fügte sie hinzu: »Sie arbeitet für Natha.«

Lincolns Blick schoss nach oben. »Und warum in aller Welt haben Sie sich mit jemandem getroffen, der für den … ehrenwerten Abgeordneten … von Tower Hamlets North arbeitet?«, gurrte sie.

Hannah unterdrückte ein Lächeln. Sie hatte genau gewusst, welche Reaktion die Erwähnung des anderen Abgeordneten haben würde. Winston Natha entstammte ebenfalls der zweiten Generation von Einwanderern, auch wenn seine Eltern nicht aus Dusa Marreb, sondern aus Kalkutta kamen. Dennoch hatten sie mehr gemeinsam, als Sarah lieb war. »Es heißt, dass Natha den Albion-Deal unterstützen wird«, erzählte sie.

Sarah setzte sich so abrupt auf, dass sie fast gegen das Dach der Limousine gestoßen wäre. Sie war eine große Frau, größer als Hannah. Größer als die meisten Männer, besonders wenn sie Absätze trug – was sie so oft wie möglich tat. Sie war schlank, elegant und ihre Kleidung kostete mehr als die meisten ihrer Wähler in einem Jahr verdienten. Sie hätte in ihrer Jugend Model gewesen sein können. Ihre Haare waren zu einem festen Dutt am Hinterkopf frisiert. Sie ließ ihr Optik in ihrer Jacketttasche verschwinden und starrte ihre Assistentin an. »Was hat er gesagt?«

»Er findet, dass sie einen, und ich zitiere, ›verdammt guten Job in Tower Hamlets machen‹.«

Sarah runzelte die Stirn. »Und das wissen Sie sicher?«

»Zu siebzig Prozent«, sagte Hannah. Sie musste vorsichtig sein. Sarah war nicht dumm – selbst wenn sie von Natha das Schlimmste denken wollte, würde sie nach einer unabhängigen Bestätigung suchen.

»Das reicht mir nicht«, entgegnete Sarah mit einem kleinen Lächeln. »Auch wenn ich es dem kleinen Wiesel zutrauen würde. Er würde Sauerstoff privatisieren, wenn er damit durchkommen würde.« Sie hielt inne, eine Hand auf dem Türgriff. »Dennoch sollten wir das im Hinterkopf behalten. Wenn Natha dafür ist, werden sich genau die falschen Leute auf ihn stürzen.«

Hannah entspannte sich. »Ich dachte, Sie würden das wissen wollen.«

Sarah lachte leise. »Wenn das mit der Politik nicht klappt, wird vielleicht noch eine Superspionin aus Ihnen.« Sie öffnete die Tür und stieg aus. »Kommen Sie. Ich kann unsere Wähler schon knurren hören. Bringen wir diesen wacal von einem Tag hinter uns.«

2: WHITECHAPEL

Olly fuhr schnell und hatte mit einem Auge sein Display im Blick. Laut seinem Optik waren es noch zwölf Minuten bis Limehouse. Die Erfahrung sagte ihm, dass es wahrscheinlich eher zwanzig Minuten werden würden, je nachdem, wie schlimm der Verkehr auf der Vallance Road war. Er schwenkte auf den Bürgersteig. Nachdem er die Enge der Brick Lane hinter sich gelassen hatte, konnte er auch wieder die Kurierdrohnen von Parcel Fox sehen, die wie unbeholfene Tauben herabschossen.

Die Drohnen waren der Grund, warum sein Job in Gefahr war. Sie erledigten die gleichen Aufgaben wie er in der Hälfte der Zeit und mussten nicht bezahlt werden. Schon bald würde jeder die verdammten Dinger benutzen und wo würde er dann bleiben? Genau dort, wo er gewesen war, bevor er durch pures Glück an diesen Job gekommen war. Vor DedSec.

Er dachte an Hannah. Gehörte sie auch zu DedSec? Unmöglich zu sagen. Er könnte natürlich fragen, aber er konnte sich die Antwort schon denken. Besser kein Risiko eingehen. Auch wenn es ihm schwerfiel, seine Neugier zu unterdrücken. Er war immer schon neugierig gewesen und hatte Dinge auseinandergenommen, um zu sehen, wie sie funktionierten. Telefone, Computer, Fernseher. Als Kind hatte er Mechaniker werden wollen.

Doch die Zeiten änderten sich. Und man musste sich mit ihnen ändern – oder man war erledigt.

London lernte das gerade auf die harte Tour.

Olly bremste scharf und wich nur knapp einer Barrikade aus. Seit den Redundancy Riots gab es viele davon in Tower Hamlets. Jede Menge Proteste, hauptsächlich gegen Immigration. Die Stadt – das Land – war wie ein Kochtopf, der schon viel zu lange auf dem Herd stand. Noch war er nicht übergekocht, aber es würde nicht mehr lange dauern.

Er freute sich nicht darauf. Als alles auseinanderzufallen begonnen hatte, hatte er noch Windeln getragen, und seitdem war es nicht besser geworden. Wenn man die Wohlhabenden von den Habenichtsen trennen wollte, gehörte er eindeutig zu Letzteren. Doch wenn die Lage schlecht aussah, waren es immer die Habenichtse, die den Kürzeren zogen. Das Geld war knapp – und wurde immer knapper.

So scheiße sein Job auch war, er war froh, ihn zu haben. Die meisten seiner Freunde konnten das nicht von sich behaupten. Diejenigen, die nicht für den Clan Kelley oder eines der kleineren Syndikate arbeiteten, jobbten in Frittenbuden oder bekamen Stütze.

Er ließ das Rad über einen aufgerissenen Bordstein hüpfen und die Passanten sprangen ihm aus dem Weg. Eine Kurierdrohne schoss an ihm vorbei und schien fast höhnisch mit ihren Rotoren zu wackeln. Am liebsten hätte er sie aus der Luft geholt, aber das hätte nur die falsche Art Aufmerksamkeit erregt, ganz egal wie gut es sich angefühlt hätte. Andererseits hatte er mit solchen Aktionen DedSec überhaupt erst auf sich aufmerksam gemacht. Glücklicherweise hatten sie ihn vor der Polizei gefunden.

Manchmal fragte er sich, ob die Polizei überhaupt wirklich hinter ihm her gewesen war – oder ob sie ihm das nur erzählt hatten. DedSec brauchte Rekruten und sie scheuten sich nicht davor, sich die Hände schmutzig zu machen, um sie zu bekommen. Vielleicht war das einfach der Lauf der Dinge. Entweder man war auf ihrer Seite oder auf der anderen. Ob man es nun wusste oder nicht. Insgesamt zog er es vor, auf seinem Rad zu sitzen.

Er bog ab und fuhr quer über eine Kreuzung. Er war sich ziemlich sicher, dass er nicht verfolgt wurde, aber man konnte nie vorsichtig genug sein. Er machte das hier lange genug, um zu wissen, dass die Bullen einen manchmal an der langen Leine ließen, weil sie hofften, der kleine Fisch würde sie zu den großen führen. Aber keines seiner Sicherheitsprogramme meldete sich. Für die Drohnen über ihm war er nichts Besonderes. Dennoch bedeutete das nicht, dass er nicht doch überwacht wurde.

Wieder hüpfte er auf einen Bordstein und fuhr durch ein Parkhaus. Während er sich an den Autos vorbeischlängelte, berührte er das Optik und aktivierte ein Spiegelprogramm. Es würde das GPS-Signal der Autos, an denen er vorbeikam, klonen und sie als sein eigenes ausgeben. Wenn ihm jemand ernsthaft auf den Fersen war, würde ihn das nicht lange täuschen, aber für einen zufälligen Beobachter wurde es dadurch schwerer, seiner Spur zu folgen.

Angesichts dessen, was er bei sich hatte, schienen ein paar vorbeugende Tarnmaßnahmen nur vernünftig. Und in letzter Zeit war Olly sehr vernünftig. Er bildete sich gern ein, dass er es von dem Jungen, der Auffüllroboter und Bankautomaten gehackt hatte, weit gebracht hatte.

Nur die Zeit würde zeigen, ob irgendwas davon eine Rolle spielte. Als ihm von DedSec ein Ausweg angeboten worden war, hatte er ihn ergriffen. Eine Chance, seine Akte zu bereinigen, nicht in den Knast zu wandern und vielleicht, nur vielleicht, zur Abwechslung mal was Bedeutsames zu tun. Selbst wenn er noch keine Ahnung hatte, was das sein mochte.

Oliver Soames. Was treibt mein Lieblingspraktikant heute?

Olly blinzelte überrascht. Die Stimme in seinem Ohr war freundlich, der Akzent geschmeidiges britisches Englisch – wie poliertes Chrom. Wie ein Nachrichtensprecher oder Telefonverkäufer. Freundlich, offen und gesellig.

»Bin auf dem Weg nach Hause, Bagley«, murmelte er. »Außer es gibt was Wichtiges …?«

Mit nach Hause meinst du doch bestimmt Limehouse?

»Was sollte ich sonst meinen?«

Stimmt. Hast du es?

»Wenn nicht, würde ich wohl verfickt noch mal kaum nach Hause kommen, oder?«

Sprich nicht so, Oliver. Ich bin sehr empfindsam. Außerdem weiß man nie, wer zuhört.

»Hoffentlich niemand«, sagte Olly scharf. »Das ist doch ein sicherer Kanal, oder?«

Bombensicher. Der Kanal reitet Huckepack, wurde geklont und umgekehrt.

»Nichts davon ergibt irgendeinen Sinn.«

Eine alberne Frage verdient eine alberne Antwort.

Olly verkniff sich eine Erwiderung. Es hatte keinen Sinn, mit Bagley zu streiten. Genauso gut könnte man mit einem Toaster diskutieren. Seine Persönlichkeit war ein Spiegel – man sah, was man erwartete. Ein vorkonfigurierter, rudimentärer KI-Assistent, der jedem zur Verfügung stand, der ein Optik von Blume besaß.

Ich kann hören, wie du mit den Zähnen knirschst, Oliver. Denk dran, das Leben ist besser mit Bagley.

Olly brummte. Das Sparmodell von Bagley war nur so klug, wie es seine Parameter zuließen. DedSec hatte eine Reihe von Beschränkungen seiner Programmierung gefunden, zweifellos von Blume selbst eingebaut. Diese Beschränkungen zu entfernen hatte ein paar unerwünschte Nebenwirkungen gehabt. Der Standard-Bagley war freundlich. Der DedSec-Bagley war ein nerviges Arschloch. Wenn das die ursprüngliche Absicht des Programmierers gewesen war, fand Olly, dass er ein paar aufs Maul verdient hatte.

Ich empfehle dir, eine Abkürzung durch Lister House zu nehmen.

»Was?«

Das verkürzt den Weg um fünf Minuten. Es könnte dich interessieren, dass sowohl Lister House als auch Treves House 1956 von dem Architekten Count Ralph Smorczewski entworfen wurden …

»Meinetwegen«, sagte Olly schnell. Wenn etwas schiefging, konnte er es immer noch auf Bagley schieben. Er raste über die schmalen Gehwege der Sozialsiedlung. Alarme ertönten und fütterten ihn mit Daten über die Menge, die sich auf der Gemeinschaftsfläche versammelt hatte.

Dort war eine kleine Bühne mit Mikrofon aufgebaut. Es gab auch Stühle, aber nicht annähernd genug. Er meinte, auf der Bühne Hannah Shah zu sehen, neben einer sehr großen Frau in Businesskleidung und Vertretern des Gemeinderats. Shah sah nicht glücklich aus. Wahrscheinlich wünschte sie sich angesichts der Stimmung der Menge, irgendwo anders zu sein. Er fuhr am Rand der Menge vorbei und scannte sie nach Gesichtern und Namen, um sie für eine spätere Durchsicht zu speichern.

Informationen waren besser als Geld, besonders angesichts des derzeitigen Wechselkurses. Wie das Ding in seiner Tasche. Ein Umschlag – sie hatte es in einen Umschlag gesteckt. Wer machte so was? In jedem Handyladen konnte man Signalblocker kaufen.

»Amateure«, murmelte er.

Das musst gerade du sagen. Du fährst doch noch mit Stützrädern.

»Du weißt doch überhaupt nicht, wovon ich spreche!«

Ich kann Kryptowährungsalgorithmen errechnen und gleichzeitig einen Fokusgruppen-basierten Bestsellerroman schreiben. Zu extrapolieren, was du da murmelst, ist ein Kinderspiel. Ich … Warte mal.

»Was ist?«

Da ist etwas …

Den Rest hörte Olly nicht. Er war zu sehr damit beschäftigt, mit dem Gesicht voran über seinen Lenker in den Schotter zu fliegen. Der Idiot, der mit ihm zusammengestoßen war, wurde gegen ein parkendes Auto und dann auf die Straße geschleudert. Der Mann war älter und sah dürr und eingefallen aus, als ob ihn ein starker Windstoß über die Themse davonblasen würde.

»Pass doch auf, wo du langfährst«, knurrte der Mann, während er wieder auf die Beine kam.

Olly spuckte Dreck aus und sprang kampfbereit auf. »Du bist derjenige, der in mich reingerannt ist, Kumpel!«

»Fick dich, ich …«

Das Geräusch klang wie ein Hammer, der auf einen Apfel traf. Es gab einen Lufthauch und dann ein feuchtes Knirschen. Der Mann zuckte zusammen und wirbelte herum. Etwas Heißes, Rotes traf Olly an der Wange, während der Mann zusammensackte und mit erschreckender Endgültigkeit auf dem Boden liegen blieb.

Die Welt um ihn herum verlangsamte sich und kam dann ruckelnd zum Stehen. Olly konnte nichts anders tun, als schockiert auf den Boden zu starren. Sein erster Instinkt bestand darin, zu versuchen, die Blutung zu stoppen, so wie er es tausendmal in Serien und Filmen gesehen hatte. Man presste die Hände auf die Wunde und es hörte auf zu bluten. Nur dass das nicht funktionierte. Das Blut strömte immer weiter, es war an seinen Händen, seiner Hose, seiner Nase und – oh Gott, es war überall.

»Bagley, ruf einen Krankenwagen oder leite einen um oder so was. Dieser Kerl, ich glaube, er wurde erschossen, scheiße, oh scheiße, jemand hat auf ihn geschossen …«

Noch während er vor sich hin stammelte, analysierte ein Teil von ihm, was er gesehen hatte. Der Schuss war aus dem Nichts gekommen – ein Scharfschütze? War irgendwo auf den Dächern ein Irrer mit einem Gewehr? So etwas passierte nicht in London – in Großbritannien. Sie waren hier nicht in Amerika. Die einheimischen Irren benutzten Stanley-Messer und Schraubendreher, keine Gewehre.

Immer wieder spielte sich in seinem Kopf die Szene ab. Der Mann, der wieder aufstand, ihn verfluchte, dann herumwirbelte und fiel. Das Blut …

Oliver.

Bagleys Stimme klang kühl in seinen Ohren. Er ignorierte die KI. Warum war da so viel Blut? Er betrachtete seine Hände. Vollkommen rot. Sein Verstand drehte sich im Kreis. Es war so rot. Warum war es so rot? Gab es nicht einen Grund – Arterienblut, vielleicht … seine Gedanken schweiften ab, bis ihn Bagley zurückholte.

Oliver. Du musst gehen. Lincolns Security nähert sich.

Olly schüttelte den Kopf. »Ich kann nicht, ich kann nicht, er ist …«

Tot. Verstorben. Seine Funktion ist beendet. Ihm kann ich nicht mehr helfen, dir aber schon. Steh auf.

Olly schaute auf den Boden. Der Mann sah aus wie eine Stoffpuppe, ganz schlaff und zusammengeschrumpft. Als wäre alles, was ihn ausgemacht hatte, herausgerissen worden, sodass nur eine leere Hülle zurückblieb. Er lehnte sich zurück und versuchte zu denken. Leute schrien. Rannten. Der menschliche Instinkt – zumindest der erste – war, so weit wie möglich von Schwierigkeiten wegzukommen. Aber das galt nicht für alle. Ein paar Männer eilten auf ihn zu, wahrscheinlich Sicherheitsleute in Zivilkleidung. Sie drängten sich durch die Menge und sahen nicht freundlich aus.

Sein Optik vibrierte und machte ihn auf Aufnahmegeräte in der Nähe aufmerksam. Nachrichtendrohnen, Optik-Kameras, alle richteten sich auf ihn. Schlimmer noch, der Klang von Sirenen wurde immer lauter und durchdrang den Nebel der Panik.

»Fuck. Fuck, fuck, fuck.«

Ich hätte es nicht besser ausdrücken können. Hinfort mit dir, junger Oliver.

»Okay«, sagte er heiser, kam zitternd auf die Beine und berührte mit blutbeflecktem Finger sein Optik, während er gleichzeitig sein Rad aufhob. Sein Geist bewegte sich schneller als sein Körper, isolierte die Probleme und löste sie der Reihe nach. Eine Ex-Freundin von ihm, die psychiatrische Krankenschwester gewesen war, hatte das reflexive Kompartmentalisierung genannt, was immer das bedeutete.

Zuerst die Nachrichtendrohnen. Heutzutage benutzten alle Agenturen das gleiche Netzwerk – alle benutzten heutzutage das gleiche Netzwerk. Wenn man eine Drohne hackte, hackte man sie alle. Also tat er es genau das und löschte die Feeds der letzten fünf Minuten. Die Optiks kamen als Nächstes dran. Sie waren leichter. DedSec hatte die Kunst, die Optiks sehen zu lassen, was immer sie wollten, perfektioniert. Die Gesichtserkennungssoftware würde keinen Treffer finden, oder genauer gesagt, zu viele Treffer. Er war so gut wie unsichtbar – nur ein weiterer blasser Typ in einem schäbigen Hoodie und einer Jogginghose.

Polizisten nähern sich von Bethnal Green. Acht Sekunden.

Die Polizei war eine andere Sache. Sie würde er nicht so leicht täuschen können. Er musste weg. Es nach Limehouse schaffen. Sich verstecken, bis er die lokalen Feeds vollständig löschen konnte. In ihm stieg eine andere Art Panik auf – nicht lähmend, sondern drängend.

Dir bleiben sechs Sekunden, bis die Polizei eintrifft. Nutze sie.

Limehouse. Einen Moment später war er auf seinem Rad und drei Sekunden danach verschwunden. Als der erste Streifenwagen auftauchte, befand sich Olly bereits auf der anderen Seite der Wohnanlage und raste so schnell er konnte Richtung Osten.

»Was war das?«, zischte er, als er um eine scharfe Kurve bog. »Was ist da gerade passiert?«

Unbekannt. Ich habe mich in die gestörten Feeds geklinkt – gute Arbeit übrigens – und analysiere gerade die Daten. Der Schuss hatte etwas Seltsames an sich.

»Was bedeutet das?«

Noch nichts. Fahr weiter. Lass das meine Sorge sein.

»Gerne.«

Oh, du hast immer noch das Paket, oder?

Ein kurzer Anflug von Panik erfasste ihn und er klopfte hektisch seine Jacke ab. Er spürte den Umschlag und was er enthielt und seufzte erleichtert auf. »Ja, hab ich«, sagte er. Zumindest das hatte er nicht verbockt.

Guter Mann. Leg einen Gang zu, Oliver. Es geht ziemlich heiß her.

Sarah Lincoln war bei Minute drei ihrer fünfminütigen Rede über Zusammenhalt und die stolze, wenn auch wechselhafte Geschichte der Vallance-Road-Gemeinschaft, als sie die Schreie hörte. Unerschütterlich sprach sie noch dreißig Sekunden weiter, bevor plötzlich die Hölle losbrach und ihr sorgsam geplanter Auftritt in Chaos versank.

Zuerst wusste sie gar nicht, was sie gehört hatte. Sie hielt es für eine Fehlzündung. Erst als sie aus dem Augenwinkel sah, wie ein Mann zu Boden ging, wurde ihr klar, was passiert war. Oder zumindest glaubte sie, es zu wissen. Jemand beugte sich über ihn – hatte die Person ihn erschossen? Von hier aus, begraben unter ihren Personenschützern, war es unmöglich zu sagen. »Runter! Runter von mir!«, fauchte sie und versuchte, wieder auf die Beine zu kommen.

»Bleiben Sie unten, Ma’am«, zischte einer von ihnen zurück und stieß sie zu Boden. Zumindest versuchte er es.

»Wenn man mich hätte treffen wollen, hätte man mich erwischt. Und jetzt runter von mir!« Trotz der Proteste ihrer Sicherheitsleute stand sie auf und sah sich um. Es war das pure Chaos – Leute rannten umher, ihr Team versuchte, sich seinen Weg zu dem Angeschossenen zu bahnen.

»Ich denke, wir … wir sollten hier weg«, sagte Hannah und packte sie am Arm. Ihre Augen waren weit aufgerissen, ihre Stimme zittrig. »Jemand schießt!«

Sarah schüttelte sie ab. »Aber nicht auf mich! Rufen Sie einen Krankenwagen.« Sie schnappte sich das Mikro und hob ihre Hand. »Bitte bewahren Sie Ruhe. Beruhigen Sie sich!« Niemand hörte auf sie, aber darum ging es auch nicht. Die Nachrichtendrohnen über ihren Köpfen nahmen alles auf.

Einen Moment später hörte sie die ersten Sirenen. Sie hielt ihren Blick auf den Angeschossenen gerichtet, auf den Mann, der vor ihm kniete – durchwühlte er seine Taschen? Nein. Er versuchte zu helfen. Ein besorgter Bürger. Ihre Leute näherten sich ihm, wer er auch sein mochte.

Es war alles so gut gelaufen. Das war das Ärgerliche daran. Die Rede war eine ihrer besten gewesen, fand sie – gleichzeitig tröstlich, informativ, aber ohne jegliche echte Substanz. Ein beruhigendes Zitat war ein sicheres Zitat, perfekt für zusammenhanglose Soundbites.

Am Anfang ihrer Karriere hatte sie den Fehler gemacht, die Aufwieglerin zu spielen. Sie war zu jung gewesen, zu unerfahren, um zu verstehen, wie es wirkte, wenn eine große Frau somalischer Abstammung ihre Kollegen kritisierte. Als ihr klar geworden war, was daraus gemacht wurde, war sie gezwungen gewesen, ihren Idealismus neu zu bewerten – ihn in etwas politisch Zweckdienlicheres zu verwandeln. Es war nicht schwer gewesen. Sie war immer schon eine Pragmatikerin gewesen.

Idealisten kamen an die Macht. Politiker blieben an der Macht. Und Sarah Lincoln hatte damals entschieden, dass sie lieber eine Politikerin sein wollte. Und als Politikerin wusste sie, dass ein Bild mehr wert war als tausend Worte. Und das Bild einer Abgeordneten, die verzweifelt versuchte, eine panische Menge zu beruhigen – nun … das waren mindestens zweitausend Worte.

Ihre Leute erreichten den Angeschossenen, als der erste Streifenwagen mit quietschenden Reifen und blinkendem Blaulicht zum Stehen kam. Weitere trafen wenige Augenblicke später ein. Der besorgte Bürger war längst verschwunden. Sie fragte sich, wohin, verwarf den Gedanken aber sofort wieder. Je weniger Leute, mit denen sie das Rampenlicht teilen musste, desto besser. Zumindest redete sie sich das ein, als sich einer ihrer Leute neben den Angeschossenen kniete. Sarah ging auf sie zu, trotz Hannahs Protesten.

Der Personenschützer hatte seinen Blazer ausgezogen, faltete ihn zusammen und schob ihn dem Mann unter den Kopf. Die Geschichten ihres Vaters über den Bürgerkrieg kamen ihr in den Sinn, während sie sich an einen vor vielen Jahren absolvierten Erste-Hilfe-Kurs zu erinnern versuchte.

Ihr war klar, dass der arme Kerl längst tot war. Das Loch war zu groß, da war viel zu viel Blut. Kurz verspürte sie Übelkeit, doch sie zwang sie zurück. Hatte er hier gelebt? Sie meinte, ihn in der Zuschauermenge gesehen zu haben. Er sah nicht aus wie jemand, der auf der Straße erschossen wurde. Unweigerlich fragte sie sich, warum er tot war.

Einige Polizeibeamte hatten sich versammelt. Einer sprach eilig in sein Funkgerät, während seine Kollegin – die zu dem Team gehörte, das für diese Veranstaltung abgestellt worden war – sich an Sarah wandte. »Sind Sie in Ordnung, Ms Lincoln?«, fragte die Beamtin sanft.

»Ich bin wohlauf, danke. Es ist nur … ich habe vorher noch nie jemanden sterben sehen.« Sie atmete tief durch. »Das war wohl kein Herzanfall, was? Ich habe es zuerst dafür gehalten, aber …«

»Die Spurensicherung ist auf dem Weg …«

»Officer, er hat ein riesiges Loch in der Brust.«

Die Polizeibeamtin sah weg. Sarah musterte die Leiche. Ein Teil von ihr wollte nichts lieber, als so schnell wie möglich von hier zu verschwinden, nachdem sie jetzt ihre Pflicht für die Kameras getan hatte. Doch ein anderer Teil war neugierig. So etwas passierte hier einfach nicht. Gewalt war in Tower Hamlets – im East End – nichts Unbekanntes. Aber das hier war eine äußerst spezifische Art von Gewalt. Sie schien vollkommen willkürlich.

Die Polizei führte ihre Arbeit effizient durch. Der Bereich wurde abgesperrt, Zeugen wurden befragt. Sarah sah zu und achtete darauf, beim Zusehen gesehen zu werden. Hannah brachte ihr einen Kaffee und versuchte erneut, sie zum Gehen zu bewegen.

»Was, wenn Sie das eigentliche Ziel waren?«, fragte Hannah. »Sie wären nicht die erste Politikerin, die von einem Irren angegriffen wird …«

Sarah trank einen Schluck Kaffee. Er schmeckte furchtbar. Selbst Milch und Zucker konnten den Geschmack verbrannter Bohnen nicht überdecken. Sie verzog das Gesicht, trank aber weiter. »Wenn ich das Ziel gewesen wäre, hätte man mich getroffen. Oder Sie. Wir standen schließlich auf einer Bühne.«

»Trotzdem …«

»Trotzdem sind wir jetzt vollkommen sicher.« Sarah sah ihre Assistentin an. Nach einem Moment fragte sie: »Alles in Ordnung?«

Hannah sah sie verwundert an. »Ich denke schon. Nur ein bisschen mitgenommen.«

Sarah tätschelte ihren Arm. »Gutes Mädchen. Immer schön die Ohren steifhalten, wie die alten weißen Männer so gern sagen. Und jetzt kommen Sie. Ich will wissen, was hier vorgeht.« Sie ging zur größten Gruppe von Polizisten und Hannah folgte ihr zaghaft.

Sie nickten respektvoll, waren jedoch wenig entgegenkommend. Eine Labour-Politikerin durfte nicht zu vertraulich mit der Polizei sein, sonst würden die üblichen Verdächtigen ihrer eigenen Partei zu tuscheln anfangen. Recht und Gesetz war für die Tories.

Sie wandte sich an Hannah: »Besorgen Sie doch bitte für alle Kaffee. Oder Tee oder was auch immer sie wollen. Und beeilen Sie sich.«

Man musste Hannah zugutehalten, dass sie nicht herumdiskutierte, sondern einfach damit begann, die Bestellungen aufzunehmen. Sarah schaute wieder zu der Leiche, die inzwischen mit einem weißen Laken abgedeckt und von anonymen Kriminaltechnikern in ihren Schutzanzügen umringt war. Einer von ihnen vollzog mithilfe eines Laserpointers die Schussbahn nach. Andere suchten nach der Kugel, mit der … Sie hielt inne. »Wie war sein Name?«, fragte sie laut.

Die Polizistin, die vorhin mit ihr geredet hatte, drehte sich um. »Wir haben noch keine bestätigte Identität, aber wir denken, dass er hier ansässig war.« Sie sprach mit leiser Stimme.

»Er hat hier gewohnt?«

»Möglich.«

Sarah sah sie an. »Wie heißen Sie?« Sie hätte einfach ihr Optik fragen können, aber es ging doch nichts über eine menschliche Note.

»Jenks, Ma’am. PC Jenks.«

»Danke. Für vorhin, meine ich, PC Jenks. Dass Sie nach mir gesehen haben.«

Jenks wollte gerade etwas erwidern, als ein lautes Motorengeräusch ertönte. Sie drehten sich um und die Polizistin runzelte die Stirn. »Was wollen die denn hier?«, murmelte sie.

Sarah sah, wie ein klobiges Fahrzeug mit dem gelben Albion-Logo auf seiner Panzerung in ein nahe gelegenes Parkhaus fuhr.

Es war ein hässliches Ding, für Fahrten durch entmilitarisierte Zonen und urbane Schlachtfelder gedacht. Die Türen wurden geöffnet und zwei Männer stiegen aus. Einen Moment später spuckte die hintere Luke ein halbes Dutzend Albion-Sicherheitsmitarbeiter in ihren schwarzen Kampfanzügen aus. Einer von ihnen war Sarah bedauerlicherweise nur allzu vertraut. »Faulkner«, sagte sie.

Hannah zog an ihrem Arm. »Wir sollten gehen.«

»Nein«, erwiderte Sarah und sah zu, wie einige Polizisten sich den Neuankömmlingen näherten. »Auf keinen Fall. Das hier ist mein Revier und ich lasse mich nicht von einem Haufen brutaler Schläger vertreiben, die einen auf Cop machen.« Aus dem Augenwinkel bemerkte sie, wie sich Jenks und ihr Kollege bei ihren Worten einen Blick zuwarfen. Es war ein zustimmender Blick, dachte sie. Die Polizei war vom Plan der Regierung, ihre Zuständigkeiten an Albion abzugeben, noch nicht überzeugt. Genauso wenig wie Sarah. Außer jemand sorgte dafür, dass es sich für sie lohnte.

Normalerweise wäre ihr das egal. Aber Albion markierte in Tower Hamlets gern den starken Mann. Und das störte sie gewaltig.

Sie ging geradewegs auf die brodelnde Konfrontation zu und hoffte, sie zu erreichen, bevor sie überkochte. Die Beziehung zwischen den Polizisten und dem Albion-Personal war bestenfalls als feindselig zu bezeichnen. Sie hatte Dutzende Berichte von Auseinandersetzungen zwischen den zwei Gruppen gelesen, die meisten verbal, einige aber auch körperlich. Faulkner, Albions Vertreter in East London, testete regelmäßig die Grenzen seiner Autorität aus. Er war bereits zweimal zurechtgewiesen worden, doch das schien ihn und seinen Arbeitgeber nicht besonders zu stören. Vielleicht war es aber auch genau das, was ihm befohlen worden war.

Faulkner war Soldat – oder genauer, ehemaliger Soldat. Ihre Akte über ihn war unvollständig und größtenteils geschwärzt. Albion schützte die Privatsphäre seiner Angestellten. Selbst so kleiner Fische wie Faulkner. Er war klein und breit, mit kurzen grauen Haaren und einem Gesicht, das zu oft in eine Faust gerannt zu sein schien. Doch sein Blick war scharf und er wirkte wie ein Mann, der seine Umgebung unaufhörlich beobachtete.

»Albion kann gehen, wohin es will, Kumpel«, sagte er gerade, als sie ankam. Fast, aber nur fast, hätte er einem der Polizisten den Zeigefinger in die Brust gebohrt. »Tower Hamlets ist unser Revier. Wenn euch das nicht gefällt, beschwert euch doch bei euren Chefs.«

»Wessen Revier?«, fragte sie freundlich.

Faulkner drehte sich um und verzog das Gesicht.

»Wie schön, Sie wiederzusehen, Mr Falkner«, sagte Sarah, bevor er sprechen konnte. Sie wusste, dass er ein Problem mit Minderheiten hatte. Er war nicht offen rassistisch, sondern eher gesellschaftsfähig herablassend. Offene Rassisten waren allerdings weniger anstrengend.

»Sergeant Faulkner«, korrigierte er sie.

»Mr Faulkner«, fuhr sie fort, als hätte er nichts gesagt. »Das hier ist doch eindeutig eine Angelegenheit für die Polizei.« Sie hatte sich zwischen ihn und die Polizisten gestellt. Es gab zweifellos ein starkes Bild ab und die Nachrichtendrohnen über ihnen nahmen alles auf.

»Wie ich diese Beamten bereits informiert habe, liegt Tower Hamlet im Zuständigkeitsbereich von Albion …«

»Im vorläufigen Zuständigkeitsbereich«, unterbrach sie ihn. »Mit Betonung auf vorläufig. Und Ihre sogenannte Zuständigkeit ist klar beschränkt. Und ich glaube, abgesperrte Tatorte gehören nicht dazu.«

»Vielleicht sind wir ja nur als besorgte Bürger hier.«

»Und ich bin mir sicher, dass sich die Polizei im Zuge ihrer Ermittlungen gern anhören wird, was Sie zu sagen haben. Doch bis dahin sollten Sie sich vielleicht … sagen wir, verpissen?«

Faulkner blinzelte. Er war es nicht gewöhnt, dass man so mit ihm redete. Sarah gestatte sich ein kleines Lächeln. Die meisten Männer hassten dieses Lächeln und Faulkner war da keine Ausnahme. Er antwortete nicht. Stattdessen machte er auf dem Absatz kehrt und marschierte zu seinen Männern. Sie kehrten zu ihrem Fahrzeug zurück und Sarah sah zufrieden zu, während die Polizei vorrückte, um sicherzugehen, dass sie auch dort blieben. Dann sah sie zu Jenks, die sich ihren Kollegen angeschlossen hatte. »Machen Sie weiter, PC Jenks.«

Hannah gesellte sich zu ihr, als sie zu ihrer Limousine zurückging. Wenn Albion hier war, war es an der Zeit, zu gehen. Wenn die Polizei Fragen hatte, war sie in ihrem Büro zu erreichen. »Sind Sie sicher, dass das klug war?«, fragte Hannah leise.

»Nein. Aber ich finde ihn abstoßend und es macht mir Freude, ihn vor den Kopf zu stoßen.« Sie sah zu Hannah. »Ich will wissen, warum er hier ist. Albion ist keine Ermittlungsbehörde.«

»Vielleicht wollten sie es nur mal versuchen. Sie wissen doch, dass sie schon seit Monaten versuchen, sich in die Zuständigkeiten der Polizei einzumischen. Um zu zeigen, dass sie es besser können.« Hannah wirkte nervös. Doch vielleicht war das nicht weiter überraschend, angesichts der Art, wie sie von Männern wie Faulkner angesehen wurde.

Sie warf einen Blick über ihre Schulter. Faulkner sah ihnen nach. Sie war versucht, ihm eine Kusshand zuzuwerfen, entschied sich jedoch dagegen. Es war ein schmaler Grat zwischen berechtigtem Widerstand und Provokation.

»Vielleicht«, sagte sie. »Aber ich will es trotzdem wissen.«

3: TOWER HAMLETS SOUTH

Als Olly Limehouse und die Werkstatt erreichte, war es ihm gelungen, sich einigermaßen zu beruhigen. Er hatte einen Zwischenstopp eingelegt, um seinen blutbefleckten Hoodie auszuziehen und ihn in einen Müllcontainer zu werfen. Jetzt trug er nur noch ein T-Shirt, doch das war um einiges sauberer. Er hatte den Hoodie ohnehin von der Heilsarmee, also war es kein großer Verlust. Die DNA-Spuren daran machten ihm etwas Sorgen, doch wenn er sich klug anstellte, gab es Möglichkeiten, das zu umgehen.

Er checkte seinen Newsfeed nach Updates über den Anschlag – denn er war sicher, dass es genau das gewesen war. Selbst wenn er nicht gesehen hatte, woher der Schuss gekommen war. Widersprüchliche Berichte tanzten über sein Display. Immer wieder wurde eine Videoaufnahme des Moments abgespielt und war unmöglich zu ignorieren.

Er dachte an den Gesichtsausdruck des Toten. Dieser plötzliche Stillstand – wie ein verlöschendes Licht, aber nicht ganz. Ein kurzer Moment entsetzlicher Erkenntnis, gefolgt von einer Schlaffheit, als alles in der menschlichen Maschine zum Erliegen kam. Noch nie zuvor hatte er jemanden sterben sehen. Und er war sicher, dass er es auch niemals wieder sehen wollte.

Die Werkstatt war verrammelt und dunkel. Schmiedeeiserne Fensterrahmen, die inzwischen mit Brettern vernagelt waren, starrten blind auf die Straße. Laderampen auf der gegenüberliegenden Seite öffneten sich in Richtung des Limehouse Cut, auch wenn er sich nicht erinnern konnte, dass irgendjemand sie je geöffnet hatte.

Das Gebäude war nicht immer eine Werkstatt gewesen. Ollys Feed füllte sich mit Lokalkolorit, als er sich näherte. Früher hatte es sich erst um den Laden eines Segelmachers, dann um einen Kerzengießer gehandelt – was auch immer das war –, bevor es als Lager und schließlich als Werkstatt gedient hatte.

Die Werkstatt hatte leer gestanden, solange Olly denken konnte, auch wenn ein Schild sie immer noch als TÜV-Zentrum auswies. Vor dem Eingang befand sich ein mit Ölflecken und Unkraut übersäter Parkplatz und der Eisenzaun war zugepflastert mit Schildern, die eine niedrige Miete versprachen, wenn man den Immobilienmakler kontaktierte.

Doch Olly wusste, dass das zuständige Maklerbüro ebenfalls pleitegegangen war. Und es war nicht das einzige. Der Immobilienmarkt war vor ein paar Jahren zusammengebrochen und hatte sich nie wieder ganz erholt. Doch selbst so schnüffelte alle paar Monate jemand von irgendeiner Firma herum, in der Hoffnung, alles abzureißen und Luxusapartments zu bauen, so wie sie es mit den umliegenden verfallenen Läden und Wohngebäuden getan hatten. Doch sie schlichen immer enttäuscht davon. Dafür sorgte DedSec.

Er schlüpfte durch ein Loch im Zaun und zerrte sein Rad hinter sich her. Das Grundstück war übersät mit nicht mehr identifizierbaren verrosteten Metallteilen. Es sah aus wie Trümmer einer verlorenen Schlacht. Einige waren mit Bewegungssensoren versehen, die einen stummen Alarm an jedes DedSec-Mitglied in der Gegend schickten. Überwachungskameras nahmen ab jetzt jeden seiner Schritte auf. Nicht dass es in seinem Fall viel zu sehen gegeben hätte.

Hoch über ihm summten Drohnen durch die Luft, doch im Dach der Werkstatt war ein Sender versteckt, der alle drei Sekunden ein Störsignal an jedes fremde Aufnahmegerät in Reichweite sendete. Dadurch wurde die Werkstatt – und jeder, der raus- oder reinging – so gut wie unsichtbar.

Falls ihn jemand von der anderen Straßenseite beobachtete, spielte das natürlich keine Rolle. Doch Olly bekam keine Pings von anderen Optiks, also war er sich ziemlich sicher, dass er nicht verfolgt wurde. Das bedeutete aber nicht, dass er länger draußen bleiben wollte als unbedingt nötig.

Das Rolltor war immer verschlossen, außer jemand musste schnell ein Auto verstecken. Er schob sein Rad zum Seiteneingang, winkte in die verborgene Sicherheitskamera und hielt sein Optik gegen das Schloss. Ein verborgener Sensor piepte und öffnete die Tür. Sobald Olly drin war, zog er sie hinter sich zu. Das Schloss und das damit verbundene Sicherheitssystem aktivierten sich wieder. Wenn man nicht die richtige Software auf seinem Optik installiert hatte, ging der Alarm los und ein verstärktes Sicherheitsgitter wurde hinter der schlichten alten Holztür heruntergelassen.

Wenn jemand entschlossen war hineinzukommen, würde es ihn nicht lange abhalten können. Doch es verschaffte jedem, der drinnen war, ein paar zusätzliche Minuten, um zu entkommen. Das fasste DedSecs Standardvorgehensweise ziemlich gut zusammen: beobachte, störe, verzögere – und lauf weg, um an einem anderen Tag weiterzukämpfen.

Olly war nie ein großer Freund von Weglaufen gewesen. Selbst als Kind hatte er versucht, sich gegen die größeren Jungs zu behaupten. Es hatte nie gut funktioniert, aber das nächste Mal hatte er es einfach nur noch härter versucht. Er hatte viel Prügel kassiert, doch er hatte gelernt, sie wegzustecken. Und wie man zurückschlug, ohne erwischt zu werden.

Genau darum war es bei der Sache mit den Auffüllrobotern gegangen – zurückzuschlagen. Oder zumindest hatte er sich das eingeredet. Das war doch eine alte britische Tradition, oder? Von den Reichen stehlen und so. Ein richtiger Robin Hood war er. Nur dass er statt Pfeil und Bogen ein geklontes Optik und eine Hacker-App benutzt hatte. Er war gleichzeitig stolz auf sich gewesen und hatte sich vor Angst in die Hose gemacht. Er hatte darauf gewartet, dass die Bullen an seiner Tür klopfen. Doch es waren nicht die Bullen gewesen.

DedSec hatte ihn kontaktiert und Olly hatte sich ihnen ohne langes Zögern angeschlossen. Er hätte sich gern eingeredet, dass er sie beeindruckt hatte, wusste aber, dass sie jeden rekrutierten, der die notwendigen Fähigkeiten besaß. DedSec war nicht das einzige Hacktivist-Kollektiv in London, aber das am besten organisierte. Zumindest behaupteten sie das. Manchmal kam es Olly allerdings so vor, als sei das Gegenteil der Fall. Ständig wechselten die Ansprechpartner und manchmal widersprachen sich ihre Anweisungen. Und es gab niemanden, bei dem man sich hätte beschweren können, selbst wenn er den Mut dazu aufgebracht hätte.

Versager hatten sich nicht zu beschweren und Olly war einer. Er hatte es zweimal verbockt – ein drittes Mal und er wäre raus. Vielleicht würde er auch im Pentonville-Gefängnis landen, wenn seine Kontaktleute besonders rachsüchtig waren. Das erste Mal war ein aufrichtiger Fehler gewesen – er hatte ein Paket der falschen Person gegeben. Beim zweiten Mal hätte er fast dafür gesorgt, dass er selbst und ein paar andere verhaftet worden wären.

Olly legte die Hand auf seine Jacke und spürte den Umschlag. Diesmal hatte er es nicht verbockt. Obwohl das Universum sein Bestes getan hatte. Er atmete tief durch. Es roch nach Staub und Schimmel. Das Innere des Gebäudes war genauso heruntergekommen wie die Fassade. Das Dach bestand hauptsächlich aus Glas in einem Metallrahmen, der von Rost und Vogelscheiße aufgefressen wurde.