We Burn the Sun - Anika Beer - E-Book

We Burn the Sun E-Book

Anika Beer

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Beschreibung

2091: Im überfluteten New York wird die Diplomatin Viv Hargreeves mit der Aufklärung einer brutalen Mordserie beauftragt. Ihre größte Hoffnung auf Erfolg: die Physikerin Sorcha Brennan und ihre Maschine, die alternative Zeitlinien öffnet. Doch die kämpft an der Seite berüchtigter Piraten. Erst als ein besonders kühner Coup entsetzlich schiefgeht und Sorchas große Liebe getötet wird, sieht die Piratin sich gezwungen, mit Viv zusammenzuarbeiten. Auf einer wilden Jagd durch die Zeit werden die Feindinnen zu Verbündeten. Aber können sie einander wirklich vertrauen? 

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Veröffentlichungsjahr: 2025

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Impressum E-Book

Entdecke die Welt der Piper Science Fiction!

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© Piper Verlag GmbH, München 2025

Konvertierung auf Grundlage eines CSS-Layouts von digital publishing competence (München) mit abavo vlow (Buchloe)

Covergestaltung: Guter Punkt, München

Coverabbildung: Markus Weber, Guter Punkt München unter Verwendung eines Motives von AdobeStock

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Inhalt

Inhaltsübersicht

Cover & Impressum

Widmung

Flagge

Zeitlinien-Logbuch 0

Tag 922

Tag 922

Nexus

Zeitlinien-Logbuch 139A

Tag 0

Tag 0

Tag 0

Tag 0

Tag 0

Nexus

Tag 0

Nexus

Nexus

Tag 1

Tag 1

Nexus

Tag 1

Tag 1

Tag 1

Tag 1

Nexus

Nexus

Tag 1

Tag 1

Tag 1

Tag 1

Tag 1

Nexus

Tag 1

Tag 1

Tag 1

Nexus

Zeitlinien-Logbuch III

Nexus

Tag 35

Tag 35

Tag 35

Tag 35

Tag 35

Tag 35

Tag 35

Tag 35

Tag 35

Tag 35

Tag 35

Tag 35

Tag 35

Zeitlinien-Logbuch IV

Nexus

Tag 0

Tag 0

Tag 0

Tag 0

Tag 1

Tag 1

Tag 1

Tag 1

Nexus

Tag 2

Zeitlinien-Logbuch IV.A

Tag 34

Zeitlinien-Logbuch IV.B

Tag 34

Tag 34

Tag 34

Tag 34

Tag 34

Tag 34

Tag 34

Tag 34

Zeitlinien-Logbuch V

Tag 1

Tag 1

Tag 1

Tag 1

Danksagung

Playlist

Inhaltswarnung

Buchnavigation

Inhaltsübersicht

Cover

Textanfang

Impressum

Widmung

Für Kyle

und Lisa

aus so vielen Gründen

Flagge

Zeitlinien-Logbuch 0

Start/Ort: [39°N 44°W]

Start/Zeit: 10/24/89

QuantumDot: ohne Fixpunkt

Protokoll: S. Brennan

Persönliche Notiz:

Die Vögel fliegen tief.

Tag 922

40°N 72°W

3. Mai 2091, 11:47

an Bord der Revery

Der Anfang war immer schwarz.

Tintenschwarz. Nachtschwarz. Nichtsschwarz.

Bis auf diesen einen Punkt aus Licht.

Er war so winzig, dass es unmöglich sein sollte, ihn überhaupt zu sehen. Es war unmöglich. Kein Binokular der Welt konnte Photonen so verstärken, dass sie mit bloßem Auge sichtbar waren, und doch … Je länger Sorcha die Brauenbögen gegen die Sichtrohre der Maschine presste, desto deutlicher erkannte sie es: das Licht, das sich zu einem verschwindend kleinen Punkt zusammenzog, während es sich bereits in Wellen wieder auflöste, hin und her fluktuierte, sich dehnte und waberte. Glimmerspuren sickerten in die Schwärze, streckten sich nach den Gegenstücken des Quantums, mit denen es womöglich verschränkt war; jedes an einem anderen Ort, in einer anderen Zeit, in einer anderen Realität. Der Anblick war immer aufs Neue hypnotisierend.

Ein Schaudern überzog Sorchas Haut vom Kopf bis in die Zehenspitzen. Ihre Hand am Hebel zitterte. Sie hatte die Maschine in den letzten zweieinhalb Jahren so oft benutzt, dass sie etwas zu genau wusste, wie es sich anfühlte, ihn umzulegen. Als öffnete sich der Spalt in ihrer Wahrnehmung bereits, obwohl sie noch nichts getan hatte, außer die fünfdimensionalen Koordinaten in Raum, Zeit und Licht in das Bedienfeld einzugeben. Ein Sprung in ihrer Wirklichkeit, der sich mit jeder Erschütterung weiter verästelte.

Wie viele solcher Risse konnte ein Bewusstsein wohl aushalten, ehe es endgültig zersplitterte?

Stopp. Bleib bei der Sache. Setz den Fixpunkt. Jetzt.

Furcht sickerte durch den Riss in ihre Gedanken; eine Furcht, von der sie nicht wusste, ob sie aus einer möglichen Zukunft kam oder bloß ein Symptom ihrer Nervosität war. Sobald sie den Hebel umlegte, würde sie all die Möglichkeiten sehen, wie die heutige Mission ausgehen konnte. Würde wissen, ob eins ihrer zukünftigen Ichs es für nötig gehalten hatte, sich selbst eine Nachricht durch die Zeit zu schicken. Ob der Raid schiefgegangen war. Wie oft. Und auf welche Weise.

Rational war es die einzig sinnvolle Entscheidung, diese Informationen abzurufen, bevor die Mission begann. Aber …

… was, wenn ihre Realität keine weitere Fragmentierung aushielt? Wenn dieses Mal das eine Mal zu viel war; wenn sie zerbrach, falls sie sich jetzt einen weiteren Riss zufügte?

Das Knarren der Tür hinter ihr schreckte sie auf. Eine hagere Silhouette zeichnete sich gegen das schummrige Licht auf dem Unterdeckflur ab.

»Was gibt’s, Cicatriz?« Sorchas Stimme steckte weit hinten in ihrer Kehle fest, unangenehm eingedrückt.

»Wir sind da. Bist du so weit?«

Erst jetzt wurde Sorcha bewusst, dass das Vibrieren und Summen des Schiffsmotors zum Stillstand gekommen war. Stattdessen hörte sie die Wellen, die gegen den Rumpf der Revery brandeten und den Boden von einer Schieflage zur anderen schwanken ließen. Ihre Gedanken schwankten mit, hin und her, ja oder nein. Die Hand am Hebel zuckte erneut.

Sorcha schloss die Finger fest um den Griff, spürte den Kunststoff unter der schwitzigen Haut ihrer Handfläche rutschen – und traf die Entscheidung. Sie ließ den Hebel los und stand auf. Streifte die Neurofeedback-Manschetten von den Armen und Knien, zupfte das Tape von der Nackenwirbelsäule und zog das Netzgeflecht mit den Elektroden von ihrem Kopf. »Gerade fertig.«

Sie konnte den Blick des Quartiermeisters nicht sehen, nur spüren. Undeutbar wie immer. Sorcha straffte das ungewohnt elegante Kleid über ihrer Hüfte, glättete mit den Fingern, was an der Hochsteckfrisur in Unordnung geraten war, und schaltete die Maschine aus.

Es war unmöglich, ein einzelnes Photon zu sehen. Trotzdem fühlte es sich an, als würde es noch dunkler im Raum.

»Kann losgehen.«

Sie sah nicht zurück, als sie die Tür hinter sich abschloss und Cicatriz den Schlüssel in die Hand drückte.

Besser, einen klaren Kopf zu haben. Besser, dem Tag ohne multidimensionale Angst entgegenzugehen. Besser, sich sicher zu sein, dass was sie sehen, hören und spüren würde, auch tatsächlich hier und jetzt geschah und nicht irgendwo anders.

Und besser, nicht darüber nachzudenken, ob sie womöglich gerade einen fatalen Fehler beging.

Tag 922

40°N 72°W

3. Mai 2091, 11:55

an Bord der Revery

 

Die See war unruhig. Ein böiger Wind wechselte immer wieder die Richtung und ließ die gerafften Segel in ihren Halterungen rumoren. Unter Sorchas Füßen vibrierten die Stufen zur Backbordnock auf der Brücke, synchron mit dem Ächzen und Stöhnen verschweißter Stahlplatten im Wellengang, der die Revery von ihrer Position zu schieben versuchte.

Sorcha fühlte sich wie das Schiff, das vergeblich an seinem Anker zerrte. Auch sie hätte sich in diesem Moment gern losgerissen und wäre vorgestürmt, und sie hätte viel dafür gegeben, im Kraftstoffmechanikraum zu sein oder wenigstens am Kontrollpanel für die Seilzüge.

Keine Chance. Ihre Position war heute eine andere. Selbst wenn sie noch so gern in den Wind gebrüllt oder auf Knöpfe geschlagen hätte.

Vince stand an der Reling, das Fernrohr vor dem Auge und auf die Wasserstadt gerichtet, die sich wie eine überdimensionierte Lotosblüte eine halbe Seemeile voraus aus den bleigrauen Wellen erhob. Oberhalb der Blattspitzen aus schlanken Glas- und Stahltürmen war die Wolkendecke aufgerissen, und breite Lichtfinger wiesen auf die Stadt, als sei sie wirklich die heilige Arche, die göttliche Rettung, nach der sie benannt worden war.

»Cheerio, lang lebe die Elite.« Vince stieß einen Laut aus, der halb Schnauben, halb Lachen war. »Party hard.«

Sorcha legte die Umhängetasche zu ihren Füßen ab, die Cicatriz für sie vorbereitet hatte. Ihre Mundwinkel zuckten. »Die even harder.« Der Zynismus fühlte sich rauer an als sonst, belegt von der Anspannung, die sich seit Stunden in ihr aufstaute.

Sie lehnte die Unterarme auf die Reling und sah aus dem Augenwinkel zu Vince. Es war ein enervierend ungewohnter Anblick, Captain Frigatebird ganz in schwarz zu sehen; so gedeckt, unterdrückt geradezu in dem eleganten Dreiteiler über dem Seidenhemd. Es war, als wäre mit den Farben auch die übliche Expression verschwunden. Die große Gestik, die entschlossene Wut, die sonst jedes von Vince’ Worten begleiteten, eingesperrt vom steifen Schnitt der Kleidung. Oder vielmehr: höchst konzentriert nach innen gerichtet. Wie ein Loch voll tödlicher Energie, die summend auf Sorchas Haut kribbelte und in Vince’ pechschwarzen Haaren tanzte, die als einziges noch wild und frei im Wind flatterten.

Enervierend trifft es.

Nicht enervierender allerdings, als selbst in diesem luxuriösen Etuikleid aus Seide zu stecken, das zu Vince’ Hemd passte. Neben der viel zu teuren Handtasche voller Sprengladungen stand der Aktenkoffer mit dem Fernzünder.

Hoffentlich lassen sie uns nicht zu lange warten.

»Und wenn das Zeichen nicht kommt?« Edna war aus dem Ruderhaus hinter sie getreten. Ihr kurzes friesenblondes Haar leuchtete fahl im sturmgrauen Licht. »Wenn sich Aurora geirrt hat? Wenn sie uns verarscht haben? Was dann, Captain?«

Vince ließ das Fernrohr sinken, drehte sich um und sah zu Edna auf, ein gefährliches Lächeln auf den Lippen. »Dann zeigen wir ihnen, was Mayhem bedeutet.«

Ein Schauer rieselte Sorchas Rückgrat hinunter. Sie war sich nicht sicher, was es mit ihr machte, dass sie beide so verkleidet hier standen – so weit entfernt von ihrem üblichen Selbst und zugleich so nah dran an ihrem großen Ziel: der High Society der USA einen bis in die Grundfesten erschütternden Schlag zu versetzen. Es fühlte sich unwirklich an, aber auch überwältigend lebendig; so elektrisierend, dass ein Stromstoß durch ihren Körper jagte, als Vince ihr das Fernrohr reichte und ihre Hände sich dabei berührten. Für einen Moment verfingen sich ihre Blicke ineinander.

Mayhem: Blut und Chaos.

Die Welt würde brennen, noch bevor der Tag vorbei war. Ob sie nun mit ihr brannten oder nicht.

»Keine Sorge. Sie sind da.« Auch in Vince’ Stimme hörte sie jetzt ein Beben. »Sieh mal auf 11 Uhr. Oben auf dem Dach.«

Sorcha kniff ein Auge zu und hob das Fernrohr ans andere. Wie immer brauchte sie einen Moment, um ihre Sicht auf die plötzliche Größe und die Details einzustellen. Dann aber erkannte sie die Festgesellschaft in ihren feinen Abendgarderoben, Champagnerflöten und Brandyschwenker in den Händen, wie sie an der Uferpromenade entlang flanierten, lachten und einander beglückwünschten in ihrer Bigotterie und dem verdrehten Glauben, sie würden hier tatsächlich den Teil der Menschheit retten, den zu retten sich lohnte. NOAH#04, die sogenannte »Arche für alle«, feierte Richtfest und zugleich ihren Untergang, aber das wussten die Leute dort drüben jetzt noch nicht.

Sorcha schwenkte den Blick weiter, auf 11 Uhr, wie Vince gesagt hatte. Ein etwas kleineres Hochhaus kauerte dort zwischen den anderen; es wirkte geradezu plump und gedrungen im Vergleich zu den eleganten Fassaden, die es umgaben. Ein Bürogebäude, Teil der zukünftigen Energieverwaltung vielleicht. Auf seinem Dach schwankte, wie auf allen anderen Dächern an diesem Tag, ein Richtkranz aus bunten Bändern im Seewind, aber das war es nicht, was Sorchas Aufmerksamkeit auf sich zog.

Unter dem Kranz stand eine Person.

Sie trug ein dunkelviolettes Cocktailkleid und eine etwas zu große goldene Handtasche. In der Hand hielt sie ein flaches, schwarzes Kästchen, das Sorcha auch auf die Entfernung sofort erkannte. Ein One-Way-Transmitter, den sie vor ein paar Wochen erst selbst moduliert hatte. Das Gegenstück dazu zog Vince gerade aus der Hosentasche. Kein Zweifel, das musste ihr Kontakt sein. Die Person, die ihnen die Tore zum Fest öffnen würde.

Sorcha versuchte, sich das Gesicht genau einzuprägen, den Blick der braunen Augen unter dem aschblonden Soft Undercut, den entschlossenen Zug um den Mund, die Art, wie sie die freie Hand auf den Verschluss der Tasche legte, als müsse sie einen Schatz bewachen. Ihre Miene war kritisch – für sie war hier draußen nur das leere Meer zu sehen. Sie konnte nicht wissen, ob wirklich jemand auf ihr Zeichen wartete oder ob sie sich umsonst angreifbar machte. Und trotzdem stand sie dort und hantierte mit dem Transmitter herum. Wer genau war diese Person, und warum half sie ihnen?

»Eine kleine revoltistische Splittergruppe, die den Rat von innen heraus bekämpfen will«, hatte Captain Aurora über ihre heutigen Verbündeten gesagt. Sorcha wäre es wohler gewesen, wenn sie mehr darüber gewusst hätte. Schwer zu sagen, ob Aurora selbst weitere Details kannte. Sie ließ sich seit jeher äußerst ungern in die Karten schauen.

Trotz des kühlen Windes breitete sich Hitze in Sorchas Nacken aus, überzog ihre Stirn und ihre Wangen. Eine ungewohnte Leere schwamm in ihrem Kopf; die Ungewissheit, eine offenbar wichtige Figur tatsächlich zum allerersten Mal zu sehen. Nicht zu wissen, was sie tun würde oder auch nur tun konnte. Ihre Hand am Fernrohr begann, zu schwitzen.

Es war zu spät, sich umzuentscheiden. Zu spät, die Maschine doch noch zu benutzen. Denn in diesem Moment vibrierte der Transmitter in Vince’ Hand, und Vince drehte ihn mit vielsagendem Grinsen in Sorchas und Ednas Richtung. Sorcha nahm das Fernrohr vom Auge, um die Buchstaben auf dem Pager-Display zu lesen.

PASSAGEFREIGEGEBEN. SIGNALWEITERLEITEN?

Eine Gänsehaut kroch über ihre Arme, die nichts mit dem Wind zu tun hatte. Doch als sie das Fernrohr wieder aufnahm und noch einmal zur Stadt und dem Hochhaus sah, war die Person im violetten Kleid verschwunden.

»Siehst du, Ed?«, sagte Vince. »Es geht los. Auf deinen Posten. Wenn wir zurückkommen, haben wir eine neue Stadt. Und einen Haufen stinkreicher Geiseln.«

Edna starrte noch einen langen, anklagenden Moment auf Vince herunter. »Ich glaube immer noch, dass es eine Falle ist.« Schroff wandte sie sich ab, und ihre hünenhafte Gestalt verschwand im Ruderhaus.

Vince zwinkerte Sorcha zu und strich sich die langen schwarzen Strähnen aus dem Gesicht, als der drehende Wind sie in eine neue Richtung trieb. »Also. Bereit?«

Sorcha zuckte die Schultern und verkniff es sich, die Gänsehaut von ihren Armen zu reiben. »Ist schwer, bereit zu sein, wenn man nicht weiß, ob man gleich in die Luft fliegt.«

Vince hob eine Braue; musterte sie eine Spur zu lange – und Sorcha wusste, in genau diesem Moment hatte sie sich verraten. Vince wusste nun, dass sie die Maschine nicht benutzt hatte. Sie schloss ihre Hand fester um die Reling und zwang sich, dem Blick standzuhalten.

Doch Vince zuckte bloß ebenfalls die Schultern, sanft, wie wegwerfend, und nahm ihr das Fernrohr wieder ab, um es erneut auf die Stadt zu richten. »Wahre Worte. Aber findest du es nicht auch ein bisschen romantisch, gemeinsam zu explodieren?«

Sorcha sah in Vince’ konzentriertes Profil und auf die harte Kieferlinie, die den lockeren Tonfall und das Lächeln Lügen strafte. Dankbarkeit brach sich in ihr wie eine Welle.

Vertrauen. So ein absolutes Vertrauen.

Sie rückte einen Schritt näher. »Glaub es oder nicht, auf eine verdrehte Art schon.«

»Anker lichten«, erklang in diesem Moment Ednas Stimme aus den Audioplugs. »Leichten Schub für den Kurzstreckendrift einleiten.«

»Aye«, kam augenblicklich Cicatriz’ leicht verzerrte Antwort vom Unterdeck, »Aye!«, ertönte auch die Bestätigung der Zwillinge im Maschinenraum, und tief im Schiffsbauch der Revery sprang nahezu lautlos der Motor wieder an und ließ Stahl, Holz und Seil erzittern.

Vince lachte leise. »Jetzt ist es sowieso zu spät, weißt du.«

Zu spät. Für alles. Ja, das ist es.

Sorcha schloss für einen Moment die Augen, lauschte auf das Beben und Vibrieren, das sich mit dem Trommeln ihres Herzens vermischte. Zoll um Zoll schob die Revery sich vor, auf die unsichtbare Barriere zu, die die Wasserstadt umgab. Je näher sie kamen, desto imposanter ragte NOAH#04 vor ihnen auf. Selbst das Leuchten der Sonnenfinger verblasste im Schatten der blattförmig gewölbten Hochhäuser und des hochaufragenden Stempelturms im Zentrum. Sorcha hatte sich an Bord der Revery selten so klein gefühlt wie zu Füßen dieses schillernden Kunstwerks von einer Stadt.

Ein statisches Flirren durchzuckte die Luft, als der Bug auf die unsichtbare Barriere traf, die NOAH#04 vor unbefugten Näherungsversuchen schützte – laut Auroras Informationen das einzige, aber dafür umso effektivere Abwehrsystem, das sie in der noch unbewohnten Stadt zu fürchten hatten.

Sorcha griff nach Vince’ Hand. Wind- und gischtkalte Finger verschränkten sich fest mit ihren. Quälend langsam glitt die Revery durch die Barriere hindurch; fast glaubte Sorcha, die Statik auf ihrer eigenen Haut kribbeln zu spüren. Noch ein Stück, nur ein kleines. Sie schloss erneut die Augen, als elektrische Entladungen sich in den Stahlseilen der Takelage weit über ihnen verfingen und über den Blitzableiter tanzten. Noch ein Stück. Noch eines.

Sorcha öffnete die Augen.

Das Flirren verglomm.

Das Kribbeln verblasste.

Stille. Für einen endlosen Moment wagte Sorcha nicht, zu atmen. Doch auch Sekunden später lag nur der Schatten der Stadt schwer auf ihrem Deck.

»Wir sind drin«, flüsterte Vince heiser und hob erneut das Fernrohr ans Auge. »Anker setzen! Gleiter klarmachen!«

»Aye, Captain!«

Auch das Zittern des Motors verstummte. Stattdessen zuckte nun ein Lachen in Vince’ Brust, das sich durch den Kontakt ihrer Finger auf Sorcha übertrug. »Sie haben nichts gemerkt. Sie feiern einfach weiter.«

Auch Sorcha lachte auf, ein rauer Ausbruch all der Erleichterung, von der sie kaum wusste, wohin mit ihr. »Die armen Schweine.«

Sie tauschten einen Blick, der sich wie ein Stempel in Sorchas Erinnerungen an diesen Moment brannte.

»Nein. Sie verdienen alles, was jetzt kommt.« Damit drückte Vince ihr das Fernrohr in die Hand und war mit ein paar Schritten bei der alten Schiffsglocke neben der Tür zum Ruderhaus. »Zeit für Phase Zwei.«

Mit entschlossener Wucht traf der Klöppel auf den Glockenkorpus. Der satte Klang wurde fast augenblicklich vom Wind geschluckt. Es war schwer zu sagen, wie weit er überhaupt trug, und doch … weit genug, dass kurz darauf ein vielstimmiges Echo auf dem scheinbar so leeren Meer hinter ihrem Heck ertönte, ein wenig versetzt wie ein Geisterchor aus dem Nebel, der sich immer weiter über das bleigraue Wasser verzweigte.

246 Piratenschiffe, ebenso im Tarnmodus wie sie, hatten die Botschaft gehört. Und Sorcha wusste, auf jedem dieser Schiffe bereitete nun jemand einen Transmitter vor, um das kopierte Signal von der Revery zu empfangen und weiterzuleiten – so lange, bis jedes einzelne Schiff gefahrlos die Grenze zu den Gewässern von NOAH#04 passieren konnte, wenn die Zeit gekommen war.

Nichts würde den Fall der Wasserstadt an die Freie Republik New Florida jetzt noch aufhalten.

Der Raid hatte begonnen.

 

Endlich rannten sie wieder. Eilten die knarrenden Treppen hinunter und über das schwankende Deck.

Bei den Gleiterports warteten Cicatriz und die Zwillinge. Vince warf Loraj den Transmitter zu, kaum dass sie in Reichweite waren, und löste mit einer energischen Bewegung die Verriegelung der Gleiterluke. »Unser Kontakt hat den Tracker eingeschaltet. Das wird eine Wünschelruten-Navigation, aber vermutlich geht’s Richtung Südsüdwest.«

»Aye, Captain.« Loraj kletterte voran, durch die Luke auf den Steuersitz ihres Gleiters, um den Transmitter in die Steuerkonsole zu klemmen. Während sich Vince hinter ihr auf den Sitz schwang und Zèklè über den schmalen Steg außen am Rumpf balancierte, um den zweiten Gleiter startklar zu machen, nutzte Sorcha die Gelegenheit für ein letztes Wort an Cicatriz. Der Quartiermeister hatte sich in den Schatten nahe dem Treppenaufgang zurückgezogen und beobachtete ihren Aufbruch mit verschränkten Armen; wartete schweigend ab, ob er noch gebraucht würde.

»Du verteidigst diesen Schlüssel mit deinem Leben, ja?«

Cicatriz’ hageres Gesicht zeigte kaum eine Regung. Nur die brandvernarbte Haut um seine Kieferpartie, die ihm seinen Namen gab, kräuselte sich ein wenig – etwas, das Sorcha in den Jahren ihrer Bekanntschaft als Schmunzeln zu erkennen gelernt hatte.

»Ich weiß von keinem Schlüssel. Und ich nehme nur Befehle vom Captain entgegen.«

Trotz aller Anspannung schlich sich auch auf Sorchas Lippen ein Lächeln, und sie atmete auf. »Danke.«

»Sorcha!«, rief Loraj vom Gleiter aus. »Alàs!«

»Bin schon da.« Sorcha nickte Cicatriz noch einmal zu, dann kletterte sie ebenfalls durch die Luke. Zèklè gebärdete ihr energisch »Beeilung!«, entgegen, und Sorcha schwang sich rasch hinter ihn auf den zweiten Gleiter. Es zischte, als der Vakuumverschluss sich löste und das Gefährt freigab. Für eine Schrecksekunde sackte der Gleiter ein Stück ab, ehe Zèklè den Steuerknüppel anzog. Und sie flogen.

 

Der Tracker führte sie über windgepeitschtes Wasser und weiße Wellenkronen, in einem Bogen ein Stück um die Stadt herum zu einem unscheinbaren Anleger – nicht allzu weit von der Bucht, in der die eigentliche Party stattfand, und in Sichtweite jenes Hochhauses auf 11 Uhr. Die noch unbewohnten Gebäudekomplexe ringsum starrten aus leblosen Fensterhöhlen auf den langen Pier und die Uferplattform mit der niedrigen Kaimauer, die ebenfalls verlassen war.

Bis auf die einsame Person im dunkelvioletten Kleid.

Sie stand dort, eine Hand auch diesmal auf den Verschluss ihrer Tasche gelegt, in der anderen ein teilweise ausgeklapptes Smartfold, auf dem sie mit raschen Daumenbewegungen herumwischte. Der Seewind zerzauste den dicken aschgoldenen Haarschopf, aber das schien sie nicht zu stören. Sie sah erst auf, als die Zwillinge den Tarnmodus der Gleiter abschalteten, gemächlich den Pier entlangglitten, als wären sie ganz normale Speedboote, und schließlich dicht bei der Kaimauer hielten, obwohl sie ohne Probleme auch über dem Land hätten schweben können.

»Ihr seid spät dran.« Der Gang der Fremden war lässig und elegant, trotz der beeindruckend hohen Absätze, und ihre Stimme ein wenig rau. »Resiliência Oliveira. Willkommen auf NOAH#04. Mit wem habe ich das zweifelhafte Vergnügen?«

»Ioteba Teitikai. Freischaffender Designer für autarke Floating Homes.« Vince sprang mit der üblichen Geschmeidigkeit an Land, und für einen Moment blieb Sorcha an dem Gedanken hängen, wie seltsam es sich anfühlte, wenn eine Wahrheit als Lüge ausgesprochen wurde.

Resiliência Oliveira musterte Vince derweil mit pragmatischer Objektivität. »Ah. Aus welcher indigenen Kultur stammt dieser Name?«

»Kiribati.«

Sie runzelte die Stirn und checkte kurz ihr Smartfold. »Versunkener Inselstaat, hm? Wird den meisten nichts sagen, das kannte schon niemand, als es noch existiert hat. Und für die, die es kennen, ist es vielleicht etwas over the top auf die Tränendrüse gedrückt. Was gängigeres, US-Amerikanisches wäre besser gewesen.« Sie machte eine wegwerfende Handbewegung. »Halb so wild. Die Haare solltest du aber noch zusammenbinden.«

In Vince’ Miene rührte sich nichts, und hätte Resiliência Oliveira gewusst, dass das die gefährlichste aller Expressionen war, hätte sie ihre Worte vielleicht entschärft. So aber spürte nur Sorcha die eiskalte Wut in den Bewegungen, mit denen Vince den Kamm entgegennahm, den Resiliência Oliveira aus ihrer goldenen Handtasche zog.

»Und du? Was ist dein Name? Deine Story? Schönes Make-up übrigens.« Der Blick der braunen Augen richtete sich nun auf Sorcha. »Ich denke, daran müssen wir nichts mehr machen.«

»Dr. Lise Meitner.« Sorcha verschränkte die Arme vor der Brust. »Neurophysikerin aus Massachusetts.« Es überraschte sie nicht, dass sich kein Erkennen in Resiliência Oliveiras Mimik zeigte. Als wäre der Name einer berühmten Kernphysikerin aus dem letzten Jahrhundert ein weitaus weniger offensichtliches Pseudonym als Vince’ ältester Eigenname.

»Schön. Das ist unkompliziert. Lassen wir so. Im Übrigen schlage ich vor, dass wir die Rufnamen benutzen. Das ist weniger umständlich, und dafür bin ich einfach immer.« Resiliência nahm den Kamm wieder entgegen und musterte Vince noch einmal kritisch. »Gut. Lassen wir jetzt auch so. Ist ja sowieso nur, falls jemand fragt.«

Vince wandte sich an die Zwillinge, die noch immer auf den Gleitern am Ufer warteten, und nahm den unverzichtbaren Aktenkoffer von Loraj entgegen. »Wir signalisieren dem Schiff, wenn ihr uns abholen sollt.«

»Bleibt in der Nähe und haltet die Zusatz-Sprengladungen bereit«, sagten im gleichen Moment die Gesten, die die Worte begleiteten. Noch immer war da diese eiskalte Wut in jeder Bewegung. »Mayhem kommt vielleicht schneller als gedacht.«

Zèklè und Loraj tauschten einen vielsagenden Blick und formten mit den Fingern das Zeichen für Zustimmung. Dann legten sie die Steuerknüppel nach vorn, die Gleiter schossen davon und verschwammen schon bald mit den Wellen und dem sturmdüsteren Himmel.

Resiliência sah auf die Zeitanzeige ihres BioID-Armbands. »Perfekt. Dann lasst mich noch schnell eure IDs validieren. Wir müssen die nächste Besichtigungsgruppe am Washington Square erwischen, es ist schon die vorletzte. Wie gesagt, ihr seid spät dran.«

Sie zog einen Scanner aus ihrer Handtasche, tippte ein paarmal auf das Display und ließ ihn über Vince’ und Sorchas ID-Armbänder gleiten.

»Die Führungen sind im Stundentakt. Sobald wir im Wartungssektor sind, haben wir also sechzig Minuten, um runter ins Rechenzentrum zu kommen, die Daten zu extrahieren und uns der letzten Gruppe wieder anzuschließen«, erklärte sie und erinnerte Sorcha daran, was Captain Aurora im Planungsmeeting gesagt hatte: »Euer Kontakt nimmt euch in Empfang und bringt euch runter in die Wurzel. Sie denken, dass es darum geht, technische Parameter und Analysedaten zu stehlen. Die Entlohnung ist schon geregelt.«

Resiliência schien das nicht infrage zu stellen. So weit, so gut.

»Ohne die Guide Bots kommt heute niemand in die Transportsysteme. Wenn wir die verpassen, sind wir am Arsch, es wäre also besser für uns alle, wenn ihr das rechtzeitig hinkriegt.« Resiliência ließ den Scanner wieder in ihrer Tasche verschwinden und wandte sich zum Gehen. »Na schön. Alles klar soweit? Dann los.«

 

Nach allem, was sie in ihrem Leben bisher gesehen und erlebt hatte – insbesondere in ihren letzten Jahren auf einem Piratenschiff, das sie zu großen Teilen selbst konstruiert hatte – war Sorcha wirklich nicht mehr leicht zu beeindrucken. NOAH#04 allerdings nötigte ihr schon auf dem kurzen Weg vom Anleger zur Metrostation Respekt ab. Sie hatte viel über die technische Struktur der Wasserstädte gelesen – wie sie Form und Funktion einer Lotosblüte imitierten; elegant, schön und ultimativ wasserresilient. Rein, das war der zynisch amüsante Teil des PR-Slogans, weil er offenbar moralische Reinheit implizieren wollte, faktisch aber nur auf die 100%-ige CO2-Neutralität und das ausgeklügelte Zero-Waste-Konzept hinwies.

Durch eine NOAH-Stadt hindurchzulaufen, war allerdings eine Erfahrung, die kein technischer Bericht und keine PR-Broschüre je würden erfassen können. Überreste des Seewinds strichen um die geschwungenen Spiegelfassaden, zwischen denen sich üppig bepflanzte Brückenparks und Hochgeschwindigkeitspassagen spannten. Unzählige Solarelemente schillerten im Sturmlicht, und riesige Werbebanner der Sponsorenfirmen leuchteten bereits überall, obwohl die Wohntürme noch kernlose Hüllen waren.

Schön, das war diese Stadt wirklich. Die Frage blieb: Zu welchem Preis?

Sie holten die Führung auf einer ausladenden Kreuzung ein, in deren Zentrum ein kastenförmiger Glasbau den Eingang zur Metro-Station Washington Square markierte. Kaum jemand beachtete die drei Neuankömmlinge, die sich an den Rand der Gruppe gesellten. Die knapp fünfundzwanzig Teilnehmenden der Führung waren zu sehr damit beschäftigt, die Hälse zu recken und sich näher an den strahlend weißen Guide Bot heranzudrängeln, der gerade mit einschmeichelnder Synthetikstimme die Unterdrucktechnologie erklärte, mit der die Transportkapseln durch die Tunnel unter den Straßen der Stadt geschossen wurden.

»Huh, das war aber knapp«, stieß Resiliência aus, ein wenig flachatmig wegen des Tempos, das sie trotz ihrer gefährlich hohen Schuhe vorgelegt hatte. Oder war das bloß Show für den schmierig gestylten Typen im cremefarbenen und weinroten Layers-Look, der direkt vor ihnen stand und sich als Einziger länger als eine Sekunde zu ihnen umsah? Reflexartig scannte Sorcha sein Gesicht nach Déjà-vu-Features; nach Regungen in seiner Mimik oder Gestik, die sie an etwas erinnerten, das er an einem anderen Heute getan hatte und vielleicht deshalb auch an diesem Heute tun würde. War er wichtig, oder glitzerte er nur?

Natürlich fand sie nichts. Nur ihr Kopf schmerzte dumpf.

Fuck.

Resiliência hob derweil ein leeres Champagnerglas – wo auch immer sie das plötzlich hergezaubert hatte. »Wir haben beim Anleger etwas die Zeit verträumt. Wunderschöne Wohngegend da unten. Die Aussicht – Luxus Gold!«

Der Typ musterte sie über den Rand seiner brillantbesetzten Sonnenbrille und kippte mit einem gönnerhaften Lächeln etwas von seinem Drink in Resiliências Glas. »Darauf cheers. Ich war ja erst skeptisch, aber für die First-Choice-Option hat sich das Investment wirklich gelohnt. Habt ihr auch im Immobilien-Pre-Sale optiert?«

Vince und Sorcha wechselten einen raschen Blick.

»Sicher. Doppelt.« Vince’ Lächeln war unverändert glatt. »Party hard.«

Sorcha sagte diesmal nichts. Die Anspannung war zurück, lag auf ihr wie der leere Blick der Hochhäuser rings um den Washington Square und pochte in ihrer Brust wie ein unregelmäßiger zweiter Herzschlag.

Eine platinblonde Frau im Schlangenprint-Hosenanzug drehte sich mit einem Augenrollen zu ihnen um und deutete in Richtung des Guide Bots. »Können Sie vielleicht mal still sein? Ich würde das gern hören!«

»Oh. Sorry, klar«, flötete Resiliência und kippte den Drink in einem Zug herunter, bevor sie das Glas zurück in ihre Handtasche warf.

»Die RapidSubnautics-ID-Kontrolle stellt sicher, dass Sie immer exakt dort ankommen, wohin Sie reisen möchten.« Die Augen-LEDs des Bots simulierten ein blinkendes Lächeln. »Nie wieder lästiges Fahrpläne-Checken: Programmieren Sie Ihr gewünschtes Ziel einfach manuell in die App Ihres Armbands oder lesen Sie Koordinaten via LiFi ein. Das Orientierungssystem leitet Sie zum richtigen Fahrstuhl, sobald Sie den Scanner passiert haben. Ich sende unser nächstes Ziel jetzt als Favoritenoption in die lokale LightSpot-Cloud. Bitte, testen Sie es.«

In die Menschen um den Metro-Schacht kam murmelnde Bewegung, als sich die Data-Leuchten über dem Eingang einschalteten und alle gleichzeitig versuchten, sich unter die Lichtkegel zu drängen. Die ID-Scanner-Terminals begannen, zu piepen, als die ersten Passagiere durch die rasch zur Seite gleitenden Schiebetore den Bahntunnel betraten. Auch Sorcha spürte ihr Smartfold in der Handtasche vibrieren, als sie dem Strom der Gruppe in den Schacht folgten. Von dem Layers-Typ war zum Glück nichts mehr zu sehen, ebenso wenig wie von der platinblonden Frau. Sie mussten in der Menge abgetrieben worden sein.

»So weit, so gut«, raunte Resiliência über die Schulter und zeigte ihnen ihr Fold, auf dem eine Nachricht mit dem Text Aufzug #06 leuchtete. »Sobald wir aussteigen, setzen wir uns wieder ab. Haltet euch bereit.«

 

Die RapidSubnautics machte ihrem Namen alle Ehre. Es dauerte nur gefühlte Sekunden, bis sie nahezu geräuschlos an einer Station hielten, die als Wartungssektor-C ausgewiesen war.

»Willkommen im Wunderland technischer Innovation!«, säuselte der Guide-Bot, als die Gruppe durch die synchron öffnenden Türen auf den spiegelnd sauberen Bahnsteig strömte. »Folgen Sie mir für eine magische Tour!«

Resiliência, Sorcha und Vince drückten sich zwischen zwei Sitzbänken an die Wand und ließen die Menge an sich vorbeiziehen.

»Einer der Wartungsschächte mit Zugang zur Wurzel ist ganz in der Nähe«, raunte Resiliência und wischte erneut auf ihrem Smartfold. »Wartet, bis der Bot weg ist.«

Sorcha hob sich unauffällig auf die Zehenspitzen und sah dem Bot nach, dessen strahlend weißer Torso mit dem pinken NOAH-Logo am Kopf der Gruppe leuchtete und sie zielstrebig dem Ausgang entgegenführte. Seine Stimme hallte durch das Untergrundgewölbe, während er über die hochmodernen Technologien referierte, die in diesem Sektor instandgehalten wurden. Die Tasche mit dem Sprengstoff wog schwer auf Sorchas Schulter.

»Jetzt!«, zischte Resiliência und lief voraus, den Bahnsteig in die entgegengesetzte Richtung hinunter bis zum Ende, wo sie ohne Zögern in die Hocke ging und über die Bahnsteigkante ins Gleisbett sprang. Suchend sah sie sich um. »Da ist es. Helft mir mal. Auf den Schuhen hab ich keinen guten Halt.« Sie wies auf eine Abdeckplatte in der Tunnelwand, in die zwei Dichtungshebel eingelassen waren. Dazwischen klebte ein gelbes Schild mit schwarzem Rand.

 

ACHTUNG: ZUTRITT NUR FÜR AUTORISIERTES PERSONAL

WARTUNGSSCHACHT NIEMALS ALLEIN BETRETEN

LEBENSGEFAHR!

HEBEL GLEICHZEITIG BETÄTIGEN

 

 

Für einen Moment lag Vince’ Hand warm auf Sorchas Rücken, fing ihr Lachen auf, ehe es laut werden konnte.

Und ich wollte gerade denken, du kannst alles auf diesen Schuhen.

Umso besser. Niemand machte Sorcha etwas vor, wenn es um Hebel ging. Und sie wollte über die verdammte Planke gehen, wenn sie Hilfe brauchte, um zwei davon gleichzeitig umzulegen. Der Kies im Gleisbett knirschte unter ihren Sohlen, als sie und Vince ebenfalls hinuntersprangen.

Die Abdeckung war sperrig und schwerer, als sie sie eingeschätzt hatte. Trotzdem stellte Sorcha sie mit ungerührter Miene zur Seite.

»Okay«, murmelte Resiliência. »Respekt.«

Sorcha erlaubte sich ein Grinsen. »Niemals allein betreten, ja?« Sie beäugte den Gittersteg, der in den Schacht hineinführte. Er ließ kaum genug Platz für eine einzelne Person und verlor sich schon nach wenigen Metern zwischen Kabelkanälen und Rohren in der Schwärze. Das Summen und Dröhnen zahlreicher Maschinen drang ihnen aus dem Dunkel entgegen. »Aber nur hintereinander, offensichtlich.«

»Na, wenn das so ist.« Vince wies mit einer Geste auf den Schacht, die so überbetont höflich war, dass Sorcha das Wort »Perfekt!« darin beinahe nicht erkannt hätte. »Die Person mit dem Licht geht voran, wir folgen. Dr. Meitner, Sie schließen bitte die Tür hinter uns.«

Etwas in Resiliências Gesicht zuckte, und auch Sorcha musste zugeben, dass ihr nicht hundertprozentig wohl dabei war, sich in einem beklemmend engen Unterseetunnel einzusperren. Aber was wäre die Alternative? Ein Loch in der Wand zu hinterlassen? Wohl kaum.

Sie folgte Resiliência und Vince und zog die Abdeckung an ihren Platz zurück. Für einen Moment war es stockfinster um sie. Dann leuchtete die Taschenlampe an Resiliências Smartfold auf.

»Von hier aus geht’s nur noch dem Schacht nach bis zur Wurzel. Von dort führt ein Wartungsaufzug direkt ins Rechenzentrum.« Resiliência wirkte hier drin weniger forsch als zuvor, fiel Sorcha auf, obwohl sie nicht genau wusste, woran sie das festmachte. Ihre Schritte ließen die Gitterplatten knarren und wackeln. Unter ihnen verloren sich mehr Kabelkanäle und Rohre jenseits des matten Lichtscheins, den die Smartfold-Taschenlampe streute. Links und rechts entdeckte Sorcha gelegentlich Sicherungskästen oder noch unverschalte Platinen. Signaldioden glommen neben brandneuen Hinweistafeln. Dahinter summten, pumpten und dröhnten schattenhafte Mechaniken. Faszinierend. Eine Maschine konnte noch so hübsch und glänzend sein – wenn man nur tief genug in die Eingeweide vordrang, reduzierte sich am Ende doch alles auf Leitmetall, Lötzinn und Schmierfett. Sogar eine Stadt wie NOAH#04.

»Geht das nicht ein bisschen schneller?« Vince’ Stimme wurde fast von der Geräuschkulisse geschluckt. »Der Plan geht nicht auf, wenn wir dreißig Minuten pro Weg brauchen, weißt du.«

Resiliência warf einen Blick über die Schulter, der selbst in der Dunkelheit als gereizt zu erkennen war. »Schon mal in Heels über ein Gitter gelaufen?«

Ein Lachen brachte Sorcha in der trockenen Luft zum Husten. Ach. Deshalb wankte sie so komisch.

Vince lachte nicht. In kritischen Situationen verfolgte Captain Frigatebird eine strikte No-Bullshit-Policy. »Dann zieh sie aus.«

Resiliência stöhnte entnervt. »Schon mal barfuß über ein Gitter gelaufen?«

Vince blieb stehen.

»Was?« Resiliência schob herausfordernd das Kinn in Vince’ Richtung. Dann wandte sie sich ruckartig wieder ab. »Wir werden nicht noch mehr Zeit mit Diskussionen verlieren. Wir gehen weiter.«

Sie kam keine zwei Schritte weit. Ein rotes Licht leuchtete auf, wo vorher nur die Schwärze von Vince’ Silhouette gewesen war. »Wir ja. Du aber nicht.«

Resiliência fror mitten in der Bewegung ein. Spätestens jetzt musste sie begriffen haben, dass es die Mündung eines Revolvers war, die sich gerade an ihren Hinterkopf drückte. Auch Sorchas Brust wurde unangenehm eng.

Risiko. Unnötiges Risiko. Scheiße, Vince, warum?

Natürlich kannte sie die Antwort: Go with the flow. Bleib unberechenbar. So lief es immer, und der Erfolg gab Vince recht darin. Da war es am Ende auch egal, ob sie sich heute durch Maschinendaten absichern konnten oder nicht.

»Hände hoch«, befahl Vince. »Lass das Smartfold fallen.«

Das Fold klatschte mit der Taschenlampe nach unten auf den Steg. Durch das Gitter hindurch wurde der Strahl von verschiedenen glatten Oberflächen reflektiert und verbreitete eine geisterhafte Helligkeit unter ihren Füßen, die sich mit dem Leuchten der Dioden auf dem Revolverrücken vermischte. Rot bedeutete scharfe Munition, keine Betäubung. Ganz sicher wusste Resiliência das.

»Leg deine Arme um das Rohr da.«

Sorcha musste Resiliência eines lassen: Sie behielt die Nerven. Während sie Vince’ Befehl folgte, ließ sie Sorcha nicht aus den Augen. »Das ist eine echt beschissene Idee. Du weißt das, oder, Lise? Ich seh’s dir an.«

Sorcha zuckte die Schultern und zog eines der dicken Gummiklebebänder hervor, mit denen Cicatriz ihre Tasche vollgestopft hatte. »Und wenn schon. Ich steh auf beschissene Ideen.« Sie trat auf die andere Seite des Rohrs und begann, das Band stramm um Resiliências Handgelenke zu schlingen.

»Wie wollt ihr denn ohne mich an eure Daten kommen?«, fuhr Resiliência fort, noch immer bemerkenswert unbeeindruckt davon, dass sie allein und gefesselt in der Dunkelheit eines Wartungsschachts zurückgelassen werden sollte. Hätte Sorcha nicht gerade Haut an Haut das Beben in ihren Fingern gespürt, vielleicht hätte sie es ihr sogar abgekauft. »Die Clearance für die Rechner da unten ist auf meinem Fold.«

Für einen Moment herrschte angespannte Stille, während Sorcha den letzten Knoten straffzurrte. Dann erst trat Vince einen Schritt zurück und senkte den Revolver. »Tja, schade für dich, dass uns die Daten in Wahrheit scheißegal sind.«

»Und im Zweifel könnten wir dir immer noch einen Finger abschneiden, um dein Fold zu entsperren«, schlug Sorcha vor und schwang sich am Geländer entlang an Resiliência vorbei. »Dein Glück, dass wir dafür keine Zeit haben. Pass auf mit dem Gummiband, da ist Sprengstoff drin.«

Vince ließ einen geringschätzigen Laut hören und kickte das Fold mit einer nachlässigen Bewegung vom Steg. Das Licht verlor sich im Gewirr aus Rohren und Kabeln. Dann verlosch es ganz.

»Dann wollen wir doch mal sehen«, flüsterte Vince in der rötlichen Dunkelheit, »wer dich noch kennt, wenn du nicht mehr existierst.«

 

Sie folgten dem Gittersteg nun im Licht einer kleinen Handlampe. Es war schwer, ein Gefühl für Zeit zu bewahren. Wäre es nach ihrem Bauch gegangen, hätte Sorcha behauptet, dass mindestens zwanzig Minuten vergangen sein mussten, seit sie sich am Bahnsteig von Wartungssektor-C von der Führung abgesetzt hatten. Der Timer in ihrem BioID-Band beharrte hingegen darauf, dass es erst zehn waren – und bloß vier, seit das Dröhnen der Maschinen Resiliências wütende Rufe hinter ihnen verschluckt hatte. Der Schacht endete – wie versprochen – an einer Einstiegsluke aus Stahl, die laut Beschriftung den Zugang zu einem Wartungsfahrstuhl versperrte. Als Sorcha die Luke aufstemmte, gab sie den Blick auf eine eiförmige Kapsel aus Panzerglas frei, die neben einem ausladenden Steuerpult gerade genug Raum für zwei Personen bot. Eine Schiene führte die Kapsel an der Außenwand der Wurzel hinab – jenes gewaltige Stahlrohr, das NOAH#04 im Meeresgrund verankerte. Hinter den Scheiben schwebten Reste gebrochenen Sonnenlichts im Wasser. Fischschwärme glitten schattenhaft vorüber. Weiter in der Tiefe verloren sich die Sonnenfinger endgültig in Dunkelheit. Der Boden der Kapsel vibrierte leicht, als Sorcha den Kopf einzog und hineinkletterte.

Das ist nicht bloß ein Fahrstuhl. Sie pfiff überrascht durch die Zähne. Das ist ein Mini-U-Boot. Wahrscheinlich kann man es sogar irgendwie von dieser Schiene lösen.

»Ah, eine undurchsichtige Menge von Hebeln und Knöpfen ohne Bedienungsanleitung.« Vince fädelte sich ebenfalls durch die Einstiegsluke. »Lieben wir.«

Sorcha warf einen Blick über die Schulter und grinste, obwohl das Kribbeln in ihrer Brust inzwischen in ihren Fingerspitzen angekommen war. »Denkst du, was ich denke?«

Vince verriegelte die Tür, stellte den Aktenkoffer ab und schob sich hinter Sorcha, um die Steuerkonsole näher in Augenschein zu nehmen. »Falls du dich gerade fragst, warum Resiliência nicht erwähnt hat, dass es einen sehr offensichtlichen alternativen Rückweg ohne Zeitlimit gibt: Ja. Was meinst du, bringt dieser Hebel uns nach unten?«

»Vielleicht hat sie nichts davon gewusst.« Auch Sorcha musterte die verschiedenen Elemente aus schmalen Augen. »Oder es funktioniert noch nicht. Oder vielleicht wusste sie auch einfach, dass wir nicht zu dritt hier reinpassen.« Sie griff an Vince vorbei. »Ich würde den hier versuchen.« Mit einem beherzten Ruck entriegelte sie den Hebel und zog ihn ein Stück nach unten. Ein gleißend weißer Ring aus Scheinwerfern leuchtete unter ihren Füßen auf, und die Kapsel begann, die Wurzel entlang abwärtszugleiten.

Ein Grinsen bog Vince’ Mundwinkel nach oben. »Du bist wirklich sehr attraktiv, wenn du das mit den Hebeln machst.« Das Grinsen verlosch schneller, als Sorcha Gelegenheit hatte, den Kommentar zu kontern. »Spätestens jetzt wären wir nicht mehr zu dritt.«

Sorcha öffnete den Mund und schloss ihn wieder. Für einen Moment war da eine vage Resonanz hinter ihrer Stirn gewesen. Das unbestimmte Gefühl, dass Vince genau diese Worte schon einmal zu ihr gesagt hatte, während sie genauso dicht beieinanderstanden; Rücken an Brust, kaum Platz für ein Blatt Sandpapier zwischen ihnen – und mit dieser Finsternis in den Augen, die so tief war wie die See. Rasch wandte sie sich ab.

Irrelevant. Konzentrier dich aufs Jetzt.

»Sieh dir das an«, murmelte sie und starrte durch die Glaswände der Kapsel zum Meeresgrund hinab. Ein gutes Stück unter ihnen schimmerte eine kugelförmige Ausbuchtung in der Wurzel wie eine Perle aus Glas, von innen heraus erhellt von kühlblauem Licht; vermutlich das Rechenzentrum, ihr Ziel auf dieser Mission. Von dort aus wurden die Bohrerarme gesteuert, die sich wie ein gewaltiges mechanisches Wurzelgeflecht über fast einen Quadratkilometer Fläche ins Sediment unter der Stadt gruben. »Es ist verdammt noch mal viel zu schön.«

Vince ließ einen indifferenten Laut hören und legte eine Hand über den Transmitter-Audioplug im linken Ohr. Sorcha hörte das Rauschen und Pfeifen, mit dem das Gerät eine Verbindung suchte, aber keine fand. »Wie Cicatriz gesagt hat. Kein Signal zum Schiff mehr hier unten.«

»Was willst du denn jetzt noch vom Schiff?« Die Anspannung machte Sorchas Stimme zunehmend schroff, und sie lehnte sich noch dichter gegen Vince, um die scharfen Kanten aus dem Moment zu nehmen.

Sie spürte mehr, dass Vince leichthin eine Schulter hob, als dass sie es sah. »War nur ein Test. Falls was schiefgeht, so ganz ohne Anleitung.«

Sorchas Mundwinkel zuckte. »Also ich brauche keine Anleitung mehr, wenn ich das System einmal verstanden habe.« Sie drückte den Hebel noch etwas weiter nach unten, um die Fahrt der Kapsel zu beschleunigen.

Das brachte ihr wie erhofft ein Lachen ein, das warm ihren Scheitel streifte, und sie spürte Vince’ Hand, die sich mit sanftem Druck um ihre Taille legte. Ein warmes Kribbeln durch ihre Eingeweide schickte, trotz allem. »Genau deshalb sind wir zusammen hier, Sorchee.«

Die gläserne Wand des Rechenzentrums kam jetzt sehr schnell näher. Sorcha nahm Tempo aus der Fahrt, bis sie wie in Zeitlupe auf die Andockstelle zuglitten und mit einem leisen Rumpeln gegen die Abfederung stießen. Mit einem Aufatmen schob Sorcha den Hebel in die Ausgangsposition zurück. Der Ring aus Scheinwerfern zu ihren Füßen verlosch, die Tür der Kapsel öffnete sich mit einem Zischen und gedämpftes Neonlicht fiel herein. Ein, zwei endlose Sekunden war alles still.

»Endstation.« Sorcha drehte sich zu Vince und grinste schief. »Bitte alles aussteigen.«

»Heldin.« Vince lächelte, drückte einen flüchtigen Kuss auf ihre Finger und ließ sie dann los. »Also dann, Phase Drei. Let’s go.«

 

Von dem Summen und Dröhnen all der Maschinen weiter oben war im Rechenzentrum nichts mehr zu hören. Hier gab es nur noch das sanfte Rauschen der Belüftungsanlage und das gelegentliche Blinken und Piepen an den Monitoren, wenn einer der Sensoren an den Überwachungssystemen eine Bewegung im Wasser oder am Grund aufzeichnete. Und darunter: ein weiteres Geräusch. Ein sehr vertrautes. Das Knarren und Ächzen verschweißten Stahls unter dem Druck vieler Tonnen Wasser. Sorcha warf einen Blick nach oben, wo durch das Kuppelglas der Schacht der Wurzel zu sehen war, beschattet vom gigantischen Unterbau der Stadt. Wer hielt es eigentlich für eine gute Idee, sich die eigene Winzigkeit so konstant vor Augen zu führen, solange man sich hier unten aufhielt?

»Dann mal an die Arbeit.« Sie ließ die Tasche mit den Sprengladungen von der Schulter auf eine der Schaltflächen gleiten und versuchte, sich nicht davon aus der Ruhe bringen zu lassen, dass ihre Stimme in diesem Raum so flach klang, als würde sie ebenfalls vom Gewicht des Wassers zusammengepresst. Als sie den Reißverschluss öffnete, kamen rund dreißig Bänder hochexplosiven Gummis zum Vorschein, anzubringen wie Klebeband. Es war absolut unmöglich, so hatte Cicatriz erklärt, die Panzerglasscheiben selbst zu sprengen, die immerhin darauf ausgelegt waren, genau solchen immensen Druck auszuhalten – und selbst wenn es ihnen gelang, würden die Scheiben trotzdem noch eine ganze Weile von ihren Polycarbonat-Einsätzen in Form gehalten werden. Was sie aber tun konnten: Die Verankerung der Scheiben sprengen. Dann würde der Wasserdruck den Rest erledigen.

»Was meinst du, Sorchee?« Vince war in der Mitte des Raums stehengeblieben und sah durch die Glaskuppel hinauf zur Stadt. »Wenn das Signal nach hier unten so schlecht ist, wäre es dann nicht sicherer, wenn wir hierbleiben und den Zünder manuell betätigen?«

Es klang leicht dahingesagt – viel zu leicht für die Schwere, die die Worte trugen. Vor allem, weil Sorcha dieses spezielle Wir kannte, von dem Vince gerade sprach. Sie ließ das Sprengstoffband fallen, das sie gerade aus der Tasche hatte ziehen wollen. Mit ein paar Schritten war sie durch den Raum und so dicht bei Vince, dass nichts anderes in ihrem Sichtfeld Platz hatte. Vince’ Geruch stieg ihr in die Nase; nach Schweiß und Meer und dem teuren, steifen Stoff des Anzugs, vertraut und beklemmend ungewohnt zugleich.

»Das habt ihr euch also mal eben überlegt, ja?«

Die Erwiderung kam prompt, ohne jedes Blinzeln oder Zögern. »Dann wüssten wir jedenfalls, dass es funktioniert.«

Das Atmen fiel Sorcha mit einem Mal unangenehm schwer. Sie trat noch einen Schritt näher und schloss ihre Finger entschieden um den Griff des Aktenkoffers mit dem Funkteil für die Fernzündung in Vince’ Hand. »Nein. Sorry, aber für so viel Romantik bin ich dann doch nicht zu haben.«

Zu ihrer Überraschung ließ Vince sofort los, als sie den Koffer mit einem leichten Ruck an sich zog.

»Seltsam. Man könnte den Eindruck bekommen, du hältst das für keine gute Idee.«

Sorcha schnaubte. »Sehr witzig. Wir lassen niemals jemanden zurück, weißt du noch? Also wenn du wir sagst, dann meinst du hoffentlich wir beide, damit ich dir sagen kann, dass du wohl den Arsch offen hast. Und wag jetzt nicht, einen Befehl oder so was zu versuchen, Captain.«

Vince zuckte nicht mal mit der Wimper. Nur die Lippen kräuselten sich, amüsiert und ertappt zugleich. »Keine Sorge. Wir haben doch eine viel zu große Schwäche für unmögliche Missionen, um es uns so leicht zu machen. Uns bleiben wohl noch zwanzig Minuten, um hier fertig zu werden?«

Sorcha lachte trocken auf und warf einen Blick auf ihr Armband. »Siebzehneinhalb, wenn du es genau wissen willst.«

Da legte Vince mit einer entschlossenen Bewegung beide Hände um ihr Gesicht und drückte die Lippen auf ihre. Lang, innig und zugleich überraschend sanft. Ein Kuss, der ihr sagte, dass sie sich wirklich keine Sorgen machen sollte; dass niemand die Absicht hatte, hier unten zurückzubleiben; dass es nur ein Gedankenfunke in der Finsternis gewesen war und sonst nichts.

Dabei war es niemals nichts. Nicht mit Vince.

Und vielleicht lag es genau daran, dass Sorcha in diesem Moment den Koffer einfach fallen ließ und auch noch den letzten Abstand zwischen ihnen überbrückte. Dass sie die Hand um Vince’ Nacken schloss, um fordernd die Sanftheit aus dem Kuss herauszubeißen; die Hitze zu spüren, die dabei durch sie hindurchrauschte; ihr Herz, das raste und schwindelnde Leichtigkeit in ihren Kopf pumpte, als Vince’ Hände ihre Hüften umfassten und sie noch näher zu sich zogen. Und dass sie, zumindest für diesen einen Moment, der Versuchung erlag, das Zeitlimit eben doch einfach verstreichen zu lassen, um kilometerweit unter dem Ozean zu knutschen, hier und jetzt zu sein und schließlich live vor Ort alles hochgehen zu lassen, ohne sich noch um ein Morgen zu kümmern.

»Jetzt noch sechzehn«, murmelte sie atemlos, als es vorbei war. »So ungefähr.«

Vince gluckste und lehnte die Stirn gegen ihre, ohne dabei den Griff um ihre Hüften zu lockern. Die Worte kitzelten auf ihren Wangen und Lippen und schickten einen letzten heißen Schauer in ihre Eingeweide. »Jetzt ist es wirklich unmöglich. Lieben wir.«

 

Sie sprachen nun nicht mehr miteinander. Sorcha kümmerte sich um eine Seite des Raums, Vince um die andere; sie arbeiteten zügig und höchst effizient, und trotzdem war es natürlich völlig illusorisch, zu glauben, sie könnten auch nur halbwegs im Zeitplan bleiben. Cicatriz hatte oft genug betont, dass sie keine Naht auslassen durften, wenn das Set-up genug Sprengkraft entwickeln sollte, und dass die Haftung der Streifen möglichst lückenlos sein musste. Endlich aktivierten sie die Sender der beiden Fernzünder. Es piepte dreimal an jedem Anschluss, und zwei rote Dioden begannen, gemächlich zu blinken, genau wie Cicatriz es beschrieben hatte. Aufatmend ließ Sorcha das Handteil der Zündung in ihre ansonsten nun leere Handtasche fallen.

Vince wischte sich die Hände an der Anzugshose ab und schob den zweiten Fernzünder in die Innentasche des Jacketts. »Tja, das war’s dann wohl.«

Sorcha nickte. »Nichts wie weg hier.« Sie räusperte sich, weil ihre Stimme immer noch unangenehm belegt klang.

Vince schloss die Hand fest um ihre, ein flüchtiges Lächeln in den Mundwinkeln wie eine Spur des Kusses von vorhin. Gemeinsam eilten sie durch den Raum und kletterten zurück in den Fahrstuhl. Ein letzter Blick auf die nun mit gelblich grauem Band umrahmten Scheiben, das blaue Licht, den aufgeklappten Aktenkoffer mit den blinkenden roten Signaldioden. Dann schloss Sorcha die Tür hinter ihnen.

 

Auf der zweiten Fahrt mit dem U-Boot-Aufzug verzichteten sie auf sämtliche Vorsicht. Auf dem Hinweg hatte Sorcha ein ausreichend gutes Gefühl für die Beschleunigung und den Umkehrschub entwickelt – und wen kümmerte es schon, wenn das Andocken etwas unsanft vonstattenging, wenn sie damit eine Minute Zeit einsparen konnten?

»Also.« Vince sah mit verschränkten Armen hinauf zu der Andockstelle über ihnen. »Da wir gleich wieder bei unserer Freundin vorbeikommen: Nehmen wir sie mit hoch? Oder lassen wir sie bis New Florida an ihrem Rohr hängen?«

Sorcha schüttelte mit einem kurzen Lachen den Kopf. »Ist das eine ernst gemeinte Frage? Jetzt kannst du mal Captain sein und das schön selbst entscheiden.« Sie gab noch etwas mehr Schub auf den Hebel. Faszinierend, wie stark der Antrieb dieses Gefährts war. Vielleicht konnten sie sogar zwei Minuten sparen. »Auch wenn ich schon weiß, was dabei rauskommen wird.«

Etliche Sekunden war es neben ihr auf eine recht ungehaltene Weise still. Dann warf Vince dramatisch die Hände in die Luft. »Ah, verflucht, es ist ein Kreuz immerzu mit diesem Gewissen!!«

Die Kapsel rumpelte gegen die Andockstelle. »Tja …« Sorcha warf einen Blick auf ihr Armband und unterdrückte ein Grinsen. »Noch knapp vier Minuten, bis die Führung weg ist. Tatsächlich ziemlich unmöglich. Vor allem, wenn du sie wirklich noch losschneiden willst.«

Vince lachte. Zischend aktivierte sich das AirLock. »Du hast recht. Es ist sogar völlig unmöglich.«

Sorcha riss die Tür zum Wartungsschacht auf.

 

Der Gittersteg bebte unter ihren Füßen, als sie durch die dröhnende, summende Dunkelheit rannten. Der Strahl der Handlampe tanzte über das Gewirr aus Rohren und Kabelkanälen neben und unter dem Steg. Sorcha verlor jedes Gefühl für Zeit, sie wusste nur noch, dass es dringend war. Zumindest konnte es jetzt nicht mehr lange dauern, bis sie die Stelle erreichten, an der Resiliência an das Rohr gefesselt war. Sorcha fingerte in ihrer Umhängetasche nach dem Klappmesser und verfluchte zum tausendsten Mal dieses furchtbar unpraktische Kleid. Doch als sie im nächsten Moment gegen die Abdeckung stieß, die aus dem Schacht zurück ins Gleisbett vor dem Bahnsteig führte, wurde ihr schlagartig klar, dass das bei Weitem nicht ihr größtes Problem war.

»Scheiße!« Sie wandte sich um, leuchtete an Vince vorbei den Steg zurück. Auch Vince starrte aus verengten Augen in die Dunkelheit hinter ihnen, ebenso ungläubig wie sie.

Nichts.

Dabei war es undenkbar, dass sie die Stelle verpasst hatten. Es gab keine Abzweigungen, und dies war definitiv der Ausgang, durch den sie hereingekommen waren, also …

»Wo ist sie?!« Noch während sie es aussprach, wusste sie, dass es auf diese Frage keine Antwort gab.

Resiliência war weg.

»Wie zur Hölle«, stieß Vince zwischen zwei abgehackten Atemzügen hervor.

Ja, wie zur Hölle? Das hätte Sorcha auch gern gewusst. Mit einem wütenden Ruck wuchtete sie die Abdeckung zur Seite.

Der Bahnsteig war leer. Von der Führung, die sie noch zu erwischen gehofft hatten, war weit und breit nichts zu sehen. Doch auf einer der Bänke, ein Bein elegant über das andere geschlagen, saß eine Frau im dunkelvioletten Kleid neben einer goldenen Tasche und sah ihnen mit undurchdringlicher Miene entgegen.

»Fuck«, zischte Sorcha. Hinter sich hörte sie das Klicken, mit dem Vince den Revolver entsicherte.

»Willkommen zurück«, sagte Resiliência und stand auf. Alles an ihren Bewegungen wirkte ungefährlich, geradezu gelangweilt – abgesehen von ihrem Blick. In der Hand hielt sie ihr Smartfold.

Moment mal. Hatte Vince es nicht vom Steg gekickt?

Resiliência rückte den Riemen ihrer Handtasche zurecht. Vermutlich hatte sie dort drin ein zweites Fold gehabt. Verflucht, sie hätten daran denken sollen, die Tasche auch zu entsorgen. Trotzdem erklärte das noch lange nicht, wie sie die Fesseln losgeworden war. Etwas pochte in Sorchas Kopf, schon wieder. Ein unmöglicher Gedanke, den sie hier und jetzt, ohne die Maschine, gar nicht hätte haben dürfen.

Er blieb im Dunkeln.

Resiliência sah auf die Zeitanzeige ihres ID-Armbands. »Ich habe die Führung so lange wie möglich aufgehalten und mir die Route vom Guide Bot aufs Fold gezogen. Sie sind gerade erst weg. Also wenn ihr nicht wollt, dass eure Ärsche hier unten verrotten, lasst ihr jetzt den Scheiß mit dem Revolver sein, damit wir sie einholen können, bevor sie an der nächsten Station in die Bahn steigen. Gern geschehen.« Sie wandte sich ab und schritt mit selbstbewusst schwingenden Hüften den Bahnsteig hinunter, als wäre nicht gerade eine scharfe Waffe auf sie gerichtet.

Sorcha blieb nichts anderes übrig, als Respekt vor ihr zu haben. Und ihr zu folgen, denn unrecht hatte sie leider auch nicht. Für einen Moment blitzte in ihr die Idee auf, ob sie es schaffen konnte, den Fahrstuhl da unten doch U-Boot-klar zu machen und auf Resiliências fragwürdige Hilfe zu pfeifen. Aber da waren zu viele Vielleichts, Wenns, Obs. Sie wussten ja nicht mal, wo es weitere Andockstellen für die Kapsel gab. Bis zur Revery reichte das Signal der Fernzünder außerdem nicht. Vince hatte es ja vorhin noch getestet.

»Verdächtig!«, gebärdete sie knapp.

»Sehr. Wachsam bleiben«, antwortete Vince mit den Händen und schwang die Füße auf den Bahnsteig. »Wir werden sie so schnell wie möglich los.«

Rasch kletterte Sorcha hinterher, und sie liefen Resiliência nach, ehe sie um die Ecke verschwinden konnte. Dabei fiel Sorchas Blick auf ihre Füße. Trug sie andere Schuhe als vorher? Oder erinnerte sie sich falsch? Sie zwickte kurz die Augen zusammen. Ein unangenehmer Schwindel breitete sich zunehmend in ihrem Kopf aus, vermischte sich mit mehr dumpfen Ahnungen ohne Form oder Substanz. Es war ja in sich schon ein Déjà-vu, hinter Resiliência her zu hetzen, selbst wenn es kalt beleuchtete Tunnel waren statt ausladender Straßen zwischen funkelnden Hochhäusern; immer den verzerrten Stimmen und Schritten der Führungsgruppe nach. In den letzten Jahren hatte Sorcha Déjà-vus ernsthaft zu hassen gelernt. Wieder versuchte sie, dagegen anzuzwinkern, vergeblich. Da war ein Rauschen in ihren Augen und Ohren, das immer weiter anschwoll, durchsetzt von Britzeln und Flackern und …

»Vorsicht!«

Als Vince sie an der Schulter packte, fuhr sie zusammen. Resiliência war direkt vor ihr stehengeblieben. Sie hatten die Führungsgruppe am Zugang zu einem weiteren Metro-Bahnsteig eingeholt. Wo war der Rest des Weges hin? Es war, als hätte Sorcha nur einmal sehr lange geblinzelt.

»Huh, das war aber knapp!«, keuchte Resiliência übertrieben laut. »Wir haben etwas die Zeit verträumt.«

Ein Rauschen knisterte in Sorchas Ohren. Reflexartig hielt sie nach dem weinroten Typen mit seiner Brillantsonnenbrille und der Frau im Schlangenhosenanzug Ausschau, obwohl sie wusste, dass die nicht bei dieser Führung sein konnten.

Nein, nein, nein, das hat sie gerade nicht gesagt. Scheiß Déjà-vus.

»Alles in Ordnung?«, fragten Vince’ Hände. Selbst die Zeichen wirkten jetzt besorgt.

Sorcha atmete einmal bewusst ein und kniff sich mit Daumen und Zeigefinger der rechten Hand in den Handteller der linken, bis der Schmerz das neblige Gefühl aus ihrem Kopf vertrieb und sie den Boden unter ihren Füßen wieder spürte. Das Rauschen verebbte zu dem hydraulischen Dröhnen der Mechaniken, das hier unten alles begleitete. Nun hörte sie auch den Guide Bot, der sie erneut aufforderte, die Koordinaten ihres nächsten Ziels aus der LightSpot-Cloud auszulesen. Er nutzte das gleiche Stimmprofil wie das Modell bei der anderen Gruppe. Schwach.

Sorcha schüttelte sich innerlich und fing ihre Gedanken ein, um sich selbst daran zu erinnern, dass Vince etwas gefragt hatte. Dann formte sie knapp die Zeichen für: »Kein Problem! Nur gestresst.«

»Okay.« Auch Vince hielt die Gebärden jetzt klein, kaum mehr als ein Weben und Krümmen mit den Fingern, während sie sich weiter unter die Gruppe mischten und durch die Drehkreuze unter den LiFi-Leuchten auf den Bahnsteig drängten. »Sie: Problem. Abstand gewinnen. Draußen: rennen.«

Sorcha nickte und schoss einen Blick zu Resiliência. Sicher war ihr inzwischen aufgefallen, dass sie in der Menge wie zufällig von ihr weg drifteten und dabei Informationen austauschten. Pech für sie, dass sie keine Chance hatte, zu verstehen, egal welche Gebärdensprachen sie womöglich beherrschte. Die Sprache der Zwillinge war einzigartig, und je mehr Körper sich zwischen sie drängten, desto schwerer würde es sein, die Zeichen auch nur zu sehen.

Das Problem war bloß: Resiliência kommunizierte auch. Sie bediente ihr Fold mit einer Geschwindigkeit, als hätte sie sich anstelle ihrer eigenen Hand eine Hightech-Prothese integrieren lassen. Keine Frage, dass sie dringende Nachrichten über den Stand der Mission austauschte. Und Sorcha hatte keine Ahnung, mit wem.

»Aufteilen sobald möglich«, gebärdete sie. »Sie: allein. Noch. Kann nicht uns beiden folgen.«

Vince nickte und setzte sich den Transmitter-Plug zurück ins Ohr. Auch Sorcha fischte den kleinen Ring aus einem Fach in ihrer Handtasche und schob ihn in ihre Ohrmuschel.

Der Bahnsteig der Station Wartungssektor-D war deutlich schmaler als der in Wartungssektor-C und mit der Führung geradezu überfüllt. Sorcha fühlte Vince’ Finger, die sich einmal mehr mit festem Druck um ihre schlossen, während sie sich bis ans hinterste Ende der Bahn drängten. Sie warf einen Blick über die Schulter, in der Hoffnung, Resiliência bereits ein Stück weit abgehängt zu haben. Doch leider hatte diese offenbar ebenso wenige Skrupel wie sie, sich mit allem nötigen Nachdruck einen Weg zu bahnen. Sorcha fluchte und schob Vince vorwärts in die Bahn, wobei sie die Proteste der Leute ignorierte, denen sie dabei auf die fein gekleideten Füße traten. Im letzten Moment sah sie, wie sich Resiliência am anderen Ende des Waggons mithilfe ihrer Ellbogen in die Menge drängte. Zischend schlossen sich die Türen.

Die wenigen Sekunden, die die Fahrt diesmal dauerte, dehnten sich in eine Ewigkeit. Sorcha entdeckte Resiliência, die sich neben der Einstiegstür lässig an die Wand gelehnt hatte. Sie schrieb jetzt keine Nachrichten mehr. Starrte nur unverwandt zwischen den Leuten hindurch zu ihnen herüber. Sorcha fühlte ihr Herz bis in die Fingerspitzen pochen. Adrenalin kribbelte unter ihrer Haut. Was würde sie erwarten, wenn sich diese Türen öffneten? Welche Art von Verstärkung konnte Resiliência rufen, und warum wartete sie darauf, dass sie an die Oberfläche zurückkehrten, ehe sie zugriff? Wollte sie überhaupt zugreifen? Was war der Plan?

Die Bahn hielt. Die Türen öffneten sich. Keine Zeit mehr, zu denken. Sorcha und Vince schossen auf den Bahnsteig hinaus, noch bevor irgendjemand sonst einen Fuß über die Schwellen setzen konnte. Vage erstauntes Murmeln und Raunen erklang aus der Menge, die sich hinter ihnen aus der Metro ergoss. Die Station vor ihnen war leer.

»Bitte entfernen Sie sich nicht von der Gruppe!« Der Guide Bot hatte die Lautstärke seiner Stimme für die Ermahnung erhöht. »Zur Gewährleistung Ihrer Sicherheit ist es erforderlich, dass alle Teilnehmenden zusammenbleiben. Eine Trennung von der Gruppe erfolgt auf eigene Gefahr! Ich wiederhole: Bitte entfernen …«

War die Station Wartungssektor-D geradezu verschämt klein gewesen, glich diese den Mangel doppelt und dreifach mit Raum und Prunk wieder aus. Der Bahnsteig ging nahtlos in eine von futuristischen Bögen und Querstreben getragene Halle über, aus der weitere Tunnel zu weiteren Bahnsteigen abzweigten und eine beeindruckende Reihe von Rolltreppen über mehrere Ebenen hinauf zum Ausgang führte. Im Vorbeilaufen erhaschte Sorcha einen Blick auf das Schild der Station: White Glory Boulevard/Future Square. Der Boulevard. Die große Prachtstraße, die vom »Stempel«, dem Verwaltungsturm im Zentrum der Stadt, direkt zum Hafen führte. Sorcha hatte sie in etlichen Broschüren gesehen.

»Wir trennen uns auf der nächsten Ebene«, rief Vince ihr zu, während sie zu den Rolltreppen rannten. »Es muss da oben Nebenausgänge geben!«

»Aye, Captain!« Sorcha warf einen schnellen Blick über die Schulter. In der Menschentraube, die sich auf dem Bahnsteig gebildet hatte, konnte sie Resiliência nicht entdecken. Wo war sie hin?

Ein kurzer Piepton erklang, als sie die ersten Stufen hinaufsprinteten und der Transmitter in Sorchas Ohr sich mit dem Funk- und GPS-Signal der Revery verband. Die Erleichterung, die sie dabei überkam, war größer, als sie erwartet hatte. Endlich wieder im Sendebereich. Sie waren nicht mehr allein.

»Cicatriz!« Es klickte im Transmitter und sie hörte Vince’ Stimme jetzt doppelt, einmal neben sich und einmal aus dem Audioplug. Fast gleichzeitig vernahm Sorcha allerdings noch etwas anderes: Das Klackern hoher Absätze auf dem Epoxidharzboden hinter ihnen. Ein weiterer Blick zurück bestätigte ihre Befürchtung: Resiliência hatte sich aus der Gruppe gekämpft und war am Guide Bot vorbei auf die freie Fläche der Halle geeilt.

»Hey! Ihr zwei, bleibt stehen!!«

Klick.

»Captain. Sorcha. Ich höre.«

Sorcha drückte ihren linken Zeigefinger leicht gegen ihr Ohr, um das Mikrofon zu aktivieren. »Unsere Heimlichkeit ist am Arsch, wir müssen rennen. Wir kommen jetzt raus, siehst du uns?«

Klick.

»Ich sehe eure Position am GPS, aber ich habe immer noch keine gute Auflösung der Straßenkarten. Ich brauche mehr Info, wenn ich euch navigieren soll.«

»Verstanden. Sorcha gibt dir Updates. Wir müssen unseren Kontakt auf Abstand halten.«