Weberschlacht - Stefan Blankertz - E-Book

Weberschlacht E-Book

Stefan Blankertz

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  • Herausgeber: Virulent
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2014
Beschreibung

Mörderische Politik oder politischer Mord? Der Kaufmannslehrling Peter sieht sich in die gnadenlosen Auseinandersetzungen um die Vorherrschaft im Stadtrat hineingezogen Eine Auseinandersetzung zwischen aufstrebenden Handwerkszünften mit den Webern an der Spitze und alteingegessenen Ratsgeschlechtern erschüttert Köln. Verleumdung, Hinterlist und sogar Mord werden als Waffen eingesetzt. Auf diesem aufwühlenden Hintergrund muss der Kaufmannslehrling Peter Nicol vom Eisenmarkt, dessen Vater ermordet wurde, zusammen mit seinem Freund Johann herausfinden, wem in dieser Situation überhaupt noch zu trauen ist. Nach vielen Irrungen und Wirrungen gelingt es ihnen schließlich, den wahren Täter zu entlarven, während die Stadt im Chaos eines Bürgerkrieges, der "Weberschlacht" vom 20. November 1371, zu versinken droht.

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Seitenzahl: 304

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Stefan Blankertz

WEBERSCHLACHT

 

Ein Krimi aus dem Mittelalter

 

IMPRESSUM

 
 

Virulent ist ein Imprintwww.facebook.de/virulenz

 

ABW Wissenschaftsverlag GmbHAltensteinstraße 4214195 BerlinDeutschland

 

www.abw-verlag.de

 

© E-Book: 2014 ABW Wissenschaftsverlag GmbH

 

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek

 

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://d-nb.de abrufbar.

 

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der Vervielfältigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Eine Vervielfältigung dieses Werkes oder von Teilen dieses Werkes ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes der Bundesrepublik Deutschland vom 9. September 1965 in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie ist grundsätzlich vergütungspflichtig. Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des Urheberrechtsgesetzes.

 

Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften.

 

ISBN 978-3-86474-085-5

 

Produced in Germany

 

E-Book-Produktion: ABW Wissenschaftsverlag mit bookformer, BerlinUmschlaggestaltung: brandnewdesign, HamburgTitelabbildung: istockphoto (rotofrank)

 

P140002

 

Inhaltsverzeichnis

 

Die Personen

Vorspiel

Köln - am 2. Juli 1370

Baesweiler - am 23. August 1371

Königsdorf - am 23. August 1371

Der Tod

16. November 1371

Zwischenspiel

Die Schande

17. November 1371

Zwischenspiel

Der Verräter

18. November 1371

Zwischenspiel

Der Prozess

19. November 1371

Zwischenspiel

Die Schlacht

20. November 1371

Nachspiel

Glossar

Nachwort

VOM PFENNIG

 

Wem ich wie Eis entschlüpfteund wie ein Ball weghüpfte, wem solcher Art ich kam abhanden, und allen, die mich untreu fanden, sag’ ich: Wer zu mir freundlich war, dem ich sogleich geriet zur Zier; wes Mutes unstet dünkte mir, bei dem nur ich mich machte rar. Nach Walther von der Vogelweide

 
 

DIE PERSONEN

 

Historische Figuren sind mit einem Stern gekennzeichnet. Die Darstellung ihres Verhaltens und ihres Charakters im Roman entspricht jedoch nicht in jedem Fall der historischen Überlieferung. Der Anhang enthält ein Glossar benutzter mittelalterlicher Begriffe und erwähnter historischer Personen.

 

Der Haushalt der Weinhändler vom Eisenmarkt

 

Bruno, Knecht

 

Fridrun, Köchin und Magd

 

Gerwin, Vetter von Peter, Waise

 

Markus Nicol, angehender Weinhändler, erstgeborener Sohn

 

Martha Nicol, der Kirche geweihte Tochter, jüngste der Geschwister

 

Peter Nicol, Sohn, Lehrknabe bei der Garnmacherin Elisabeth de Porta

 

Richard Nicol, Weinhändler, ermordeter Gatte von Ursula

 

Ursula Grin, Witwe von Richard

 

Der Haushalt der Garnmacherin Elisabeth de Porta

 

Agnes, Gesellin

 

Beatrix, Gesellin

 

Christine, Tochter

 

Eike von Repgow, Kaufmann, verstorbener Gatte von Elisabeth

 

Elisabeth de Porta, Garnmacherin, Lehrherrin von Peter Nicol

 

Engelradis, Köchin

 

Frumhold, Sohn

 

Ida, Kinderfrau

 

Weitere Personen

 

Druda Hadevart, Mutter von Johann, Gattin von Lufred

 

*Edmund Birkelin, Kaufmann im Aachener Exil

 

Everhard der Grieche, Amptmeister der Weber

 

Franz von Kusin, Schöffe

 

*Friedrich III. von Saarweden (1348-1414), Erzbischof

 

Geberga de Porta, Schwester der Garnmacherin Elisabeth de Porta, Gattin von Gernard Gir von Covelshofen

 

Gernard Gir von Covelshofen, Kaufmann, Gatte von Geberga de Porta, Schwager von Elisabeth de Porta

 

*Henken von Turne, Weber, Volksheld

 

Hille, Witwe eines Fischhändlers

 

*Johann von Troyen, Sohn von Lufred von Troyen und Druda Hadevart, Freund von Peter

 

*Lufred von Troyen, unter Hausarrest stehendes Mitglied des Engen Rates, Vater von Johann

 

Maria, Prostituierte auf dem Berlich

 

Martin, Pfarrer in St. Maria im Capitol

 

Richmodis Hoyer, Mutter von Peters Vetter Gerwin

 

Rufus, Bäcker in der Buttingasse

 

*Teilmann Gir von Covelshofen, Neffe von Gernard, Freund von Johann von Troyen

 

VORSPIEL

 

Köln - am 2. Juli 1370

 

Henken von Turne wurde auf den Neumarkt getragen, den einzigen Platz von Köln, der groß genug war, um das Volk zu fassen, das nichts sehnlicher begehrte, als ihm, dem Helden, tosenden Beifall zu spenden. Seine engsten Holden, ja sogar der angesehene Amptmeister des Wollenamptes höchstselbst, Herr Everhard, genannt der Grieche, trugen ihn auf Händen. Die Kölner Bürger, die braven Handwerksleute allen voran, schrien sich die Kehlen aus den Leibern und zahllose streckten ihm, Henken, die Hände entgegen, denn sie wollten ihn berühren, als sei er ein Heiliger und würde ihnen die ewige Seligkeit versprechen.

Es war dies der erhabenste Augenblick seines ganzen bisherigen Lebens. In seinen kühnsten Träumen hatte er Derartiges nicht gesehen, geschweige denn jemals in wachem Zustande gewagt, sich auszumalen, dass einem Menschen solches zu erleben vergönnt sei. Die Begeisterung brandete um ihn herum auf und schwappte zu ihm empor. Die Spritzer berührten ihn ebenso peinsam wie glückspendend. Ja, er hatte es geschafft. Die allzu lange fälschlich als «edel» bezeichneten Verräter Kölns, die bloß ihr eigenes, dreckiges Geldsäckel hatten füllen wollen und der Gott wohlgefälligeren Armen nicht gedachten, die sie damit zu Unrecht beraubten, waren in die verdienten Schranken gewiesen worden. Doch nicht nur das. Um Vorgänge von derartiger Tragweite fürbass zu unterbinden, hatten die Ämpter der Handwerker unter der mutigen Führung der Weber die Mehrheit im Weiten Rat der Stadt an sich bringen können und die Macht des Engen Rates der «edlen» Geschlechter empfindlich beschnitten. Unterdessen waren diejenigen Angehörigen der Geschlechter, die in ihrer Selbstsucht die Ausplünderung der fleißigen Handwerker am ärgsten betrieben hatten, in die gerechte Verbannung geschickt worden, die sie - die Feiglinge, die sie nun einmal waren - dem Vernehmen nach nicht in der Fremde, sondern in einem leider unantastbaren Bereich der den guten Leuten bloß zur Last fallenden Kirche, der Immunität von St. Kunibert, zu verbringen gedachten. An alldem hatte er, Henken, seinen Anteil; die Heftigkeit jedoch, mit welcher ihm der nimmer enden wollende Dank der Bürger nunmehr aufgedrängt wurde, überraschte ihn gleichwohl und ließ ihn seine kleinlichen Sorgen vergessen: die grausame Verwirrung seiner armen, betagten Mutter, die drückenden Schulden und allem voran die unerträgliche Einsamkeit, die er empfand, weil er seiner tumben Zauderhaftigkeit und trägen Unschlüssigkeit wegen unbeweibt geblieben war.

Mit einem Male jedoch war ihm, als würden alle Stimmen und alle Laute um ihn herum verstummen, und anstelle der unzähligen schwitzenden, grölenden und kreischenden Menschenleiber sah er ein schier unendliches Meer von wogenden, blütenweißen Lilien. Mitten in diesem überaus fein duftenden Meer stand sie. Henken wusste sofort, dass es nie, nie und nochmals nie eine andere würde geben können. Glück durchflutete sein Herz und er gebot seinen vor Übermut schäumenden Genossen nachdrücklich, ihn hinunterzulassen, und hörte kaum, wie sie verwundert lachten, jedoch willig taten, wie ihnen geheißen. Er bahnte sich hastig den Weg zu der Weibsperson, weil er fürchtete, sie aus den Augen zu verlieren. Dann stand er vor ihr und verbeugte sich, fand sich allerdings unfähig, ein Wort herauszubringen. Sie war nicht mehr jung, aber das herrlichste, anmutigste und liebreizendste Geschöpf, dem er je begegnet war. Die Lilien standen für ihre reine, weiße Haut, rot wie Rosen waren ihre im Wind flatternden Haare und ihr schön geschwungener Mund, wie zwei wunderbare Sterne funkelten ihre Augen. Sie regten ihn an, sich vorzustellen, wie das aussah, was seinen Blicken verborgen blieb.

«Ich bin die Ursula.» Und das Weib fügte neckisch hinzu: «Frau Ursula Grin.»

Henken wusste nicht, dass sie die Gattin desjenigen Mannes war, der ihm der wichtigste Verbündete in seinen städtischen und der ärgste Feind in seinen persönlichen Angelegenheiten werden sollte. Und hätte er geahnt, dass er das vor ihm stehende Weib niemals würde besitzen dürfen, selbst nach dem unverhofft frühen Ableben ihres Gatten nicht, hätte er sicherlich geschworen, dass er auf der Stelle tot umfallen wolle.

 

Baesweiler - am 23. August 1371

 

Gegen Ende des Tages, die gleißende Sonne machte sich schon daran, sich blutrot hinter den sanften Hügeln zu verbergen, vernahm Richmodis das durch Mark und Bein gehende Geschrei der Plünderer und sie fragte den Allmächtigen bitter, ob sie denn nie in Frieden gelassen werden würden. Vor etlichen Jahren, als sie noch jung gewesen war und ihren Gatten Noah, zufällig ein Jude, geehelicht hatte, war der grausame Schwarze Tod über Köln und die ganze Welt hereingebrochen, und man hatte die Juden vertrieben, als seien viele von ihnen seinem Wüten nicht ebenfalls zum Opfer gefallen. Sie hatte zu ihrem Gatten gestanden, wie der Herr es ihr in seinen Geboten aufgetragen hatte, und es war ein Glück gewesen, dass er über ein wenig Gold außerhalb von Köln verfügte. Damit hatte er den heruntergewirtschafteten Hof hier erstanden und einen bedeutsamen Umschlagplatz für Waren aus aller Herren Länder aufgebaut, vornehmlich für Wolle aus England. Die in Burgund aus der Wolle gefertigten Tuche verkaufte er wieder zurück nach England. Richmodis hatte Noah Söhne und Töchter geschenkt, inzwischen fast schon erwachsen, und lange Jahre des Friedens und der Liebe genossen. Warum, o Herr, dachte sie bitter, täuschst du uns so und wiegst uns in falscher Sicherheit, wenn du am Ende doch vorhast, uns zu vernichten? Denn es gab keinen Zweifel daran, dass es darum ging, sie und ihre Familie erneut zu schänden.

Dieses Mal waren sie allerdings nicht gekommen, weil es gegen die Juden ging. Es war ganz egal, was man war, an wen man glaubte oder zu wem man in diesem sinnlosen Streit zwischen den Herzögen von Brabant und Jülich geneigt war, die Mannen des Siegers (Richmodis wusste nicht, welcher Seite sie angehörten) zogen umher, um alles zu ergattern, was sie kriegen konnten, und ihrem Herrn, wer immer das sein mochte, die Mittel zu verschaffen, die er für ihre Bezahlung brauchte.

Richmodis trat durch die Pforte und sah, dass Gerwin, ihr Ältester, gemeinsam mit den anderen sich bewaffnet hatte, um sich den Plünderern entgegenzuwerfen und sie aufzuhalten. Sie hörte, wie ihr Gatte seine Söhne anflehte, sich in das vom Allmächtigen für sie vorgesehene Schicksal zu ergeben. Sie aber wollten nicht auf ihn hören, denn sie waren nicht in der Zucht der Juden aufgewachsen. Die Mordbuben preschten auf Pferden über den Hof und legten Feuer, nachdem Gerwin einen von ihnen vom Pferd gestoßen und getötet hatte. Sie rafften, wessen sie habhaft werden konnten, und metzelten gnadenlos alles nieder, was sich bewegte. Den einzigen Trost, den Gott für Richmodis bereithielt, war der Umstand, dass sie tot war, bevor sie mit ansehen musste, wie ihre ganze Familie ausgelöscht wurde.

Die ganze Familie, ausgenommen Gerwin. Denn der lag bewusstlos auf dem Hof und auch das Feuer verschonte ihn. Als er erwachte, konnte er sich bis zum Vogthof in der Nachbarschaft schleppen, wo seine Wunden versorgt und er gesund gepflegt wurde.

 

Königsdorf - am 23. August 1371

 

Auf einer Ebene, die nichts mit ihr zu tun zu haben schien, war Druda Hadevart durchaus bewusst, dass es sich hierbei um gestohlene Zeit und gestohlenes Glück handelte. In ihrem seligen Schwelgen ließ sie sich davon jedoch nicht im Mindesten beirren. Der Mann neben ihr im Bette war durchaus nicht ihr Gatte. Er, der Weinhändler, hatte seine Abwesenheit seiner Familie gegenüber mit einer Handelsreise begründet, und sie gab vor, ihre kranke Tante zu besuchen, die es wahrhaftig gegeben hatte und die wahrhaftig krank gewesen war, jedoch inzwischen bereits verstorben. Dergestalt war sie an die Gelegenheit gekommen, diese drei Tage zu ergattern, die nichts weniger als den Himmel auf Erden bedeuteten. Noch eine Nacht und sie würde zurückkehren müssen. Daran wollte sie itzo nicht denken. Denn heimliche Minne war, erinnerte sich Druda an die Worte des Dichters, die richtige, die man pflegen solle, andernfalls wäre man zu tadeln.

Es ließ sich nicht vermeiden. Sie würde zurückkehren in das unwirtliche Haus ihres Gatten Lufred von Troyen. Lufred war schon vor Langem erkaltet, sodass ihr nur ein Kind, der Johann, geboren worden war. Derzeit befand sich Lufred, von den Webern verbannt, in der Immunität des Klosterstiftes von St. Kunibert, und sie vermisste ihn zugegebenermaßen nicht das klitzekleinste bisschen. Er kam sich dort ungeheuer wichtig vor, auch gab er hin und wieder Anweisungen, wie die Familie und das Geschäft zu führen seien, als ob sie das nicht auch ohne ihn meistern würde. Was sie am allerwenigsten brauchen konnte, waren unsinnige, undurchführbare und ungerechte Ratschläge. Sie war schon lange nicht mehr gegangen, ihn zu besuchen und sich derartigen Unrat abzuholen; doch unbeirrt gab er Johann äußerst langatmige Briefe mit, durchzogen von nicht minder lächerlichen Äußerungen.

Johann, na ja. Gern hätte Druda ihn, wie sie sich zerknirscht eingestehen musste, gegen seinen Freund Peter eingetauscht, der ein so viel glänzender aussehender und tatkräftigerer junger Mann war und nicht ganz zufällig der Sohn von Richard. Die Minne der beiden Knaben hatte sie überhaupt erst mit Richard zusammengebracht. Sorge bereitete Peter nur in der Hinsicht, dass er in seine jung verwitwete Lehrherrin vernarrt war und, wie sich die anderen Garnmacherinnen erzählten, sie nicht weniger in ihn. Johann jedoch verteidigte seinen Freund standhaft, es handele sich um nichts anderes als die übergroße Huldigung, die er seiner Lehrherrin entgegenbringe, nichts, aber auch gar nichts Anrüchiges sei daran. Immerhin, lächelte Druda in sich hinein, war es besser für ihn, hinter seiner Elisabeth, der Garnmacherin, her zu sein, als wenn er so ganz und gar keine Anstalten machen würde, sich in den natürlichen Gang der Dinge zu fügen und dem Fleische zu seinem Recht zu verhelfen, wie Johann.

Druda seufzte. Gestohlene Zeit hin, gestohlenes Glück her, Druda würde für nichts in der Welt etwas davon hergeben, nicht einmal für irgendeinen jenseitigen Preis, der ihr allzu nebulös und unwirklich erschien. Ihre Gedanken bewiesen ihr derweil allerdings, dass der Mensch aus dem Paradies vertrieben worden war.

Richard erwachte, sah das Weib neben sich hingebungsvoll an und hauchte: «Druda, meine herzallerliebste Druda, dieser Augenblick dürfte niemals vergehen.»

Das Beisammensein mit Druda würde Richard knapp drei Monate später zwar nicht das Leben retten, wohl aber die Ehre.

 

DER TOD

 

16. November 1371

 

Als ich es nämlich erfuhr, hatte ich gerade meine acht Pfennige Wochenlohn aus den überaus holden Händen von Frau Elisabeth de Porta empfangen, die, ohne Frage, für alle Zeiten unerreichbar für mich sein würde.

«Schlag sie dir aus dem Kopf», sagte Johann, mein Genosse, immer zu mir, nachdem ich ihm gestanden hatte, wie unwiederbringlich mich Cupidos Pfeil versehrt hatte, «wir sind schließlich keine fahrenden Sänger.»

Als ob Elisabeth von solchem Gesindel sich hätte betören lassen! O Frau Minne, bitte hab ein gnädiges Auge auf mich, betete ich Tag für Tag und Nacht für Nacht. Johann, Sohn des Kaufmanns Lufred von Troyen, damals hochwohlgeborenes Mitglied des Engen Rates und als solches von den Webern unter Hausarrest in der Immunität von St. Kunibert gehalten, war ein blasser, schmächtiger Blondschopf, den ich oftmals vor den Grobianen beschützen musste (was mir, wie ich mit Stolz erwähnen sollte, besser gelang als dem gemeinen Teilmann, einem anderen «Freund» von Johann, den ich nicht ausstehen konnte). Für Johann seinenteils gingen Münzen über alles. Er konnte sie, wie er gern mit geschwollener Brust verkündete, riechen, weshalb er auch, wenn ich mit ihm durch die Gassen zog, hie und da einen verlorenen Pfennig fand.

Ich hingegen liebkoste Elisabeths Pfennige nicht, weil sie aus edlem Silber bestanden, sondern weil die Münzen von ihren wundervoll feingliedrigen Fingern berührt worden waren. Seit der längst vergangenen Zeit, da Königin Dido für den Helden Eneas starb, war wohl niemand so minnekrank wie ich, bildete ich mir damals ein.

Ein Magengrollen erinnerte mich an meine Verabredung und ich entschlüpfte am helllichten Tage der Arbeit, was Elisabeth gegenüber gar nicht recht war. Ich war mit Johann bei dem Bäcker in der Buttingasse verabredet, nicht nur um süßes Naschzeug zu erstehen, nein, Rufus - Gott hab ihn selig, er verstarb im Jahre des Herrn 1408 an Auszehrung, weil er sein eigenes Backwerk nicht mehr ausstehen konnte - hielt für uns Burschen auch immer einen «Libanon» bereit, wenn wir bei ihm unser Geld verfraßen, anstatt es, wie es sich gehört hätte, im Vaterhaus abzuliefern. «Libanon», so nannten wir ein Glas Milch, gemischt mit Wein und Zucker. Ich lief also im nieseligen Novemberregen durch die Hosen- und dann die Wenstirgasse den Bach der Blaufärber hoch, vorbei am Brauhaus «Zum alten Raben», und bog dann in die Buttingasse ein. Als ich bei Rufus ankam, dessen Bäckerei eingezwängt zwischen den stinkenden Werkstätten der Färber lag, erwartete mich Johann schon mit einem hilfesuchenden, verlegenen Grinsen um den schmalen, fast lippenlosen Mund.

Neben einigen anderen Burschen lungerte vor Rufus’ Backstube auch manch eine derbe, gleichzeitig auch unbändiges Begehren erregende Slune, die ebenfalls ein Geschäft allerdings ganz anderer Art witterte. Johann stöhnte erleichtert auf, als ich ihn zur Begrüßung küsste, denn eine beneidenswert rundliche öffentliche Magd hatte es wohl auf ihn abgesehen und himmelte seine blauen Augen an. Ich wusste, dass er Schiss hatte, sich zum Manne machen zu lassen, was wir anderen alle bereits glücklich hinter uns gebracht hatten. Obwohl ich es für durchaus an der Zeit hielt, dass er nachholte, worauf ihn sein Vater seiner Gefangenschaft wegen nicht verpflichten konnte, errettete ich ihn auch dieses Mal wieder, indem ich zu der Slune lachend sagte, wir hätten etwas zu bereden. Ich kniff ihr in den süßen Arsch, wie um ihr zu bedeuten, dass sie es ein anderes Mal bei mir versuchen sollte. Sie sah mich vielsagend an und trollte sich.

Johann trug seinen lächerlich kurzen Rock, der kaum den Ansatz der Beinlinge zwischen den Schenkeln verbarg. Sein linker Beinling war grün und der rechte rot, während der eng am Körper anliegende Rock mit abwechselnd roten und grünen Rauten bedeckt war. Auch seine unglaublich spitzen, für die kühle Jahreszeit weitaus zu dünnen Schnabelschuhe waren rot und grün, der rechte rot und der linke grün. Sein langzipfeliger Gugel, den er nicht, wie es althergebrachter Sitte entsprochen hätte, über das Haar gezogen, sondern nachlässig nach hinten gekrempelt trug, war ebenfalls rot und überdies mit zahlreichen Fransen verziert. Um die Hüfte hatte er einen bronzefarbenen Gürtel geschlagen, und an seinen Oberarmen flatterten weiße Wimpel. Für solch vornehme Gewandung heimste Johann allerdings nicht nur Bewunderung ein, sondern sie setzte ihn auch mancherlei Spott aus: Die einen sagten, es handele sich um Narrenkleider, die anderen dagegen schalten ihn, sich anzumaßen, wie die Edlen selbst herumzulaufen.

Ich besorgte mir Gebäck und «Libanon», während Johann sich, wie ich aus einem Augenwinkel noch gewahrte, bückte, um einen heruntergefallenen Pfennig vom Boden zu klauben, verloren wahrscheinlich von jemandem, der schon zu beduselt war, um den Verlust zu bemerken und Anspruch auf das wertvolle Metall zu erheben. Andere Vorbeikommende beschwerten sich raubeinig, dass es kein Durchkommen gebe wegen der jungen Müßiggänger, die hier das Geld verprassen würden, das ihre Eltern im Schweiße ihres Angesichts sauer verdient hatten, und man solle den Burschen mal eine gehörige Tracht Prügel verabreichen und ihnen die Ohren lang ziehen, damit sie lernten, fleißig zu sein, anstatt dem allmächtigen Gott die Zeit zu stehlen. Einige Burschen lachten dreckig und stellten sich absichtlich in den Weg. Es drohte zum Handgemenge zu kommen, Rufus rief aber noch rechtzeitig versöhnlich: «Kommt, geht doch mal ein Stück zur Seite!» Schließlich wollte er weder seine Kundschaft verlieren noch Ärger mit den Anwohnern bekommen. Beides wäre überaus nachteilig für sein Geschäft.

«Wohltat der Gunst», sagte ich bei meiner Rückkehr spitz zu Johann mit Seitenblick auf den gefundenen Silberling und setzte nachgerade hämisch hinzu: «Aber wie gewonnen, so zerronnen. Rufus, der elendste Halsabschneider unter dem Himmel, nimmt itzt zwei Pfennige für den ‹Libanon›!»

«Gib ihm nicht die Schuld», ereiferte sich Johann und sah mich mit herausfordernd vorgestrecktem Kinn an, was ihn aber, seiner kindlichen Formen wegen, eher lächerlich denn furchterregend aussehen ließ. «Der Wein ist erneut teurer geworden dieser Tage. Die gottverdammten Weber haben die Akzie auf Wein wieder saftig angehoben. Darum kostet’s mehr. Als Sohn eines Weinhändlers solltest du das übrigens wissen.»

«Fluche nicht so laut, ich bitte dich inständig darum, Johann, schon gar nicht über die Weber. Sie geben schließlich dem ehrbaren Handwerk eine gewichtige Stimme im Rat», zischte ich und setzte besorgt hinzu: «Und außerdem soll es gefährlich sein. Hast du nicht die Geschichte von dem Schulmeister Daniel aus St. Gereon gehört? Den haben sie in den Turm werfen lassen, weil er gesagt haben soll, unter der ‹nova ordinatio› der Weber sei alles schlimmer geworden statt besser.»

«Peter, du Zage!» Johann schimpfte laut, puffte mich dann jedoch lachend mit dem spitzen Ellenbogen seines zierlichen Ärmchens in die Rippen. «Lass uns besser den herrlichen ‹Libanon› kosten, solange wir es uns noch leisten können.»

Ich errötete ob der Herabwürdigung, für die es angesichts der Tapferkeit, mit der ich ihn gegen die Lausejungen zu verteidigen pflegte, nicht den leisesten Anlass gab, ließ mich vernehmlich schlürfend vom «Libanon» verführen und schwieg. Wie ein Echo hörte ich Vater mich einen Zagen rufen, spaßhaft zwar, doch darum nicht weniger verletzend. Es war gegen Ende des Winters vor unerdenklich vielen Jahren gewesen. Wir hatten am Bachufer gestanden, das Eis war schon weitgehend geschmolzen. Vater entkleidete sich, sprang in den Fluss, tauchte unter einer Eisscholle hindurch und gelangte so ans gegenüberliegende Ufer. Er rief mir lachend zu, ich solle es ihm nachtun, aber Nein! Nein! Nein!, ich konnte es nicht.

«Peter, du Zage!», hatte er gerufen, immer noch lachend, und war auf demselben Weg zurückgekommen.

Er hatte wie ein Hund das Wasser abgeschüttelt und sich den Rest Feuchtigkeit mit dem Rock weggerieben.

«Weißt du, warum ich es mit dem Ober- und nicht mit dem Unterkleid tue?», hatte er gefragt.

Ich hatte den Kopf geschüttelt und schon beim Zusehen vor Kälte gezittert: «Nun sehen alle, dass dein Rock nass ist.»

«Aber das Unterkleid ist mir näher als der Rock», hatte Vater gelacht. «Wenn ich es zum Abtrocknen benutzen würde, hätte ich die Nässe dichter am Körper.»

Dies war der Tag gewesen, an welchem ich gesehen hatte, dass Vater ein mächtiger Mann und ich bloß ein Wurm war.

Bald schon verblasste die Erinnerung, jedenfalls die sie begleitenden nachteiligen Gedanken, und wir schwebten in den Wolken, bis ich gewahrte, dass sich mein Vetter Gerwin mit seiner von einem Kampf zernarbten und einem Brand ziemlich verunstalteten Fresse einen Weg durch die vor Rufus’ Backstube versammelten Burschen bahnte. Vetter Gerwin gegenüber empfand ich nun wahrlich Furcht, denn er war nicht nur älter als ich, sondern auch kräftiger, ansonsten aber ein Flegel und Müßiggänger. Sein grobschlächtiges, fast bäurisches Äußeres entsprach seinem inneren Wesen vollkommen. Seitdem er Ende August zu uns gekommen und durch Vater und Mutter aufgenommen worden war, denn seine Familie war im Gefolge der Schlacht bei Baesweiler umgekommen, hatte er mir schon manches Mal, wenn ich meinen Wochenlohn erhielt, den einen oder anderen Pfennig unter Androhung von kräftigen Hieben abgeknöpft. Für ihn waren alle «Libanonschlürfer» Milchgesichter, denn er trank den Wein bereits unvermischt. Weil sein Herr Vater ihm untersagt hatte, sich zu gewanden, wie wir Jungen es taten, trug er, um seines Vaters seligen Angedenkens willen, weite Kleider, die bis über das Knie reichten wie bei den Alten, wofür wir ihn, verfügte er nicht über so unermessliche Körperstärke, sicherlich verlacht hätten; was übrigens hinter seinem Rücken oftmals auch geschah. Nie hätte ich mir träumen lassen, dass ausgerechnet er zum Boten des Unheils erkoren war!

«Lass uns abhauen», raunte ich Johann zu, und mit einem Schlage war alle Weinseligkeit aus meinem tumben Jungenkopf verschwunden.

Doch es gab kein Entrinnen, denn der hässliche Vetter Gerwin hatte schon die furchterregende Pranke nach mir ausgestreckt und erwischte einen Zipfel von meinem schönen Wams.

«Hiergeblieben!», hörte ich ihn heiser röhren. «Bürschchen.»

Mir sank das Herz. Als ich mich jedoch traute, einen Blick in sein aufgedunsenes Gesicht zu werfen, wusste ich, dass er nicht gekommen war, um Ärger zu suchen. Schmerz verzerrte es. Sogar eine Träne rollte ihm über die wulstige Wange.

Hatte ich mich gerade schon angespannt, um mich loszureißen und mich ihm doch noch zu entziehen, erstarrte ich nun und blieb wie angewurzelt stehen. Die mir nur allzu bekannte Furcht vor ihm wandelte sich in eine namenlose Angst vor einem unbekannten Geschehnis, welchselbiges so arg sein musste, dass es sogar Vetter Gerwin das Wasser in die Augen getrieben hatte. Was konnte das nur bedeuten?

«Oheim Richard», presste Vetter Gerwin erstickt hervor. «Dein Herr Vater …»

«Was ist mit Vater?» Mein Herr Vater ging mir nämlich, wie ihr wissen müsst, über alles. So sagt ja auch der Herr in seinen Geboten.

«Ich habe dich allerorten gesucht, Peter», keuchte Vetter Gerwin fast tonlos, «dein Herr Vater ist … ist tot …»

«Nein», wehrte ich ab. Ich wohnte zwar bei Elisabeth, als ich jedoch vor ein paar Tagen im Vaterhause gewesen war, hatte sich der Altvordere noch allerbester Gesundheit erfreut.

Vetter Gerwin rang um Worte. Seine grauen Augen waren in Entsetzen geweitet. Schließlich brachte er heraus: «… erschlagen …»

Ich vergrub das Gesicht in den Händen und begann hemmungslos zu schluchzen und nahm keine Rücksicht darauf, dass es nun alle sehen würden.

Ohne Gegenwehr ließ ich mich von Vetter Gerwin am Arm nehmen und den vertrauten Weg über den Waidmarkt durch die Radmachergasse und am Malzbuchel vorbei zum Vaterhaus in die Rheingasse hinter den Heumarkt geleiten. Da ich tränenblind war, rempelte ich einige Leute an, die sich, Verwünschungen ausstoßend, umschauten - umso mehr, als Vetter Gerwin sie, anstatt eine Entschuldigung vorzubringen, kurzerhand zur Seite stieß, um Platz für uns zu schaffen.

 

*

 

In der Halle fand ich Vater aufgebahrt, umringt bereits von jeder Menge überflüssiger und störender Verwandter und Freunde. Trotz meiner durch die Trauer eingeschränkten Geisteskräfte vermochte ich es, die heuchlerische Bande der Grins, der Familie meiner Frau Mutter, zu meiden. Nebst mir trafen immer mehr Menschen ein, fassungslos ob dieses grausamen Todes. Mein Herr Vater Richard Nicol war als ausgleichender Ratsherr der Gaffel Eisenmarkt ebenso wie als geschickter Weinhändler und als guter Christ bei vielen geachtet und beliebt. Die Halle mit der großen runden Säule, die ein gewaltiger Löwenkopf aus rot bemaltem Stein krönte, das Wappen unserer stolzen Familie, kam mir ganz verändert vor. Sonst hatte ich sie achtlos durchquert, doch nun war sie zu einer Art Friedhof geworden. Mir wurde schwindelig. Ich dachte schon, mir würde Hören und Sehen vergehen, und ich würde vor eine Wand laufen oder unversehens mit jemandem zusammenstoßen und stürzen. Ich fing mich wieder, mir war jedoch, als hätte sich mein Geist aus dem Leib gelöst. Es gelang mir nicht, den Grund unter den Füßen zu spüren. Ich kniff mir in die Beine, erst ins linke, dann ins rechte, aber der Schmerz blieb das eine wie das andere Mal aus.

Mit den Augen suchte ich nach meiner Frau Mutter. Als ich sie im Gewimmel entdeckt hatte, gestützt von meinem älteren Bruder Markus und von dem Weber Henken von Turne, bahnte ich mir den Weg durch die Leute und fiel ihr um den Hals. Es war herzzerreißend, das sonst so stolze große Weib mit den hochgebundenen feuerroten Zöpfen in sich zusammengesunken dastehen zu sehen. Selbst ihre Haarpracht, die sie, anstatt sie unter einem Gebende zu verbergen, wie es die Kirche, nicht dagegen ihr Herr Gemahl von ihr verlangte, mit einem großmaschigen Netz bändigte, schien eingefallen. Es war und ist mir unerklärlich und ist gewiss kein Vorbild zu nennen und verstößt, wie mir auch Pfarrer Martin in ungezählten bitteren Beichten deutlich aufgezeigt hatte, gegen die Gebote des Erlösers, dass ich sie dennoch nicht liebte, wie ich es sollte, hatte ich doch immer zum Herrn Vater gehalten, wenn es einmal, was freilich äußerst selten vorkam, Misshelligkeiten gegeben hatte.

«Mein Junge!» Mutter schluchzte und umschlang mich allzu fest mit ihren Armen. «Peter, mein Junge.»

«Wer ist der Teufel, der ihn gemeuchelt hat?» Meine Fassungslosigkeit drohte in sündigen Zorn umzuschlagen, das heiße Blut pochte mir in den Schläfen; dabei versäumte ich nicht, mich aus ihrer erdrückenden Umschlingung zu winden. Ich vollführte eine ausladende Bewegung, als würde ich ein mächtiges Schwert halten: «Lasst uns ihn am höchsten Baum vor der Stadt aufknüpfen!»

«Das macht unseren lieben Richard auch nicht wieder lebendig», wandte Frau Mutter traurig, aber vernünftig ein.

Henken blickte mich mitfühlend an. Nun erst nahm ich ihn richtig wahr. Was für ein Glück meine Frau Mutter doch in ihrem Ungemache hatte, dass ihr ein solcher Tröster in der Not zur Seite stand! Henken war ein Held, nein, der Held von Köln, er hatte uns gerettet vor den üblen Machenschaften unredlicher Vertreter der vornehmen Geschlechter, als sie vor Jahr und Tag im Begriff gewesen waren, Verrat an der Stadt zu üben (um was es gegangen war, erinnerte ich allerdings nicht mehr). Dem trojanischen Helden Eneas, von dem der Dichter erzählt, stand er in nichts nach. Dunkles Haar, wallender Bart, tiefbraune Augen, herrisches Kinn und tellergroße, starke Hände hatten ihn auch zum Liebling der Mägde werden lassen, die ihn mit schmachtenden Blicken umringten, wo er auch ging und stand, sobald er sich auf den Straßen und in den Gassen der Stadt zeigte. Warum er sie, obgleich er ohne Weib und Kind ledig dastand, stets zurückwies, weiß ich nicht. Henken war immer zurückhaltend gekleidet mit einem losen wollenen Rock, meist in grün, der angemessen lang bis knapp auf die Knie reichte, braunen Beinlingen und nicht zu spitzen Stiefeln. Sein gütiges Lächeln gab mir Kraft und verlieh mir die Zuversicht, dass wir des Mörders schnell habhaft werden und ihn hernach der gerechten Strafe zuführen würden. Mit seiner ehrfurchtgebietenden tiefen Stimme sagte er: «Handlanger von Herrn Edmund waren es, Peter, daran besteht doch wohl kein Zweifel.»

«Herr Edmund?» Ich wischte mir stutzig die Tränen ab, die mir für mein nun ja bereits durchaus fortgeschrittenes Alter ungehörig erschienen, wollte ich doch schon ein Mann sein.

«So ist es, Herr Edmund Birkelin», bekräftigte Henken, wehrte jede weitere Afterfrage meinerseits jedoch deutlich ab: «Über ihn muss ich dir ein andermal berichten. Dies ist die Zeit, dich von deinem Herrn Vater in würdigster Weise zu verabschieden.»

Ich trat an den Sarg, der in der Mitte der Halle auf einem Sockel aus Holz stand. Obwohl man es schon unternommen hatte, Vaters Leichnam zu säubern, wenn auch vorläufig und flüchtig, waren die Spuren der Gewalt noch deutlich zu sehen. Sein stets ehrfurchtgebietender Schädel war zertrümmert, die nordstämmig dunkelblonden Haare von Blut verklebt. Ich kämpfte mit Übelkeit, die von dem miesen süßen Zeug in meinem Magen zusammen mit dem schlechten Wein verursacht wurde. (Natürlich wusste ich nur zu gut, dass Rufus schlechten Wein verwandte, schließlich war ich der Sohn eines Weinhändlers!) Ich musste meinen Blick abwenden und bemerkte nun erst, dass Johann uns wohl gefolgt war. Er stand über meinen Herrn Vater gebeugt und zog seinen Oberkörper itzt rasch zurück. Ich starrte ihn verwundert an.

«Ich werde Frau Elisabeth Bescheid geben», murmelte er und schien zu erröten. Seine helle, fast wie ein Pergament durchscheinende Haut machte, dass man jede seiner seelischen Regungen ohne Schwierigkeiten an ihr ablesen konnte. «Dass … dass du nicht mehr kommst, heute.»

«Du bist mir ein wahrer Freund», sagte ich dankbar. Elisabeth, zuckte es mir durch den Sinn. Es mag selbstsüchtig und unehrerbietig klingen, dass ich in solch schwerer Stunde an mich selbst und mein minnekrankes Herz dachte. Nun würde ich vorzeitig zurück in den Haushalt meiner Frau Mutter kehren müssen, um Vaters Geschäft fürbass zu führen, und könnte nicht mehr in der Nähe der über alle Maßen angehimmelten Elisabeth weilen. Ein schier unerträglicher Gedanke, der mich sogar von der Trauer über den Tod meines Herrn Vaters und der Wut auf seinen Mörder abzulenken drohte.

Um meinem Hirn zu befehlen, sich wieder auf das zu richten, was geschehen war, warf ich einen zweiten Blick auf Vaters entstellten Kopf. Blut wie siedendes Wasser schien mir durch die Adern zu schießen. Mir kribbelte es am ganzen Körper, aber gewissermaßen fühlte ich mich, als stünde ich gleichwohl außerhalb meiner selbst. Sollte ich von nun an ganz ohne Vater durchs Leben gehen? Seine Seele würde zweifellos nach nur kurzer Zeit im Fegefeuer, wo er seine kleineren Sünden, die zu begehen niemand vermeiden konnte, würde vergelten müssen, von Gott im Himmelreich aufgenommen werden. Meine Frau Mutter, mein Bruder, meine Schwester und ich würden allerdings fürderhin ohne seine treue Sorge durchs irdische Jammertal wandern müssen. Wie konnte Gott es zulassen, dass ein derart guter Mensch auf eine so brutale Weise ums Leben gebracht wurde? Was dachte sich der Herr eigentlich dabei, meine werte Frau Mutter zur Witwe zu machen, noch bevor die Söhne so weit waren, das Geschäft zu übernehmen? Gewiss, Markus, zu meinem nicht weniger als zu Vaters Leidwesen der Erstgeborene, schien brav und kannte sich dem Vernehmen nach nun schon vortrefflich mit Wein aus. Ich für meinen Teil lernte bei der tüchtigen Elisabeth das kaufmännische Rechnen und war fleißig genug, um ihr tüchtig zur Hand zu gehen und ihr ihren Gemahl, Eike von Repgow, der letzten Winter am schlimmen Fieber gestorben war, in dieser Hinsicht so weit wie möglich zu ersetzen. Dennoch konnte ich mir nicht vorstellen, ohne den stets wohldurchdachten Rat meines hochverehrten Herrn Vaters durchs Leben zu gehen.

Nie sah ich Vater anders als hochgewachsen, kerzengerade mit erhobenem Kopfe und unerschütterlich. Mich und alle anderen, die ihm ihr Vertrauen schenkten, belohnte er mit immer den geeignetsten Worten. Die Familie regierte er mit einer Gerechtigkeit, die es unnötig machte, in irgendeiner Weise handgreiflich zu werden, ja nicht einmal scharfe oder laute Worte waren nötig. Auch in der Gaffel hörte man auf ihn, und nun stand in den Gesichtern der versammelten Freunde deutlich die zutiefst empfundene Erschütterung und Trauer über den Verlust, der Gott geklagt sei. Selbst für Vetter Gerwin, der nun so kurz hintereinander nicht nur die Eltern, sondern auch den Pflegevater verloren hatte, fand ich einen mitleidigen Gedanken. Sollte dergestalt die Gerechtigkeit des gütigen Herrn aussehen?

So haderte ich denn mit Gott, der sich jedoch als väterlich erwies und, anstatt mich ob meiner Unbotmäßigkeit zu strafen, die Schritte von Pfarrer Martin in meine Richtung lenkte. Pfarrer Martin war mir sehr lieb und überaus teuer. Ich vertraute ihm blind. So wagte ich, ihm mein Herz auszuschütten: «Warum, ehrwürdiger Vater, hat Gott ihm und uns das angetan?»

«Nicht Gottes Werk ist das.» Pfarrer Martin legte mir ernst und mitfühlend die Hand auf den Unterarm. «Es ist das Werk eines verirrten Schäfchens.»

«Aber zugelassen hat er es!», begehrte ich ebenso verzweifelt wie erbost auf. «Und was für eines verniedlichenden Ausdrucks Ihr Euch für den hundsgemeinen Unhold befleißigt: Schäfchen!»

«Ja.» Pfarrer Martin nickte bedächtig. «Wären wir ohne Schuld, könnten wir den Anfechtungen des Bösen widerstehen wie der Herr in der Wüste. ‹Da wurde der Herr vom Geist in die Wüste geführt; dort sollte er vom Teufel in Versuchung geführt werden.› Aber ‹der Herr sagte zu ihm: Weg mit dir, Satan! Denn in der Schrift steht: Vor dem Herrn, deinem Gott, sollst du dich niederwerfen und ihm allein dienen.›»

Als ob er meinen empörten Gemütszustand erraten hätte, stupste Henken Pfarrer Martin mit seiner Pranke zur Seite und knurrte: «Was denkst du dir eigentlich, den armen, trauernden Mann mit derartig ungehobeltem Kram zu verwirren? Wir haben von Gott den Befehl, gegen das Böse zu kämpfen und es zu vernichten, und so werden wir den Mörder fassen und richten!»

Verunsichert schaute ich Pfarrer Martin nach, der sich, etwas Unverständliches vor sich hin murmelnd, trollte, während ich meine jüngere Schwester Martha ihm hinterherseufzen hörte. Für einen Augenblick ließ ich von meiner Trauer ab, um zu überlegen, wer von den beiden Männern, denen ich doch gleichermaßen Verehrung entgegenbrachte, im Rechte sich befand. Bevor ich zu einem Schluss kam, mischte sich Martha ein, indem sie Henken unbotmäßig anherrschte: «Wie Ihr wisst, bin ich der Kirche geweiht. Und es ist Euch nicht gestattet, einem Diener Gottes vorzuschreiben, wie er die Seelsorge zu betreiben hat.» Um sprechen zu können, musste Martha ihr althergebrachtes Gebende lockern, das sie auf Pfarrer Martins Geheiß ihrer zukünftigen Bestimmung wegen seit einigen Wochen trug, um das von Mutter ererbte zuchtlose Feuer auf dem Kopf unsichtbar zu machen.

Henken sah meine Schwester voller gütiger Aftersicht an, während sie sich das Gebende wieder züchtig unter dem Kinn festzurrte.

«Du trägst dich in Trauer, Martha», sagte er mit entwaffnender Sanftmut. «So werde ich dir deine Schamlosigkeit verzeihen und vergessen, was du gesagt hast. Sei gewiss, dass ich mich bei Pfarrer Martin für meine kleine Unbeherrschtheit entschuldigen werde, wenn sie auch kaum der Rede wert ist. Er wird verstehen, wessen ich habe Ausdruck verleihen wollen.»

Martha richtete ihren Blick betroffen zu Boden und verstummte.

Mir schob sich das Bild vor Augen, als Vater Martha, die ob einer wüsten Balgerei zwischen Markus und mir zu weinen angefangen hatte, beschützend auf den Schoß nahm, sie hingebungsvoll wiegte und ihr erklärte, man müsse Jungs gewähren lassen, weil nur so festzustellen sei, wer von ihnen der tüchtigere sei.

Erneut packte mich das Rachegelüst, um mich dergestalt von meiner Trauer abzulenken.

«Ihr habt, Herr Henken, einen Namen genannt, dessen Handlanger Ihr der Tat beschuldigt», sagte ich frech. «Dessenthalben erheische ich, will mir scheinen, einen Anspruch, mehr darüber zu erfahren.»

«Alles zur gegebenen Stunde», beschied Henken leichthin. «Wir werden es an den Tag bringen.»