Wege in die Freiheit - Satya Marchand - E-Book

Wege in die Freiheit E-Book

Satya Marchand

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  • Herausgeber: Integral
  • Kategorie: Ratgeber
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2023
Beschreibung

Auch wenn es uns oft nicht bewusst ist – nahezu jeder Mensch hat in der Kindheit traumatische Erfahrungen gemacht. Solche Entwicklungs- und Bindungstraumata können unser Leben, unsere Gesundheit und unsere Beziehungen in höchstem Maße negativ beeinflussen: Wir leiden und finden keine Lösung, da die wahren Ursachen unserer Probleme im Verborgenen liegen ...
Die bekannte Trauma-Expertin Satya Marchand, die als Kind selber höchst traumatisierende Erfahrungen gemacht hat, präsentiert hier ihren Weg der Heilung, um unerkannte Traumata zu erkennen und aufzulösen. Dabei verbindet sie spirituelle Erkenntnisse, ganzheitliche Körperarbeit und neueste Forschungsergebnisse der Neurobiologie mit ihrer jahrelangen therapeutischen Erfahrung. Dank ihrer einfachen, wirkungsvollen Impulse und Techniken können wir mit unserer Vergangenheit Frieden schließen und innerlich befreit in die Zukunft gehen.

  • Warum jeder Mensch unbewusste Traumata in sich trägt – und wie wir sie auflösen können
  • Ganzheitliche Methoden zur Aktivierung der Selbstheilungskräfte: eine innovative Verbindung von Psychologie und Spiritualität

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Seitenzahl: 293

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Auch wenn es uns oft nicht bewusst ist – überraschend viele Menschen sind von einem Entwicklungs- oder Bindungstrauma betroffen. Das Leben mit einem solchen Trauma kann zu vielerlei Problemen und Beschwerden führen, auf körperlicher wie auf mentaler Ebene. Wir leiden und finden keine Lösung, da die wahren Ursachen im Verborgenen liegen. Die Trauma-Expertin Satya Marchand, selbst in der Kindheit schwer traumatisiert, hat einen Weg der Heilung gefunden, wie wir unerkannte Traumata entdecken und auflösen können. Ihre Methoden sind z. B. das »neurogene Zittern« (TRE) oder die »aufrichtige Kommunikation«, bei der wir uns auf rein emotionaler Ebene mitteilen. Durch die einzigartige Verbindung dieser spirituellen Techniken und jahrelanger Erfahrung aus der therapeutischen Praxis, können wir zurück in ein glückliches und erfülltes Leben finden.

Satya Marchand

Wege in die Freiheit

Wie unerkanntes Trauma uns gefangen hält und wie wir es auflösen

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Copyright © 2023 by Integral Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Alle Rechte sind vorbehalten.

Redaktion: Sabine Zürn

Umschlaggestaltung: Guter Punkt, München, unter Verwendung von Motiven von © Miodrag Kitanovic/iStock/Getty Images Plus; © Olga Ubirailo/iStock/Getty Images Plus

Satz: Leingärtner, Nabburg

ISBN 978-3-641-30123-1V001

www.Integral-Lotos-Ansata.de

INHALT

Vorwort

Vorbemerkung

Einleitung

Meine Geschichte

TEIL 1  Trauma und seine Dynamiken

Kapitel 1  Was ist Trauma?

Kapitel 2  Der Einfluss des autonomen Nervensystems

Kapitel 3  Auswirkungen von Trauma

Kapitel 4  Wie funktioniert Traumaheilung?

TEIL 2  selbsthilfe bei Trauma

Kapitel 5  Trauma durch Körperarbeit lösen

Kapitel 6  Neurogenes Zittern – ein Geschenk der Natur

Kapitel 7  Was ist Selbstregulation und wie entsteht sie?

Kapitel 8  Das Stresstoleranzfenster

Kapitel 9  Traumasensible Kommunikation

Kapitel 10  Heilung braucht einen neuen Beziehungskontext

Kapitel 11  Die Bedeutung von Freude für die Heilung

Kapitel 12  Spiritual Bypassing – Trauma-Bypassing

Kapitel 13  Warum Veränderungen Angst machen

Kapitel 14  Glaubenssätze und Introjekte

Kapitel 15  Überschattet Trauma das ganze Leben?

Kapitel 16  Wie können Eltern vermeiden, ihr Trauma weiterzugeben?

Kapitel 17  Vergeben und verzeihen

Kapitel 18  Trauma und Krieg

TEIL 3  Traumaarbeit in der Praxis

Kapitel 19  Über meine Arbeit als Traumatherapeutin

Kapitel 20  Tipps aus der Praxis: Die Arbeit mit Ressourcen und die Notfallapotheke

Ausklang

Danke

Bestandsaufnahme für das neurogene Zittern

Über die Autorin

VORWORT

Meine Mutter und ich haben, seit ich denken kann, eine enge Verbindung zueinander. Ich konnte meiner Mutter immer sagen, was ich denke, glaube und fühle, ohne dass es negative Konsequenzen für mich hatte. Sie hat mir nie etwas verboten und mich nie zu etwas gezwungen, obwohl das ziemlich viele Menschen falsch fanden. Ich hatte alle Freiheiten, um zu tun, was ich wollte. Wenn wir eingekauft haben, durfte ich immer mit aussuchen, weil meine Wünsche genauso wichtig waren wie die meiner Mutter. Wenn meine Mutter etwas nicht mochte oder falsch fand, hieß das nie, dass auch ich es nicht mögen durfte.

Im Kindergarten war es das erste Mal so, dass andere Eltern aktiv etwas gegen den Erziehungsstil meiner Mutter hatten. Sie meinten, dass sie mir Grenzen setzen müsse, um mich nicht zu verwöhnen, und dass sie mich nicht alles entscheiden lassen dürfe, weil sonst ganz bestimmt nichts aus mir werde.

Zu meinem Glück hat meine Mutter nicht darauf gehört. Sie wollte, dass es mir gut geht und ich selbst herausfinde, was mich interessiert und für mich richtig sein könnte. Die meisten Menschen haben das so interpretiert, dass sie sich nicht um mich kümmert und dass es ihr egal ist, was ich mache, aber das ist alles andere als richtig. Sie war immer für mich da, hat mich in allem unterstützt, und wenn wir mal verschiedener Meinung waren, haben wir gemeinsam überlegt, was das Beste für mich in der Situation wäre. Meine Mutter hat immer darauf geachtet, dass ich mich nicht dumm fühlen muss, nur weil ich jünger bin, und meine Meinung und Gefühle hatten für sie die gleiche Bedeutung wie ihre eigenen.

Wir reden andauernd über unser Leben. Ich erzähle ihr, wie ich über bestimmte Themen denke, was ich vorhabe, was ich unmöglich finde oder worüber ich mich freue. Sie ist der Mensch, der mich versteht. Genauso interessiere ich mich für ihr Leben. Es ist noch nie passiert, dass sie etwas erzählt, das mich langweilt. Mir macht es Spaß, an ihrem Leben teilzuhaben, zu hören, was sie denkt und womit sie sich beschäftigt.

Durch die Arbeit meiner Mutter und auch durch die Erlebnisse meiner Freunde habe ich mitbekommen, wie viele Eltern ihre Kinder nicht ernst nehmen und sie zu Sachen zwingen, die sie nicht tun wollen. Ich habe gelernt, dass die Eltern sich aufgrund von Traumata so verhalten und damit ihr Trauma an ihre Kinder weitergeben.

Meine Mutter ist von ihren Eltern sehr traumatisiert worden, und es war ihr superwichtig, ihre Traumata nicht an mich weiterzugeben, was sie meiner Ansicht nach geschafft hat. Sie hat oft Angst, dass sie mich aus Versehen doch traumatisiert hat, und entschuldigt sich deswegen oft bei mir, manchmal für Dinge, die schon mindestens zehn Jahre her sind. Auch wenn ich diese Entschuldigungen für unnötig halte, da sie aus meiner Sicht nichts falsch gemacht hat, finde ich trotzdem gut, dass es ihr so wichtig ist. Bei uns geht es nicht ums »recht haben«. Menschen haben unterschiedliche Auffassungen, und es kann in einer Diskussion schnell passieren, ins Recht-haben-Wollen zu rutschen, da jeder ja glaubt, es richtig zu sehen. Bei uns ist das anders, und wir geben uns Mühe, die Perspektive des anderen nachzuvollziehen, um einander zu verstehen.

Vor etwa acht Jahren hat meine Mutter mir den Satz »Be the change you want to see in the world« auf ein T-Shirt drucken lassen. Ich mag den Spruch, und ich glaube, dass jeder etwas tun kann, um Gutes zu bewirken.

Mit diesem Vorwort möchte ich allen Menschen Mut machen. Ich möchte ihnen sagen, dass man es schaffen kann, der Mensch zu werden, der man sein möchte, und ich glaube, dass dieses Buch dafür wichtig ist.

Noemi Marchand

VORBEMERKUNG

Liebe Leserin, lieber Leser,

in diesem Buch möchte ich dich gern mit »Du« ansprechen.

Ich wähle diese nahe Anrede, weil jedes Heilungsgeschehen etwas sehr Persönliches ist und frühkindliche Traumatisierungen immer in einem engen persönlichen Bindungskontext stattfinden.

Das förmliche »Sie« könnte in diesem Zusammenhang eine Distanz aufbauen, die es unnötig erschwert, sich den Inhalten dieses Buches zu öffnen.

Wörter sind weit mehr als eine Aneinanderreihung von Buchstaben, die von der analytisch arbeitenden linken Gehirnhälfte zu Sätzen geformt werden und eine sachliche Aussage ergeben.

Sprache ist auch rechtshemisphärisch. Sie kann tief berühren, die Zeit stillstehen lassen, Gefühle wecken – und sogar verschlossen geglaubte Räume öffnen. Wenn das geschieht, können Worte in dir eine Kraft freisetzen, die es dir ermöglicht, das neutrale Faktenwissen, das du durch dieses Buch erlangst, mit deinem einzigartigen Leben zu verweben.

EINLEITUNG

Mit diesem Buch möchte ich auf das große und wichtige Thema Trauma aufmerksam machen. Viele Menschen leiden seit Jahren oder sogar Jahrzehnten und fühlen sich sehr schlecht, ohne den Grund dafür zu kennen. Sie können ihr Leben nur sehr eingeschränkt gestalten und sind ohne Hoffnung und unglücklich. Ihr Leiden kann sich in körperlichen Beschwerdebildern äußern, und trotz regelmäßiger ärztlicher Betreuung tritt keine nachhaltige Besserung ein. Ihr Leiden kann sich aber auch in Form von Depressionen, Burn-out oder Angststörungen zeigen.

Depressionen gelten heute als Volkskrankheit, die das Leben von immer mehr Menschen beeinträchtigt. Die Volkskrankheit heißt in Wirklichkeit aber Trauma, denn Traumata sind die Ursache sowohl körperlicher Symptome als auch sogenannter psychischer Erkrankungen.

Leider ist diese Tatsache immer noch eine Art Geheimwissen. Klinische Studien der Psychoneuroimmunologie belegen eindeutig, dass Menschen, die frühkindliche Traumatisierungen erlebt haben, im späteren Leben schwere körperliche Erkrankungen entwickeln können. Leider sind die Zusammenhänge zwischen Trauma und Krankheit den meisten praktizierenden Ärzten, Medizinern, Psychologen und Psychiatern bis heute nicht bekannt. Traumabedingte Beschwerden lassen sich mit klassischen Behandlungsformen nur sehr begrenzt therapieren, sodass Menschen durch Therapieangebote wie Psycho- oder Verhaltenstherapie nur wenig Linderung und keine nachhaltige Verbesserung ihrer Situation erfahren.

Erkennst du dich in dieser Beschreibung wieder? Wenn du beim Lesen dieses Buches feststellst, dass auch dein Leiden durch frühkindliche Traumatisierungen ausgelöst wurde, ist es wichtig, die richtige Therapieform für dich zu finden.

Die Traumatherapie hat einen völlig anderen Ansatz als die klassischen Behandlungen, wie zum Beispiel Psycho- oder Verhaltenstherapie, und je klarer dir das wird, desto eher kann deine Heilung beginnen.

Mit dem hier Geschriebenen möchte ich dich dabei unterstützen, deine Situation in eine heilsame Veränderung zu bringen. Bitte betrachte das, was du hier erfährst, nicht als »Tipps«, von denen du vielleicht einige beherzigst und andere übergehst. Ich beschreibe die Schritte, die zur Heilung notwendig sind. Jeder einzelne Schritt bringt dich auf deinem Heilungsweg weiter.

Deshalb ist es wichtig, dass du die Kapitel der Reihe nach liest, denn sie bauen aufeinander auf. Stell dir das Buch wie ein großes Puzzle vor: Jedes Puzzleteil hat seine Bedeutung und ist unentbehrlich, denn wenn du einige Teile weglässt, kannst du das Gesamtbild nicht erkennen. Jedes Kapitel hilft dir, dich mehr und mehr auf deine Heilung auszurichten. Wenn du bereit bist, jedem Kapitel deine Aufmerksamkeit zu schenken, wirst du ein ganz neues Bild von dir gewinnen und deinen persönlichen Weg in die Freiheit finden.

Ein kleiner praktischer Hinweis aus meiner eigenen Leseerfahrung: Markiere mit Post-its oder Lesezeichen die Stellen im Buch, die du noch einmal lesen möchtest, zu denen du Fragen hast, die dir besonders wichtig erscheinen oder die du noch nicht ganz verstanden hast. Weil das Buch sehr viele Informationen enthält, kannst du es wie ein Arbeitsbuch verwenden, dessen Inhalte sich durch wiederholtes Lesen besonders gut erschließen. Die Lesezeichen helfen dir, interessante Stellen schnell wiederzufinden.

Ich wünsche dir viel Freude und Inspiration beim Lesen.

Deine Satya

MEINE GESCHICHTE

Das Buch ist entstanden, weil ich in meiner therapeutischen Arbeit gemerkt habe, dass viele Menschen in meiner persönlichen Biografie so viel Hoffnung für sich selbst finden können, dass sie ihr eigenes Leben nicht mehr als unveränderbar sehen, sondern eine positive Neugestaltung wieder für möglich halten.

Damit meine Geschichte vielleicht auch dir die Zuversicht schenkt, dass dein Leben unerwartete Wendungen nehmen und heilsam verändert werden kann, möchte ich dir zunächst ein wenig von meinem Start ins Leben erzählen. Dazu muss ich aber eine Triggerwarnung aussprechen. Teile des Textes in diesem Kapitel enthalten Reizauslöser (Trigger). Wenn du unter Traumafolgesymptomen leidest, kann es sein, dass der Text Erinnerungen an eigene traumatische Erfahrungen auslöst. Obwohl der Inhalt verstörend ist, möchte ich dir diesen Teil meiner Geschichte trotzdem erzählen, weil er zeigt, dass ein gelingendes Leben ein Prozess ist, der nicht zwingend eine glückliche Kindheit voraussetzt.

Bitte achte beim Lesen darauf, dass es dir gut geht, lies bestimmte Passagen gemeinsam mit einer Freundin oder einem Freund und überspringe vielleicht einzelne Textstellen oder das ganze Kapitel.

KANNICHEINEGUTEMUTTERSEIN?

Der schönste Tag in meinem Leben war der 2. April 2004, als meine Tochter Noemi zur Welt kam und ich sie endlich in die Arme nehmen konnte. Gleichzeitig war es der Tag, an dem ich von einem Berg unermesslicher Angst schier erdrückt wurde, denn nichts wollte ich mehr, als diesem frisch geschlüpften kleinen Wesen eine gute Mutter zu sein, und nichts fürchtete ich mehr, als genau das nicht zu schaffen. Schon der Gedanke, meine Tochter könnte durch mich ein ähnliches Grauen erfahren wie ich durch meine Eltern, lähmte mich und stürzte mich in eine tiefe Depression. Ich verstand mich selbst nicht und hatte keine Ahnung, was da vor sich ging. Warum war ich nur so deprimiert, wenn ich nach fünf Fehlgeburten endlich das Kind im Arm halten durfte, das ich mir so sehr gewünscht hatte?

Ich hatte noch nie von der sogenannten postpartalen Depression (auch »Wochenbettdepression«) gehört, und dass es mir so schlecht ging, nahm ich als düsteren Hinweis darauf, dass es mir wohl schwerfallen würde, eine gute Mutter zu sein.

Keine Frage drängte mich mehr als die, wie es mir gelingen könnte, diesem Kind Vertrauen in sich selbst und ins Leben zu geben, seine Bedürfnisse wahrzunehmen und es liebevoll zu begleiten. Diese Gedanken teilte ich mit meinem damaligen Ehemann, dem Vater von Noemi. Doch das machte ihn wütend. Er wollte dieses Kind eigentlich gar nicht und hatte nach langen und zähen Diskussionen nur zugestimmt, um mich an seiner Seite zu halten. Nun hatte er mir gegeben, was ich wollte, aber anstatt zufrieden zu sein, belästigte ich ihn mit solchen Fragen?! Er verstand mich nicht und bemühte sich auch gar nicht darum, sondern betrachtete mich mit jenem Ausdruck kalter Verachtung, den ich im Laufe unserer Ehe fürchten gelernt hatte.

Weil meine Eltern mich schwer und komplex traumatisiert hatten, ging ich automatisch und grundsätzlich davon aus, dass ich es bin, die ein Problem darstellt. Dass ich diejenige bin, die falsch denkt, falsch handelt, falsch fühlt – falsch ist.

Dass mein Mann sich anderen Menschen weit überlegen fühlte, sie das auch gern spüren ließ und ihnen nur mit Herablassung, Kontrolle und manipulativen Strategien begegnete, nahm ich als Beweis für seine Klugheit und meine eigene Dummheit. Dass auch er traumatisiert war und sein Verhalten das Ausagieren von Traumafolgen darstellte, war mir lange Zeit nicht bewusst.

Doch als Noemi wenige Monate alt war, kam es zu einer Schlüsselszene, nach der ich meinen Mann allmählich mit anderen Augen betrachtete. Er wusch dem kleinen Mädchen in der Badewanne den seidigen Haarflaum, und Noemi begann zu weinen, weil sie Shampoo in die Augen bekommen hatte. Mein Mann reagierte sehr wütend auf ihre Tränen und schimpfte laut mit ihr, worauf Noemi noch lauter weinte. Er zog die Kleine aus der Badewanne, kam wutschnaubend mit dem tropfenden Kind zu mir ins Wohnzimmer und erklärte, dass er sich von so einer kleinen Portion ganz sicher nicht auf der Nase herumtanzen lasse. Er werde ihr klarmachen, dass er sich nicht von ihr beherrschen lasse, und erwarte dabei meine Unterstützung. Ich war entsetzt über seine Sichtweise, die keinerlei Raum für Noemis Erleben ließ und völlig an der Realität vorbeiging. Auch in den folgenden Wochen und Monaten zeigte mir sein Umgang mit Noemi immer deutlicher, dass er keineswegs der vernünftige und kluge Weltenlenker war, für den ich ihn all die Jahre gehalten hatte, sondern ein Tyrann, der sich an der Spitze eines Machtgefüges sah und Sabotage und Hochverrat witterte, wenn sich jemand anders verhielt, als er es wünschte.

KINDERTAGE

Im April 1962 wurde ich in Hamburg geboren. Meine Eltern hatten nicht aus Liebe geheiratet, sondern um ihrem jeweiligen Elternhaus zu entkommen. Beide wollten kein Kind und waren erschrocken, als meine Mutter mit mir schwanger wurde.

Die Ehe meiner Eltern war geprägt von gegenseitiger Abneigung, Missgunst und Gewaltausbrüchen. Brutalität zwischen Menschen war für mich von klein auf etwas ganz Normales. Meine Mutter machte sich über die groben Manieren, die mangelnde Körperhygiene und die fehlende Bildung meines Vaters lustig und verspottete ihn mit ätzenden Sprüchen. Er revanchierte sich mit körperlicher Gewalt, sexuellen Übergriffen und Gebrüll. Er schlug sie, bis sie eines Tages eine volle Weinflasche an seiner Schulter zerschellen ließ. Da verstand er, dass meine Mutter sich fortan zur Wehr setzen würde, und ließ sie in Ruhe. Stattdessen konzentrierte er sich nun auf mich. Ich wurde ohne ersichtlichen Grund geschlagen, zur Seite getreten, wenn ich meinem Vater im Weg war, bekam nur unregelmäßig etwas zu essen und saß im Winter in meinem ungeheizten Zimmer. Ich hatte keinen Ort, an dem ich mich sicher fühlte, und erlebte die Tage und Nächte als eine Aneinanderreihung von beängstigenden Situationen. Die für mich wichtigste Frage war: Wie muss ich sein und was kann ich tun, damit mir niemand wehtut?

Mein Vater war Friseur, und sein kleiner Salon war einer der Räume unserer dunklen Souterrainwohnung. Rasierklingen gehörten zu seinem Handwerkszeug, und als ich noch ganz klein war, streute er einige davon einfach so in mein Gitterbett. Meine Großmutter, die gegenüber wohnte und während der Arbeitszeit meiner Mutter nach mir sah, fand mich weinend und blutend vor. Daraufhin brachte mich meine Mutter tagsüber zu meiner Großmutter, wo ich vor meinem Vater sicher war. Meine Großmutter war sehr beschäftigt mit dem kleinen Fuhrunternehmen, das meine Großeltern gemeinsam aufgebaut hatten. Sie erledigte die Buchhaltung und stellte die Fahrpläne für die angestellten Fahrer zusammen.

Mein Großvater fuhr auch selbst Waren aus, arbeitete viel und war selten zu Hause. Doch wenn er da war, herrschte eine seltsame Atmosphäre. Er durfte nicht durch Telefon- oder Türklingeln oder laute Gespräche gestört werden, und meine Großmutter und ich versuchten, so leise wie möglich zu sein und jeglichen Lärm von ihm fernzuhalten. Wenn er gut gelaunt war, sang er oft Lieder, und das gefiel mir. Ich fand seine Stimme schön und mochte die Melodien. Aber meine Großmutter wurde jedes Mal unwirsch und versuchte, ihn zum Aufhören zu bewegen, was ich gar nicht verstehen konnte. Ich kannte die Liedtexte auswendig, trällerte sie selbst manchmal vor mich hin, weshalb ich heute weiß, dass sie vor vulgären Zweideutigkeiten nur so strotzten. Ab und zu nahm mich mein Großvater mit ins Bad. Das Badezimmer war sehr klein, und ich war nicht gern mit ihm da drin. Ich erinnere mich nicht an Einzelheiten, nur an den Geruch der Nivea-Creme, die er aus einer blauen Metalldose nahm und mit der er sich langsam und sorgfältig die Finger eincremte. Die Angriffe meines Vaters wechselten sich nun mit den Übergriffen meines Großvaters ab.

Geschrei, auf den Boden knallende Gegenstände und zuschlagende Türen, gefolgt von eisiger Stille, bildeten den vertrauten Geräuschteppich meiner Kindertage. Die Mahlzeiten durfte ich nicht mit meinen Eltern zusammen einnehmen. Sie aßen im geheizten Wohnzimmer vor dem neu erworbenen Röhrenfernseher, und ich hörte, wie mein Vater fluchte und in unregelmäßigen Abständen auf das Gerät einschlug, wenn es mal wieder eine Bildstörung gab. Ich saß in der kalten Küche, eine Fußbank als Sitz und einen runden Plastikhocker als Tisch. Ich fühlte mich einsam und ausgestoßen, gleichzeitig aber auch erleichtert, denn wenn ich allein war, tat mir niemand weh.

In einer meiner deutlichsten frühen Erinnerungen sehe ich meine Mutter, wie sie vor meinem Vater weglaufen will, aber er verfolgt sie, kriegt sie zu fassen und greift ihr triumphierend zwischen die Beine und an die Brüste. Und obwohl mir dieses Verhalten mit der darin liegenden Gewalt nicht neu war, hatte ich plötzlich das entsetzliche Gefühl eines vorgezeichneten Lebensweges, auf dem alle schlimmen Dinge ihren Lauf nehmen und dem ich nicht entkommen kann. Ich hatte Angst, war wie gelähmt und fühlte mich ohne Hoffnung. Ich war mir vollkommen sicher, niemals ein guter Mensch sein zu können, und dieser Gedanke war unerträglich für mich.

Zwar hielt ich mich tagsüber in der Wohnung meiner Großeltern auf, doch abends und an den Wochenenden war ich meinem Vater ungeschützt ausgeliefert. Er lud mich ein, »Pferdchen« zu spielen, und dazu setzte er mich auf seine Schultern. Dann trabte er durch die Wohnung, duckte sich aber nicht, wenn er Türen durchquerte, sodass ich immer wieder mit dem Kopf an den Türrahmen schlug. Ich schrie vor Schmerz und versuchte, von seinen Schultern herunterzuklettern, aber das ließ er nicht zu. Ein anderes Spiel hieß »U-Bahn«. Dazu breitete er meine Bettdecke so über mir aus, dass ich ganz darunter verschwand. Dann warf er sich auf mich und achtete darauf, die Kanten der Decke rundherum nach unten zu drücken. Ich schrie und versuchte panisch, mich freizustrampeln, weil ich keine Luft mehr bekam, aber das gelang mir nie. Eine Folge dieses »Spiels« ist, dass ich bis heute unter starker Klaustrophobie leide, enge und geschlossene Räume, wie zum Beispiel Fahrstühle, meide und ein MRT nur mit Sedierung durchstehe.

Mein ganzes Leben war durchzogen von unberechenbaren Angriffen. Wenn ich mich hinsetzen wollte, konnte es passieren, dass mein Vater mir rasch den Stuhl wegzog und sich amüsierte, wenn ich auf den Boden fiel. Wenn wir sonntags spazieren gingen, zwang er mich, auf der Mauer zu balancieren, die einen Rasen begrenzte. Nach ein paar Schritten stieß er mich herunter und lachte, wenn ich auf den Boden fiel und weinte.

Im Rahmen meiner Zimmertür hing eine kleine Turnstange, die sich drehen ließ. Manchmal hing ich kopfüber daran, und dann drehte er die Stange so, dass sie aus meinen Kniekehlen rollte und ich zu Boden stürzte. Er lauerte mir im Dunklen auf, und wenn ich vorbeiging, stellte er mir ein Bein. Er gab mir stundenlang nichts zu essen, verspeiste dann vor meinen Augen eine Mahlzeit, tat so, als wollte er mir etwas abgeben, zog aber den Teller immer wieder grinsend zurück, wenn ich danach griff. Oft führte er mich in den Keller, der über eine Bodenluke in seinem Friseursalon und eine steile Treppe zu erreichen war. Lange Stunden sperrte er mich in tiefster Dunkelheit dort ein, während ich vor Angst schrie und weinte. Wenn ich etwas falsch machte oder er einfach nur schlechte Laune hatte, verprügelte er mich.

Ich weiß nicht mehr, wer mir einen Goldhamster geschenkt hat. Ich nannte ihn Goldi und liebte ihn sehr, was meinen Vater anspornte, alles Mögliche zu ersinnen, um den Hamster zu quälen. So stemmte er zum Beispiel grob sein Mäulchen auf und zwängte viel zu große Brotstücke hinein. Er setzte den Hamster in das oberste Fach eines Puppenkleiderschranks und baute eine Abstiegsrampe, die er aber absichtlich nicht befestigte. Als der Hamster zu entkommen versuchte und auf die Rampe kletterte, stürzte sie ein, und der Hamster fiel herunter. Mein Vater konnte sich dabei vor Lachen kaum halten. Eines Tages nahm er das Hamsterchen in die Hand, vergewisserte sich, dass ich zusah, und zerquetschte es vor meinen Augen.

Rohe Gewalt, Brutalität und das Fehlen jeglicher Zärtlichkeit bestimmten meine Tage – ich wusste nicht einmal, wie sich Streicheln anfühlt, und kann mich nicht erinnern, jemals auf dem Schoß meiner Mutter gesessen zu haben und von ihr oder meinem Vater geküsst und umarmt worden zu sein. Einige Folgen dieser Kindheit sind mir bis heute geblieben. Abgesehen davon, dass ich es in sehr engen Räumen nicht aushalte, fallen mir bestimmte Yogaübungen, bei denen die Gesäßmuskeln trainiert werden, schwer – mein Vater hat mich sehr oft so hart in den Po getreten, dass ich eine körperliche Schutzhaltung erlernt habe, in die ich noch heute zurückfalle, wenn ich nicht bewusst darauf achte.

MEINMENTALESSCHUTZPROGRAMM

Für jedes Kind ist es ein unlösbares Dilemma, wenn die Eltern, die für das Kind sorgen und es beschützen sollen, sich ihm gegenüber abweisend oder gar feindselig verhalten. Ein Kind ist existenziell von seinen Eltern abhängig. Entfernt sich ein Kind von den Eltern, muss es sterben, setzt es sich ihnen aber aus, dann erfährt es Leid. Dies entspricht der Konstellation einer klassischen griechischen Tragödie, in der jede mögliche Entscheidung Leiden mit sich bringt. Wenn ein Kind in seiner Bedürftigkeit die Nähe der Eltern sucht und statt Liebe Gewalt erfährt, führt dies zu einer ganz bestimmten Verknüpfung im autonomen Nervensystem des Kindes: Nähe wird mit Gefahr verbunden. In der Folge ist das Kind (und später der Erwachsene) nicht mehr in der Lage, sich auf eine Beziehung oder liebevolle Bindung einzulassen, ohne gleichzeitig große Angst vor Verletzung zu empfinden.

Heute ist mir klar, dass mein Vater in seinen sadistischen Handlungen ein unstillbares Bedürfnis nach Macht, Kontrolle und Dominanz ausagierte. Sadisten empfinden Lust und Freude daran, andere Wesen zu quälen, zu erniedrigen und ihnen Schmerzen zuzufügen. Als Kind wusste ich natürlich nicht, dass das brutale Verhalten meines Vaters auf diese Persönlichkeitsstörung zurückzuführen war, sondern dachte, alle Männer seien so wie er.

Ebenso wenig wusste ich, dass meine Mutter eine Narzisstin war. Menschen mit dieser Persönlichkeitsstörung fordern permanente Bewunderung, halten sich selbst für den Mittelpunkt, um den sich alles dreht, und benutzen andere nur als Spiegel ihrer eigenen Großartigkeit. Sie betrachten ihre Mitmenschen als Marionetten, die nur dazu da sind, um sie für die eigenen Ziele zu manipulieren. Sobald sie nicht mehr nützlich sind, werden sie fallen gelassen. Die mit dem Narzissmus verbundene Kälte, Mitleidlosigkeit und Ignoranz, mit der meine Mutter mich behandelte, schmerzte mich ebenso sehr wie die körperlichen Übergriffe meines Vaters.

Kinder sind nicht in der Lage, zu reflektieren, dass es verschiedene Formen des zwischenmenschlichen Umgangs und des familiären Zusammenlebens gibt. Für sie ist das, was sie zu Hause erleben, absolut. Sie gehen davon aus, dass es überall auf der Welt so zugeht wie in ihrer Familie. Auch ich war der Meinung, dass alle Männer wie mein Vater und alle Frauen wie meine Mutter sind und die Welt eine Erweiterung unserer Wohnung ist – ein kalter, liebloser und lebensfeindlicher Ort. Ich hatte keine Hoffnung auf Veränderung oder Besserung, sondern war überzeugt, dass mein zukünftiges Leben genauso aussehen würde wie mein Leben als Kind.

Während ich diese Worte schreibe, merke ich, dass bis heute Schutzprogramme in mir wirken, die es mir ermöglichen, eine gewisse Distanz zu dem, was ich erlebt habe und hier beschreibe, aufrechtzuerhalten. Durch meine frühere Arbeit als Buchhändlerin und meine Liebe zur Literatur ist mir der Umgang mit Worten und Texten vertraut. Und so, wie sich durch Worte Nähe herstellen lässt, kann die Arbeit mit oder an einem Text auch Distanz schaffen und somit schützen. Natürlich stehen mir für die Errichtung einer Distanz heute Fachbegriffe zur Verfügung, von denen ich als Kind nichts wusste. So kann ich heute das furchtbare Geschehen von damals einordnen, und Begriffe wie »Sadist« oder »Narzisst« bringen das ausweglos erscheinende Grauen meiner Kindheit zumindest andeutungsweise zum Ausdruck. Die Frage aber, warum einige Eltern ihren Kindern in einer derartigen Grausamkeit begegnen, lässt sich zwar mit dem Begriff »Trauma« inhaltlich richtig beantworten, kann aber nicht das Entsetzen und die tiefe Verzweiflung ausdrücken, die mit der Verlorenheit einer solchen Kindheit verbunden ist.

JUGENDJAHRE

Als ich zwölf Jahre alt war, ließ sich meine Mutter scheiden. Ich war sehr erleichtert, denn nun war ich vor meinem Vater in Sicherheit. Auch verließen wir die düstere Souterrainwohnung und zogen in ein Reihenhaus etwas außerhalb von Hamburg. Dort fühlte ich mich wie im Paradies, und ich stellte mir vor, dass alle Leute, die in dem neuen Ort wohnten, gute Menschen waren.

Eines Abends, als ich mir die Zähne putzte, kam meine Mutter zu mir ins Bad und erzählte mir ganz beiläufig, dass sie einen Holländer kennengelernt habe, ihn heiraten und nach Holland ziehen werde. Ich könne aber nicht mitkommen, weil es dort bereits vier Kinder gebe und für mich kein Platz sei. Vor ihrer Abreise verkaufte meine Mutter das Haus an meine Großeltern, und ich blieb allein zurück.

Bis dahin bewohnte ich ein Zimmer im ersten Stock, aber als meine Mutter nicht mehr da war, zog ich in den Keller, weil es mir dort sicherer erschien. An den Wochenenden besuchten mich meine Großeltern aus Hamburg und brachten mir Konserven und Tütennahrung. Sie nahmen auch meine schmutzige Kleidung mit und ließen frische Wäsche da. Ich ging jeden Tag zur Schule. Klassenarbeiten und Zeugnisse wurden von meiner Großmutter unterschrieben, und da ich mich nicht auffällig oder aggressiv verhielt, fiel weder meinen Lehrern noch den Nachbarn etwas Beunruhigendes auf.

Ich hätte sehr gern eine Freundin gehabt und malte mir aus, wie schön es wäre, nicht immer allein zu sein, aber kein Kind wollte etwas mit mir zu tun haben. Ich kaufte einigen von ihnen kleine Geschenke und hoffte, dass sie mich dann mögen würden. Aber das taten sie nicht. Sie nahmen zwar die Geschenke an, wollten aber trotzdem nicht mit mir befreundet sein. Im Gegenteil, sie verspotteten mich und ließen mich ihre Abneigung spüren. Einmal schlug ein Kind die mit Stahl eingefasste Tür des Klassenzimmers genau in dem Moment zu, als meine Finger im Türrahmen lagen. Ich brach mir drei Finger, doch ich meldete es keiner Lehrkraft, weil ich mich schämte. Ich dachte, es sei meine eigene Schuld, denn wenn ich anders und besser gewesen wäre, hätte das Kind das bestimmt nicht getan.

BÜCHERALSZUFLUCHT

In dieser Zeit entdeckte ich das Lesen. Mit Büchern konnte ich aus meinem Leben in andere Welten entfliehen. Ich hatte wenig Geld und las sehr schnell, deshalb war Lesestoff immer Mangelware. Ich wagte niemanden zu fragen, was ich tun müsste, um eine Bücherei benutzen zu dürfen, und bemühte mich, so langsam wie möglich zu lesen, damit das Buch lange hielt. Meine erste Lektüre waren die sogenannten »Groschenheftchen«. Sie kosteten nicht viel, und in den von mir bevorzugten Serien kämpften furchtlose Killer in blutigen Schlachten gegen Dämonen, Werwölfe und Zombies. Die Gewalt in diesen Geschichten war mir vertraut, und alles, was uns vertraut ist, erzeugt ein Gefühl der Sicherheit. Außerdem siegten immer die Guten, und mein eigenes Leben erschien mir im Vergleich zu diesem Horror sehr friedlich.

Nach den Horrorgeschichten wechselte ich zu Arztromanen, in denen nach vielen Intrigen und Verwicklungen stets die Gerechtigkeit siegte und ein Happy End das vorangegangene Leid vergessen ließ – und wenn die Heldinnen der Romane eines Morgens im Glück erwachten, dann war das vielleicht auch mir irgendwann möglich.

Derartige Einschätzungen meines damaligen Lesegeschmacks entspringen meiner heutigen Sichtweise – damals hatte ich keine Ahnung, worin der Reiz dieser Lektüre für mich lag. Ich schämte mich auch für das Konsumieren dieser Heftchen, denn dass es sich hier nicht um wertvolle Literatur handelte, war mir durchaus klar. Allerdings war der Sog dieser Geschichten und der Drang, unbedingt die Fortsetzung der Handlung erfahren zu wollen, weitaus stärker als irgendwelche literarischen Kriterien. Nach weiteren Ausflügen in die Welt der Heimat- und Liebesromane begann ich mich dann langsam mit etwas anspruchsvolleren Inhalten zu beschäftigen. Unabhängig aber von der inhaltlichen Qualität meiner Lektüre waren die Bücher meine Zuflucht, mein sicherer Ort und meine Nahrung.

Ich schaffte den Hauptschulabschluss in der erweiterten Form, was mir ermöglichte, an einer berufsbildenden Schule die Mittlere Reife zu machen. Nach bestandenem Schulabschluss entschied meine Mutter, dass ich nun in der Lage sei, mich selbst zu versorgen. Sie schickte mir kein Geld mehr, sodass eine Ausbildung nicht möglich war und ich als ungelernte Kraft ins Berufsleben einstieg. Ich arbeitete in einer Bank als Schreibkraft, bei der Flüchtlingshilfe des Roten Kreuzes als Mädchen für alles, in der Verwaltung eines Lebensmittelkonzerns in der Tiefkühlabteilung und als Stenotypistin im Schichtdienst bei einem Hamburger Zeitungsverlag. Keine dieser Tätigkeiten machte mir Freude, und das erschien mir völlig normal. Meine Mutter hatte mir schon früh erklärt, dass es im Leben nicht auf »Freude« ankomme. Damit ich das nie vergaß, schrieb sie es in mein Poesiealbum: »Ich schlief und träumte, das Leben sei Freude. Ich erwachte und sah – das Leben ist Pflicht. Ich erfüllte die Pflicht und siehe: Die Pflicht ward Freude.«

Ich lebte in ständiger Angst, nichts gut genug zu machen. Nicht gut genug zu arbeiten, nicht gut genug zu reden, zu denken zu fühlen, also ganz grundsätzlich nicht gut genug zu sein. Dass es mir auch nie gelang, ein gutes Verhältnis zu meinen jeweiligen Arbeitskollegen aufzubauen, geschweige denn Freundschaften zu schließen, nahm ich als weiteren Beweis dafür, wie nichtsnutzig, dumm und schlecht ich war. Abends und an den Wochenenden, wenn ich nicht arbeitete, lag ich am liebsten im Bett. Da fühlte ich mich am sichersten. Es war warm, ich las, aß und gab mich Tagträumen hin, in denen ich das Bett nie wieder zu verlassen brauchte.

MEINHEILUNGSWEG

Seit meiner frühesten Kindheit hat mich die Not jahrzehntelang begleitet. Außer meinem Bett gab keinen Ort, an dem ich mich entspannen oder mich wohlfühlen konnte und der mir ungefährlich oder gar »schön« erschien. Es gab auch keinen Menschen, mit dem ich mich sicher, vertraut und verbunden fühlte. Ich sah keinen Sinn im Leben, war traurig und unglücklich, fand das aber ganz normal, weil ich nichts anderes kannte.

Zu den Depressionen, der Hoffnungslosigkeit, der inneren Leere und der Freudlosigkeit kam ein sich ständig verschlechternder körperlicher Zustand. Ich litt unter Neurodermitis und Psoriasis, häufigen und starken Rückenschmerzen, schlechter Verdauung und konnte ganz plötzlich ohnmächtig werden. Keine dieser Beschwerden ließ sich auf eine eindeutige Ursache zurückführen und wurde daher nur symptomatisch behandelt. Wenn ein Symptom abklang, tauchte an anderer Stelle ein neues auf. Mein Hausarzt schenkte mir schon lange keine Aufmerksamkeit mehr. Er hielt meine Symptome für »mysteriös« und glaubte, ich wolle mit vorgetäuschten oder übertriebenen Beschwerden Krankschreibungen erschleichen.

Keine schulmedizinische Behandlung, kein Psychiater, kein Verhaltenstherapeut, kein Alternativ- oder Komplementärmediziner konnte etwas an meinem Gesundheitszustand ändern. Weder energetische Heilmethoden, wie zum Beispiel Reiki, Matrix-Healing, Geistheilung oder Shiatsu noch Familienstellen, Encounter-Gruppen, Seelenschreiben oder der »Kurs in Wundern« brachten Besserung. Im Gegenteil: Mein Leben wurde immer unerträglicher. Die Schulmedizin verpasste mir das Etikett »psychosomatisch«, um zu begründen, warum ihre Maßnahmen keinen Erfolg brachten. Die Psychologin, zu der mich mein Hausarzt überwiesen hatte, vermutete, dass ich gar nicht gesund werden wollte, denn sonst würde ich ihre Anregungen und Empfehlungen doch mit mehr Erfolg umsetzen und aufhören, mich ständig selbst zu sabotieren. Aus der esoterisch-spirituellen Ecke erfuhr ich, dass meine niedrige Schwingung das Problem sei und ich sie erhöhen müsse; außerdem sei es möglich, dass mein jetziger Zustand karmisch bedingt sei durch Verfehlungen in früheren Leben.

Ich fand also nirgendwo Hilfe und wurde mehr oder weniger subtil darauf hingewiesen, dass alles, was geschehe, in meiner eigenen Verantwortung liege und ich es mir selbst ausgesucht hätte. Das verstärkte meine Schuldgefühle, was zu weiteren Selbstwertverlusten führte und meine Situation verschlimmerte. Das ging Jahr für Jahr so weiter, und mir fehlte die Kraft, noch Hoffnung zu haben.

Die Begegnung mit der neurobiologischen Polyvagaltheorie war der völlig unerwartete Wendepunkt in meinem Leben. Die Polyvagaltheorie erlaubt eine erweiterte Sicht auf das autonome Nervensystem und belegt, dass die Qualität von Gefühlen, Emotionen, Gedanken und Verhaltensweisen durch den Zustand des Körpers bestimmt wird.

Vom ersten Moment an war ich in den Bann gezogen, als ich erfuhr, dass meine Symptome und Beschwerden keineswegs »mysteriös«, sondern auf eine Dysregulation meines autonomen Nervensystems zurückzuführen waren, die durch traumatische Bindungserfahrungen in meiner Kindheit verursacht wurde. Obwohl ich den Begriff »Trauma« kannte, war mir nicht bewusst, dass es verschiedene Arten von Traumata gibt. Ich hatte nicht erwartet, dass meine Symptome durch Traumafolgen erklärt werden könnten, geschweige denn, dass darin die Lösung für meine Heilung lag.

Die Polyvagaltheorie machte mir klar, dass meine früheren Erfahrungen nicht einfach der Vergangenheit angehörten, sondern all meine vergangenen Erlebnisse sich im autonomen Nervensystem verschaltet hatten. Ich verstand, dass die vermeintliche Vergangenheit bis in die Gegenwart reicht und mein körperlicher und emotionaler Zustand sich solcherart begründen lässt.

Dieses Buch entstand, weil mein Leben nach jahrzehntelangem Leiden und unzähligen fehlgeschlagenen Therapien erst durch die Traumaarbeit endlich besser wurde und ich schließlich heilen konnte.

Ich möchte dir mit dem, was du hier liest, Zuversicht schenken, einen Funken Hoffnung in dir entzünden und dich ermutigen, auch deine eigene Heilung für möglich zu halten. Denn wenn ich es geschafft habe, meine Traumata zu integrieren und zu heilen, dann kannst du das auch. Ich bin deshalb davon überzeugt, weil ich ein ganz normaler Mensch bin ohne außerordentliche Gaben. Ich bin nicht hochbegabt, kann leider nicht mit Tieren oder Pflanzen sprechen und habe auch keine heilenden Hände, luzide Träume oder andere ungewöhnlichen Fähigkeiten. Doch als ich erkannte, dass die Dysregulation meines Nervensystems durch Bindungs- und Entwicklungstraumatisierungen verursacht wurde, gelang es mir erstaunlich schnell, die sich ständig selbst verstärkende Negativspirale zu durchbrechen.

Diagnosen und Befundungen können mitunter einschränkend, beängstigend und entmutigend sein, aber sie sind oft immens hilfreich, um die eigene Situation zu verstehen und in einen größeren Zusammenhang zu stellen. Wenn wir benennen können, worin unser Leid besteht, lassen sich Zusammenhänge erkennen, wir können uns orientieren und passende Unterstützung suchen.

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