Wege mit Rilke - Lou Albert-Lasard - E-Book

Wege mit Rilke E-Book

Lou Albert-Lasard

0,0
14,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Diese Erinnerungen der deutschen Malerin Lou Albert-Lasard gehören zu den originellsten Äußerungen über Rainer Maria Rilke. In ihnen wird der Glanz, aber auch die Last seines eigenwilligen Lebens in höchst eindringlicher Weise deutlich. Albert-Lasard und Rilke lernten sich kurz nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs in einem kleinen Dorf in der Nähe von München kennen. Mitte Mai 1916 – Rilke war gerade vom Militärdienst freigestellt – kam sie nach Wien, um ihn zu malen. Doch es ist nicht das Porträt und seine Entstehung allein, was die Malerin hier beschreibt: es sind, neben dem manches in ihrem Leben bestimmenden Eindruck ihrer Begegnung mit ihm, vielmehr auch andere Freunde, die sie durch ihn kennenlernt: Hugo von Hofmannsthal, Rudolf Kaßner, Ludwig Derleth, Karl Wolfskehl, Lou Andreas-Salomé, Hans Carossa, Stefan Zweig und Paul Klee. Das Entscheidende, das Eigentliche aber bleibt die Mitteilung des unmittelbaren, inspirierenden Erlebnisses der Malerin durch den Dichter. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 184

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Lou Albert-Lasard

Wege mit Rilke

FISCHER E-Books

Inhalt

Für die Erlaubnis zur [...]»Auch in der sichersten [...]Lange habe ich gezögert, [...]Für LuluDie in Kursiv gedruckten [...]

Für die Erlaubnis zur Veröffentlichung der im Text zitierten Gedichte Rilkes sprechen Autorin und Verlag dem Insel-Verlag und dem Rilke-Archiv ihren herzlichen Dank aus.

»Auch in der sichersten Liebe gibt es Augenblicke, wo einer dem anderen entgeht, oft, um bereichert wiederzukommen. Aber bei Rilke war diese Flucht fast ein innerer Zwang.«

Lou Albert-Lasard

Lange habe ich gezögert, ehe ich dem Drängen meiner Freunde nachgab, die darauf bestanden, daß ich einige Erinnerungen aufzeichne. Wenn ich schließlich die Hemmung überwand, die die Notwendigkeit, dabei ein paar Tatsachen aus Rilkes privatem Leben zu streifen, verursacht, so geschah es nicht nur, weil viele neuerliche Veröffentlichungen nur mehr wenig von seinem persönlichen Leben unbekannt lassen und weil, einmal enthüllt, dieses in allen Phasen und Aspekten gekannt sein sollte, sondern weil seine vielen publizierten Briefe, die öfters Konfessionen und sogar unnachsichtige Urteile über sich selbst sind, zeigen, daß zwischen einem Werk voll emotiver Erfahrung und einem Leben wie dem seinigen keine sehr scharfe Grenze besteht. Immerfort geht das eine in das andere über – die Dichtung strömt in das Leben und das Leben in die Dichtung. So wird man ihn selbst immer zum Zeugen rufen müssen, denn kein anderer wüßte seinen Gedanken und Gefühlen diese äußerste Präzision, diesen phantastischen Flug, diese Höhe der Gesichtspunkte zu verleihen.

Sogar seine Schwächen, die er bekennt und bis in ihre Wurzeln verfolgt, wo sie sich mit den uneingestandenen der anderen begegnen, verwandeln sich durch dieses Erkennen in eine große Kraft, eine hohe Macht. Sie werden ein Instrument des Eindringens, der Einfühlung, des Verstehens.

Vielleicht ist es gerade diese wahre Demut, in der er sich zuweilen enthüllt, die ihn so ergreifend macht, so menschlich nah und endlich so groß. Denn wirklich erheben kann sich nur, wer sich über den Abgrund neigt, oder besser, wer es wagt, hinabzusteigen.

Wie vom heiligen Franz im ‚Stunden-Buch‘ ließe sich von ihm sagen, daß er

zu seiner großen Armut so erstarkte,

daß er die Kleider abtat auf dem Markte

und bar einherging vor des Bischofs Kleid.

Was ist der Ruhm schließlich anderes als die Summe der Mißverständnisse, die sich um einen neuen Namen bilden.

 

 

 

Rilke, Rilke, Rilke – Welle über Welle. Welche Flut! Was für ein Meer war er denn? Mit welchem Maß ihn messen? Wie viele Leben bestürzt er, wie viele Menschen bewegt sein Name noch heute, fünfundzwanzig Jahre nach seinem Tode! Welche Macht war die seine? Nun wogt und treibt, was geheim war, an der Oberfläche. –Was würde er sagen zu alledem?– Was sagt er von dort, wo er ist? Denn er ist noch nicht sehr weit, viel zu sehr hat er die Erde geliebt. –

Neulich – nein, es ist schon einige Monate her – kam er zu mir, hier in mein Atelier – wirklich, ich habe nicht geträumt. Wie er lachte, sein entzücktes Lachen: »Ach, hier bist du jetzt, ach wie gut.«

Niemals zu seinen Lebzeiten war er so gegenwärtig als während der Wochen nach seinem Tode, diesem Tode, den ich wußte, ehe man ihn mir mitgeteilt. –

Es ist nur natürlich, daß die Dinge für mich nicht mehr dasselbe Gesicht haben, als da ich Rilke begegnete. Damals fehlte es mir an Erfahrung, auch lagen Rilkes Leben und Werk noch nicht in ihrer Vollendung vor mir, bloß ein Teil war mir bekannt, und ich konnte nur in gewissen Momenten andere mögliche Aspekte ahnen. Indessen, der grundlegende Konflikt dieses Lebens ließ sich bereits erkennen. Ich habe niemals irgendwelche Aufzeichnungen gemacht, und die Landschaft meiner Erinnerungen ist durch den Nebel der Zeit verwischt, aber die Punkte, die auftauchen, werden helfen, die verlorenen Linien wiederzufinden.

Vielleicht war diese ganze Zeit nötig, um zu verstehen, welche Rolle bei Rilke alle die scheinbaren Widersprüche spielten: daß sie die Bedingung waren, die ihn zu dem leidenschaftlichen Kampfe führte, dessen sprühende Funken eine ganze Generation entzündeten, zu diesem Kampfe für die unvergänglichen Werte, den er rastlos gegen das entstellende Gerüst unserer Konventionen führte, ganz besonders gegen den Geist unserer Epoche der Wissenschaft, die uns in falsche Sicherheiten wiegt, unsere edleren und tieferen Beunruhigungen übertönt, indem sie triumphierend immer neue Behauptungen, Versprechungen und Zerstreuungen auftischt.

Die Karawane, die Rilke und seinem Gesang, seiner Lehre folgt, wächst täglich an. Seine Lehre, die nichts von einer Doktrin hat, ist nur der Ausdruck eines ganzen Lebens, das allein und ohne Stütze die Wege der Initiation gesucht hat. Vielleicht ist er der einzige, der durch sein dauerndes Vertiefen so weit vorgedrungen ist, ohne die Hilfe einer rituellen Einweihung.

So ist Rilke ebensosehr ein rein menschliches wie ein dichterisches Ereignis. Er ist derjenige, welchen alles durchdringt, auf daß er alles durchdringe. Selbst das Schreckliche hielt ihn nicht zurück. Er enthüllt unsere Zwiespältigkeit, die wir nicht wahrhaben wollen. Bestrickt von der Liebe, ihrer magischen Essenz, ihrer gefährlichen Seite, die sie der Todeserfahrung naherückt, wollte er sie wieder und wieder erfahren. Uns, die das Schicksal an seinen Weg gestellt hat, bot es diese ungeheure Leere, die sein Tod hinterließ, auf daß wir sie mit immer wachsender Intensität erfüllen.

 

Die bescheidene Geschichte meiner Begegnung mit Rilke, mit der ich beginnen muß, zeigt ihn in einer besonders kritischen Epoche seines Lebens in seinen direkten Reaktionen und trägt zum Verständnis seiner sehr komplexen Persönlichkeit bei. Es ist seltsam, daß Rilke oft an wichtigen Wendepunkten des Lebens derer erschien, denen er nahetreten sollte, sicherlich angezogen von der seelischen Hochspannung, die der Verzweiflung eigen ist. Dies war auch der Fall, als ich ihn traf.

Es war Anfang September 1914. Ich suchte die Einsamkeit eines Gebirgsdorfs bei München auf. Gleich bei meiner Ankunft in Irschenhausen hielt mich plötzlich jemand an. Es war die Besitzerin einer kleinen Pension da oben, in welcher ich vor einem Jahr einmal abgestiegen war. Wider meinen Willen zog sie mich in ihr Haus. Ich war zu sehr in meine Gedanken versunken, um zu widerstreben, und fand mich plötzlich an einer kleinen Table d’hôte sitzend, ziemlich geistesabwesend. Zerstreut streift mein Blick die Versammlung – hält an.

Was tut der Russe hier, denk ich, es ist doch Krieg! Und ich höre ihn reden, wie ich nie zuvor hatte reden hören, von Rußland, von seinem Besuch bei Tolstoi, seinen Wegen durch die Felder mit Gorki oder von seiner Begegnung mit einem Bauerndichter und seinen Gesprächen mit dem russischen Volk, das er liebte. Wie Blitze erhellten seine Worte diese ganze russische Seelenlandschaft, diese Landschaft rastloser Seelen unter einem unendlichen Himmel.

Die Mahlzeit ging zu Ende. Ich hebe die Hand nach einer Wasserkaraffe; er ergreift sie und, das Wasser neben das Glas gießend: »Gnädiges Fräulein, ich habe Sie doch in Paris gesehen.« – Zögernd antworte ich: »Das kann sein – dann sind Sie – Rilke?« – »Woher wissen Sie das?« – »Ich weiß es nicht, sind Sie’s?« – »Ach, wie konnten Sie es wissen?« – »Ich weiß nicht.«

Alle erheben sich, um von Rilke Abschied zu nehmen, aber er sagt: »Nein, ich reise nicht. Man soll mein Gepäck wieder heraufbringen.«

Um die Menschen sich zerstreuen zu lassen und um mich zu sammeln, ziehe ich mich auf die Terrasse des Hauses zurück. Rilke kommt: »Ich bin so glücklich, in diesem Augenblick jemanden aus Paris zu treffen. Darf ich mich zu Ihnen setzen, um mit Ihnen zu sprechen?«

»Nein, ich kann mit niemandem mehr reden.«

Ein unvergeßlich durchdringender Blick, klar und warm, voll Verstehens – eine tiefe Verneigung, und ich bleibe allein – wie gebannt – lange in Gedanken – auf einem Liegestuhl.

Wie seltsam, Rilke gerade in dieser entscheidenden Stunde zu treffen. Ihn, dessen Werk mich seit mehr als einem Jahr ununterbrochen beschäftigt hatte.

Seit sie mir in die Hände gefallen waren, hatten seine Bücher mit unglaublicher Heftigkeit von mir Besitz ergriffen. Ich kannte sie fast auswendig. Und ich sehe mich eines Tages bei einer Freundin, E.v.Bonin, ankommen, die mich zum Tee eingeladen hatte. Ich war wie in einer Wolke. »Was fehlt Ihnen?« fragt sie. – »Ich kann nicht sprechen. Ich habe gerade Rilke gelesen.« – »Sieh da, soeben ist er von hier fortgegangen.« – »Wie? – er lebt? – hier mitten unter uns? Ich kann es nicht glauben!« – »Ja, wollen Sie ihn kennenlernen?« – »Ich – niemals! ich würde in die Erde versinken …« – »Vielleicht ist es auch besser so, er braucht viel Einsamkeit.« Und jetzt, gerade jetzt … Ich hebe den Blick – da ist er wieder!

»Darf ich mich zu Ihnen setzen – ohne zu reden?« sagt er leise.

»Ja.« –

So blieb er fast drei ganze Tage an meiner Seite, auf dem Rasenplatze, auf dem ich ruhte, beinahe ohne zu sprechen. Nur daß er mir schon in den Straßen von Paris gefolgt sei mit Blumen, die er nicht gewagt hatte, mir zu geben, sagte er mir, daß er ganze Abende im Bullier – einem Ball-Lokal der Midinetten, wo ich zeichnete – hinter mir gestanden habe – er, der sonst diese Lokale nicht besuchte – und noch im vergangenen Frühjahr in Italien habe er mich in den Straßen von Assisi und Perugia begleitet, immer ohne den Mut, mich anzureden. Und mich plötzlich mit du anredend: »Daß du endlich gekommen bist! Welch geheimnisvolle Strategie habe ich angewandt. Und nun ist geschehen, was geschehen mußte! Bin ich nicht von jeher auf dich zugegangen?« Dann gab er mir das erste Gedicht:

Über anderen Jahren

standest du verhüllt Gestirn.

Nun wird was wir waren

sich zu Wegen entwirrn.

Wo kein Weg gezogen

hinter uns, jetzt sich erweist,

sind wir geflogen,

der Bogen ist noch in unserm Geist.

Die Tage nach diesem schönen, diesem dichten Schweigen, welches vielleicht zu meinen wunderbarsten Erinnerungen gehört, brachten lange Aussprachen auf unseren weiten Wegen durch den Wald. Rilke kannte nicht einmal meinen Namen; nur eine Stimme zu sein, eine Freundesstimme, schien mir den Zauber und die Freiheit der Worte zu steigern. Er nannte mich Armide, ich wußte damals noch nicht warum, wußte nicht, daß Renaud die Übersetzung von Rainer ist (‚Renaud et Armide‘). Aber ich weigerte mich, diesen Namen anzunehmen, der mir viel zu kostbar klang, als daß ich ihn hätte tragen mögen.

Sein Schritt war leicht und schnell, seine Stimme warm und reich. Als ob er mich von jeher gekannt hätte, sprach er ohne Rückhalt. Dieses Vertrauen rührte mich. Er sprach von seinem ganzen Leben, der seltsamen Kindheit in Prag, von der man seither viel gehört hat. Wie hatte er gelitten unter dem Mangel an Verstehen seiner Umgebung. Hatte man aus ihm nicht einen Offizier, später einen Juristen und schließlich einen Bankbeamten machen wollen? Er fühlte sich verloren in der Atmosphäre seiner Familie.

Wie ein wohltätiger Regen auf die zögernden Blumen seiner ersten Dichtungen waren die Worte gefallen, die Detlev von Liliencron anläßlich ihm zugesandter Verse an Rilke schrieb und die also begannen: »Mein lieber, herrlicher Rainer!« Sein erstes Buch ‚Wegwarten‘, das den Untertitel trug ‚Dem Volk geschenkt‘, hatte er selbst drucken lassen und versuchte, es an den Zeitungskiosken zu verteilen. Auf die Frage, was es kosten solle, erwiderte er: »Nichts.« Da wies man ihn entrüstet ab. »Wie, Sie bringen etwas, das nichts wert ist? – Oh, nein!« Danach verteilte er es in Hospitälern und Gefängnissen. Von dort aus hat er begonnen, in den Herzen zu keimen. Immer sollte er bereit und offen sein für alle, die ihn suchten. Jahrelang konnte er mit irgendeiner kleinen Postbeamtin korrespondieren, die er niemals gesehen, mit jenem Dorfpfarrer, mit dem er einmal eine Stunde in einem Omnibus gereist war. So unterhielt er auch mit einer dauernd ans Bett gefesselten Kranken einen langen Briefwechsel; als ich sie später besuchte, gestand sie mir, nur aus dem Reichtum, der ihr aus seinen Briefen zufloß, die Kraft des Überstehens geschöpft zu haben und einen neuen Lebensinhalt. Rilke schrieb mir damals: »Bestärke nur Ilse Erdmann in dem Gefühl, daß sie mir immer schreiben könne, denn sie wirft sich’s immer wieder vor, und es ist doch so nah und einfach von ihr zu mir. Darin möchte sie sich gehen lassen.« Von überall her wußte man ihn auch zu finden. An den entlegensten Orten der Welt bildeten sich direkte, intensive Beziehungen.

Er sprach mir von seinen Reisen, von Rußland und allem, was ihn dort angezogen und für immer gefesselt hatte. Natürlich herrschte vor allem Paris, die frische Wunde, die die schreckliche Trennung in unseren Herzen gelassen hatte, in unseren Gesprächen vor. Mit welcher Wärme beschwor er all seine Freunde und Begegnungen von dort, und nicht allein die, die er gekannt, sondern auch die unbekannten Freunde der Straßen und Gärten! Dann kam er auf das große Thema seiner ewigen Klage. Wie schwer war doch die Beziehung zu den Menschen! Wußten sie denn nicht, wo die Grenzen jeder Bindung waren – und vor allem die der Liebe? Der Liebe, die alle Herrlichkeit des Lebens sein sollte und die doch das Heiligtum der Einsamkeit nicht verletzen dürfe. Die Einsamkeit, vor allem für den, der berufen, seine tiefen inneren Stimmen zu hören, sei die Bedingung seiner Atmung, seiner schöpferischen Freiheit. Ich verstand nur zu gut. Sein Problem, in gewissem Sinne das jedes Schaffenden: wie die Forderungen des Lebens in Einklang bringen mit jenen des Werks, das eine ständige Bereitschaft verlangt für den Augenblick des inneren Aufrufs. Bei Rilke war dieser Konflikt von unglaublicher Schärfe. Er litt unter einer Art von Fluch, Tribut seines besonderen Genies, das ihn zwang, bis zur Identifizierung in Menschen und Dinge einzudringen, um aus ihnen den ‚Namen‘ im magischen Sinne des Wortes zu ziehen. Durch diesen ‚Namen‘ ist alles ins Absolute erhoben und verliert seine allzu menschliche Seite. Aber er, in seiner Neugier, seinem nie gestillten Lebensdurst war gezwungen, dieses Spiel der Danaïden zu spielen, das ihm selbst und anderen so viel Leid gebracht hat. Für ihn war die Anziehung des Lebens so mächtig, daß er sich immer wieder zu dem Leben der anderen hingezogen fühlte, um meistens aber an der Schwelle stehen zu bleiben. – So sprach er mir von Marthe, jenem jungen Mädchen aus dem Volke, das er in Paris angehalten hatte, als er es in voller Verzweiflung, die Hände in seinem Schal ringend, die Straße entlanggehen sah. Die Schätze von Ursprünglichkeit, Lebendigkeit, reger Intelligenz und Feinfühligkeit, die er an ihr entdeckte! Eines Tages besuchte er sie in ihrem Zimmer, das sie mit einem Georgier teilte, der nur über wenige Worte verfügte und von dem sie sich nicht zu trennen wagte. Strahlend hob sie das Federbett hoch und zog einige Blumenzwiebeln darunter hervor, die sie durch die Wärme ihrer Füße zum Treiben gebracht hatte. Rilke war gerührt, entzückt. Alles, was sie erfinden, verstehen und entdecken konnte im Laufe ihrer gemeinsamen Ausflüge in die Umgebung von Paris, war für ihn eine Quelle der Freude. Er gestand mir, verführt, versucht gewesen zu sein, aber er hatte sich gezügelt, fürchtend, das Leben könne ihn von der Arbeit abziehen. »Muß man denn immer zum Zuschauer verurteilt bleiben? Das kann, das darf doch nicht sein!« rief er aus. Mit demselben Vertrauen, derselben Offenheit sprach er noch von anderen Erfahrungen, anderen Versuchen, dieses entscheidendste Problem zu lösen. Seine Reise nach Ägypten war in dieser Hinsicht eine Enttäuschung gewesen, ein verfehltes Unternehmen, und kürzlich noch, in einer seiner (scheinbar) unproduktiven Zeiten, hatte er gehofft, eine Befreiung, einen neuen Aufschwung durch die Musik zu finden, die ihm durch eine Frau übermittelt werden sollte. Durch die Musik, die er fast gefürchtet und gemieden hatte wegen ihrer Macht, hinzureißen, wegen ihrer Unpräzision, und, wie er einmal in einem Brief an Lou Andreas-Salomé erklärte, weil sie ihn nicht dort absetze, wo sie ihn gefunden, sondern irgendwo tiefer unten, im Nichtvollendeten. Er war in unglaublicher Begeisterung aufgeflammt, um die Ankunft dieser Offenbarung vorzubereiten; er hatte sich in einen fast trunkenen Zustand hineingesteigert in der Erwartung der Musik durch die Liebe. Und warum konnte es nicht sein! Diesen ganzen ewigen Konflikt brachte er in das Widmungsgedicht, das er mir in Gides ‚Heimkehr des verlorenen Sohnes‘ schrieb.

Heimkehr: wohin? da alle Arme schmerzen

und Blicke, alle, mißverstehn.

Auszug: wohin? die Fernen sind im Herzen,

und wie sie dir nicht dort geschehn,

 

betrügst du dich um jeden Weg. Was bleibt?

 

Nichts, als zu SEIN. Zum nächsten Stein zu sagen:

du bist jetzt ich; ich aber bin der Stein.

Heil mir. Die Not kann aus mir Quellen schlagen, und das Unsägliche wird aus mir schrein,

 

das Menschen nicht ertragen, wenn sie’s treibt.

Alles Unaussprechliche in uns hat er hinausgeschrien, diese tiefe Spaltung, die der Grund unseres Wesens ist. Er wollte nicht, daß man sie in sich beruhige.

Langsam und sanft bestand er darauf, daß ich ihm von mir erzähle, von der Ursache, die mich in jenen Zustand versetzt, in dem er mich getroffen hatte. Sein Zuhören war so innig, so gespannt, daß man sich dadurch ihm gegenüber ganz frei und aufgetan fühlte. Er formte aus der Erwartung der Worte des anderen gleichsam ein offenes Gefäß vor ihm. Sie brauchten gar nicht glänzend zu sein, auch zögernd und stotternd wurden sie warm empfangen. Durch sein subtiles Verstehen füllte er ihre armen Konturen mit allem, was sie hätten ausdrücken wollen, mit allem, was sein tieferes Schauen ihnen hinzufügte. So sprach ich denn von meiner schwierigen und innerlich verlassenen Kindheit, wenngleich der Anschein das Gegenteil bezeugen mochte, von meiner einsamen Jugendzeit und ihren tragischen Ereignissen, von meiner Heirat, die mich in eine seltsame Lage gebracht, trotz der großen inneren Bereicherung, die ich durch sie erfahren hatte. Mein Mann, ein Wissenschaftler, den seine Forschungen und Experimente völlig in Anspruch nahmen, hatte, in seine Laboratorien eingeschlossen, nur wenig freie Zeit. Er schickte selbst die wichtigsten Persönlichkeiten fort mit den einfachen Worten: »Gehen Sie fort, bitte, ich habe gerade etwas zu denken.« Er hatte immer zu denken, und es war ein ziemlich seltenes Fest, wenn er von seinen Gedanken Mitteilung machen wollte, denn sie waren von großem Format und führten, obwohl sie von wissenschaftlicher Basis ausgingen, weit bis an mystische Grenzen heran. Von den fernsten und phantastischsten Möglichkeiten redete er in einer bilderreichen Sprache und oft mit hinreißendem Humor.

Man sollte damit beginnen, eine Reise um die Welt zu machen und sich mit den besten Geistern der Zeit in Verbindung setzen, aber immer neue Laboratoriumsversuche hielten ihn zurück. Er hatte nicht das geringste Gefühl für das Fliehen der Zeit, und ich sah unsere Pläne in immer nebligere Fernen schwinden. Eines Tages, am Ende meiner Geduld, erklärte ich ihm, daß ich mich meiner Arbeit widmen müsse, daß ich nach Paris gehen wolle, um zu malen. Großmütig gab er seine Zustimmung.

Paris hatte mir weite Horizonte eröffnet, ich hatte mich in meiner Malerei mit großen Schritten befreit und während des Sommers in der Bretagne getrachtet, das neu Errungene zu entwickeln. Ich war froh und ruhig, als plötzlich Kriegsgerüchte sich erhoben, an die ich zuerst nicht glauben wollte. Auf dieser glücklichen Insel Bréhat war man weit entfernt davon, sich eine solche Katastrophe vorstellen zu können. So brach ich denn zu spät auf, unter Tränen, von den Fischern begleitet. »Bleiben Sie bei uns, es wird nicht lange dauern«, sagten sie.

Vor dem Bahnhof von Paimpol Versammlungen von Menschen, die noch nicht begriffen, nicht fassen konnten was geschah, sich voller Schrecken anstarrten. Keine Züge mehr, hieß es. Plötzlich kommt ein letzter unerwartet angebraust. Alle stürzen sich hinein, als gälte es das letzte Heil der Seele. Erst in dem überfüllten Waggon wurde mir das Entsetzliche klar. Man fühlte, wie die Angst hochstieg in den erstickenden Wagenabteilen.

Langsam näherte man sich Paris. Dort ein Schauspiel von toller Erregung, Schreie, zärtliche oder herzzerreißende Abschiede, Schwung, Begeisterung, stolze Gesten, Prahlereien, Unordnung und zu allem der so typische Humor, der den Franzosen in keiner Lage verläßt und der zuweilen etwas Heroisches hat. An den Schaltern erdrückte man sich. Belgische Bergarbeiter bedienten sich ihrer Werkzeuge, um sich einen Weg zum Zug zu bahnen. Es gab sogar einige Verwundete. »A bas les boches! A Berlin!«

Es ging wie ein Sprung durch mein Herz. Mußte ich denn flüchten wie ein Dieb, ich, Lothringerin, die ich so tiefe Wurzeln in Frankreich hatte, der Heimat meiner Wahl; mußte ich denn schweigen und fliehen? Welche Qual! Die Reise wurde immer schwieriger; keine Verbindung mehr. Zu Fuß mußte man über die Grenzen. In Deutschland eine Stille, die versteinerte. Wie ein Uhrwerk funktionierte die Kriegsmaschine. Vom Zug aus sah man riesige Kolonnen von Soldaten zu Pferd und zu Fuß die Rheinebene durchziehen nach Belgien hinauf. Von allen Seiten erhob sich ihr Gesang. Es war, als ob die Erde selbst sänge. Wenn man einige von nahem erblickte, bemerkte man ein seltsames Leuchten auf ihren Gesichtern. Einen schweigenden Ernst, eine ungewohnte Glut. Dieses Schauspiel hatte eine gewisse Größe, die den Atem verschlug. Hypnotisiert von Schrecken denke ich an das, was nun dort geschehen wird! In der so ungewöhnlichen Pracht dieser ersten Augusttage werden sie sich gegenseitig umbringen, sich verstümmeln, foltern und erniedrigen durch künstlich hervorgerufene Haßgefühle. – Warum? – Für wen? – Die Reise war eine tagelange Tortur. Erschöpft kam ich in München an, wo mein Mann in Verzweiflung war, da er mich verloren glaubte. – Hier, im Hinterland, nichts Feierliches, nichts Tragisches mehr. Die Kriegsschlagworte hatten sich der Massen bemächtigt, sie jedes klaren Urteils beraubt, indem sie das Bild des angreifenden Feindes erweckten. Überall sinkt das Niveau hinter der Front. Eine Welle von unüberlegtestem Enthusiasmus erhob sich hier, selbst bei gewissen Gebildeten und Gelehrten. Wie schwer war es, immer die Empörung, die man empfand, zu unterdrücken.

Mein Mann stand zum Glück weit über der Situation, sah die Dinge von oben und erklärte mir, daß dies nicht eigentlich ein Krieg zwischen Nationen sei, sondern ein Klassenkrieg, und sicherlich nur der erste einer ganzen Reihe. Die Welt wandle sich, sei in Krise. Hellsichtige Ideen für den Zeitpunkt. –Ich dachte nur daran, mich in meiner Arbeit einzuschließen, aber es ergaben sich Schwierigkeiten. Mein Mann erklärte mir, davon könne zur Zeit keine Rede sein. »Mein armes Kind, die Zeit gehört nicht der Kunst, es ist kein Platz in der Welt für besondere Nummern wie dich«, sagte er.

Ich hatte zu lange auf diese Erfüllung gewartet, die Paris mir versprochen, ich hatte gehofft, meinen Weg zu finden, und nun fühlte ich mich in mir selbst verloren und ratlos. Dieser Umsturz der Welt stürzte auch mein Leben um. Alle Zukunft schien mir verstellt.

So war ich in tiefer Verstörtheit fortgefahren, ohne eigentliches Ziel, ins Isartal hinaus.

Rilke schien sehr ergriffen und brachte mir bald darauf das Gedicht:

Für Loulou

 

O wie sind die Lauben unsrer Schmerzen

dicht geworden. Noch vor wenig Jahren

hätten wir für unsre wunderbaren