Wege zur inneren Kraft - Jürgen Hennig - E-Book

Wege zur inneren Kraft E-Book

Jürgen Hennig

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Beschreibung

Menschen wie Dietrich Bonhoeffer, Martin Luther King oder Malala Yousafzai sind als mutige, furchtlose Persönlichkeiten und Vorbilder bekannt geworden. Ein starker Charakter hat diese unheimliche Strahlkraft und kann dem Leben einen Sinn und Erfüllung geben. Doch wie kann man den eigenen Charakter besser kennen lernen und stärken? Jürgen Hennig, ein führender Experte auf dem Gebiet der Persönlichkeitsentwicklung, lädt in diesem Buch dazu ein, die individuellen Charakterstärken kennenzulernen und aufblühen zu lassen. Anhand von 24 verschiedenen Eigenschaften aus den Bereichen: Weisheit und Wissen, Mut, Liebe und Menschlichkeit, Gerechtigkeit, Mäßigung, Spiritualität und Transzendenz. Ein wegweisender Ratgeber, der dabei hilft, die eigene Persönlichkeit zu entfalten und seine Lebensziele langfristig zu verwirklichen.

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Meiner Frau Sabina und unseren KindernDavid, Simon & Noah

Inhalt

Vorwort

1. Werte – Tugenden – Charakterstärken

Werte

Tugenden

Charakter

2. Gerechtigkeit

Soziale Verantwortung

Fairness

Führungsvermögen

3. Mut

Tapferkeit

Beharrlichkeit

Authentizität/Ehrlichkeit/Integrität

Vitalität/Tatendrang/Enthusiasmus

4. Weisheit

Neugier/Offenheit

Liebe zum Lernen

Urteilsvermögen

Kreativität

Weitsicht/Perspektive

5. Mäßigung

Demut und Bescheidenheit

Besonnenheit/Vorsicht

Selbstkontrolle und Selbstregulation

Vergebung/Verzeihung

6. Humanität

Freundlichkeit

Soziale Intelligenz

Bindungsfähigkeit

7. Transzendenz

Sinn für das Schöne

Humor

Dankbarkeit

Hoffnung

Spiritualität

8. Individuelle Stärken

Bildteil

Anmerkungen

Vorwort

Was brauchen Sie für dieses Buch? An allererster Stelle brauchen Sie Zeit. Das klingt sehr trivial, weil man zwangsläufig für alles, was man tut, Zeit braucht. Gemeint ist aber nicht ein Platz in unserem oftmals überfüllten Terminkalender oder eine Form des „Sich-Zeit-Nehmens“, sondern eher eine des „Sich-Zeit-Schenkens“. Und noch etwas wäre hilfreich: In Zeiten unfassbarer Kriege, Machtbesessenheit, Missbrauchsskandalen, Kinderpornografie, Autokratie und Korruption, Flüchtlingselend, Gleichgültigkeit und Klimakatastrophen haben Sie schlicht Lust, sich mit menschlichen Stärken, Tugenden und Werten zu befassen, die – und darum geht es hier – durch Übung bei uns allen weiter ausgebildet werden und uns zu Zufriedenheit und Wachstum verhelfen können. Sie wollen ihre Charakterstärken nicht nur erkennen, sondern auch ausbauen? Prima, das könnte eine spannende Einlassung werden.

Und wie kommt ein Psychologieprofessor dazu, ein Buch wie dieses über Charakterstärken zu schreiben? Nun, zuerst war da eine Studie der Abteilung für Differentielle und Biologische Psychologie an der Justus-Liebig-Universität Gießen, an der ich mitgewirkt habe. Wir wollten wissen: Welche Auswirkungen hatten die Einschränkungen während des Lockdowns in der Pandemie, die ständige Verunsicherung und die Angst vor einer Infektion auf unser psychisches Wohlergehen? Und wie können wir uns vor den negativen psychischen Folgen schützen?

Dazu führten wir eine der ersten Onlineumfragen in Deutschland zu diesem Thema unter 1000 Personen durch. Mit erschreckenden Ergebnissen: Rund die Hälfte der Befragten (50,6 Prozent) zeigte Symptome mindestens einer psychischen Krankheit, und auch depressive Stimmungen, Angst, Panik- und Zwangssymptome kamen viel häufiger vor als vor der Pandemie. Viele der Befragten zogen sich auch weitaus stärker aus dem öffentlichen Leben zurück als nötig und gaben zu, Hamsterkäufe getätigt zu haben.1

Doch die Studie zeigte auch: Es gibt Möglichkeiten, unsere psychische Widerstandskraft in der Krise zu stärken. Die Befragten, die diese innere Widerstandkraft aufwiesen, die sogenannte Resilienz, hatten ein viel geringeres Risiko, Symptome einer psychischen Störung zu entwickeln.

Nachdem ich im Hörfunk des Hessischen Rundfunks ein Interview zum Einfluss von Charakterstärken auf die Bewältigung von Corona gegeben hatte, wurde ich vom Verlag dieses Buches kontaktiert. Ich hatte im Radio berichtet, dass wir bei einer anderen Studie herausgefunden hatten, dass bestimmte Charakterstärken, die wir bei unseren Studierenden vor Ausbruch der Coronapandemie erfasst hatten, mit größerer Resilienz in Beziehung standen. Befragte, die beispielsweise angaben, dass sie sich trotz allem auf das Positive in ihrem Leben konzentrierten, blieben psychisch weitaus stabiler. Man könnte auch sagen: Je deutlicher diese Charakterstärken bei den Teilnehmenden ausgeprägt waren, desto besser war ihre Fähigkeit, mit den Sorgen durch Corona konstruktiv umgehen zu können. Und das macht Hoffnung, denn diese Bewältigungsstrategie kann man lernen – ebenso wie viele andere, die Traurigkeit, Fatalismus und Hoffnungslosigkeit etwas entgegenzusetzen haben. Beim Verlag war man der Ansicht, dass man diese Erkenntnisse unbedingt in einem Buch den krisengebeutelten Menschen zugänglich machen sollte. Mir zeigte das Ergebnis erneut, was für einen starken Einfluss bestimmte Charakterstärken auf unser Leben und letztlich auch auf unsere Anpassungsfähigkeit und Lebenszufriedenheit haben.

Seit etwas mehr als 30 Jahren arbeite ich an der Justus-Liebig-Universität Gießen und vertrete das Fach Persönlichkeitspsychologie und Biologische Psychologie. Mich beschäftigen sehr die Fragen wie (unterschiedlich) Menschen sind und auch, woher diese Unterschiede kommen. In vielen Studien mit meinen Studierenden haben wir auch geprüft, ob uns Übungen im Bereich der Positiven Psychologie, die mit Charakterstärken verbunden sind, guttun, unsere Stimmung verbessern und unsere Lebenszufriedenheit erhöhen. In diesen Kursen werden unsere Studierenden unter anderem gebeten über einen Fragebogen zunächst ihre Charakterstärken kennenzulernen. Danach erhalten sie einen hochqualitativen Ausdruck eines persönlichen Stärkenbaumes, in den sie ihre bedeutendsten Charakterstärken eintragen sollen. Und, ganz wichtig: Sie erhalten die „Hausaufgabe“, ihren Stärkenbaum gut sichtbar im Flur, ihrem Zimmer oder in der Küche ihres Wohnheimzimmers, der WG oder wo auch immer sie leben zu platzieren, damit sie ihn jeden Tag sehen. Sie konfrontieren sich also mit ihren Stärken – so wie es ein Leitbild im Unternehmen für seine Belegschaft ja auch tut … oder tun sollte. Übungen dieser Art haben wir auch im Bereich der psychischen Erkrankung bei stationär behandelten schwer depressiven Patientinnen und Patienten eingesetzt. Auch diese können davon profitieren!2 Was macht Menschen stark?

Um die Charakterstärken, die uns in Krisen Halt und Kraft geben, wird es in diesem Buch gehen. Das ist kein so ganz einfaches Unterfangen, denn diese Charakterstärken sind eingebunden in Tugenden, die selbst wieder von Werten gesteuert werden. Damit befassen sich ganz unterschiedliche Disziplinen seit Hunderten von Jahren. Es ist derart viel dazu gesagt und vor allem geschrieben worden, dass dieses Buch letztlich überwiegend aus Auslassungen besteht. Würde man die Literatur zu den Themen jedes einzelnen Unterkapitels heranziehen, könnte man damit problemlos ganze Bücherregale füllen oder ganze Bibliotheken. Aber um Vollständigkeit kann es mir nicht gehen und geht es mir auch nicht. Dieses Buch ist einfach eine Sichtweise auf den Themenkomplex, die vor allem Verständlichkeit und Nützlichkeit in den Vordergrund zu stellen versucht. Für die Leserinnen und Leser, die sich auch wissenschaftlich in die Materie vertiefen wollen, werden zahlreiche Verweise auf weiterführende Arbeiten mit unterschiedlicher Perspektive angeboten.

Das Buch ist sicherlich nicht der nächste von Hunderten von „Ratgebern“ zur Findung eines glücklichen Lebens. Obwohl es in dieser Kategorie rangiert, läge mir mehr daran, Sie in die Thematik einzuladen, als Ihnen einen Rat zu erteilen. Dass Sie im Anschluss an die Lektüre und vor allem durch eine Umsetzung der Inhalte im täglichen Handeln glücklicher und zufriedener sind oder werden, ist allerdings durchaus beabsichtigt. Nur dass dieses Ergebnis Ihre eigene und gewollte Entwicklung und weniger die Befolgung von Ratschlägen wäre. Es geht also um einen Blick nach innen, zu dem ich einlade. Ich lade ein zur Beantwortung der Frage, was unsere individuellen Charakterstärken sind, wie sie sich zu Tugenden verhalten und auch, was wir tun können, um sie weiter zu pflegen und aufblühen zu lassen.

„Aufblühen“ (engl. flourishing) ist auch der Titel eines Buches des berühmten amerikanischen Psychologieprofessors Martin Seligman, der sich 1998 mit Beginn seiner Präsidentschaft in der American Psychological Association (APA) ganz dem Feld der „Positiven Psychologie“ zugewandt hat. Die Positive Psychologie im Sinne Martin Seligmans ist ein Auslöser für mein Interesse an Charakter und Tugenden, dem ich seit vielen Jahren auch in meiner Forschung und Lehre an meiner Universität nachgehe. Die von ihm vorgeschlagene Systematik von sechs Tugenden, denen insgesamt 24 Charakterstärken zugeordnet werden können, liegt auch diesem Buch zugrunde.

Zu Beginn werden wir uns damit befassen, was Werte, Tugenden und Charakterstärken eigentlich sind, bevor wir uns diese dann im Einzelnen anschauen. Ich werde versuchen, anhand von Beispielen aus der Gegenwart Konzepte der Vergangenheit zu verdeutlichen, aber natürlich auch die aktuellen Ergebnisse zur Thematik aufzeigen. Insgesamt möchte ich im Sinne der aristotelischen Tugendethik vorgehen, die in besonderem Maße das Handeln betont. Die Qualität unseres Umgangs miteinander oder auch mit unserer Umwelt im Sinne der moralischen Dimension des „Guten“ ist nur sehr eingeschränkt auf das zu beziehen, was wir sagen. Viel entscheidender ist die Qualität dessen, was wir tatsächlich tun.

Ich werde Ihnen daher auch zahlreiche Vorschläge unterbreiten, die Tugenden und vor allem Charakterstärken in Ihrem Leben zu wecken und diese zu üben. Leonardo da Vinci soll einmal gesagt haben „So wie das Eisen außer Gebrauch rostet und das stillstehende Wasser verdirbt oder bei Kälte gefriert, so verkommt der Geist ohne Übung.“ Unsere häufige Wahrnehmung wachsender (Gefühls-)Kälte in der Welt muss und darf nicht dazu führen, dass wir aufhören, Tugenden und Charakterstärken in unserem alltäglichen Handeln sichtbar werden zu lassen. Denn das hilft nicht nur uns selbst, sondern auch den Menschen um uns herum. Martin Seligman bezeichnet dies als „values in action“ – gelebte Werte. Hierzu lade ich Sie ein.

1. Werte – Tugenden – Charakterstärken

Werte

Die Transfersumme, die der Pariser Fußballklub Saint Germain für die Übernahme des brasilianischen Fußballstars Neymar da Silva Santos jr. an den spanischen Klub FC Barcelona entrichtete, war mit 222 Millionen Euro die bislang höchste in der Fußballgeschichte. Ist Neymar damit ein besonders wertvoller Mensch? Wahrscheinlich, und das hoffe ich, regt sich jetzt Protest in Ihnen, weil die Dimension menschlichen Wertes ja wohl keine finanzielle Angelegenheit ist. In Neymars Fall wäre das auch besonders tragisch, weil sich sein Marktwert in nur knapp drei Jahren seit dem Wechsel annähernd halbiert hat.1

Nein, jetzt mal ernsthaft: Was sind menschliche Werte, und wie hängen sie mit Tugenden und Charakterstärken zusammen?

Werte sind in gewisser Weise immer gegenwärtig, was daran deutlich wird, dass wir permanent das Verhalten (vorzugsweise anderer) (be-)werten (nützlich-unnütz, richtig-falsch, altruistisch-egozentrisch und so weiter). Werte sind nichts Materielles, sondern in der Tradition der Philosophie etwas Wünschens-, wenn nicht gar Erstrebenswertes. Sie sind damit das Grundgerüst einer individuellen und auch gesellschaftlichen Auffassung, was gut und richtig ist. Es dürfte einleuchten, dass die Frage, was „gut“ ist, die Menschheit seit Langem beschäftigt. In der Tat versuchten bereits die griechischen Philosophen, sich diesem Themenfeld zu nähern.

In der Antike galt zwar auch als „gut“, was seinen Zweck erfüllte (zum Beispiel eine warme Decke im Winter). Mehr Beachtung fand aber die personenbezogene Ebene des „Gutseins“, insbesondere Fragen nach Tüchtigkeit und Tugendhaftigkeit – also die ethisch moralische Dimension. Um Missverständnissen vorzubeugen, soll kurz der Unterschied zwischen Moral und Ethik genannt werden, die beide nicht selten synonym benutzt werden, sich letztlich aber doch unterscheiden. Moral ist ein System von Leitsätzen dessen, was gut und richtig (für alle) ist. Natürlich kann das kulturell unterschiedlich ausfallen. Daher sind auch verschiedene Moralvorstellungen in der Welt vertreten. Ethik hingegen befasst sich nicht mit Inhalten der Moral, sondern mit der Moral als solcher. Sie ist die Wissenschaft der Moral und betrachtet sie eher aus der Vogelperspektive. So ist vielleicht auch verständlich, dass der nicht selten während Corona zu Wort gekommene Ethikrat nicht „Moralrat“ heißt, denn er befasst sich nicht primär damit, was gut und richtig ist, sondern ob die auf Erwägungen von „gut und richtig“ basierenden Regelungen tatsächlich Anwendung finden können oder sollten.

In der Antike finden sich verschiedene Ansätze, die wir heute durchaus im Kontext von Werten behandeln könnten. Aristoteles zum Beispiel, den wir immer wieder strapazieren werden, spricht eher von „Tugenden“, auf die wir auch noch eingehen werden. Erst später entwickelte sich die sogenannte Axiologie (Wertelehre), und sie ist auch heute noch ein wichtiges Feld in der Philosophie, obwohl das Thema nicht mehr exklusiv von dieser behandelt wird. In der Neuzeit wurde die Koppelung von Wertetheorien und Ethik immer mehr vorangetrieben. Diese Entwicklung findet zum Beispiel in ökonomiebasierten Ansätzen und letztlich natürlich auch in der Psychologie ihren Ausdruck.

Richtungsweisend war Milton Rokeach (1973)2, der Werte in zwei Kategorien klassifizierte. Es gibt Werte, die wir benötigen, um wertvolle Zustände zu erreichen. Diese Werkzeuge oder Mittel werden als instrumentelle Werte bezeichnet, während die Zielzustände auch terminale Werte genannt werden. Nehmen wir das wörtlich: Ein Instrument erzeugt Klänge, aber noch keine Musik. Die Musik ist das Ziel (terminaler Zustand oder auch Ergebnis), der Klang (instrumentell) der Weg dorthin. Wenn Freiheit ein terminaler Wert für uns ist (erstrebenswerter Zielzustand), dann kann Unabhängigkeit (instrumenteller Wert) ein Weg dorthin sein.

Zudem können noch weitere Unterteilungen herangezogen werden: (persönliche Werte (Höflichkeit), gesellschaftliche Werte (Toleranz), Moralwerte (Frieden) und Kompetenzwerte (Weisheit)), die zwischen verschiedenen Menschen höchst unterschiedlich ausfallen können.3

Im Laufe der letzten Jahre hat sich in der psychologischen Werteforschung ein Modell eines breiten Forschungsinteresses erfreut, das eine Universalität von Werten unterstellt. In der Tat scheint es so zu sein, dass zumindest einige Werte über die Grenzen von Ländern und die Interessen von Nationen hinweg von Bedeutung sind. So wurde am 2. März die sogenannte „Resolution A/RES/ES-11/1“ der UN-Generalversammlung verabschiedet. In dieser wurde der russische Einmarsch in die Ukraine verurteilt, basierend auf Werten wie Freiheit, Frieden und Gerechtigkeit. Von den bei der Abstimmung vertretenen 181 Nationen stimmten 77,9 % (141 Nationen) zu. Wenn wir davon ausgehen, dass die 35 Enthaltungen und auch die fünf Gegenstimmen nicht geschlossen das Wertebewusstsein der Bevölkerung der jeweiligen Länder repräsentieren (und das können wir wohl), dann belegt diese Abstimmung, dass bestimmte Werte tatsächlich weltweit von Bedeutung sind – was mich trotz allem etwas beruhigt.

In diesem Modell der universellen Werte4 werden diese nicht als absolut, sondern als dynamisch und zum Teil sogar widerstreitend aufgefasst. Die Werte sind kreisförmig als Wertetypen angeordnet, was ihre Beziehung zueinander verdeutlichen soll. Benachbarte Werte liegen auch inhaltlich nahe beieinander, gegenüberliegende hingegen sind fast schon komplementär.

Darstellung des Wertesystems nach S. Schwartz. Benachbarte Bereiche (zum Beispiel Macht, Leistung) hängen miteinander zusammen und sind nicht unabhängig. Oftmals haben Menschen, für die Leistung ein wichtiger Wert ist, auch eine positive Einstellung zu Verantwortung, Führungsanspruch und Macht. Gegenüberliegende Bereiche sind gewissermaßen Gegenpole (zum Beispiel Sicherheit und Stimulation) und können sich gegenseitig ausschließen. Würde man erwarten, dass jemand mit „Sicherheit“ als starkem Wert hochrisikoreiche Sportarten betreibt oder aufgeregt am Glücksspiel teilnimmt?

In der Tat können Werte geradezu miteinander in Konflikt stehen, und das passiert sogar relativ häufig. Zu gerne würden wir eine Kreuzfahrt machen (Wert: Hedonie oder auch Stimulation), wissen aber, dass dies mit einer hohen Emission von Treibhausgasen verbunden ist (Wert: Universalismus beziehungsweise Umweltschutz). Wir unterscheiden uns das letztlich in unserer Werthierarchie, also darin, was für uns das höherwertige Gut ist. Unser Handeln nach Werten zu orientieren, setzt nicht selten Wertentscheidungen voraus, die ein Streben nach „immer-mehr“ oder auch Verzicht zur Folge haben können.

Werte können aber manchmal auch miteinander verbunden werden oder Synthesen eingehen.5 So kann die vom Wert „Humanismus“ getriebene ehrenamtliche Mitarbeit in einem Flüchtlings-Erstaufnahmelager natürlich zu unserer Selbstbestimmung und auch persönlichen Freude oder Erfüllung (Hedonismus) beitragen.

Obwohl Werte eine gewisse individuelle Stabilität über die Zeit aufweisen (weshalb sie ja auch innerhalb der Persönlichkeitspsychologie behandelt werden) und im frühen Erwachsenenalter weitgehend gefestigt sind, sind sie nicht völlig unabhängig vom Alter. Wer kennt nicht Auseinandersetzungen zwischen Kindern und Eltern oder deren Lehrerinnen und Lehrern, in denen die „spießigen“ Wertvorstellungen der vorherigen Generation abgelehnt oder zumindest heftig diskutiert werden? Oftmals allerdings nähern sich die Werte ein paar Jahre später dann wieder deutlich an. Ebenso ist bekannt, dass es in der sogenannten „Midlife-Crisis“ zu einer Priorisierung Ich-bezogener Werte kommen kann. Aber auch das ist meist nur kurzlebig und oftmals begleitet von Enttäuschung, wenn neue Lebensentwürfe nicht so funktionieren wie erhofft.

In der Allensbacher Markt- und Werbeträgeranalyse, die das Institut für Demoskopie Allensbach seit Jahren durchführt, wurden über 20.000 Personen im Alter ab 14 Jahren befragt. Diese Stichprobe kann als repräsentativ bezeichnet und auf rund 70 Millionen Einwohnerinnen und Einwohner Deutschlands hochgerechnet werden. Seit einigen Jahren hat sich am Ergebnis nicht viel geändert: Besonderer Wert wird auf Freundschaften und Beziehungen zu anderen Menschen gelegt (85 %), aber auch Familie und Partnerschaft werden von über 70 % der Befragten als besonders wertvoll bezeichnet. Unabhängigkeit und Gerechtigkeit (mehr als 65 %) werden gefolgt von Ich-bezogenen Werten wie beruflichem Erfolg, Neues lernen, ein abwechslungsreiches Leben führen, andere Kulturen kennenlernen. Leistung und/oder Einkommen/Wohlstand sind mit weniger als 35 % nicht zentral, und das Schlusslicht bilden Ich-überschreitende Dimensionen wie Religion, Auseinandersetzung mit Sinnfragen und aktive Teilnahme am politischen Leben. Bei Frauen spielen soziale Dimensionen eine größere Rolle als bei Männern, denen Karriere und Einkommen wichtiger ist. Das macht wieder deutlich, dass Lebenspräferenzen und -ziele nicht absolut und allgemeingültig sind, sondern individuell verschieden.

Die niedrige Priorisierung von Werten aus der Kategorie der Ich-überschreitenden Werte (Religion, Sinnfragen, politisches Engagement) mag vielleicht etwas enttäuschen. Üblicherweise wird an dieser Stelle vom Wertewandel oder – schlimmer noch – Werteverfall gesprochen. Einen Wertewandel im Sinne Ingleharts6 von der materialistischen (zum Beispiel Wohlstand) zu einer postmaterialistischen (zum Beispiel Selbstverwirklichung) Orientierung mag es in den Nachkriegsgenerationen vielleicht gegeben haben. Ob es wirklich ein grundlegender und nachhaltiger „Wandel“ ist, kann aber infrage gestellt werden. Mit Blick auf die überall sichtbare Konzentration auf wirtschaftlichen Erfolg, sind wir streng genommen wieder auf die Ebene materialistischer Werte zurückgefallen.

Bei Jugendlichen wird häufig sogar ein Werteverfall oder auch Werteverlust beklagt (natürlich nur von Älteren). Umfangreiche Studien wie die von der Bundeszentrale für politische Bildung in Auftrag gegebenen SINUS-Studie an 14- bis 17-Jährigen zeigen hingegen, dass Freunde und Familie den höchsten Stellenwert haben, aber auch Anstand, Treue, Fleiß, Ordnung, ja, sogar Bescheidenheit bedeutsamer geworden sind. Unsere Jugend ist generell problembewusster und (leider) auch besorgter geworden (siehe auch die Fridays-for-Future-Bewegung). Wir werden später noch reflektieren, woran das liegen könnte und welche Möglichkeiten bestehen, Hoffnung, Zuversicht, Zufriedenheit und Lebensfreude zu stärken.

Wie, oder besser: wann entsteht unsere Werteorientierung? Es herrscht weitgehend Übereinstimmung darüber, dass die Werteorientierung im Jugendalter ausdifferenziert wird und daraufhin eine gewisse Stabilität erreicht. Ebenfalls gesichert ist, dass der Familie eine entscheidende Funktion in diesem Prozess zukommt. Zahlreiche Studien zeigen familiäre Ähnlichkeiten im Wertegerüst aller Familienmitglieder.

Wertvorstellungen der Eltern müssen authentisch gelebt und für Kinder sichtbar und fühlbar werden, um wirken zu können. Es bedarf zudem – um mit Martin Seligman zu sprechen, den wir noch öfter heranziehen werden – positiver Institutionen (Familie, Kindergärten, Schulen, Kirchen), in denen Werte vermittelt werden. Albert Schweitzer sagte: „Das gute Beispiel ist nicht eine Möglichkeit, andere Menschen zu beeinflussen; es ist die einzige.“

Es sind die „stillen Vorbilder“, die bei der Werteentwicklung helfen. „Laute“ Vorbilder sind rar. Eine öffentliche Forderung oder zumindest Empfehlung zur Entwicklung (konservativer) Werte setzt heutzutage eine gewisse Abenteuerlust, wenn nicht sogar Risikobereitschaft voraus. Mögliche Reaktionen gerade in den sozialen Medien sind völlig unkontrollierbar, und nicht selten schlagen einem Vorwürfe mangelnder Toleranz, Missgunst und Diffamierung bis hin zum Hass entgegen, ohne dass die Absender bemerken würden, dass sie genau diese Verhaltenskategorien bedienen. Natürlich gibt es die in Artikel 5 des Grundgesetzes garantierte Meinungsfreiheit – von Meinungstoleranz findet man dort aber leider nichts.

Unser Wertesystem ist nicht nur eine Leitlinie für unser eigenes Verhalten. Es sensibilisiert uns auch dafür, gutes Urteilen, Entscheiden und Verhalten bei anderen zu erkennen. Und noch schöner: anderen basierend auf ihrem Verhalten auch Wertschätzung zukommen zu lassen.

Was ist das aber, Wertschätzung? Reicht es, jemanden für eine gute Leistung zu loben oder zu belohnen? Dann wäre Wertschätzung das Gleiche wie „positive Verstärkung“, mit dem Ziel, dass dieses Verhalten in der Zukunft öfter gezeigt wird. Ist es Wertschätzung, wenn wir einen Hund, der perfekt ein Kommando ausführt, anschließend mit einem Hundekeks belohnen? Natürlich nicht! Wertschätzung ist weit mehr, nämlich ein Ausdruck von Beziehung zu einer Person, auf die sie gerichtet ist. Folgerichtig fördert Wertschätzung auch die zwischenmenschliche Beziehung.

Gerade im Arbeitsleben ist das seit Langem bekannt. Gelingt es einer Führungskraft, den Mitarbeitenden Wertschätzung entgegenzubringen, verbessert sich nicht nur das Arbeitsklima, sondern auch die Bindung an das Unternehmen. Krankenstände können rückläufig werden, die Fluktuation sinkt, und letztlich sind positive Auswirkungen auf die Produktivität und Kollegialität zu beobachten. Wertschätzung ist daher eine zentrale Führungskompetenz!

Aber auch im Privatleben, in Beziehungen oder Familien ist Wertschätzung zentral. Sie zeigt sich der Kommunikation (eher zuhören als reden), der Mimik und Gestik, in Respekt und Vertrauen, aber auch darin, dass man andere um Rat bittet oder sich bei ihnen bedankt. Die Kraft der Dankbarkeit wird noch an anderer Stelle ausführlich behandelt. Kleine Geschenke, ein Strauß Blumen oder Ähnliches sind ebenfalls Ausdrucksformen von „Du bist wertvoll für mich“. Besonders wertschätzend ist gemeinsame Zeit. Denn wer würde schon seine (wertvolle) Zeit für andere „opfern“, wenn es diese nicht „wert“ wären?

Individuelle Werte sind wie ein Kompass, der unsere Lebensrichtung aufzeigt. Welche das sein wird, ist von Mensch zu Mensch verschieden. Für sich Werte benennen zu können heißt noch nicht, auch danach zu leben. Werte sind Leitlinien, Überzeugungen und Einstellungen. Diese auch im Alltag umzusetzen ist eine Frage von Handlungen beziehungsweise manifestem Verhalten, was den nächsten Bereich betrifft, mit dem wir uns befassen wollen: Tugenden und (anschließend) Charakter.

Tugenden

Die Klassifikation von verschiedenen Auffassungen zu Tugenden wird heute unter „Tugendethik“ subsummiert. Und alles begann im antiken Griechenland bei Platon. Von Platon wurden grundlegende Tugenden (Kardinaltugenden) genannt: Tapferkeit, Gerechtigkeit, Mäßigung und Weisheit. Später, in der christlichen Tradition, kamen noch Glaube, Liebe und Hoffnung dazu. Wesentlich bedeutsamer für unser Thema war allerdings Platons Schüler Aristoteles (384-322 v. Chr.) – insbesondere sein einflussreiches Werk, die Nikomachische Ethik7.

Das Gute stand im Zentrum seines Interesses, und er arbeitete bereits damals intensiv an einer Art Leitfaden für ein glückliches und erfülltes Leben. Aristoteles war der Auffassung, dass das Leben des Menschen zielgerichtet sei und nach Glückseligkeit strebe (Eudaimonia). Eudaimonia lässt sich erwerben! Wie? Sie ahnen es bereits: durch Übung.

Aristoteles differenziert zwischen Verstandes- und Charaktertugenden. Zu den Verstandestugenden (dianoetische Tugenden) zählt zum Beispiel die Wissenschaftlichkeit. Für unsere weiteren Betrachtungen sind jedoch die Charaktertugenden (ethische Tugenden) weitaus bedeutsamer. Sie werden nach Aristoteles durch Handlung und Erziehung erworben und letztlich von der Vernunft gesteuert. Das bedeutet, dass wir beispielsweise durch die Ausübung von Gerechtigkeit gerecht werden. Aristoteles war wahrscheinlich der Erste, der ein Konzept von „Learning by Doing“ hatte.

Charaktertugenden sind gewissermaßen die balancierende Mitte zwischen zwei gegensätzlichen Lastern. So wäre zum Beispiel Mut die Charaktertugend, die zwischen Feigheit und Leichtsinn steht. Der Mutige würde vernunftbedingt nicht sich selbst oder andere in Gefahr bringen, sich aber andererseits auch auf Herausforderungen einlassen. Die wichtigsten Charaktertugenden bei Aristoteles sind Gerechtigkeit, Tapferkeit, Höflichkeit, Einfühlsamkeit, Mäßigung, Freigiebigkeit und Weisheit, wobei letztere für ihn die entscheidendste für das Gelingen eines glücklichen Lebens ist. Die Tugendlehre von Aristoteles erlebte seit der Mitte des letzten Jahrhunderts geradezu eine Renaissance mit deutlichen Einflüssen auch auf Nachbardisziplinen der Philosophie, wie zum Beispiel die Psychologie.

Wie kann man sich eine Veränderung unseres Verhaltens durch „Übung“ von Charakterstärken vorstellen?

Verändert sich unser Gehirn durch das, was wir tun? In einer interessanten Studie8 wurde genau dies überprüft. Probanden wurden zwei Gruppen zugeteilt. Die eine durfte drei Monate lang das Jonglieren mit drei Bällen lernen, die andere diente als Kontrollgruppe und tat nichts dergleichen. Vorher, nachher und weitere drei Monate später wurden mittels Magnet-Resonanz-Tomografie die Gehirne beider Probandengruppen verglichen. Während sich vor dem Training keine Unterschiede zwischen den Gruppen nachweisen ließen, zeigte sich in der der Jongleure nach dem Training eine Veränderung des Gehirns in genau den Regionen, die die Verarbeitung visueller Reize gewährleisten. Weitere drei Monate später ging dieser Effekt zurück – die Probanden hatten in der Zwischenzeit nicht mehr jongliert. Übung ändert demnach auch die anatomische/strukturelle Beschaffenheit unseres Gehirns – man muss aber im wahrsten Sinne des Wortes „am Ball“ bleiben.

Strukturelle Veränderungen des Gehirns wiesen auch Studien mit Taxifahrern in London nach, deren Hippocampus (eine Hirnstruktur, die insbesondere für Orientierung aber auch das Gedächtnis von Bedeutung ist) im Vergleich zu Kontrollpersonen vergrößert war9, oder an Violinenvirtuosen, deren Hirnareal für die Codierung von Sinnesempfindungen auf den Fingerkuppen, mit denen sie die Saiten niederdrücken, funktionell erweitert ist10. Bei der letzten Studie ist besonders interessant, dass das Maß der neurologischen Effekte umso größer war, je jünger die Violinisten mit dem Musizieren begonnen hatten. Je früher man mit etwas anfängt, desto stärker sind offensichtlich die möglichen Veränderungen.

Für Aristoteles ist ebenfalls sehr bedeutsam, dass eine „gute Handlung“ nicht bereits dann vorliegt, wenn sie auf Wunsch oder unter Anleitung geschieht. Ein Mensch muss sie aus sich selbst heraus wollen und tun. Dieses Konzept ist recht nahe an dem der intrinsischen Motivation. Die Ausübung von Tätigkeiten, die dem eigenen Charakter entsprechen, versetzt uns in positive Stimmung und kann Glücksgefühle auslösen. Das zeigt, wie sehr Aristoteles mit heutigen Konzepten „verbunden“ ist, denn der Zustand der Glückseligkeit in der Ausübung bestimmter Handlungen ist der Kern des von Mihály Csikszentmihályi 1975 beschriebenen Flow-Erlebens11.

Natürlich ist die Antike nicht die einzige Quelle der Philosophie, die sich mit Tugenden befasst. Sie ist aber für die folgenden Überlegungen die entscheidende. Bei einem vertieften Interesse zur Thematik empfehle ich geeignete Übersichtswerke, wie zum Beispiel das von Christoph Halbig und Felix Uwe Timmermann herausgegebene Handbuch Tugend und Tugendethik12.

In dem von Ninian Smart und Oliver Leaman zusammengestellten Werk zu den Philosophien der Welt13 werden als Systematisierungsgrundlage die „Großen Drei“ herangezogen: China, Indien und der Westen, wobei hier die Einflüsse wichtiger sind als die Lokalisation: Konfuzianismus und Taoismus, Buddhismus und Hinduismus sowie griechisches Altertum, jüdisch-christliche Theologie, aber auch der Islam. Diese multiplen Ansätze haben Christopher Peterson und Martin Seligman systematisiert, um ein möglichst einheitliches und auch ganzheitliches Bild der Tugenden und Charakterstärken zu erhalten, die Gegenstand der Positiven Psychologie werden sollten.14

Das Ergebnis dieser Analysen war selbst für die Autoren überraschend: Es zeigten sich in einigen Dimensionen tatsächlich breite Übereinstimmungen zwischen den Kulturen, was die Autoren dazu veranlasste, die allen gemeinsam wichtig erscheinenden Tugenden als „Kern-Tugenden“ zu bezeichnen: Mut, Gerechtigkeit, Humanität/Menschlichkeit, Mäßigung/Bescheidenheit, Transzendenz und Weisheit/Wissen.

Ebenso wie bei den aristotelischen Charaktertugenden liegt auch bei bei dem chinesischen Lehrmeister und Philosoph Konfuzius (551-470 v. Chr.) das Wesen einer Veränderung oder Entwicklung hin zum glücklichen Leben nicht in der Belehrung, sondern in der Wahrnehmung von Vorbildern und insbesondere in der eigenen Handlung: „Sage es mir, und ich werde es vergessen. Zeige es mir, und ich werde es vielleicht behalten. Lass es mich tun, und ich werde es können.“

Es zeigt sich, dass Tugenden nicht „neutral“, sondern durchweg positiv besetzt sind. Wenn man dem Wortursprung nachgeht, dann wird deutlich, dass im Mittelalter mit tugent Kraft, Macht und letztlich gute Eigenschaften gemeint waren. Letztlich geht das Wort auf „taugen“ zurück. Prägnanter formuliert bedeutet dies, dass der „Taugenichts“ über das Fehlen von Tugenden charakterisiert ist.

Von den Primärtugenden oder Kardinaltugenden müssen die Sekundärtugenden abgegrenzt werden. Sie sind nur dann „tauglich“, wenn sie die Primärtugenden bedienen. Eigentlich dienen sie mehr dem reibungslosen Ablauf gesellschaftlicher Prozesse und haben für sich gesehen keine ethische Dimension. Beispiele für Sekundärtugenden sind Fleiß, Ordnung, Sauberkeit, Pünktlichkeit, Gewissenhaftigkeit und Ähnliches.

Um Sekundärtugenden wird es in diesem Buch nicht gehen.

Charakter

In der psychologischen Forschung ist die Auseinandersetzung mit dem Charakter erst mit Einführung der Positiven Psychologie populärer geworden. Da der Charakter der Persönlichkeit zuzuordnen ist, wundert es fast, dass er in Lehrbüchern zur Persönlichkeitspsychologie nur das Dasein eines Stiefkindes fristet. In einer frühen Studie von Hartshorne und May (1928)15 wurde sogar zu belegen versucht, dass Charaktermerkmale nicht eine Person kennzeichnen, sondern je nach Situation unterschiedlich zutage treten.

Gordon Allport, der für die systematische Einführung des „Eigenschaftsbegriffes“ (trait) bekannt ist, war sogar der Auffassung, dass Charakter gar nicht in die Psychologie, sondern ausschließlich in die Philosophie gehöre.16 Aus der psychoanalytischen Tradition – insbesondere von Sigmund Freud selbst – gab es schon Überlegungen zum Charakter. So versuchte er bestimmte Charaktermerkmale (wie Ordnungsliebe, Sauberkeit, Sparsamkeit) im Erwachsenenalter über Konflikte in der frühen Kindheit zu erklären. Fakt ist aber, dass in der Charakterlehre von Freud Charakterzüge eher mit Sekundärtugenden in Beziehung standen und die für dieses Buch wichtige Moraldimension von Charakterstärken nicht thematisiert wurde.

Explizit – wenn auch wesentlich später – unterscheidet der Psychiater Robert Cloninger Temperament und Charakter, wobei das Temperament nach seiner Auffassung maßgeblich genetischen Faktoren zuzuordnen ist, während der Charakter eher auf der Sozialisation sowie auf Lernerfahrungen beruht.17 Cloninger unterscheidet drei große Charakterdimensionen: Selbstbestimmung und Selbstkontrolle (zum Beispiel Zielorientierung), Kooperation und soziale Kooperativität (zum Beispiel Hilfsbereitschaft) sowie Selbsttranszendenz (zum Beispiel Glaube, Spiritualität).

Peterson und Seligman haben in ihrer Auffassung von Charakterstärken und Tugenden einige Prämissen aufgestellt, die auch für uns interessant sind:

1. Eine Charakterstärke trägt zu verschiedenen Zielerreichungen/Erfüllungen bei, die ein gutes Leben ausmachen, wobei sich dies nicht nur auf einen selbst, sondern auch auf andere bezieht. Was aber ist „Erfüllung“? Peterson und Seligman versuchen dies mit dem sogenannten „Sterbebett-Test“ zu erklären. Was wäre angesichts des nahenden Todes unsere Fortführung des folgenden Satzes: „Ich hätte gerne mehr Zeit gehabt, um …“? Eine Idee von Erfüllung würde sich in Fortführungen zeigen, die ein „mehr“ von sozialen, menschlichen, transzendenten Aspekten umfassen, wie zum Beispiel „… mich mehr um die Umwelt/Natur zu kümmern“, oder „… mehr Zeit mit meinen Kindern zu verbringen“, oder „… mich mehr mit Gott zu befassen“. Streng genommen sind dies alles Fortführungen, die wir den zuvor genannten Tugenden zuordnen könnten.

2. Charakterstärken verbinden sich mit gewünschten Ausgängen (für einen selbst, Mitmenschen, Gesellschaft) und sind – jede für sich – moralisch wertvoll. Und gerade Letzteres unterscheidet sie von Fähigkeiten. Diese können zwar Charakterstärken unterstützen (zum Beispiel eine hohe Intelligenz, die zu kreativen, nützlichen Veränderungen führen kann), sind aber in sich nicht moralisch wertvoll und könnten ebenso gut in eine ganz andere Richtung „investiert“ werden, wofür es in der Menschheitsgeschichte ja zahllose Beispiele gibt.

3. Verhaltensweisen, die auf einer Charakterstärke basieren, setzen andere nicht herab. Peterson und Seligman gehen im Gegenteil davon aus, dass charakterstarkes Verhalten andere Personen sogar zum Nacheifern anregt. In der Tat zeigen Arbeiten des amerikanischen Psychologen Jamil Zaki (von der Stanford University), dass zum Beispiel Freundlichkeit geradezu ansteckend sein kann.18

4. Charakterstärken zeigen sich in verschiedenen Facetten des Verhaltens: Gedanken, Gefühlen, Handlungen. Sie sind wie Eigenschaften, die sich in verschiedenen Situationen über die Zeit immer wieder ähnlich offenbaren.

5. Charakterstärken werden von Vorbildern verkörpert oder sollten es zumindest. Repräsentanten von Charakterstärken finden sich in Büchern, Filmen, Liedtexten, mit denen wir groß werden und die Einfluss auf uns haben.

Basierend auf den umfänglichen Analysen aus Philosophie und Psychologie sowie den transkulturellen Aspekten, die schon bei der Identifikation von Kerntugenden eine Rolle gespielt haben, kommen Peterson und Seligman19 zu einer Systematik, in der 24 Charakterstärken den insgesamt sechs Kerntugenden zugeordnet werden. Diese Zuordnung wird auch die Struktur für die weiteren Überlegungen in diesem Buch sein:

2. Gerechtigkeit

Natürlich ist der Begriff „Gerechtigkeit“ nicht von der juristischen Dimension justitia zu trennen. Diese wird meist dargestellt als sanktionierend (Schwert), balancierend (Waage), unvoreingenommen und auf Gleichheit ausgerichtet (verbundene Augen). So baut sie, gerade was Letzteres betrifft, eine Brücke zur moralischen Bedeutung der Gerechtigkeit, wie sie uns in den Tugenden begegnet.

Recht und Gerechtigkeit liegen schon sprachlich nahe beieinander, und als rechtens gilt, was unsere Gesetzbücher vorgeben. Doch kann es eine Kluft zwischen dem formalen Recht und dem subjektiven Rechtsverständnis geben. Und selbst innerhalb der Gesetzgebung können „Kollisionen“ auftreten, wenn man beispielsweise an die teils vehement geführten Diskussionen denkt, ob nächtliche Ausgangsbeschränkungen während der Coronapandemie mit den Grundrechten in Einklang zu bringen sind.

Letztlich, und das lehrt uns gerade unsere Geschichte, ist formales Recht politischen Strukturen und Verhältnissen unterworfen, die unter Umständen selbst Basis für Ungerechtigkeit im moralischen Sinne sind – das zeigte sich beispielsweise in der Rechtsprechung in Zeiten des Nationalsozialismus. Ist Gerechtigkeit daher eine völlig subjektive oder von gesellschaftlich-politischen Strukturen abhängige Angelegenheit und schlicht nicht näher zu definieren?

Bei Aristoteles – das haben wir schon gehört – ist Gerechtigkeit eine willentliche Ausübung von Richtigem mit dem Ziel, das Lebensglück zu erlangen (Eudaimonia). Gerechtigkeit ist keine passive Anlehnung an vorgegebene Normen, sondern ein Bedürfnis oder intrinsisches Motiv. Gerechtigkeit hat verschiedene Gesichter: Während die ausgleichende Gerechtigkeit die Gegenseitigkeit von Leistung und Gegenleistung im Auge behält (also Gleichheit in den Mittelpunkt stellt; horizontale Gerechtigkeit), regelt die zu- oder austeilende Gerechtigkeit (vertikale Gerechtigkeit) das Zusammenleben auf unterschiedlichen gesellschaftlichen Ebenen (beispielsweise Staat-Bürger, Arbeitgebende-Arbeitnehmende, Lehrende-Schülerinnen und Schüler) und kann dabei die Gleichheit vernachlässigen (zum Beispiel höhere Gehälter bei höheren Funktionen). Und zuletzt die korrigierende Gerechtigkeit, die etwa bei strafbarem Handeln Nachteile für Täter bei gleichzeitigen Vorteilen für Opfer realisieren soll. Nach Aristoteles wird Gerechtigkeit durch die Kultivierung rechtschaffenden Handelns im Sinne von (Alltags-)Gewohnheiten erworben.

Philosophische Ansätze zum Thema finden sich bei John Locke, Immanuel Kant, John Stuart und anderen. Bei näherem Interesse sind Übersichtswerke, wie zum Beispiel das von Otfried Höffe1, zu empfehlen.

Von besonderer Bedeutung ist John Rawls’ „Eine Theorie der Gerechtigkeit“2. Anders als viele seiner Vordenker erschließt er das Wesen der Gerechtigkeit über eine Art Gedankenexperiment: Was wäre, wenn Menschen in völliger Unkenntnis (nach Rawls unter dem „Schleier der Unwissenheit“) ihrer Interessen, Fähigkeiten und gesellschaftlichen Stellung gemeinsam die Grundlagen für ihr Zusammenleben definieren sollten? Sie hätten alle die gleiche Unwissenheit gemeinsam. In diesem „Urzustand“ wäre völlig ungewiss, ob man über Herkunft oder Intelligenz einflussreich ist oder nicht, einen hoch angesehenen Beruf hat oder nicht, sportlich erfolgreich ist oder nicht, Mann oder Frau ist und so weiter. Wie würden wir uns dann eine gerechte Welt vorstellen, wenn wir überhaupt nicht wüssten, was uns erwartet? Was wäre uns wichtig, wenn wir nicht Gefahr laufen wollen, als wenig Privilegierte, Unterdrückte oder Flüchtlinge aufzuwachsen? Wenn wir nicht wüssten, ob wir als Mann oder Frau unser Leben verbringen – wäre dann der Ausschluss des Wahlrechts für Frauen (der in Deutschland ja erst 1918 aufgehoben wurde) überhaupt vorstellbar?

Ganz vereinfacht geht es Rawls um die Frage, wie man einen Kuchen am gerechtesten aufteilen kann. Probieren Sie das doch mal aus, wenn Sie am Tisch sitzen und in der Mitte ein von allen Anwesenden heiß begehrter Kuchen steht, von dem jede/-r das größte Stück bekommen möchte – und so ist es ja in unserer realen Welt. Bitten sie irgendjemanden