Wehrstein - Gabi Kreher - E-Book

Wehrstein E-Book

Gabi Kreher

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Beschreibung

Unerklärliche Krankheitsfälle, eine Zeitreise ins tiefe Mittelalter - zuerst glauben Rio und Hannes, der alte Jack würde langsam senil. Doch unglaubliche Ereignisse bringen sie schließlich dazu, ihm zu glauben. Liz und Jo, beste Freundinnen - und größte Feindinnen von Rio und Hannes: sie haben alles gehört, sie müssen mit ... Gemeinsam machen sie sich auf den Weg ins Jahr 1489, um einen Mord aufzuklären, eine Prophezeiung zu ändern und ihre Zukunft zu retten. Welches Geheimnis verbirgt die coole Jo? Wird es Rio gelingen, zu ihr durchzudringen, oder hält sie ihn weiterhin für den "arroganten Arsch"? Und was hat der verschrobene Jack zu verbergen? Ein Roman für junge Erwachsene und Junggebliebene.

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Seitenzahl: 482

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WIDMUNG

Für Ralf, Sandro, Lorena, Enrico

Es gibt nichts Wichtigeres…

Namensverzeichnis

Dario Rio Renzi

Joana Jo Forster

Liz

Hannes

Jack der Erfinder

Karl - Sohn von Graf Michael von Hohenzollern

Magdalena - Tochter von Graf Rudolf von Wehrstein

Philomena Phil - Kammerzofe von Magdalena

Conrad der Schmied

Lene die Heilerin

Graf Rudolf von Wehrstein - Vater von Magdalena

Graf Michael von Hohenzollern - Vater von Karl

Graf Joachim - Verwalter von Hohenzollern

Ritter Marquard - treuer Diener von Wehrstein

Lara die Zigeunerin

Mechthild die Amme

Ritter Herold aus Glatt

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

1

Es war immer dasselbe. Er wusste, er hätte nicht die halbe Nacht lang zocken sollen. Der Wecker erzeugte nervtötende Geräusche und er schaffte es fast nicht, die Augen zu öffnen. Im Blindflug versuchte Hannes das penetrante, in immer kürzeren Abständen auftretende Brummen, auszuschalten. Das laute Scheppern, das der Wecker beim Aufprall auf dem Boden erzeugte, brachte ihn endgültig dazu, zu sich zu kommen. Zuerst wunderte er sich, anstatt der Sechs, die Sieben auf dem Zifferblatt zu sehen, aber dann fiel ihm wieder ein, dass der Biokurs der beiden Kursstufen eine gemeinsame Exkursion auf die Fischinger Burguine unternehmen würde. Die ortsansässigen Schüler, zu denen Hannes gehörte, mussten an diesem Morgen nicht extra in die Schule kommen. Sie hatten von ihren Tutoren die Erlaubnis erhalten, sich um acht Uhr direkt auf der Ruine einzufinden. Es würde ein chilliger Tag werden. Die kommende Zeit würde überhaupt entspannt werden, wenn man einmal vom mündlichen Abi in ein paar Wochen absah. Dann hätten sie es geschafft und ein langer Sommer würde vor ihnen liegen, bevor er dann im September sein Duales Studium als Wirtschaftsingenieur und Rio sein Lehramtsstudium antreten würde.

Das Zuschlagen der Haustür signalisierte ihm, dass seine Schwester das Bad verlassen hatte. Erleichtert seufzte er auf. Ausnahmsweise würde es heute Morgen einmal keinen Stress geben und er würde sich in Ruhe richten können. Als er das Bad betrat, entwich ihm ein weiterer Seufzer. Da hieß es immer, Mädchen seien ordentlicher als Jungs. Das traf bei seiner Schwester eindeutig nicht zu. Das Waschbecken war voller Haare und mit Make-up Flecken übersät. Die Türen am Spiegelschrank standen sperrangelweit offen, Haarlack und eine offene Cremedose standen herum.

Er putzte sich die Zähne, spritzte etwas Wasser ins Gesicht und fuhr sich mit den Fingern ein paar Mal durch sein hellbraunes Haar. Es war schon wieder viel zu lang und fiel ihm dauernd ins Gesicht. Er musste dringend zum Friseur.

Er ging nach unten, in die Küche. Auf dem Weg zum Kühlschrank fiel ihm ein Zettel auf dem Esszimmertisch ins Auge.

Denk an den Arzttermin um halb sechs - liebe Grüße Mum.

Ach ja, Zeckenimpfung, jetzt fiel es ihm wieder ein. Er schenkte sich ein Glas Milch ein und trank es in einem Zug leer. Die Backofenuhr zeigte fünf vor halb acht - noch zehn Minuten bis Rio kam.

Der Schwarzwälder Bote, die regionale Tageszeitung, lag auf dem Tisch und er überflog kurz die Schlagzeilen. Kaltfront im Anzug, stand da auf der ersten Seite. Temperatursturz bis zu dreißig Grad erwartet, es muss mit Bodenfrost gerechnet werden. Hannes runzelte die Stirn. Was? Das soll wohl ein Witz sein? Er las weiter. Ungewöhnliche Grippewelle im Juli. Seltsam, spielte plötzlich alles verrückt? Ihn beschlich ein ungutes Gefühl. Doch ehe er weiter darüber nachdenken konnte, klingelte es an der Tür. Er steckte sein Handy und die Schlüssel in seine Jeans und ging los.

Vom Gewitter in der Nacht war schon nichts mehr zu sehen. Lediglich ein paar nasse Stellen auf der Straße deuteten darauf hin, dass es geregnet hatte. Schon jetzt konnte man spüren, dass es wieder ein heißer Tag werden würde.

»Hey, alles klar?«

»Bestens.« Rio saß auf den Treppenstufen vor der Tür. Er hatte die Unterarme auf den Oberschenkeln abgestützt und schüttelte mit einem leisen Lachen den Kopf. Hannes folgte seinem Blick. Es war jetzt das dritte Mal, dass er an diesem Morgen seufzte. Jo und Liz kamen die Straße entlang. Jo hatte wie üblich, diesen Blick drauf, bei dem man schon mal vorsorglich das Genick einzog. Hannes fragte sich, auf was sie eigentlich immer so wütend war. Liz war so sehr mit sich selbst beschäftigt, dass sie vermutlich überhaupt nicht mitbekam, was um sie herum ablief. Intensiv begutachtete sie beim Vorbeigehen ihre Fingernägel, um sich anschließend mit Lipgloss ihre perfekten Lippen nachzuziehen. Als sie plötzlich den Blick hob und zu Hannes rüber sah, spürte er, wie ihm die Röte ins Gesicht schoss. Sie zog die Augenbrauen hoch und verzog den Mund zu einem spöttischen Lächeln.

»Lacht der Arsch über die rote Birne seines Kumpels? Was meinst Du Liz?«

Jo blies ihren Kaugummi zu einer Blase auf und ließ sie zerplatzen und Liz lachte etwas gekünstelt.

Sie wussten eigentlich nicht, warum sie sich nicht mochten. Es war seltsam. Schon als Kinder waren Hannes und Rio unzertrennlich gewesen. Genauso wie Liz und Jo. Wobei Jo erst im Alter von zehn Jahren mit ihrer Mutter hierher, nach Fischingen, gezogen war. Was mit ihrem Vater war, wusste keiner so genau. Jo war immer schon ein sehr ernstes Kind gewesen. Man sah sie selten mit einem Lächeln im Gesicht. Dabei wäre sie mit ihren großen, dunklen Augen und dem schwarzen, raspelkurzen Haar so hübsch gewesen, hätte sie nicht ständig diesen harten Ausdruck in ihrem Gesicht gehabt. Und wenn sie ehrlich war, wusste Liz auch nicht, warum sie immer so zickig zu den beiden Jungs waren. Es war einfach schon immer so und irgendwie traute sie sich nicht, sich Jo zu widersetzen.

Sie fand die beiden eigentlich ganz nett. Ok, Rio kam schon manchmal etwas arrogant rüber. Er sah ziemlich gut aus - und das wusste er. Sie glaubte, dass er zur Hälfte Italiener war. Mit seinem dunklen Teint und den fast schwarzen Haaren hatte er auf jeden Fall etwas Südländisches an sich und manchmal hatte Liz das Gefühl, dass dies der Grund für Jos Wut und Ablehnung war. Es war beinahe so, als hätte sie irgendetwas gegen Italiener, warum auch immer.

Eigentlich fand sie Hannes sympathischer. Er war ein bisschen schüchtern und das fand sie irgendwie süß.

»Blondie scheint Dir zu gefallen?« Rio grinste Hannes von der Seite an, als sie den beiden in einigem Abstand die Schlossberg Siedlung hinunter folgten.

»Ach halt die Klappe«, gab Hannes einigermaßen gelassen zurück.

»Hey, Jo, kann es sein, dass Du zugenommen hast?« Rio rief den Mädchen hinterher.

»Halt einfach die Fresse, Spaghetti!« Jo warf nicht einen Blick zurück und Hannes stöhnte auf.

»Kannst Du es nicht einfach mal sein lassen? Kein Wunder hassen die uns.«

Doch Rio lachte nur.

Viele Schüler hatten sich krankgemeldet. Allein von Kursstufe 1 fehlten sechs, von Kursstufe 2 sogar acht Leute. So waren sie mit ihren beiden Tutoren, Herrn Metzger und Frau Epting, nur zu fünfzehnt. Hannes fiel der Zeitungsartikel mit der Grippewelle ein und wieder beschlich ihn ein seltsam mulmiges Gefühl.

»Sie werden die Bodenproben in Reagenzgläser füllen und die Pflanzen in die dafür vorgesehenen Plastikbeutel.« Herr Metzger sah in die kleine Runde. »Alles klar soweit?« Als niemand wiedersprach fuhr er fort. »Nun gut, dann legen Sie los, Sie geben die Proben dann bitte am Ende Frau Epting.« Er nickte kurz. »Ach, wer weiß übrigens wo wir uns hier genau befinden?« Fragend schaute er die Schüler an. Paul, ein großer schlaksiger Junge hob die Hand.

»Ja?« Herr Metzger sah ihn gespannt an.

»Auf der Fischinger Ruine?« Alle lachten.

»Sie sind ausgesprochen scharfsinnig, Paul.« Herr Metzger seufzte. Er deutete auf einen anderen Schüler. »Ja, Ruben?«

»Ist das nicht der Hexenplatz?«

»Richtig!« Herr Metzger deutete zufrieden mit dem Zeigefinger auf ihn.

»Da hätte man dich früher gegrillt, was meinst Du?« Rio war unauffällig hinter Jo getreten und lachte ihr leise ins Ohr. Er hatte es nicht böse gemeint, er meinte es nie böse, aber es reizte ihn einfach sie zur Weißglut zu bringen. Er hatte noch nie einen Menschen erlebt, der ständig so schlecht gelaunt und explosiv durchs Leben ging wie Joana Forster. Doch diesmal bemerkte er eine Veränderung und zum ersten Mal fühlte er sich schlecht dabei, wie er sie behandelte. Denn als er die flapsigen Worte ausgesprochen hatte, sagte sie kein Wort und es war nicht nur das. Ein Ruck schien durch ihren Körper zu gehen und zuerst wusste Rio nicht, wie er es deuten sollte. Aber als er sah, wie sie die Hände zu Fäusten ballte, bis das Weiß ihrer Knöchel zum Vorschein trat, spürte er, dass sie alle Kraft der Welt aufbringen musste, um sich zusammen zu reißen und nicht die Fassung zu verlieren - weshalb auch immer. Es dauerte nur einen kurzen Moment, dann schien sie sich wieder in der Gewalt zu haben. Später, als er und ein paar von den anderen ihre Proben abgegeben hatten, setzten sie sich auf eine Gruppe aufgeschichteter Baumstämme. Sie machten Blödsinn und Hannes schoss mit Rios Handy ein paar Fotos. Sein Blick blieb an Jo hängen. Sie war noch mit dem Einsammeln der Proben beschäftigt, als sie auf einmal innehielt und eine Pflanze intensiv betrachtete. Er hatte plötzlich das Gefühl, eine Maske würde von ihr abfallen. Fasziniert betrachtete er ihr Gesicht. Alle Anspannung war daraus gewichen. Sie sah irgendwie verletzlich aus und auf einmal wurde ihm bewusst, wie hübsch sie eigentlich war.

Plötzlich war er sich sicher, dass irgendetwas mit ihr nicht stimmte.

2

Schauen wir nach Jack, heute Mittag, was meinst Du? Ich denke, wir sollten ihm mit dem Holz helfen.« Sie waren auf dem Heimweg und auf halber Höhe des Schlossbergs, als Rio stehen blieb und einen großen Schluck aus seiner Wasserflasche nahm.

»Ja, das sollten wir, aber spätestens um halb fünf muss ich los, hab einen Impftermin.« Hannes strich sich die Haare aus der Stirn. »Also, musst du ohne mich ins Training.«

Sie spielten beide in der ersten Mannschaft des SV Fischingen und hatten zweimal die Woche Fußballtraining. Der Sport war ihnen sehr wichtig und sie fehlten eigentlich so gut wie nie. Aber Hannes’ Hausarzt hatte ab der nächsten Woche Urlaub und er hatte keinen anderen Termin mehr bekommen.

Als sie sich voneinander verabschiedeten, verabredeten sie sich auf zwei Uhr bei Rio. Dann wollten sie nach Jack sehen. Ja, wer war Jack…

Jack war kein Fischinger. Irgendwann einmal, lange bevor Rio und Hannes geboren wurden, war Jack hierhergezogen. Er hatte das alte Haus etwas unterhalb des Wehrsteinhofes gekauft und restauriert.

Keiner wusste woher er kam und was ihn gerade nach Fischingen, dem kleinen Dorf zwischen Schwarzwald und Schwäbischer Alb gezogen hatte.

Er musste sehr wohlhabend sein. Es hieß, er habe es nicht nötig zu arbeiten. Er wäre ein komischer Kauz und würde irgendwelche Dinge erfinden. Keiner im Dorf wollte etwas mit ihm zu tun haben und so lebte er recht zurückgezogen.

Hannes und Rio waren mit der Geschichte aufgewachsen.

Auf der einen Seite war ihnen der Alte unheimlich, andererseits jedoch waren sie fasziniert von den Erzählungen der Erwachsenen und neugierig, wie Kinder eben sind.

Eines Tages beschlossen sie, ihn sich einmal näher anzuschauen. Natürlich heimlich, verstand sich.

Sie schlichen sich an sein Haus heran und waren vorsichtig auf einen Baum in seinem Garten geklettert. Von dort, so hofften sie, würden sie erkennen können, was im Haus vor sich ging.

Genau in dem Moment als sie mit dem Fernglas durch Jacks Fenster spähen wollten, wurde die Haustür aufgerissen.

»Ha! Hab ich euch erwischt!« Mit weit aufgerissenen Augen und einem Gewehr in seiner Hand fuchtelte Jack in ihre Richtung. Er sah aus, wie der Professor aus dem Film Zurück in die Zukunft.

Vor Schreck hatte Hannes das Gleichgewicht verloren, war mit rudernden Armen vom Baum gefallen und rieb sich seinen schmerzenden Knöchel.

Rio, der vor Panik auf den Boden gesprungen war, hob die Hände hoch. »Bitte, tun Sie uns nichts!«

»Was wollt ihr hier?«, hatte Jack misstrauisch gefragt. Sein Blick fiel auf Hannes.

»Wir wollten nur mal schauen, wie Sie so leben«, erwiderte Hannes mit schmerzverzehrtem Gesicht.

»Wir haben gehört, Sie sind Erfinder«, sagte Rio. Das schien Jack nun zu schmeicheln. Sein Gesicht entspannte sich zusehends. »In der Tat, da habt ihr nicht ganz unrecht.« Jacks Blick heftete sich wieder auf Hannes. »Dein Fuß scheint ja sehr zu schmerzen.« Sein Gesicht nahm einen übereifrigen Ausdruck an. »Wenn du möchtest, könnte ich bei deinem Knöchel meine neuste Erfindung zum Einsatz bringen. Mein sogenanntes Blitzlicht.«

»Blitzlicht?« Hannes runzelte die Stirn.

»Ja«, erwiderte Jack. »Kommt mit rein, ich zeig’s euch!« Von Feindschaft war plötzlich nichts mehr zu spüren.

Rio wandte sich an Hannes: »Was meinst du, sollen wir?«

»Laufen kann ich so ja eh nicht. Los, hilf mir mal, gehen wir einfach mal mit rein.«

Rio stützte ihn und zusammen folgten sie Jack ins Haus.

Drinnen, genauer gesagt im Wohnzimmer, stießen sie auf ein absolutes Chaos. Werkzeug lag auf dem Fußboden verstreut. Sämtlicher Krimskrams, angefangen von Glühbirnen über Zeitschriften bis hin zu Schrauben war fast alles vertreten. Sogar ein Rasenmäher stand mitten im Raum.

»Waren nur Platzpatronen drin«, grinsend hatte Jack das Gewehr beiseitegelegt.

Sie dachten, es wäre eine Taschenlampe, die er da hinter dem Sofa hervorholte. Als er das Teil jedoch einschaltete, fielen wunderschöne regenbogenfarbene Strahlen in den Raum.

»Wow, was ist das denn?«, riefen Hannes und Rio wie aus einem Mund.

»Das, meine Freunde, ist geballte Energie! Meine neuste Erfindung.« Begeistert erzählte Jack weiter. »Mit diesen Strahlen ist es möglich Verstauchungen und Prellungen in Sekundenschnelle zu heilen!«

Nachdem sie Hannes auf das Sofa gebettet hatten, legte Jack mit seiner Behandlung los. Eine angenehme Wärme breitete sich über Hannes Knöchel aus. Er spürte ein leichtes Kribbeln.

»So, fertig, versuch nun deinen Fuß zu kreisen.« Erwartungsvoll starrten sie auf sein Bein. Zweifelnd schaute Hannes zuerst Jack und dann Rio an. Vorsichtig versuchte er den Fuß zu bewegen. Es war wirklich ein Wunder! Er verspürte keinerlei Schmerzen mehr.

»Wow, echt krass! Vielen Dank!« Ungläubig betrachtete Hannes seinen Fuß.

»Gern geschehen.« Jack zwinkerte ihm zu. »Wenn ihr wollt, könnt ihr jederzeit bei mir vorbeikommen. Ich bekomme sowieso nie Besuch und würde mich freuen euch wieder zu sehen.«

Seit damals schauten Hannes und Rio mindestens zwei Mal die Woche bei Jack vorbei. Er war zu ihrem festen Lebensinhalt geworden.

3

Punkt zwei Uhr drückte Hannes auf die Klingel neben Rios Haustür. Er war überrascht, als dessen Vater öffnete.

»Grüß dich Hannes, komm rein.«

»Hey Toni, Urlaub?«

Rios Vater verzog bedauernd das Gesicht. »Nein, leider nicht. Mich hat’s wohl erwischt. Scheint sich eine Grippe anzubahnen - entschuldige, ich muss mich wieder hinlegen.«

Er deutete Richtung Wohnzimmer und Hannes fiel plötzlich auf, dass er einen fiebrigen Blick hatte und wirklich krank aussah. Bevor er etwas erwidern konnte, kam auch schon Rio um die Ecke.

»Warte kurz, ich seh nochmal nach meinem alten Herrn.« Er zwinkerte Hannes zu.

Hannes bewunderte das Zusammenleben der beiden. Es war nicht so, dass er mit seinem Familienleben unzufrieden war. Aber im Gegensatz zu Rio und dessen Vater, waren bei ihm zu Hause ständig alle gestresst. Sein Vater, weil er sechs Tage in der Woche in einer großen Firma für Metallveredelung in einer gehobenen Position arbeitete und nebenher noch für sämtliche ehrenamtliche Tätigkeiten zur Verfügung stand. Seine Mutter, die halbtags in einer Drogerie beschäftigt war und in ihrer knapp bemessenen Freizeit Spanischunterricht nahm und als wäre das nicht genug, auch noch in einem Chor sang. Seiner Meinung nach machten sie sich also den Stress selbst. Und seine Schwester zickte den ganzen Tag herum, was ihn wiederum stresste.

Rios Vater hingegen war für gewöhnlich während der Woche im Außendienst. Er war für eine große Firma im Export tätig und verdiente sehr gut, was man auch an dem gepflegten Anwesen mit dem riesigen, golfplatzähnlichen Garten erkennen konnte.

Rios Mutter war an Krebs gestorben, als er acht Jahre alt war. Es war für ihn eine schlimme Zeit gewesen. Von diesem Zeitpunkt an war ihre Freundschaft noch intensiver geworden. Seine Mutter hatte ihn ermuntert, Rio öfters einzuladen. Und schließlich war sie so eine Art Tagesmutter für ihn geworden. Es war für alle ein Gewinn. Rios Vater wusste seinen Sohn in sicheren Händen und konnte beruhigt arbeiten gehen und Hannes Mutter, die damals noch zu Hause war, konnte so ein paar Euro hinzuverdienen. Außerdem hatten sie Rio alle wirklich gern - er war eine Bereicherung für die ganze Familie.

Jetzt also auch Rios Vater ... Hannes wurde immer unbehaglicher.

»Wir können.« Rio zog die Haustür hinter sich zu.

»Deinem Vater scheint es nicht so gut zu gehen.« Hannes runzelte die Stirn. »Hast du das heute Morgen in der Zeitung gelesen?«

»Was?«, entgegnete Rio mechanisch und warf einen Blick auf sein Handy.

»Diese Grippewelle, jetzt im Juli.«

Rio zuckte die Schultern. »Kann vorkommen, warum beunruhigt dich das so?«

»Findest du das nicht seltsam? Also, die halbe Kursstufe ist krank.« Hannes leckte sich über die Lippen. »Und das mit dem Temperatursturz …«

Rio sah ihn fragend an. »Was meinst du?«

»Da stand noch, es soll Bodenfrost geben.«

Rio boxte ihn lachend auf den Arm. »Alter, das glaubst du doch selbst nicht, wir haben fast dreißig Grad.«

Sie hätten zwar den Alfa von Rios Vater nehmen können, der ihm sowieso schon so gut wie gehörte - sein Vater hatte einen Firmenwagen und benutzte fast ausschließlich diesen - aber der Weg war nicht weit und noch schneller waren sie, wenn sie die Abkürzung über die Wiesen nahmen.

Es war seltsam, obwohl sie niemanden sahen, hatten sie das Gefühl beobachtet zu werden. Immer wieder blieben sie stehen und sahen sich um. Aber es war nur das Zirpen der Grillen zu hören und oben am Himmel zog ein einsamer Bussard seine Kreise. Vielleicht lag es auch einfach nur an der unerträglichen Hitze und sie bildeten sich alles nur ein. Doch plötzlich packte Rio Hannes am Arm und blieb stehen. »Siehst Du was ich sehe?« Er starrte zum Waldrand, der keine zweihundert Meter von ihnen entfernt war.

Hannes war ebenfalls stehen geblieben. »Das glaub ich jetzt nicht, was zum Teufel ... «

Dutzende von Augenpaaren schienen sie anzustarren. Sämtliche Tiere hatten sich an der kleinen Lichtung eingefunden. Rehe, Füchse, Wildschweine. Alle standen sie einfach nur da. Es war, als würden sie auf etwas warten. Unfähig den Blick abzuwenden, starrten sie weiter auf die Tiere. »Vielleicht Tollwut?« Rio hielt die Hand über die Augen.

Hannes schüttelte den Kopf. »Glaub ich nicht, die gibt es seit Jahren nicht mehr, jedenfalls nicht in Deutschland.«

»Sehen wir zu, dass wir ins Haus kommen, bevor die sich in Bewegung setzen.« Rio ging voraus.

Bereits nach dem nächsten Hügel tauchte auch schon das rote Ziegeldach von Jacks Haus auf.

Rio hatte gerade den Klingelknopf losgelassen und der Ton war noch nicht einmal ganz verklungen, als plötzlich die Haustür aufgerissen wurde. Ein völlig zerzauster Jack schaute mit weit aufgerissenen Augen hektisch nach rechts und links und zog die beiden blitzschnell ins Haus.

»Jack, was soll da ... « Hannes konnte seinen Satz nicht zu Ende sprechen.

»Die Zeichen, habt ihr die Zeichen gesehen?« Jack hatte schon fast panisch die Tür ins Schloss geworfen. Rio und Hannes tauschten einen beunruhigten Blick.

»Was für Zeichen?«, fragten sie fast zeitgleich.

In diesem Moment wurde Rios Aufmerksamkeit auf einen undefinierbaren Punkt in der Küche gelenkt. Irgendetwas schwebte da in der Luft ... Was war das nur? Sah aus wie ein … Ei ...? Mit einem Mal überschlugen sich die Ereignisse. Rio sah dieses Ding plötzlich auf sich zurasen. Bevor er reagieren konnte, klatschte es mitten in sein Gesicht. Mit einem Aufschrei fasste er sich an die Wange. Angewidert betrachtete er seine schleimig gelben Hände. »Was zum Geier - Jack! Willst du uns umbringen?!«

»Oh Rio, es tut mir leid. Warte, ich hole etwas zum Saubermachen.« Er ging rasch in die Küche und kam mit einem Stück Küchenpapier zurück. »Hier, bitte verzeih.« Er lächelte zerknirscht. »Diese Erfindung ist zugegebenermaßen noch nicht ganz abgeschlossen. Das Ei sollte eigentlich in den Topf.«

»Schon gut.« Rio winkte ab und wischte sich übers Gesicht.

»Jack, du wolltest uns etwas von irgendwelchen Zeichen erzählen, was ist passiert?« Hannes sah ihn fragend an.

Jack blickte verwirrt auf. Plötzlich schien er sich wieder zu erinnern. Aufgewühlt schritt er hin und her.

»Mein Gott, ja, die Zeichen! Folgt mir ins Wohnzimmer. Setzt euch.«

Als sie es sich bequem gemacht hatten, ergriff Jack wieder das Wort.

»Es ist etwas Furchtbares eingetreten! Ich muss zurück. Ich muss es verhindern!« Beschwörend sah er von einem zum andern. »Hört mir jetzt genau zu.« Jack sprach die Worte langsam und eindringlich aus.

Er holte tief Luft und begann zu erzählen.

Was Rio und Hannes dann zu hören bekamen verschlug ihnen die Sprache.

»Was wollen sie denn bloß immer bei diesem komischen Kauz? Ich schwör dir, da ist was im Gange, hast du gesehen, wie geheimnisvoll der Alte getan hat?« Liz kletterte noch einen Ast höher, damit sie besser ins Wohnzimmer sehen konnte. Sie waren Rio und Hannes heimlich gefolgt. Liz hatte die Idee gehabt, den beiden hinterher zu gehen, sie hatten sowieso nichts Besseres vor. Bestimmt wollten sie wieder zu diesem Jack. Zuerst wollte Jo sich nicht die Blöße geben, hinter ihnen her zu spionieren. Andererseits war es immer noch besser, als sich zwei langweilige Stunden um die Ohren zu schlagen. Und jetzt kam sie sich total kindisch vor.

Von halb zwei bis halb vier legte sich ihre Mutter hin. Diese Zeit hatte Jo für sich. Danach musste sie unbedingt wieder daheim sein. Ihre Mutter brauchte sie dann. Jeden Tag derselbe Ablauf, seit damals… Sie liebte ihre Mutter über alles, und doch, manchmal bekam sie eine unbeschreibliche Wut gegen alles und jeden. Die ständige Verantwortung schien sie beinahe zu erdrücken.

»Der Alte redet wie verrückt auf die beiden ein. Wenn ich nur etwas verstehen könnte. Jetzt setzen sie sich. Komisch, Rio schmiert sich irgendetwas ins Gesicht.« Liz rümpfte die Nase. »Sie scheinen ihm wie gebannt zuzuhören. Die reißen die Augen auf, als hätten sie den Schock ihres Lebens.«

Auf dem Wohnzimmertisch hatte schon die ganze Zeit über eine alte Holzkiste gestanden. Jack nahm sie nun an sich und öffnete sie vorsichtig. Behutsam nahm er ein zusammengerolltes Schriftstück aus Pergament heraus. Er zog an dem Band, öffnete es und begann mit zitternder Stimme zu lesen:

Leer wird der Wald

es werde kalt

Lichtertanz und Fackelfeuer

wird kommen das Ungeheuer

Sie sahen ihn an. »Was soll das heißen, woher hast du das?« Hannes hatte die Stirn in Falten gelegt. Rio beugte sich über das Schriftstück. »Sieht extrem alt aus.«

Jack erhob sich und ging im Zimmer auf und ab. Plötzlich blieb er stehen. Er starrte ins Leere und schien bei den folgenden Worten zu frösteln: »Es ist eine Prophezeiung aus dem Jahre 1489.«

»Was?« Erneut warfen Rio und Hannes sich einen Blick zu.

»Ich war dabei.« Während er die Worte aussprach, blickte er noch immer wie hypnotisiert vor sich hin.

Hannes konnte sich später noch daran erinnern, dass er seltsamerweise - so verrückt es sich auch angehört hatte - Jack in diesem Moment jedes Wort geglaubt hatte.

»Jack, was bedeutet das?« Hannes sah ihn an.

Als wäre er aus einer anderen Welt zurückgekehrt, blickte Jack auf. »Ich möchte euch etwas zeigen, kommt mit in die Scheune!« Abrupt wandte er sich von ihnen ab und ging zielstrebig auf die Haustür zu.

»Achtung, sie kommen!« Liz sprang vom Baum und es gelang ihnen gerade noch rechtzeitig, sich hinter ein paar Büschen zu verstecken. »Was wollen sie in der Scheune?«

Jo runzelte nur die Stirn.

»Komm, das sehen wir uns genauer an.« Jo hatte gar keine Wahl, Liz war schon vorausgegangen.

Bevor Jack das Scheunentor öffnete, sah er sich nach allen Seiten um. Schnell schob er Hannes und Rio vor sich her ins Innere und legte den Riegel um. Drinnen war es etwas schummrig. Das Licht drang nur durch zwei kleine Fenster und ein paar Ritzen im Holztor. In der Mitte der großen Scheune war irgendetwas Riesiges mit einer großen, schwarzen Plane abgedeckt. Rio hob diese an einer Ecke an. Er sah etwas Silbernes darunter hervor blitzen. »Oldtimer oder Ferrari? Nein, lass mich raten.« Er verengte die Augen zu schmalen Schlitzen. »DeLorean.« In Anspielung auf die Zeitmaschine aus dem Film Zurück in die Zukunft grinste er. Doch als Jack ihn nur stumm ansah, stellten sich ihm plötzlich sämtliche Nackenhaare auf.

»Helft mir mal.« Gemeinsam zogen sie die Plane weg.

Sie waren unfähig etwas zu sagen. Was sie zu sehen bekamen, glich lächerlicherweise einem UFO, das aus einem billigen Science-Fiction Film zu stammen schien. Rio wusste nicht, was er davon halten sollte und als Hannes ihm einen kurzen Blick zuwarf, war er überzeugt, dass es ihm genauso ging. Sie merkten schon eine ganze Weile, dass Jack in letzter Zeit geistig ein wenig abgebaut hatte. Immerhin ging er auf die siebzig zu. Bis auf diesen Strahler, mit dem er Hannes Bein damals geheilt hatte und ein paar netten Kleinigkeiten, hatte Jack noch niemals etwas Großes erfunden. Die meisten seiner Errungenschaften funktionierten nicht.

Als Kinder konnte er sie mit seinen Ideen begeistern, aber für so etwas wie das hier waren sie einfach zu alt. Was versprach er sich davon? Auf einmal kam ihm die ganze Geschichte mit dieser Prophezeiung einfach nur lächerlich vor.

Jack tat ihnen leid. Sie mochten ihn wirklich gerne, aber Tatsache war, dass er immer schon etwas verpeilt gewesen war. In seiner Art hatte er wirklich eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Professor aus dem Hollywoodfilm Zurück in die Zukunft.

Manchmal allerdings war ihnen auch aufgefallen, wie er total abwesend zu sein schien. Es dauerte meist nur einen kurzen Augenblick, aber in diesen Momenten starrte er mit leerem Blick auf irgendeinen imaginären Punkt. Es war, als wäre er meilenweit entfernt. Er und Hannes waren sich einig, dass es irgendetwas mit seiner Vergangenheit zu tun hatte. Dafür sprach auch, dass er niemals etwas von früher erzählte. Sie wussten eigentlich nichts über ihn.

Jedenfalls hatte Rio das Gefühl, dass Jack sich im Moment in etwas verrannte, was nichts mit der Realität zu tun hatte und Hannes schien es ebenso zu gehen.

Jack lächelte plötzlich. »Es sieht zwar nicht aus wie ein DeLorean, aber es funktioniert genauso.« Sein Lächeln gefror, als er in ihre Gesichter sah. Er biss sich auf die Lippen und nickte ein paar Mal. »Ihr glaubt mir nicht.« Es war keine Frage, sondern eine Feststellung.

Rio hatte die Arme vor der Brust verschränkt. Betreten schaute er zu Boden. Bevor er etwas sagen konnte, meldete Hannes sich zu Wort. »Jack, sowas funktioniert nicht, das weißt Du. Zeitreisen«, er lachte kurz auf, »das sind doch nur Geschichten.«

Es war wirklich unheimlich, wie er sich in diese Sache hinein zu steigern schien. Vielleicht sollten sie in nächster Zeit einmal einen Arzt mit ihm aufsuchen. Manchmal hatten sie das Gefühl, er würde den Bezug zur Realität verlieren.

Einen Moment lang schien Jack zu überlegen. Plötzlich zog er zwei leere Bierkisten aus der Ecke und stellte sie vor die beiden hin. »Setzt euch.«

Als sie seiner Aufforderung nachgekommen waren, ließ er seinen Blick zwischen ihnen hin und her gleiten. Die Hände in die Hüften gestemmt, sah er sie eine ganze Weile intensiv an. Er schüttelte kurz den Kopf, als würde er überlegen, wie er beginnen sollte und dann lächelte er.

»Da ihr mir augenscheinlich nicht glaubt, werde ich euch die ganze Geschichte erzählen müssen. Tja, wo beginne ich …. Nun gut, eigentlich wollte ich in das Jahr 1984 reisen. Das hatte einen bestimmten Grund, dafür hatte ich die Maschine gebaut.«

Plötzlich schien er mit den Gedanken ganz woanders zu sein. Er verharrte kurz. Dann sah er sie wieder an.

»Ich war aufgeregt. Es war schließlich das erste Mal, dass ich es versuchte. Dann dieser verdammte Zahlendreher. Ich hatte die neun und die vier verwechselt. Bis ich es realisierte, liefen bereits die Turbinen an. Die Zahlen waren eingespeichert. Die Startphase begann.«

Er sah sie an. »Euch ist vielleicht nicht entgangen, dass es heute Nacht ein heftiges Gewitter gegeben hat. Die alte Eiche am Straßenkreuz nach Empfingen hat lichterloh gebrannt. Es ist nur noch ein schwarzer Stumpf übriggeblieben. Ich habe gesehen, wie der Blitz eingeschlagen hat. Ich sage euch, das war kein gewöhnlicher Blitz. Obwohl der Himmel mit schweren Gewitterwolken bedeckt war, sah ich plötzlich Dutzende von Sternschnuppen herunterregnen.«

Jack zog eine weitere Kiste heran und setzte sich ebenfalls.

»Könnt ihr euch an die Worte der Prophezeiung erinnern? Lichtertanz und Fackelfeuer ... «

»Wie war dieser Satz mit dem Wald?« Hannes blickte plötzlich auf.

»Leer wird der Wald«, entgegnete Jack.

»Die Tiere! Als wir auf dem Weg zu Dir waren, standen plötzlich sämtliche Tiere an der Waldlichtung.«

»Der Temperatursturz.« Rio sah Hannes an. »Sagtest Du nicht, dass es Bodenfrost geben soll?«

»Leer wird der Wald, es werde kalt, Lichtertanz und Fackelfeuer, es wird kommen das Ungeheuer.« Jack hatte die Worte noch einmal laut ausgesprochen.

Es war vollkommen verrückt an so etwas zu glauben, aber plötzlich lief es Rio eiskalt den Rücken hinunter.

Hannes sah auf sein Handy. »Oh, sorry, ich muss los, Arzttermin.« Bedauernd hob er die Schultern. Auch Rio und Jack erhoben sich.

»Wenn ihr die ganze Geschichte hören wollt, kommt morgen wieder. Und dann ist es eure Entscheidung, ob ihr mir glauben wollt.« Jack nickte ihnen kurz zu und sie machten sich auf den Weg.

»Runter!« Hastig zog Jo Liz von dem kleinen Scheunenfenster weg. Sie warteten einen Moment ab, bis die drei gegangen waren, dann schlichen sie sich langsam davon. Sie wussten nicht, was sie von dem Ganzen halten sollten. Es hörte sich einfach nur völlig verrückt an.

4

Hannes war mit dem Auto seiner Eltern zur Arztpraxis gefahren. Zu seinem zwanzigsten Geburtstag im Oktober würde er eine Lebensversicherung ausbezahlt bekommen und dann würde er sich mit Beginn seines Studiums ein Eigenes leisten. Bis jetzt hatte es ganz gut ohne funktioniert. Meistens war er sowieso mit Rio unterwegs und ab und zu gab er ihm fürs Mitfahren etwas aus.

Vor der Arztpraxis waren alle Parkplätze belegt. Er musste vor dem gegenüberliegenden Hotel parken. Als er das Wartezimmer betreten wollte, wurde er sofort von einer Arzthelferin abgefangen und in ein leeres Sprechzimmer geführt. Im Vorbeigehen hatte er registriert, dass großer Andrang herrschte. Einige Patienten mussten sogar stehen und die Glastür war geschlossen.

Dr. Jens Schroth schien im Stress. Er betrat das Sprechzimmer und zog rasch die Tür hinter sich zu. Mit einem lockeren Handschlag begrüßten sie sich.

»Grüß dich, Hannes. Na, bist du fit?«

»Hey Jens, ja, alles bestens.«

Sie kannten sich gut. Jens war der Hausarzt der Familie. Er war ein lockerer Typ und seine Tochter Anna war mit Rio und Hannes seit der Grundschule in einer Klasse. Nun machten sie zusammen ihr Abitur.

»Was ist denn bei dir heute los? Das Wartezimmer platzt ja aus allen Nähten.«

Jens winkte ab und setzte sich hinter seinen Schreibtisch.

»Wenn ich das nur wüsste. Sieht nach einer Grippewelle aus.« Er schüttelte den Kopf. »Und das mitten im Juli.« Er sah ihn

an. »Fühlst du dich gesund? Keine Kopf- oder Gliederschmerzen, Fieber?«

Hannes schüttelte den Kopf. »Alles bestens.«

Jens nickte. »Gut, dann lass es hinter uns bringen. Du gehst dann am besten durch die Hintertür raus. Nicht nötig, sich mit irgendetwas anzustecken.«

Hannes hob kurz den Blick und bemerkte ein Flackern in Jens’ Augen.

Plötzlich hatte er das Gefühl, dass der Arzt mehr wusste, als er ihm erzählt hatte.

5

Ma?« Die Bettdecke war zurückgeschlagen. Das war ein gutes Zeichen. Hoffnungsvoll machte Jo sich auf den Weg ins Wohnzimmer. Vielleicht hatte sich ihre Mutter aufraffen können, wenigstens die Bügelwäsche zu erledigen.

Seufzend blieb sie am Türrahmen stehen und lehnte den Kopf dagegen. Ihre Mutter saß auf dem Sofa und starrte mit leerem Blick vor sich hin.

»Ach Mama, du hast mir doch versprochen es wenigstens zu versuchen. Du musst dich mit etwas beschäftigen.«

Ihre Mutter hob den Kopf. »Hallo Liebes.« Sie versuchte ein Lächeln zustande zu bringen. »Ich hab es wirklich versucht. Ich wollte eigentlich bügeln. Aber ich konnte plötzlich nicht mehr. Ich bin so entsetzlich müde.« Sie sah ihre Tochter wieder mit diesem schrecklichen, leeren Blick an.

»Hast du deine Medizin genommen?« Jo wusste schon auf dem Weg zur Küche, dass die Tabletten ihrer Mutter unberührt dalagen.

»So wird es nie besser. Du musst deine Medikamente regelmäßig einnehmen, wie es der Arzt verordnet hat!« Genervt reichte sie ihr eine Tablette.

»Ach Kind, ich wollte es einfach alleine schaffen, ohne diese Dinger.« Sie schaute die kleine Pille in ihrer Hand angewidert an. »Aber vielleicht hast Du recht. Holst du mir ein Glas Wasser?«

Nachdem sie die Tablette geschluckt hatte, nahm sie ihre Tochter in den Arm. »Es tut mir so leid, Joana.«

Eine einzige Träne lief Jo über die Wange. Mehr erlaubte sie sich nicht. Sie musste stark sein für sie beide.

6

Liz und Jo standen an der Bushaltestelle, als sie nach der Schule betont langsam daran vorbeifuhren. Rio hatte das Verdeck heruntergelassen und die Musik laut aufgedreht. Die Sonne schien von einem nahezu wolkenlosen Himmel, sodass sie ihre verspiegelten Sonnenbrillen aufgesetzt hatten. Es war klar, sie zogen in dem roten Alfa sämtliche Blicke auf sich. Als sie ein paar Meter nach ihnen in die Parkbucht einbogen, dachte Jo zuerst wirklich, sie würden sie fragen, ob sie mit nach Hause fahren wollten. Doch plötzlich war diese Davina Maier - was für eine abartige Namenskombination - mit ihrer Freundin Laura an den Wagen herangetreten. Sie ging um den Alfa herum und stützte sich mit den Händen an der Fahrertür ab. Sie konnten nicht verstehen, was sie miteinander redeten, aber auf einmal stiegen die beiden Mädchen kichernd ein und sie fuhren mit ihnen davon.

»Sieht das nur so aus oder läuft da was?« Liz sah ihnen hinterher.

»Keine Ahnung. Interessiert mich auch nicht.« Betont gelangweilt richtete Jo ihre Aufmerksamkeit auf ihr Handy. Wenn sie so darüber nachdachte, wurde ihr bewusst, dass Rio und Davina in letzter Zeit ab und zu zusammen abhingen. Sie hatte zwar keinen blassen Schimmer warum, aber irgendwie verschlechterte sich ihre Laune plötzlich noch mehr. Schließlich konnte sie Dario Renzi nicht ausstehen.

Wenn Hannes ehrlich war, hätte er lieber Liz und Jo, anstatt der beiden Ziegen mitgenommen.

»Dir ist schon klar, dass Vin scharf auf dich ist?« Sie hatten die zwei am Marktplatz abgesetzt.

Rio lachte. »Oh Gott, nie im Leben! Ich werd‘ ganz sicher nicht ihre nächste Trophäe sein.«

Hannes grinste und zog nur die Augenbrauen hoch. »Dann schenk ihr besser nicht so viel Aufmerksamkeit.«

Rio zuckte die Schultern. »Was sollte ich machen? Sie hat mich gefragt, ob ich sie in die Stadt mitnehme, ist doch nichts dabei. Aber vielleicht hast du recht. Sie ist echt hartnäckig.«

Rio drehte die Musik auf. »Hör dir das Intro an - genauso muss es klingen.« Sie spielten in der Rockband der Schule. Hannes am Bass und Rio an der E-Gitarre. In ein paar Wochen fand das alljährliche Schulfest mit anschließendem Rockkonzert statt. Sie hatten noch einige Übungsphasen vor sich.

»Das wird absolut geil, glaub mir. Wäre wirklich cool, wenn wir die Band über die Schulzeit hinaus erhalten könnten.«

Hannes trommelte mit den Händen auf seinen Schenkeln und bewegte den Kopf zum Takt. »Ja, das wäre echt klasse.«

Rio hielt vor Hannes’ Haus an.

»Um zwei bei Dir?« Hannes sah ihn fragend an, bevor er ausstieg.

Rio nickte nur. Sie hatten eigentlich nicht mehr groß darüber gesprochen und sie wussten immer noch nicht, was sie von all dem halten sollten. Aber es war klar, dass sie noch einmal bei Jack vorbei mussten. Das waren sie ihm einfach schuldig.

7

Was schleppst du da mit dir rum?« Hannes deutete auf Rios Rucksack, als sie die Siedlung hinter sich gelassen hatten.

Rio hielt den Blick auf den Boden geheftet und schüttelte einmal lächelnd den Kopf. »Zwing mich nicht zu antworten - es ist echt bescheuert.«

Fragend sah Hannes ihn an. »Du machst mich neugierig.«

Während sie weitergingen, holte Rio tief Luft. Schließlich blieb er stehen und sah Hannes an.

»Ein paar nützliche Dinge. Taschenlampe, Feuerzeug, Batterien.«

Hannes sah zur Seite und fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. Dann blickte er Rio ins Gesicht und fuhr sich durch die Haare.

»Bei Jens gestern, das Wartezimmer war brechend voll. Er vermutet diese Grippewelle. Aber wenn du mich fragst, verschweigt er etwas.« Er schien zu überlegen. »Du glaubst Jack wirklich.« Es war keine Frage, es war eine Feststellung.

Rio erwiderte seinen Blick. »Du?« Sie sahen sich eine Weile an, ohne ein Wort zu sagen.

Hannes nickte ein paar Mal. »Was ist, wenn mit diesem Ungeheuer aus der Prophezeiung eine Krankheit gemeint ist?«

Rio ging nicht auf die Frage ein. Er musste an seinen Vater denken, der, so hoffte er, nur mit einer Sommergrippe auf dem Sofa lag.

»Gehen wir.« Rio deutete mit dem Kopf nach vorne und wortlos setzen sie ihren Weg fort.

Mit sicherem Abstand folgten Jo und Liz ihnen.

»Ich komm mir echt bescheuert vor Liz. Was tun wir hier überhaupt? Es interessiert mich einen Scheiß, was die vorhaben.« Jo war stehen geblieben und rieb sich mit dem Arm über die Stirn.

»Jetzt tu nicht so, du willst doch auch wissen, was da abgeht.« Liz fuhr sich mit den Händen durchs Haar und band es zu einem Pferdeschwanz zusammen. Daran, dass Jo ihr nicht widersprach, erkannte sie, dass sie den Nagel auf den Kopf getroffen hatte.

»Wenn wir wenigstens was zu trinken hätten. Diese Hitze ist unerträglich.« Sie hatten hinter ein paar Büschen Stellung bezogen und gewartet, bis Hannes und Rio hinter dem nächsten Hügel verschwunden waren.

Und dann war es Jo, die zum Weitergehen drängte. »Komm, bringen wir es hinter uns.«

Sie warteten, bis Jacks Haustür ins Schloss gefallen war, dann bezogen sie wieder Stellung hinter der Scheune. Bestimmt würden die drei irgendwann auftauchen. Und tatsächlich mussten sie nicht lange warten.

»Setzt euch.« Jack deutete auf die Kisten, auf denen sie tags zuvor gesessen hatten. »Hier, greift zu.« Er lächelte. »Es kann dauern.«

Auf einem Regal hatte er Getränke und eine Schale mit Nüssen bereitgestellt. Er legte die Handflächen gegeneinander und hielt kurz inne. »Nun gut, wo beginne ich ... «

Als er zu erzählen begann, fixierten seine Augen einen imaginären Punkt irgendwo an der Wand und plötzlich schien er sich innerlich langsam von ihnen zu entfernen.

»Ich wollte, wie bereits erwähnt, ins Jahr 1984. Fragt mich nicht warum, ich werde es euch erzählen, wenn die Zeit dafür reif ist.« Bittend sah er sie einen Moment an.

»Wie ich schon sagte, passierte dann das Missgeschick mit diesem Zahlendreher.« Er seufzte. »Ehe ich es richtig registrierte, war es schon zu spät. Die Turbinen liefen an. Es gab keine Möglichkeit mehr den Vorgang zu stoppen. Ein ohrenbetäubender Lärm setzte ein, der immer stärker anschwoll. Plötzlich begann sich alles zu drehen, immer schneller und schneller. Ich verlor das Bewusstsein. Als ich wieder zu mir kam, hatte ich jegliches Zeitgefühl verloren. Ich hob meinen Kopf langsam vom Bedienfeld und blickte mich vorsichtig um. Die Hoffnung, dass meine weit in die Vergangenheit gehende Zeitreise vielleicht doch nicht geklappt hatte, wich einem seltsam unbehaglichen Gefühl. Irgendetwas stimmte nicht. Ich kam nur nicht sofort darauf was es war. Doch plötzlich wusste ich es. Es war die Stille. Keine Autobahngeräusche - nichts war zu hören. Ich blickte in südöstliche Richtung, wo normalerweise die Autos bei Tempo hundertfünfzig über die Mühlbachbrücke brausen. Keine Brücke war zu sehen. Nur eine Landschaft, deren Farbintensität dem Inhalt eines Bilderbuches glich. Noch nie hatte ich ein so intensives Grün auf den Wiesen und in den Wäldern gesehen. Und plötzlich, warum war mir das nicht sofort aufgefallen, sah ich mir meine unmittelbare Umgebung an. Und da war - Nichts! Versteht ihr? Keine Scheune, kein Haus, nichts. Ich stand mit meiner Maschine in einer Senke, umgeben von Büschen und Wiesen. Da war mir klar, ich war nicht mehr in der Gegenwart. Schnell warf ich einen Blick auf das Bedienfeld. Im Display leuchteten mir in modernstem Neongrün die Ziffern 1489 entgegen.

Na gut, dachte ich, ganz ruhig bleiben. Du tippst die richtige Jahreszahl ein und dann nichts wie weg hier. Aber so einfach war es nicht. Ich würde zuerst noch einen Maschinencheck machen müssen. Denn so eine weit in die Vergangenheit gehende Zeitreise, da war ich mir sicher, hatte die Maschine sehr stark beansprucht. Als ich einmal ganz um sie herumgegangen war, musste ich feststellen, dass die Solarzellen beinahe leer waren. Zum Glück war am Himmel kein Wölkchen zu sehen, sodass dies das kleinere Problem war. Jedoch schien eine der vier Turbinen defekt zu sein. Einige der fächerartigen Lamellen waren abgebrochen. Ich setzte mich ins Gras und überlegte. Was konnte ich tun? Als erstes musste ich mich um die Turbinen kümmern und irgendwie versuchen, die beschädigten Lamellen zu ersetzen. Dann kam mir ein Gedanke. Was wäre, wenn plötzlich Menschen auftauchen würden? Ich befand mich im tiefsten Mittelalter. Aberglaube und Hexerei gehörten hier zum Alltag. Wenn man mich mit meiner Zeitmaschine erblicken würde, hielt man mich womöglich noch für den Leibhaftigen!

Nein, zuallererst musste ich die Maschine so gut es ging mit Zweigen abdecken. Nachdem dies erledigt war, schaute ich mich nach allen Richtungen um. Noch immer war keine Menschenseele zu sehen. Plötzlich musste ich an die Burgruine denken. Besser gesagt an die Burg. Von Ruine konnte im Jahr 1489 ja wohl keine Rede sein. Meine Neugier war geweckt. Ich musste das Gemäuer sehen. Meinen Berechnungen zufolge, musste Burg Wehrstein gleich hinter dem bewaldeten Hügel liegen. Ich hoffte, unbemerkt entlang der Hecken dorthin zu gelangen und machte mich auf den Weg. Als ich ungefähr zehn Minuten gegangen war, hörte ich plötzlich Stimmen. Vorsichtig spähte ich durch die Büsche auf eine kleine von ein paar Tannen umsäumte Lichtung. Zwei Pferde waren an einem der Bäume festgebunden und ließen sich das saftige Gras schmecken. Ein junger Mann in eurem Alter saß auf einem Baumstamm und ein Mädchen ungefähr genauso alt, schritt ziemlich aufgebracht hin und her. Sie schienen über irgendetwas zu streiten. Ich fühlte mich wie ein Zuschauer in einem historischen Theaterstück. Das Mädchen trug ein langes, aus dunkelblauem Samt gefertigtes Kleid. Die schwarzen Haare hatte es zu einer kunstvoll geflochtenen Frisur hochgesteckt. Kleine weiße Perlen glitzerten darin. Der Junge trug ebenfalls typische mittelalterliche Kleidung: weißes Hemd, eine enganliegende Lederhose, sowie kniehohe Lederstiefel. Seine fast schulterlangen Haare hatte er im Nacken zusammengebunden. Eine Strähne hatte sich gelöst und war ihm ins Gesicht gefallen.«

Jack lächelte etwas versonnen bei der Erinnerung an die beiden. »Zwei wirklich schöne junge Menschen.

Ich hörte, wie das Mädchen sagte, sie würde nicht verstehen, warum er ihn immer zu schützen versuche. Er müsse es doch auch schon bemerkt haben. Worauf der Junge meinte, sie tue ihm Unrecht und bilde sich alles nur ein. Als würden sie spüren, dass sie einen Beobachter hatten, redeten sie plötzlich nur noch mit gesenkter Stimme und ich konnte nichts mehr verstehen. Ich wollte mich gerade vorsichtig zurückziehen und ging einen Schritt rückwärts. Da geschah es. Ich blieb mit dem Fuß an einem Ast hängen, stolperte und fiel so unglücklich auf meine linke Hand, dass ich wohl einen kleinen Schmerzenslaut von mir gegeben hatte. Ihr könnt euch vorstellen, was nun geschah. Die zwei wurden natürlich auf mich aufmerksam.

Der Junge ging auf mein Versteck zu. Durch die Büsche hörte ich ihn mehr als dass ich ihn sah. »Wer da?« rief er. Ich lag immer noch halbwegs auf dem Rücken und stützte mich mit der rechten Hand ab, als sich vor mir die Zweige teilten und ich plötzlich einen Degen auf mich gerichtet sah. Ich war wie erstarrt und flehte ihn an: »Wartet, ich bin verletzt!« Misstrauisch sah mich der junge Mann an. Das Mädchen war ebenfalls nähergekommen und spähte vorsichtig hinter dessen Schulter hervor. »Wer seid ihr, was treibt ihr hier?« herrschte er mich an. Fieberhaft überlegte ich welche Erklärung ich den beiden abgeben sollte. Würden sie mir glauben, wenn ich ihnen die Wahrheit erzählte? Wohl kaum. Ich entschied mich daher erst einmal Zeit und ihr Vertrauen zu gewinnen. Ich bat den Jungen mir aufzuhelfen und streckte ihm meine Hand entgegen. Er ergriff sie und zog mich überraschend kraftvoll auf die Beine. Ich nannte ihnen meinen Namen und erzählte, dass ich aus dem hohen Norden käme und Hilfe bräuchte. Die Achse meines Wagens wäre gebrochen. Mein Pferd, sowie mein gesamtes Hab und Gut seien den steilen Abhang am Rande des Weges hinuntergestürzt und im Neckar, in der Nähe von Rottenburg auf Nimmerwiedersehen versunken. Wäre es mir nicht gelungen, gerade noch rechtzeitig abzuspringen, hätte mir dasselbe Schicksal geblüht. Vermutlich machte ich einen so bedauernswerten Eindruck, dass sie Mitleid mit mir bekamen.

Ihre Namen waren Karl und Magdalena.

Magdalena erzählte mir, dass ihr Vater, Graf Rudolf von Wehrstein, der Burgherr wäre. Sie boten mir an, in der Burg beim Gesinde unterzukommen und wollten den Schmied fragen, ob er einen Gehilfen gebrauchen könne. Das kam mir natürlich gerade recht. Ich hegte Hoffnung, dass sich dort die Möglichkeit ergeben würde, die beschädigten Lamellen der Turbinen zu ersetzen. Dann gab es noch ein Problem - meine Kleidung. Mein Overall, den ich trug, kam den beiden natürlich äußerst ungewöhnlich vor. Als ich ihnen weis zu machen versuchte, dass dies eine ganz neue Erfindung aus dem hohen Norden wäre, waren sie zwar ein wenig skeptisch, aber sie gaben sich mit meiner Erklärung zufrieden. Auf dem Ritt zur Burg - ich saß bei Karl mit auf - unterhielten wir uns ein wenig. Sie waren beide zwanzig Jahre alt und Cousin und Cousine. Ihre Väter waren Brüder gewesen. Karls Vater, Graf Michael von Hohenzollern, starb überraschend an einem Herzanfall, als sein Sohn gerade erst zwei Jahre alt war. Der kleine Junge war plötzlich Vollwaise - seine Mutter war bereits bei seiner Geburt gestorben. Ohne zu zögern hatten Magdalenas Eltern den kleinen Jungen bei sich aufgenommen und wollten ihn zusammen mit ihrer Tochter aufziehen. Magdalena und Karl waren unzertrennlich. Doch dann schlug das Schicksal in dieser Familie zu. Es fing damit an, dass sich Magdalenas Mutter immer öfter müde und zusehends kränker fühlte. Sie wurde immer schwächer und schwächer. Keiner wusste, was ihr fehlte und eines morgens lag sie einfach tot im Bett. Graf Rudolf war also von heute auf morgen mit zwei Kleinkindern alleine. Als Burgherr befand er sich zum Glück in einer finanziell sicheren Lage. Er hatte genügend Bedienstete und die Amme Mechthild. Sie übernahm die Erziehung der Kinder und wurde zu einer liebevollen Ersatzmutter. Die kämpferische Ausbildung des Jungen, also unter anderem den Umgang mit Degen und Schwert übernahm Ritter Marquard - der treuste Diener von Wehrstein - wie Karl ihn nannte. Graf Rudolf sei ein großzügiger Burgherr, der seine Untergebenen gerecht behandelte und auch keine zu großen Steuerabgaben von seinem Volk forderte, erzählte Karl.

Zu seinem Volk sei er manchmal gerechter, als zu seinem eigenen Fleisch und Blut, fügte Magdalena zynisch hinzu. Worauf Karl seinen Onkel verteidigte und meinte, sie müsse sich als Frau endlich auch als solche benehmen und lernen gewisse Regeln einzuhalten. Darauf begannen sie sich wieder zu streiten. So wäre es wohl noch einige Zeit weitergegangen, wäre unsere Aufmerksamkeit nicht plötzlich auf das Geräusch eines herannahenden Pferdes gelenkt worden. Als wir unsere Blicke hoben, sahen wir in schnellem Galopp ein Warmblut auf uns zureiten. Die Frau, die das Pferd lenkte, schnappte keuchend nach Luft, als sie abrupt vor uns zum Stehen kam. Zuerst dachte ich, sie wäre nicht ganz bei Trost. Sie fuchtelte wie wild mit den Armen und machte ganz eigenartige Grimassen. Plötzlich aber begriff ich - sie war stumm. Auf wundersame Weise schien Magdalena sie jedoch zu verstehen. »Beruhige dich Phil, ich komme ja schon!«, sagte sie zu ihr. Karl forderte die beiden auf, sich schnell auf den Rückweg zu machen, wir würden nachkommen. Nachdem die beiden Mädchen sich auf den Weg zur Burg gemacht hatten, erfuhr ich von Karl, dass Philomena Magdalenas Kammerzofe war. Sicherlich hätte sein Onkel das Verschwinden seiner Tochter bemerkt. Sie würde großen Ärger bekommen, denn heute wollte Graf Christoph von Haigerloch seine Aufwartung machen und um Magdalenas Hand anhalten. Die in finanzieller Hinsicht lukrative Verbindung war von Graf Rudolf eingefädelt worden. Die rebellische Magdalena jedoch wehrte sich mit Händen und Füßen gegen diese bevorstehende Vermählung. Was man auch verstehen könne, denn der zukünftige Bräutigam sei nicht gerade als gutaussehend zu bezeichnen. Wir waren so sehr ins Gespräch vertieft, ich hatte überhaupt nicht bemerkt, dass wir schon fast am Ziel waren. Der Pfad war breiter geworden. Beidseitig wurde der Weg von hohen Laubbäumen gesäumt. Plötzlich sah ich eine Fahne durch die Blätter schimmern. Ich bekam eine Gänsehaut. In wenigen Augenblicken würde ich Burg Wehrstein in ihrer ganzen, vollständigen Größe sehen. Welch unbeschreibliches Gefühl! Plötzlich hielt Karl das Pferd an und drehte sich zu mir um. Mit hochgezogenen Augenbrauen musterte er mich. »Es ist wohl besser, ihr sucht Schutz hinter den Bäumen. Ich werde euch derweil anständige Kleidung besorgen«, meinte er.

Vermutlich hatte er Recht. Mein Aussehen würde bei den Menschen nur Misstrauen wecken. Während ich im Unterholz ausharrte, machte Karl sich auf den Weg. Was würde mich hier alles erwarten? Wie anders war doch plötzlich alles gekommen. Als ich so meinen Gedanken nachhing, wurde die Stille plötzlich durch das Wiehern von Pferden und Gesprächsfetzen unterbrochen. Ich zog mich noch etwas weiter ins Unterholz zurück und beobachtete zwei herannahende Reiter. Der stämmigere der beiden Männer schien sich über seinen stattlichen, gutaussehenden Begleiter zu ärgern. »Seht euch vor! Behaltet euer absonderliches Gedankengut für euch, bevor ihr in Ungnade fallt!« In barschem Tonfall hatte er ihm die Worte an den Kopf geworfen. Bevor ich die Antwort des anderen hören konnte, waren sie auch schon an mir vorbei. Kurze Zeit später wurde ich zum zweiten Mal auf einen Reiter aufmerksam. Meine Vermutung, dass es sich um Karl handelte, bestätigte sich, als er hinter der Wegbiegung auftauchte. Ruckartig zog er die Zügel an, sodass sich sein Pferd kurz aufbäumte. Rasch sprang er ab und reichte mir einige Kleidungsstücke. Sie passten wie angegossen. Nun machten wir uns also auf den Weg zur Burg. Noch eine letzte Wegbiegung und dann sah ich sie. Sie ragte so urplötzlich aus dem Erdboden auf, dass ich einen Moment an ein Trugbild glaubte. Wie ein Fels in der Brandung stand sie vor mir - Burg Wehrstein. Wir trabten über die heruntergelassene Zugbrücke. Linker Hand, gleich nach der Brücke, befand sich ein imposanter Ringturm von ungefähr sechs Metern Durchmesser. Zwei Schießscharten waren Richtung Graben und Ringmauer gerichtet. Zwischen der südlich gelegenen Ringmauer und des nördlich gelegenen Gebäudes führte die Einfahrt zum Burghof. Auf der Ringmauer thronte ein viereckiger Turm. Am beeindruckendsten jedoch war die Stärke der Mauern. Sie betrug teilweise über zwei Meter. Im mittleren Teil der gesamten Anlage stand ein mächtiger Rundturm. Daran angeschlossen befanden sich die Wohnräume der Herrschaft. Auf dem höchsten Teil der Burganlage befand sich abermals ein Rundturm, der dieses wundervolle Gesamtbild abrundete. Hinter den Mauern herrschte reges Treiben. Niemand schenkte uns Beachtung. Kinder spielten Fangen. Eine Frau rannte einem Huhn, das wohl in den Topf sollte hinterher und das Klopfen des Schmiedes war zu hören. Zielstrebig folgten wir dem hämmernden Geräusch. Karl wollte mich gleich meinem zukünftigen Meister vorstellen. Die Schmiede lag direkt hinter den Toren der Burg. Der Eingang bestand aus einem riesigen, ungefähr vier Meter breiten und drei Meter hohen Rundbogen. Den schweißglänzenden breiten Rücken uns zugewandt, bearbeitete ein glatzköpfiger Riese mit dem Hammer ein Stück glühendes Eisen, das er eben in einen mit Wasser gefüllten Bottich tauchen wollte. In diesem Moment bemerkte er uns und stieß vor Schreck einen furchterregenden Fluch aus. Noch furchterregender jedoch war sein Aussehen. Buschige Augenbrauen zierten sein rußverschmiertes, grimmiges Gesicht. Als er jedoch Karl erkannte, erhellte ein freundliches Lächeln seine Züge. »Karl! Ihr habt euch ja schon eine ganze Weile nicht sehen lassen! Entsprach mein letztes, für euch gefertigtes Schwert, eurer Zufriedenheit?«

Karl lachte. »Es ist fantastisch, Conrad! Nicht mehr lange und ich werde gegen Ritter Marquard siegen.«

Karl machte uns miteinander bekannt und erklärte meine Situation. Natürlich könne er einen Gehilfen brauchen, meinte Conrad und klopfte mir mit seiner Pranke auf die Schulter, sodass ich das Gefühl hatte, zehn Zentimeter zu schrumpfen. Plötzlich drangen von außen Rufe und Schreie herein. Neugierig geworden blickten wir nach draußen. Wir sahen, wie zwei Wachposten zu Pferd, scheinbar jemanden verfolgten. Auf einmal tauchte aus der sich angesammelten Menschenmenge Magdalenas dunkler Haarschopf auf. Augenscheinlich war sie das Ziel der Verfolger. Auch Karl und Conrad mussten augenblicklich begriffen haben, was vor sich ging. Schnell sprang Karl vor und zog Magdalena in die Schmiede. Als hätten sie sich abgesprochen, hielt Conrad eine in den Boden verankerte Klappe auf. Als die Wachen bis zur Schmiede vorgedrungen waren, war Magdalena bereits wie vom Erdboden verschwunden. Karl versperrte ihnen den Weg und herrschte sie an, was hier vor sich gehe. Im selben Augenblick näherten sich zwei Männer. Ich erkannte in ihnen die beiden, die im Wald an mir vorbeigeritten waren, als ich auf Karl gewartet hatte. Es stellte sich heraus, dass es sich bei dem großen, stattlichen Mann um Ritter Marquard handelte. Der kleinere, etwas stämmigere, war Graf Joachim, der Verwalter von Hohenzollern - also Karls ursprünglichem Zuhause. Bis zu seinem einundzwanzigsten Geburtstag sollte dieser die Geschäfte für ihn führen. Danach würde Karl selbst sein ihm zustehendes Erbe in die eigenen Hände nehmen. Mit ungläubiger Miene lauschte Karl den Schilderungen der Wachen. Nach dem gemeinsamen Mittagsmahl war Graf Christoph von Haigerloch plötzlich zusammengebrochen. Der schnell herbeigerufene Medicus konnte nur noch den Tod des edlen Herren feststellen. In seinem Weinkelch hatte man Spuren von Gift gefunden. Der Verdacht war schnell auf Magdalena gefallen - es war kein Geheimnis, dass sie sich gegen diese Heirat mit aller Macht gewehrt hatte. Magdalena musste wohl oder übel in ihrem Versteck ausharren. Karl wollte sich zuallererst auf den Weg zu seinem Onkel machen, um die ganze Geschichte noch einmal aus dessen Mund zu hören. Niedergeschlagen kehrte er mit schlechten Nachrichten in die Schmiede zurück. Christoph von Haigerlochs gesamtes Gefolge beharrte auf eine Verhaftung Magdalenas. Rudolf zeigte sich überzeugt, dass seine Tochter ihre Unschuld nur dadurch würde beweisen können, wenn sie sich stellte. Karl wiederum hatte schreckliche Angst, dass diese eiskalten Haigerlocher, wie er sie nannte, sollte sich Magdalena erst einmal in deren Gewalt befinden, keine Gnade kennen würden und es schlimmstenfalls zu einer Hinrichtung käme. Schweren Herzens hatte er sich dagegen entschieden, seinen Onkel in das Wissen um Magdalenas Versteck einzuweihen. Entsprechend verstimmt hatten sie sich getrennt. Nun also beratschlagten Karl und Conrad, wie es weitergehen sollte.«

Jack blickte auf und lächelte. »Diese Menschen waren unglaublich - obwohl sie mich doch erst kurze Zeit kannten, schienen sie mir zu vertrauen. Von Beginn an bezogen sie mich in alles mit ein.«

Jack fuhr fort…

»Zuerst einmal mussten wir nach Magdalena sehen. Sicherlich ängstigte sie sich in ihrem Versteck. Nachdem wir sicher waren, dass uns niemand beobachtete, kletterten wir der Reihe nach unter den Verschlag ins Erdinnere. Conrad als letzter, zog die Klappe über sich zu. Mit einer Talgfackel leuchtete Karl in dem höhlenartigen Raum umher. Plötzlich fiel das gedämpfte Licht auf eine zusammengekauerte Gestalt - Magdalena. Karl reichte mir seine Fackel und kniete sich auf den felsigen Boden. Vorsichtig berührte er sie an der Schulter. Sie schlug die Augen auf und zuckte zusammen. Als sie uns erkannt hatte, atmete sie erleichtert auf. Sie flehte uns an ihr zu glauben, dass sie unschuldig sei - und glaubt mir, sie war unschuldig. Karls Befürchtungen bekräftigten ihren Entschluss sich auf keinen Fall freiwillig zu stellen. Und so beschlossen wir gemeinsam, dass wir alles in unserer Macht stehende tun würden, um Magdalenas Unschuld zu beweisen. Conrad erläuterte seinen Plan und versetzte mich, aber noch mehr Karl und Magdalena in großes Staunen. In dem höhlenartigen Gewölbe führte ein schmaler Gang leicht aufwärts. Dieser Gang war ein nahezu unbekannter Geheimgang der zum nahegelegenen Wehrsteinhof führte. Es war ein seit Jahrzehnten streng gehütetes Geheimnis unter Generationen von Schmieden, die auf der Burg sowie in der hofeigenen Schmiede ihrer Arbeit nachkamen. Hier also hielten wir Magdalena erst einmal versteckt, hier war sie sicher. Conrad veranlasste auf dem Wehrsteinhof die tägliche Verpflegung Magdalenas. Er hatte dort seine Leute, auf die er sich absolut verlassen konnte. So vergingen einige Tage. Um ihr das Alleinsein etwas zu erleichtern, schauten wir so oft wie möglich bei Magdalena vorbei. Gleichzeitig setzte Karl alles in Bewegung um den tatsächlichen Mörder Christophs von Haigerloch zu finden. Wie ihr euch vorstellen könnt, wurde Magdalena natürlich immer ungeduldiger in ihrem Gefängnis. Sie war schlecht gelaunt und hielt es beinahe nicht mehr aus. Ich hingegen nahm meine Arbeit bei Conrad in der Schmiede auf. Wir beide wurden in der kurzen Zeit gute Freunde. Conrads furchterregendes Äußeres, stand im Gegensatz zu seiner gutmütigen, friedfertigen Art, die jedoch, sollte ihm einer dumm kommen, ins Gegenteil umschlagen konnte.

Nun, ich hatte noch das Problem mit den Lamellen, die in den Turbinen meiner Zeitmaschine zerstört worden waren. Ich bin mir nicht sicher, ob es eine Art Vorahnung war, aber ich wollte die Maschine einfach so schnell wie möglich in Ordnung bringen. Wer wusste schon, was noch alles geschehen würde. Vielleicht musste ich plötzlich ganz schnell verschwinden. Also beschloss ich, Karl und Conrad die Wahrheit über meine Identität zu erzählen. Die Gelegenheit bot sich schneller, als ich es für möglich gehalten hatte. Nachdem Karl den Vormittag erfolglos damit verbracht hatte, in der Burg das Gesinde auszuhorchen, in der Hoffnung irgendeinen Hinweis auf den Mörder zu erhalten, hatte er noch kurz bei Magdalena vorbeigeschaut.

Aufgebracht betrat er danach die Schmiede: Er hatte Magdalena nicht in ihrem Versteck angetroffen. Stattdessen entdeckte er sie auf dem Hof im Stall bei den Pferden. Sie hatte es in ihrem Verließ nicht mehr ausgehalten und war mit Hilfe einer wie sie behauptet hatte - vertrauenswürdigen Magd, für eine Weile ihrem Gefängnis entflohen. Anscheinend war es nicht das erste Mal, dass sie ihr Versteck verlassen hatte. Uns war klar, dass es so nicht mehr lange weitergehen konnte. Irgendwann würde sie entdeckt werden.