Weiber - Toyah Diebel - E-Book

Weiber E-Book

Toyah Diebel

0,0

Beschreibung

Weiber. Sie planen Hausgeburten in der Wanne, zu dritt und bei zunehmendem Mond. Ihnen wird Algen-Boost-Toner gegen Schlaffi-Schlaffi und Schlabber-Schlabber aufgeschwatzt. Sie puhlen anderen Sockenfussel unter den Zehennägeln heraus. Nachtleben, Seitensprünge und Dammrisse hinterlassen ihre Spuren. Dazu Ehe-Männer, One-Night-Stands und Frauenärzte, die zum Glück viel besser wissen als sie selbst, was gut für sie ist.Doch so unterschiedlich die Frauen auch scheinen, alle haben sie etwas gemeinsam: Die Wahl etwas an ihrer Situation zu ändern - oder aber eben nicht.In diesem Buch erzählt die Autorin 24 Geschichten mitten aus dem Leben - zumindest von irgendjemandem. Oft komisch, manchmal trostlos oder aber einfach herrlich amüsant geschrieben, lässt das Buch den Leser zwar oft auch peinlich berührt zurück, regt aber in jedem Fall zum Nachdenken an.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 151

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Originalausgabe

1. Auflage 2019

Verlag Komplett-Media GmbH

2019, München/Grünwald

www.komplett-media.de

ISBN E-Book: 978-3-8312-7020-0

ISBN print: 978-3-8312-0545-5

Lektorat: Redaktionsbüro Diana Napolitano, Augsburg

Korrektorat: Redaktionsbüro Julia Feldbaum, Augsburg

Umschlaggestaltung: Stephen Overmeyer

Satz und E-Book: Daniel Förster, Belgern

Dieses Werk sowie alle darin enthaltenen Beiträge und Abbildungen sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrecht zugelassen ist, bedarf der vorherigen schriftlichen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Speicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen sowie für das Recht der öffentlichen Zugänglichmachung.

Es geht darum, die Wahl zu haben. Auch wenn man(n) (k)eine Frau ist.

Inhalt

Judith

Katharina

Jessica

Stephanie & Stephan

Kiki

Nadine

Bärbel

Laura

Ramona

Linh

Linda

Meta

Franzi

Carmen & Nadine

Simone

Nadia

Susa & Barbara

Eva

Brigitte

@dornroeschen_official

Iris

Sophie

Roberta

Runa

Judith

Die kurze Fahrt im Aufzug reicht, um ihren Magen aus den Angeln zu heben.

Der gestrige Abend wird noch mal kurz in Form eines säuerlichen Aufstoßens wiederbelebt, das muss wohl der Whiskey Sour sein, kein Wunder, davon hat sie mindestens acht getrunken. Oder neun. Oder zehn. Abgesehen von dem ekelhaften Geschmack im Mund mag sie aber das Gefühl dieses morgendlichen Katers ganz gern, denn der ist jetzt eher noch ein angenehm schnurrendes Kätzchen oder besser gesagt: Sie ist noch besoffen. Guten Morgen, Donnerstag.

Ihre Agentur hat einen Pitch gewonnen, also einen neuen Auftrag an Land gezogen, für den ihr Team und sie fast zwei Wochen durchgearbeitet haben. Tag für Tag und Nacht für Nacht hat sie auf ihr Privatleben verzichtet, ihre Wohnung vermüllen lassen und mit niemandem mehr als zehn Worte gewechselt, der nicht einer ihrer Kollegen war. Dafür haben sie und ihr Team nun einen Etat von fast einer Million Euro für die Agentur erarbeitet, das größte Budget, das es jemals bei ihnen gegeben hat, mit ihr als leitende Projektmanagerin. Bonuszahlungen gab’s bei ihnen nicht, weswegen ein Komplett-Ab- und Filmriss das Mindeste war, mit dem man sie belohnen konnte. Jeder wusste, wie legendär die Partys in ihrer Agentur waren, die wildesten Gerüchte waren bis über die Stadtgrenzen hinaus darüber im Umlauf, von denen das meiste aber auf jeden Fall der Wahrheit entsprach. Bestimmt gab es sogar den ein oder anderen Kollegen, der ausschließlich deswegen angeheuert hatte.

Das Prozedere so eines Abends war immer das gleiche. Wurde irgendein Etat oder Pitch gewonnen, ertönte ein lauter Gong durch das Großraumbüro, ausgelöst durch ihren Chef, der mit einem Baseballschläger gegen eine riesige Kneipenglocke schlug, die sie mal in einer ähnlichen Erfolg-Zelebrierungs-Nacht-und-Nebel­aktion geklaut hatten. (Da waren sie auch nicht nüchtern gewesen, weswegen es auch irgendwie okay war.)

Den ganzen gestrigen Tag hat sie auf diesen erlösenden Gong gewartet und wäre fast ohnmächtig vor Erleichterung vom Stuhl gerutscht, wenn ihr nicht Marius, der Art-Direktor, ein belebendes Glas Prosecco in die Hand gedrückt hätte, als es endlich passierte. Ihr Chef, der sich selbst den Namen »Alpha-Boss« gegeben hat, stand unter der besagten Glocke und mit Baseballschläger auf der Schulter feierlich auf seinem Schreibtisch:

»Girls und Boys – was soll ich sagen: IHR. SEID. DER. SHIT. Wir haben denen da draußen wieder mal gezeigt, wer die wahren Motherfucker im Game sind, und sechs der größten Agenturen Deutschlands den Mittelfinger gezeigt. Wir haben den Pitch für diese Scheißbank gewonnen und werden diese Kuh jetzt abmelken bis zum Gehtnichtmehr. Mein besonderer Dank geht vor allem an Judith, unsere Juju, eine echte Powerfrau, die gezeigt hat, was sie für dicke Eier hat. Und jetzt lasst uns feiern!«

Alpha-Boss hat ihr daraufhin mit einem Zwinkern zugeprostet und sie den Rest aus ihrem Glas in einem Zug runtergekippt.

Wie in jeder hippen Agentur Berlins gab es auch bei ihnen mindestens drei Mitarbeiter, die nebenberuflich noch als DJ arbeiteten und an Abenden wie diesen das Büro dank göttlicher Anlage in einen Klub verwandelten. Je nach Pitch und Größe des Erfolgs gab es dazu eine andere Partyüberraschung: Bodybuilderinnen, die in Planschbecken voll mit Mayo catchten, einen als Wolfgang Petry verkleideten kleinwüchsigen Alleinunterhalter bis hin zu einem Schimpansen, der ihnen zwei Stunden lang Mojitos mixte. Mehr konnte er nicht, war aber trotzdem ein Hingucker. Eigentlich gab es nichts, was nicht passieren konnte, solange es nicht dokumentiert wurde. Fotos machen nicht erlaubt, »what happens in the agency, stays in the agency«.

Gestern jedenfalls wurde eine zahnlose Stripperin eingeladen, die außer Strippen und einer gespaltenen Zunge noch tolle Tricks mit einem Tischtennisball draufhatte. Alpha-Boss hatte 50 € für den geboten, der den Ball mit dem Mund auffangen konnte, nach einigen Gläsern Prosecco wollte das natürlich jeder mal ­probieren.

Spätestens da waren alle voll genug, aber dank der schnellen Ankunft von »Ali«, ihrem Haus-und-Hof-Koks-Taxi, passten noch mehr Alkohol und Tischtennisbälle rein. Die Kosten wurden dann von der Buchhaltung per Bar-Quittung einfach unter »sonstige Ausgaben« verbucht: so Berlin!

Weil wegen der pulverisierten Verpflegung zwar alle nur noch Scheiße redeten, aber eben noch gut reden konnten, ging es direkt weiter ins Ebert. Das Ebert ist eine Bar, quasi DIE Bar für das »Who is Who« der Szene, mit besonders harter Tür, niemand kommt hier rein, der nicht irgendjemanden kennt, der irgendjemanden kennt, man bleibt unter sich und geht nicht die Gefahr ein, mit irgendwelchen peinlichen Nobodys ins Gespräch zu kommen, sowieso die größte Sorge unter denen, die besonders wichtig sind. Das Einzige, was allerdings schwerer war, als in die Bar reinzukommen, war, wieder rauszukommen. Ach, ein Drink noch, dazu noch ’ne Kippe, oh Drink leer, na ja, einer noch. Noch eine ballern? Ja, klar. Schwupps, war es sechs Uhr morgens, obwohl man doch gerade erst gekommen war.

Nach drei Stunden Wachschlaf in voller Montur auf dem Sofa ist sie jetzt auch drei Stunden zu spät im Büro. Stört natürlich niemanden, selbst die HR-Claudia ist noch nicht da, wahrscheinlich weil die sich noch mit dem Praktikanten eine Monsterbahn Kokain auf den Tresen gelegt hat, als sie schon am Gehen war. Mitarbeitergespräch, sozusagen. Normal war das natürlich alles nicht, aber geil.

Ihre Freundin Lena hat neulich zu ihr gesagt: »Das hält doch keiner lange durch.«

Natürlich verstand die aber bloß überhaupt nichts von dem Leben, das sie hier führte. Werberlife, Medienbranche, ’n Berlin-Ding – halt anders, nichts für Normalos wie Lena.

Im Büro ist es auffällig still, gerade mal die Hälfte der Plätze ist belegt, auch von Alpha-Boss keine Spur. Nur der Tischtennisball schwimmt noch unschuldig in einem Becher auf seinem Tisch. Die andere Hälfte ist OOO, »Out of Office« oder HO, »Homeoffice«, das klingt besser als »bin noch zu voll, komme heute nicht«, ist aber genau das Gleiche.

Mareike, die graue Maus am Empfang, ist anscheinend schon länger da, frisch sieht sie aber gar nicht aus und macht jetzt auch mit ihrem Teint dem Beinamen alle Ehre. Die hat als eine der wenigen gestern außer Alkohol nichts in sich hineingeschaufelt, selber schuld, Anfängerfehler – Mischkonsum war das Geheimrezept aller Unter-der-Woche-Feiernden, das musste Mareike noch lernen. Die kramt dafür apathisch in der Büroapotheke, einem Schuhkarton voll mit Tabletten, in der Hoffnung, irgendwas zu finden, was ihr wieder etwas Leben einhauchen könnte.

»Auch ’ne Ibu?«, röchelt sie ihr entgegen. Klar, warum nicht, sie schluckt direkt zwei, Kopfschmerzen könnten schließlich später noch kommen, sicher ist sicher.

Sie fühlt sich noch fluffig wie in Watte gepackt und freut sich schon, gleich mit den Kollegen die Highlights des gestrigen Abends bei einer Zigarette Revue passieren zu lassen. Jemand würde dann sagen, »dass die Kippe ja eigentlich schon wieder ganz gut schmeckt«, und »ein Glas Prosecco dazu wäre doch jetzt auch was Feines«.

Und alle würden lachen und sich ein bisschen besser fühlen, dass sie mit dem Gedanken nicht allein waren. Keiner von denen hätte aber wirklich gern ein Glas Prosecco, sie schon. Ein paar Stunden später sähe die Laune im Büro sowieso ganz anders aus, einer würde kotzend über der Kloschüssel die fettige Lieferpizza rauswürgen und alle anderen wie Schlaganfallpatienten vor ihren Bildschirmen sitzen und so tun, als würden sie arbeiten.

Natürlich würde aber keiner wirklich was tun, sondern abwechselnd von irgendwelchen YouTube-Videos auf die Uhr gucken, die nur in Zeitlupe voranschreiten würde.

Sie würden nach Hause gehen und sich denken: »Ich bin zu alt für den Scheiß«, und mindestens drei Tage vergehen lassen, bis man eben diese Vorsätze wieder vergessen hätte. Wie bei fast allem in der Welt gab es aber auch hier eine Ausnahme, das war dann die Person, die einfach weitermachte und das Kätzchen erst gar nicht zum Kater werden ließ. Die Person würde aufgedreht durchs Büro schweben, gar nicht verstehen, wieso alle so fertig waren, und dafür sorgen, dass sie selbst niemals fertig werden würde. Die Ausnahme war sie.

Deswegen läuft sie, bevor sie überhaupt den Laptop auf ihrem Schreibtisch aufklappt, lieber noch mal schnell zum Supermarkt.

Dort steht sie jetzt vor dem Weinregal und greift nach dem Weißburgunder, schön trocken, leicht bekömmlich, 3,45 € die Flasche. Schönes Etikett, tolle Farbe, passt gut zu Fisch und Schalentieren. Oh, und auch noch öko! Super! Einfach super, superegal, Hauptsache schnell im Kopf.

Sie holt sich noch einen Alibi-Brokkoli aus der Gemüseabteilung und läuft zur Kasse. Vor ihr steht ein Penner, dem die Hose schon fast in den Kniekehlen hängt, sie ekelt sich. Er legt zwei kleine Fläschchen Kümmerling aufs Band und zählt in Zeitlupe kupferfarbene Centstücke aus seiner Hosentasche, dazu dieser Geruch, es ist kaum auszuhalten.

Ihr Kätzchen schnurrt jetzt nicht mehr ganz so angenehm, der Kater sitzt fett und fauchend vor der Tür und kann es kaum erwarten, hereingelassen zu werden.

Da sie sich ihren kompletten Endorphinhaushalt gestern aus dem Schädel gekokst hat, würde der Kater heute besonders leichtes Spiel haben, sie aus dem Leben zu scheppern. Es würde anfangen mit leichtem Schwitzen, Paranoia, Kopfweh, das Herz würde anfangen zu rasen, die Depressionen würden jeden Gedanken in ­ihrem Kopf überschwemmen und dann in einer astreinen Panikattacke enden.

Die könnte sie dann nicht mehr so einfach verbergen, und das wäre natürlich mehr als peinlich. Schwitzen tut sie schon jetzt. Sie klammert sich an die Flasche Weißburgunder, die sie jetzt wirklich langsam mal von innen sehen muss. Warum braucht der Penner denn so lang? Der dreht sich zu ihr um:

»Haste bisschen Kleingeld für mich?«

Sie schüttelt genervt den Kopf. Seinen Rausch wird sie ganz sicherlich nicht auch noch mitfinanzieren – schließlich muss sie sich erst mal um ihren eigenen kümmern. Der Penner mustert sie von oben bis unten und bleibt mit seinem Blick auf der Weinflasche hängen. Er macht »pff« und schlurft raus auf die Straße – Suchtis wissen, wenn sie Suchtis sehen.

Ihre Nervenstränge sind mittlerweile so dünn, dass sie sogar vom Piepen des Barcodescanners zusammenzuckt und es sich anfühlt, als stünde sie seit vier Jahren an dieser Kasse, die Synapsen drehen langsam durch. Jetzt geht alles wieder viel zu schnell, sie ist dran, ups, peinlich – der Geldschein ist noch eingerollt, sie lacht verlegen und viel zu laut, die Frau an der Kasse hebt die Augenbrauen. Was will die denn jetzt, die soll mal nicht so tun, oder sieht die ihr etwa an, was los ist? Scheiße, die hat bestimmt alles durchschaut. Schnell hier raus, Paranoia incoming.

Vor dem Supermarkt schmeißt sie den Brokkoli in den Mülleimer und stellt sich zwei Häuser weiter in eine Hofeinfahrt. Sie kippt den Weißburgunder in knapp acht Zügen hinunter und läuft zurück ins Büro. Schon nach ein paar Minuten schnurrt das Kätzchen wieder, von Schwitzen keine Spur mehr, dafür ist sie jetzt endlich richtig wach. Und auch fast ein bisschen gut drauf, aber nicht drauf genug.

In der Agentur ist bereits die zweite Phase angebrochen, Mareike, die graue Maus vom Empfang, hat ihren Arbeitsplatz in die Toiletten verlegt, wo sie gerade das Mittagessen auskotzt. Ihr Chef ist zwar mittlerweile auch eingetrudelt, sieht aber eher aus wie der »Beta-Boss« und sitzt mit beeindruckend weit nach unten gebogenen Mundwinkeln und mit Sonnenbrille an seinem Schreibtisch.

Der Rest aller Anwesenden ist damit beschäftigt, das Ende des Tages herbeizusehnen oder dafür zu beten, dass ja keine anstrengenden Mails ins Postfach flattern.

Sie ist die Ausnahme, ihr geht’s jetzt wieder super. Marius, dem Art-Direktor, den sie gestern noch mit dem Taxi zu Hause abgesetzt hat, scheint das auch aufzu­fallen.

»Krass, hast du noch ’ne Fahne.«

Ihr Kopf sagt: »Klar habe ich ’ne Fahne, wer hat die nicht nach ’ner Pulle Wein? Ich bin wahrscheinlich Alkoholikerin, aber ihr sauft ja auch alle. Ich denke, wir haben alle ein sehr ernstes Problem und sollten zur Suchtberatung.«

Ihr Mund sagt: »Von gestern halt, du hast auch ’ne Fahne. Was geht heute Abend?«

Thema erledigt.

Muss ja niemand wissen, dass sie ohne den Ausflug zum Supermarkt schon längst mit Nervenzusammenbruch, hyperventilierend und heulend auf dem Klo sitzen würde wie eine, die auf jeden Fall in die Klapse gehört oder mindestens in einen Entzug.

Die ganze Flasche Weißburgunder hat sich nun nach der halben Stunde Reise durch ihr Blut auf ihrem Höhepunkt entfaltet und knallt leider ein bisschen mehr rein als erwünscht. Hoppla, sie ist ja wieder ganz schön voll. Das könnte vielleicht dann doch etwas auffällig werden, und arbeiten kann sie so auch auf keinen Fall mehr. Zum Glück ist sie gestern nicht so gierig gewesen und hat den Rest aus Alis Koks-Kapsel einfach in die Hosentasche gesteckt, anstatt ihn wie sonst einfach trotzdem noch in die schon völlig verstopfte Nase reinzupressen.

Das würde sie wieder etwas klarer im Kopf machen, nichts harmonierte besser als Alkohol und Koks, die Hänsel und Gretel der Betäubungsmittel.

Sie geht auf die Damentoilette, wo sich Mareike nach wie vor die Seele aus dem Leib kotzt. In der Kabine neben ihr haut sie sich den letzten Rest des weißen Pulvers in die Nasenlöcher und ist innerhalb von Einmal-Kopf-in-den-Nacken-Werfen wieder voll die Alte.

Auf dem Weg zurück zu ihrem Arbeitsplatz tun ihr ihre Kollegen fast ein wenig leid, wie sie wie durchgegurgelte Schlückchen Wasser vor ihren Bildschirmen sitzen und ihr Dasein fristen. Nicht so wie sie, ihr geht’s jetzt einfach großartig. Sie IST großartig! Yeah! Sie guckt in Richtung Alpha-Boss, der bis zu diesem Zeitpunkt außer einem unverständlichen Röcheln noch nichts von sich hat hören lassen, sich aber jetzt mühsam von seinem Stuhl erhebt:

»Judith, komm mal mit in den Alpha-Tower.«

Der Alpha-Tower war ein Kasten aus Glas, den er sich in das sonst sehr hellhörige Großraumbüro hat bauen lassen, um Kunden utopische Summen um die Ohren zu hauen oder unangenehme Mitarbeitergespräche zu führen, ohne dass er dabei belauscht wurde. Unangenehme Mitarbeitergespräche. UNANGENEHME MITARBEITERGESPRÄCHE! Paranoia, willkommen zurück.

Er hat die Verwandlung nach ihrem Toilettenbesuch à la Mini-Playbackshow genau beobachtet und durchschaut, er wusste nun alles. Sie ist ein erbärmlicher Druffi, und so sieht er das nun auch. Der will sie rausschmeißen. DER WILL SIE RAUSSCHMEISSEN! Ihr wird knallheiß. Sie läuft mit weit aufgerissenen Augen hinter Alpha-Boss in den Alpha-Tower und versucht, sich irgendeine plausible Erklärung zusammenzuzimmern, warum das alles absoluter Zufall war und wirklich einmalig und … und … und … in ihrem Kopf ist einfach nur noch Scheiße.

Spätestens jetzt müssen auch alle ihre Kollegen Bescheid wissen, die durch die gläsernen Wände des Alpha-Towers gaffen, ja, sie starren sie an, jeder kann ihr ansehen, dass sie nicht ganz dicht ist, sogar total dicht ist, Alki und Drogenproblem, sie weiß, dass die das denken. Sie setzt sich gegenüber von Alpha-Boss auf den Stuhl unter dem riesigen Bild einer sehr attraktiven Frau mit prallen Brüsten, die sich aus Versehen an einem großen Schluck Milch verschluckt haben muss. (Es ist Kunst, ein berühmter Berliner Szenefotograf hat es ihm zum Einzug geschenkt.)

Er dreht sich eine Zigarette und sitzt angestrengt lässig vor ihr, Tabakkrümel hängen in seinen Mundwinkeln, er schweigt.

Sie ist ein Wrack. Sie kann nicht mehr. Und jetzt ist es endlich vorbei.

Eine Woge der Erleichterung überkommt sie.

Alpha-Boss: »Juju, ach Juju. Sieh dich nur an. Das ganze Office inklusive mir ist nach dem gestrigen Abend ein abgefuckter Haufen. Nur du stehst wie ein Fels in der Brandung. Juju, du bist ’ne echte Powerfrau. Herzlichen Glückwunsch. Du bist next Level, oder wie der Otto Normalverbraucher sagen würde: Du bist befördert!«

Katharina

Sie stellt sich Menschen vor, die gern in Nudisten-Camps fahren. »Nudisten« – wie das schon klingt. Als würden die jedem ihre Genitalien ins Gesicht halten oder irgendwas damit anschrubbeln wollen. Leute, die in ihren Wohnzimmern umsonst Tantrakurse anbieten, Gipsabdrücke von Pimmeln bemalen und sich gegenseitig kleine Perlen in die Schamhaare flechten – wenn sie die schon nicht aus sicherer Entfernung im RTL-II- Nachtprogramm sehen will, dann erst recht nicht in ihren Sommerferien.

Andere Teenager dürfen auf coolen Jugendreisen abhängen, sie macht Urlaub mit den nackten, faltigen Geschlechtsteilen ihrer Eltern.

Sie würde sich ganz bestimmt nicht ausziehen, allein schon wegen ihrer Brüste nicht. Die sind so schrecklich groß, dass sie in der Schule jeden Tag drei BHs übereinander anzieht, um sie so platt wie möglich zu quetschen. Und hängen tun sie wie bei einer Kuh, alle sagen das.

Seitdem klar ist, dass sie ins Nudisten-Camp fahren, betet sie jeden Abend vor dem Schlafengehen, es würde bis auf die Grundmauern niederbrennen. Egal wie, egal warum. Ihretwegen könnte sich auch jemand in die Luft sprengen, natürlich auch nackt, Hauptsache, sie müsste da nicht hin.

Zwei Wochen später fährt sie trotzdem, eingepfercht zwischen ihren Geschwistern auf der Rückbank, über zwölf Stunden von Stuttgart nach Südfrankreich. Im Gegensatz zu ihr freuen sich ihre Geschwister richtig über die Reise, aber die sind noch im Kindergartenalter, denen sind fremde entblößte Pimmel und Scheiden noch egal.

Die Glücklichen.

Im Camp angekommen wird direkt sichtbar, vor was sie sich besonders gefürchtet hat:

Deutsche. Viele Deutsche. Schon vor ihnen in der Schlange am Auto-Check-in ein großes Wohnmobil, aus dem lautstark Popschlager, irgendwas Mark-Forster-Mäßiges, dudeln. Auf der Heckscheibe klebt ein großer Sticker: »Nacktschnecken an Bord«, die will man doch direkt kennenlernen.

Immerhin, die freundliche Dame am Check-in hat ein T-Shirt an und sieht auch sonst nicht aus wie eine Perverse, das macht ihr ein bisschen Hoffnung. Sie drückt ihnen einen Flyer in die Hand und weist ihnen einen Bungalow in »Südamerika« zu.