Weiblich, jung, flexibel - Felicitas Pommerening - E-Book

Weiblich, jung, flexibel E-Book

Felicitas Pommerening

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Beschreibung

Felicitas Pommerening erzählt, was junge Frauen heute bewegt: Wie viel beruflichen Ehrgeiz haben wir? Wollen wir Kinder? Funktioniert die Liebe im Alltag? Und wie sind wir eigentlich in das Leben geraten, das wir gerade führen? Sie schreibt darüber nicht abstrakt und trocken, sondern erzählt die Geschichte zweier Freundinnnen, typische Vertreterinnen dieser Generation junger Frauen, auf der Suche nach sich selbst und den wichtigen Momenten im Leben.

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Felicitas Pommerening

Weiblich, jung, flexibel

Von den wichtigen Momenten im Leben und wie man sie am besten verpasst

Impressum

© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2012Alle Rechte vorbehaltenwww.herder.deUmschlaggestaltung: P.S.Petry & Schwamb, FreiburgUmschlagmotiv: ©Saul Herrera/istockphoto.comISBN (E-Book): 978-3-451-33920-2ISBN (Buch): 978-3-451-30532-0

Inhaltsübersicht

Vorbemerkung

Der ungeschliffene Stein und die gerade gewachsene Pflanze

Die Sache mit dem Geld

Initiation

Gleichgesinnte, Depressive und die Anderen

Die erste Schwelle, der Schwellenhüter und der Bauch des Walfischs

Theorie und Realität

Weg der Prüfungen

Addieren und Subtrahieren

Der Mentor bleibt aus

Das Abstellgleis

Auf Abwegen

Die Alternative

Am Untergehen

Kopf oder Zahl

Gewohnte Welt

Auf dem Weg zum Sinn

Der Kreis schließt sich

Nachwort

Danksagung

Vorbemerkung

Die Personen in diesem Buch sind frei erfunden, zusammengesetzt aus vielen einzelnen Berichten, Eindrücken, Lektüren und Erfahrungen. Das bedeutet nicht, dass es diese Personen nicht irgendwo genauso geben könnte.

CARLYNN

Der ungeschliffene Stein und die gerade gewachsene Pflanze

Ich sitze in einem riesigen, luxuriösen Büro in einem der etabliertesten Fernsehsender des Landes. Ich trage meinen schwarzen, figurbetonten Hosenanzug und eine hellblaue Bluse. Meine Haare habe ich offen, weil ich zu brav aussehe, wenn ich sie mir hochstecke. Wie sich im Laufe des Gesprächs herausstellen wird, war diese Überlegung die Mühe leider nicht wert.

Mein Gegenüber ist einer der einflussreichsten Männer des Senders. Er ist betont locker und blättert immer wieder durch meine Unterlagen, scannt meinen Lebenslauf, meine Zeugnisse und natürlich mein Bewerbungsfoto – auf dem ich, wie mir später meine Freundin Bianca erzählen wird, zu streng aussehe. („Wegen des V-Ausschnitts von dem schwarzen T-Shirt. V-Ausschnitt heißt: Ich möchte sexy sein, bin es aber nicht.“ Zum Glück erfahre ich das erst nach dem Gespräch.)

Einflussreiche Männer schüchtern mich nicht ein. Wahrscheinlich, weil ich mit einem aufgewachsen bin. Ich bin also ebenso locker wie er. Nur nicht so absichtlich.

Er ist dabei, mir zu erzählen, wie er als junger Mann nach dem Studium erst einmal ein Jahr lang mit dem Motorrad durch Amerika getingelt ist.

Mich wundert erst, dass er mir das erzählt, aber ganz merkwürdig ist es auch wieder nicht, weil dies ja auch kein echtes Bewerbungsgespräch ist. Echte Bewerbungsgespräche bekommt man hier nämlich nicht. Nur Ich-kenn-den-der-kennt-den-der-kennt-den-mit-dem-kannst-du-doch-mal-reden- Gespräche. Und so eins habe ich gerade.

Also erzählt er mir eben ein wenig von sich, das ist doch eigentlich ganz nett. Denke ich mir. Ich höre ihm zu, bin aber relativ unbeeindruckt, um ehrlich zu sein.

Wo ich denn meinen letzten Urlaub gemacht hätte, fragt er lächelnd. Ich muss kurz nachdenken: Letzten Sommer war ich mit meiner Familie auf Mallorca. Das ist ein Minuspunkt, wie ich später wissen werde.

Und was ich denn so lesen würde?

Jane Austen finde ich toll. Minus.

Und Charles Dickens. Minus.

Im Urlaub auch gerne mal Ken Follett oder Steven King. Plus.

Nick Hornby fällt mir partout nicht ein, obwohl ich fast jedes Buch von ihm gelesen habe. Aber zu diesem Zeitpunkt weiß ich sowieso noch nicht, dass ich damit punkten könnte.

Ob ich Dan Brown lese?

Bisher noch nicht, aber ich habe schon viel von ihm gehört. Minus.

Wieder blättert er durch meine Unterlagen, guckt sich mein Abiturzeugnis an. Ob ich denn viel gelernt hätte in der Schule?

Ich will nicht, dass er weiß, wie leicht mir die Schule gefallen ist. Dass mir einfach alles zugeflogen ist. Das würde die guten Noten nur entwerten, denke ich.

Also sage ich vage: Ja, schon.

Minus, minus, minus.

Er hat schon zweimal gesagt, ich sei ein ungeschliffener Stein, und ich bin mir nicht sicher, ob das etwas Gutes sein soll. Jetzt sagt er auch noch, ich sei eine gerade gewachsene Pflanze. Ich sei in einem Glaskasten schön gerade gewachsen, aber jetzt müsste ich mal raus in den Sturm. Langsam verstehe ich.

Er fragt noch dies und jenes, aber nichts scheint ihn umzustimmen, denn am Ende sagt er noch einmal, dass ich ein ungeschliffener Stein sei. Diese Metapher scheint ihm mächtig zu gefallen. Mir geht sie langsam auf die Nerven.

Aber zum Glück sei ich ja noch so jung. Er ermutigt mich dazu, noch einmal etwas ganz anderes zu machen. Wenn ich dann 27 sei, solle ich mich noch einmal bei ihm melden. Dass ich dann hoffentlich geschliffen sein werde, kann er sich wohl gerade noch verkneifen.

Fünf Minuten später sitze ich auf dem Parkplatz in meinem Auto, wo ich das Gespräch Revue passieren lasse und alles sehr viel mehr Sinn ergibt.

In den Augen dieses Mannes habe ich ein Jahr rumhängen in Amerika nötig. Oder noch besser: Krach mit meinen Eltern. Gut wären auch einfach zwei sinnlose Ehrenjahre an der Uni gewesen. Eine komplette Note schlechter im Abschluss hätte ihm wahrscheinlich auch gefallen. Abrasierte Haare vielleicht und Gras in der Tasche. Oder ein T-Shirt, auf dem ‚Fuck You‘ steht.

Ich bin 24, auf der Suche nach einem Job.

Zu Hause ändere ich sofort meinen Lebenslauf um. Ich füge ‚Hobbys‘ als zusätzliche Sparte hinzu und liste meine Freizeitbeschäftigungen auf. Ich schreibe zu den Praktika und Nebenjobs, dass ich neben dem Studium in einer Kneipe gekellnert habe. Aber mehr fällt mir dann auch nicht ein. Meine Oma empfiehlt ernsthaft, ich solle irgendwo unterbringen, ich hätte ein Jahr lang sehr harte Drogen genommen. Aber das stimmt nicht.

ELLEN

Die Sache mit dem Geld

Mein Daumengelenk tut weh. Selbst schuld: Ich bin wahrscheinlich die Einzige, die den Satz „Ich drück’ dir die Daumen“ ernst nimmt und wie bescheuert mit dem Daumen in der Faust dasitzt,während die beste Freundin ein Vorstellungsgespräch hat. Anscheinend hat die Drückerei aber nicht viel geholfen: Carlynn ruft sofort nach dem Gespräch an und ist am Boden zerstört.

„Ich werde nie einen Job finden!“

Sie erzählt mir die Details und ärgert sich über alles, was sie gesagt hat. Dabei hört es sich für mich so an, als sei sie da einfach an einen Deppen geraten.

„Er fand mich langweilig“, sagt sie schmollend.

„Du bist doch nicht langweilig! Du bist eine Guerillera!“ Carlynn ist Guerilla-Gärtnerin. Sie bepflanzt heimlich alle Ecken und Winkel in ihrer Umgebung. Zum Beispiel verwandelt sie diese kargen Betonvierecke, in denen die Bäume auf dem Bordstein stehen, in bunte Beete. Besonders cool finde ich den Blumentopf, den sie in der Innenstadt auf eine Ampel gestellt hat. Alles in allem ist das wirklich ein aufwändiges Hobby und ich bewundere sie sehr dafür. Leider geht mein Versuch, sie damit aufzumuntern, nach hinten los:

„Oh Gott! Das hat gerade noch gefehlt, dass er mich mit so einer Rosenschere und mit einer Schürze vor sich sieht – wie die frustrierte Ehefrau in American Beauty!“

„Aber so ist es ja nicht. Du bist Künstlerin! Du machst Street Art!“

Carlynn seufzt. „Ich werde nie einen Job finden“, klagt sie.

Ich schimpfe auf den Senderfuzzi, sage ihr, dass sie toll ist und erkläre zum hundertsten Mal, dass sie nur so viele Absagen bekommt, weil die Arbeitgeber spinnen. Das sieht man doch schon, wenn man sich die Stellenausschreibungen anguckt. Was man alles mitbringen soll, ist doch absurd. Schon die Standardforderung nach Berufserfahrung – ohne Berufserfahrung geht anscheinend gar nichts. In der Regel wird sogar spezifiziert, in welchem Bereich man diese Erfahrung gesammelt haben soll und dass man jetzt natürlich über die entsprechenden Kenntnisse verfügt... Mit anderen Worten ist man eben der absolute Experte auf dem Gebiet. Das Motto ‚learning-on-the-job‘ scheint in Deutschland keiner zu kennen. Wie sollen wir solche Erwartungen erfüllen, frisch von der Uni? So oder so ähnlich habe ich die letzten Wochen schon sehr häufig mit ihr geredet, meistens bei einer Flasche Rotwein auf meinem Balkon.

Dabei hat Carlynn eine perfekte Bewerbungsmappe: Super Noten, Praktika ohne Ende, zwei Auslandssemester – alles, was man eben haben soll. Und trotzdem funktioniert es nicht. Absurde Stellenausschreibungen hin oder her, ich hätte nicht gedacht, dass sie solche Schwierigkeiten haben würde. Vor allem fällt mir nicht ein, was sie hätte anders machen können. Im Gegensatz zu mir ist Carlynn im Studium förmlich aufgegangen. Sie hat ständig irgendwelche zusätzlichen Seminare belegt – nur aus Interesse. Und trotzdem entsprach sie keinem Klischee, sie war keine Erste-Reihe-Sitzerin, die sich ständig zu Wort meldet und irgendwie immer unterbringen muss, dass sie sich ja mit dem Professor duzt. Sie war auch nicht mit Füller, Killer, Lineal und drei verschiedenen Stabilos zugange. Sie war einfach normal, aber interessiert und engagiert. Ist das nicht perfekt für ein Unternehmen? Während ich jetzt noch an meiner Magisterarbeit rumbastele, hat Carlynn sogar innerhalb der Regelstudienzeit fertig studiert, trotz ihrer Auslandssemester. Was soll man denn noch machen, um gut anzukommen?

Sie meint, dass sie auch falsch angezogen gewesen sei. Das kann ich mir einfach nicht vorstellen. Wie wichtig kann so etwas schon sein? Gut, ich muss zugeben: Wir gehören zwar beide nicht zu den Erste-Reihe-Sitzern, aber ebenso wenig gehören wir zu den „Coolen“ oder „Hippen“ oder wie man sie auch nennen mag. Ich denke, dazu sind wir beide einfach zu bequem. Immer die aktuellste Mode tragen, Nagellack und Make-up farblich perfekt dazu koordinieren und am besten noch täglich neue, ausgefallen Accessoires tragen: Das ist uns beiden viel zu anstrengend. Aber wir sehen ja deswegen nicht schlecht aus – normal eben. Und sie hat sich ja nun mal auch nicht bei einer Modezeitschrift beworben, wieso sollte das also wichtig sein?

Ich habe keine Ahnung, wie Carlynn auf jemanden wirkt, der sie neu kennenlernt. Als ich bei einer Ersti-Veranstaltung ganz am Anfang des Studiums zufällig neben ihr saß, war sie mir sofort sympathisch, weil sie so gut gelaunt war und viel gelacht hat. Das hat sich auch nie verändert. Bis jetzt.

Dass Carlynn solche Schwierigkeiten hat, einen Job zu finden, gibt mir natürlich zu denken. Ich werde ja hoffentlich auch bald meinen Abschluss haben und dann stehe ich genauso da wie sie. Zum Glück bin ich nicht so sehr auf der Suche nach einem Job, der mich erfüllt. Ich finde Arbeit ehrlich gesagt nicht so wichtig. Ich möchte auch gar nicht viel Geld verdienen. Wahrscheinlich werde ich mich also allein deswegen auf ganz andere Stellen bewerben als Carlynn, auch wenn wir grundsätzlich ähnliche Interessen haben.

Allerdings bin ich mir mit meinen Plänen auch noch nicht ganz sicher. Die Sache mit dem Geld ist schon schwierig. Man braucht ja nun mal Geld zum Leben. Ich frage mich im Moment: Wie viel Geld braucht man wirklich? Wie viel brauche ich, um glücklich zu sein?

Jetzt habe ich natürlich nicht allzu viel, aber im Studium ist das ja auch normal. Später soll man natürlich mehr haben. Keiner sagt das jemals so genau, aber darum dreht sich im Grunde alles. Von wegen „Wir lernen fürs Leben“, das hört sich zwar schön an, aber ich glaube mittlerweile nicht mehr daran. Wenn das alles wäre, worum es geht, könnte ich auch einfach zu Hause sitzen und Bücher lesen.

Wir lernen für den Abschluss. Denn den brauchen wir, um einen richtig guten Job zu bekommen, und den brauchen wir, um richtig gut zu verdienen. Wir studieren also, um später viel Geld zu haben. Mehr Geld, als man zum Leben braucht. Mehr Geld, als wir bekommen würden, wenn wir nicht studiert hätten. Manchmal hört man das zwischen den Zeilen raus, jetzt, wo so viel über Studiengebühren diskutiert wurde. Die Befürworter sagen dann so etwas wie: „Das Studium ist eine Investition. Studierte verdienen später so viel mehr als Nicht-Studierte, warum soll also ausgerechnet ihre Ausbildung umsonst sein?“

Tja. Und ich denke mir mittlerweile: Was, wenn man nicht viel Geld verdienen will? Was ist die logische Schlussfolgerung daraus? Muss ich mich wegen dieser Einstellung automatisch aus der Welt der Denker verabschieden und Kellnerin werden? Nichts gegen Kellnerinnen – ich finde, Kellnern macht superviel Spaß–, aber wenn ich nach meinem Studium Kellnerin werde, stehe ich da wie ein Loser, so ist das nun mal. Und ich würde grad nur so viel verdienen, wie ich zum Leben brauche. Keinen Cent mehr. Hm.

Seit ich mich erinnern kann, war Geld ein leidiges Thema in unserer Familie. Meine Mutter wollte es haben, mein Vater sollte es beschaffen, mein Vater wollte es ausgeben, meine Mutter wollte nicht, dass mein Vater es ausgibt... Die genaue Geschichte ist kompliziert, lang und endet mit einer Scheidung. Niemand musste sich die Details so häufig anhören wie ich, in einem Alter, in dem man sich solche Details nicht anhören müssen sollte. Wenn man als Tochter überhaupt jemals Details über die Eheprobleme der Eltern anhören müssen sollte.

Das Groteske an der Geschichte meiner Eltern ist, dass es ihnen beiden darum ging, frei zu sein. Bloß haben sie verschiedene Dinge darunter verstanden. Beiden ging es darum, sich vom Durchschnitt abzuheben. Mehr zu werden als die eigenen Eltern. Den eigenen Kindern mehr bieten zu können. Da waren sie sich einig, als sie jung waren. Aber wann ist es genug? Zu welchem Preis muss man es bekommen? Da gingen ihre Meinungen auseinander.

Ich kenne Geld also in erster Linie als Streitpunkt und als zerstörendes Element. Und das, obwohl wir mehr hatten als die meisten. Man muss also kein Therapeut sein, um zu verstehen, warum ich mir vorgenommen habe, Geld in meinem Leben nicht wichtig werden zu lassen.

Ich bin sowieso überzeugt davon, dass ich nicht viel Geld brauche. Wenn man aber nicht viel Geld verdienen will, macht das System, wie es ist, in vielerlei Hinsicht einfach keinen Sinn mehr. Warum soll ich zum Beispiel überhaupt den Abschluss machen? Gut, ich mache ihn einfach, weil’s mir Spaß macht und weil ich natürlich auch nicht will, dass ich all die Jahre umsonst studiert habe. Aber jetzt wird’s schwieriger: Was mache ich danach? Der logische nächste Schritt wäre ein Job, bei dem ich viel Geld verdiene. Was, wenn ich den nicht will?

Um es noch komplizierter zu machen: Ich will ja sogar einen guten Job. Ja, ich weiß, ich habe gesagt, ich würde auch kellnern, aber noch besser finde ich dieses Szenario: Ich habe einen Job, der gut bezahlt wird und mir Spaß macht. Aber weil ich nicht so viel Geld brauche, arbeite ich nur in Teilzeit – kriege also nur die Hälfte des Gehalts. Dafür habe ich schön viel Zeit, um das Leben zu genießen. Ein Leben, in dem Geld keine große Rolle spielt.

Gleichzeitig will ich aber natürlich im Job ernst genommen werden und vorankommen. Aber eben als Teilzeitkraft. Das ist der Plan.

Ich habe schon vorsichtig mit ein paar Leuten über diese Gedanken, die ich mir mache, gesprochen. Vorsichtig deswegen, weil es ziemlich schwierig ist, mit anderen Leuten über Geld zu sprechen. Die meisten sagen einfach, dass sie nicht genug haben. Aber genug wofür? Bin ich wirklich zu naiv, zu denken, dass ich nicht so viel Geld brauche?

Als ich mit Carlynn darüber gesprochen habe, hat sie tatsächlich gesagt, ich habe da vielleicht eine etwas falsche Sichtweise. Denn meine Eltern sprechen sich nicht ab, was meine Unterstützung betrifft: Beide machen, was sie wollen. Und das läuft darauf hinaus, dass ich sozusagen doppelt versorgt werde. Und ich weiß, dass ich auf diese Unterstützung immer zählen kann. Also ja, Existenzängste kenne ich nicht, das gebe ich zu. Aber ich habe mir diese Situation nicht ausgesucht. Sie ist so, wie sie ist, und so wie sie ist, kann ich es mir leisten, zu fragen: Wie viel Geld brauche ich zum Leben? Und möchte ich wirklich mein Leben damit verbringen, arbeiten zu gehen, um Geld zu bekommen, das ich nicht brauche?

Aber auch Carlynn konnte mir nicht sagen, was genug Geld wäre. Sie ist sowieso gerade so sehr damit beschäftigt, überhaupt einen Job zu finden, dass ihr mittlerweile egal geworden ist, wie gut oder schlecht sie letztendlich bezahlt wird, solange sie nur endlich jemand nimmt.

CARLYNN

Initiation

In einer schicken Wohnung in Stuttgart steht die hässlichste Couch der Welt. Sie gehört der Freundin meines Bruders und ziert deswegen das gemeinsame Wohnzimmer der beiden.

Mein Bruder kann sich über mein Gespräch im Sender nur amüsieren. Das wundert mich nicht im Geringsten, weil mein Bruder sich über alles amüsiert, auch über Dinge, die andere Menschen gar nicht komisch finden.

Mein Bruder studiert BWL.Sein Leben wird erst dann anfangen, wenn er seinen Abschluss gemacht hat. Das ist zumindest der Plan.

Er hat kein Hobby, macht keinen Urlaub und kriegt allgemein einfach nicht viel mit. Die Bibliothek ist sein zweites Zuhause und sein soziales Leben beschränkt sich in der Regel auf eine Stunde Pause in der Mensa.

Trotzdem ist er nicht unglücklich. Ihm gefällt sein Studium und es ist ihm wichtig, einen guten Abschluss zu machen. Außerdem hat er sich in ein Mädchen verliebt, deren Leben auch erst in zwei Jahren anfängt.

Dann wird auch eine schöne Couch gekauft, sagt er und schaut dabei verächtlich auf das grelle Muster unter sich, dann wird er Zeit für so etwas haben.

„Wart erst mal ab! Wenn es dir genauso ergeht wie mir, sagen sie dir in zwei Jahren, du sollst erst mal ein bisschen um die Häuser ziehen! Und dann kannst du dir keine neue Couch leisten, ganz egal, ob du endlich die Zeit hast, dir eine auszusuchen.“

Mein Bruder guckt kurz verunsichert, macht dann aber eine wegwischende Handbewegung und schüttelt den Kopf:

„Bei mir kommt’s auf die Noten an. Und auf die Praktika. Klar – in einem kreativen Umfeld ist es sicher wichtig, dass man irgendwie durch seine Persönlichkeit beeindruckt. Werbefuzzis sehen ja nicht umsonst schon ganz anders aus als... sagen wir Steuerberater. Und die labern doch immer sinnentleertes Zeug. Auf so etwas kommt es in meinem Berufsfeld aber nicht an. Da gucken die Leute darauf, was man wirklich kann. Das ist, was zählt.“

Zum ersten Mal kommt mir der Gedanke, ich hätte vielleicht lieber etwas anderes studieren sollen. Zu spät.

„Mir ist schlecht von deinem komischen mexikanischen Essen“, lenke ich ab.

„Dir ist doch immer schlecht“, gibt mein Bruder zurück.

„Ich kotz gleich!“

„Dann bitte auf die Couch, da würde so ein bisschen Kotze gar nicht auffallen.“

Ich schaue mir die senfgelben Kreise und blassgrünen Vierecke an, die das Muster der ansonsten blaugrauen Couch ausmachen. „Stimmt.“

Mein Bruder greift nach seinem Glas anti-amerikanischer Aldi-Cola.

„Letztens hat mir einer erzählt, die Abschlussnote in BWL ist gar nicht so wichtig“, sage ich beiläufig, „du brauchst nur die richtigen Kontakte.“

„Ich sage dir: Ich habe keine Chance auf dem Arbeitsmarkt, wenn ich eine schlechte Note bekomme!“ Mein Bauch grummelt und ich hoffe, dass mein Bruder nicht allzu lange von seinen trüben Aussichten erzählen wird, bevor ich auf Toilette gehen kann.

Das Komische ist, dass mein Bruder mit seiner chronischen Angst vor Arbeitslosigkeit als ganz normaler Typ dasteht. Weil einfach alle davon sprechen. Niemandem würde einfallen, meinem Bruder zu sagen, er würde sich von irrationalen Zukunftsängsten leiten lassen oder sich unnötigerweise übertriebene Sorgen machen.

Im Gegenteil: In jeder Stunde Mensa wird er höchstwahrscheinlich nicht nur mit schlechtem Essen, sondern außerdem mit stets neuen Anekdötchen gespeist, die ihm erneut schlaflose Nächte bereiten. Und die Geschichten kommen aus immer näheren Bezugsquellen. Sie beginnen nicht mehr mit „Ich habe letztens gelesen...“ oder „Ich habe letztens gehört...“ sondern mit „Die Freundin von meinem Mitbewohner...“ oder „Der Cousin von meinem Fußballkollegen...“. Seit kurzem kommt sogar mal der Mitbewohner selbst oder der Fußballkollege höchstpersönlich als Held der Geschichte vor. Und so scheint sich der Kreis um meinen Bruder zu schließen und seine Angst kann plötzlich gerechtfertigt werden.

Und in dieser Rechtfertigung schwelgt er gerne. Es weiß ja keiner, dass er schon vor zehn Jahren Angst hatte, später arbeitslos zu sein.

Nach meiner heutigen Erfahrung habe ich gerade wirklich keine Lust, mir die Aussichten auf dem Arbeitsmarkt anzuhören. Wenn das meine Freundin Ellen alles mal hören würde – die überlegt sich im Moment, nach dem Studium nur in Teilzeit arbeiten zu gehen, um mehr vom Leben zu haben. Als ob man sich sowas heutzutage aussuchen könnte! Ich bin froh, wenn ich überhaupt endlich mal eine Stelle finde! Dann noch besondere Ansprüche an den Job zu stellen, an diesen Luxus denke ich gar nicht.

Ich gucke mich verstohlen um. In der Wohnung meines Bruders ist noch nichts so ganz fertig. In der Ecke steht eine tolle Standuhr, aber Pendel und Gewichte sind noch nicht eingehakt worden. An dem großen Esstisch stehen nur zwei Stühle. Wenn ein Dritter am Tisch sitzen soll, wird kurzerhand ein Gymnastikball herangerollt. Bei einem vierten Gast wird es schwierig. Bilder und Lampenschirme gibt es noch nicht.

Ich denke zehn Jahre zurück, als mein Bruder sechzehn war. Da, zwei Jahre vor dem Abi, wollte er die Schule komplett schmeißen. Wer hätte gedacht, dass er sich als ehrgeizigster Sprössling der Familie entpuppen würde? Da fällt mir plötzlich eine merkwürdige Parallele zu meinem Gespräch im Sender auf.

Weil mein Bruder die Schule schmeißen wollte, gingen meine Eltern damals mit ihm zum Direktor, um die Situation zu besprechen. Der Direktor hörte sich eine Weile meine Eltern an und schickte sie dann aus seinem Zimmer.

Kumpelhaft beugte er sich dann zu meinem Bruder und fragte: „Vielleicht ist dein Problem gar nicht die Schule. Vielleicht sind es deine Eltern?“

Mein Bruder war perplex. Er schüttelte den Kopf und meinte: „Nein, wieso denn? Meine Eltern wollen nur das Beste für mich, das weiß ich.“ In diesem Moment muss dem Endfünfziger Ähnliches durch den Kopf gegangen sein wie meinem heutigen Gesprächspartner. Sicherlich hat er meinen Bruder kurz entsetzt angestarrt und sich dann entfremdet in seinem Stuhl zurückgelehnt, als wäre alle Hoffnung verloren.

Der Gedanke an diese Geschichte lässt mich selbst auf dem Heimweg nicht los. Mich beschleicht ein ungutes Gefühl – vielleicht sind wir falsch aufgewachsen! Sicherlich ist es nicht normal, sich während der kompletten Kindheit bis ins Erwachsenenalter mit seinen Eltern zu verstehen! Klar: Bei uns in der Familie gab es schon mal Streit, ich finde meine Eltern nicht perfekt und ich könnte ohne groß nachzudenken Dinge aufzählen, die mich an ihrem Verhalten nerven. Aber das sind im Endeffekt nur kleine Dinge. Vor allem ist es nichts, was mir in meinem Leben wirklich im Weg gestanden hätte. Es gab nie einen Grund, sich mit ihnen zu überwerfen, keinen Grund, mich gegen sie zu stellen. Die Essenz ihrer Erziehung war: ‚Wir sind immer für euch da‘. Meine Mutter ist sogar – ganz klassisch – zu Hause geblieben und war tatsächlich auch physisch immer für uns da. Sie hat unheimlich viel für uns gemacht, über alles mit uns geredet. Mein Vater war vergleichsweise wenig greifbar – er arbeitete rund um die Uhr und war auch viel beruflich unterwegs. Aber irgendwie wussten wir, dass wir uns auch auf ihn verlassen konnten. Deswegen hatte der Direktor keine Chance, meinen Bruder gegen unsere Eltern auszuspielen.

So schön es ist, sich mit den Eltern zu verstehen, so sehr frage ich mich jetzt, ob wir vielleicht dadurch eine grundlegende Erfahrung verpasst haben? Am Ende fehlt uns etwas. Und ich weiß sogar, was es ist: die Initiation!

Zu Hause wühle ich meine Bücher durch und finde, ein wenig zerkrumpelt in zweiter Reihe, das Buch von Joseph Campbell, dem Mythenforscher. Campbell sagt, alle Geschichten sind gleich aufgebaut, egal aus welcher Kultur und aus welcher Zeit sie kommen. Alle folgen dem Muster der Heldenreise, einem Kreislauf, in dem der Held seine gewohnte Welt verlassen muss, in die Unterwelt eintaucht und mehrere Prüfungen besteht, bevor er initiiert in seine gewohnte Welt zurückkehrt.

Das muss ich machen.

Und wenn ich damit fertig bin, gehe ich zum Sender zurück!

Meine erste Schwierigkeit ist folgende: die Reise in die Unterwelt, wo die Initiation stattfindet, beginnt mit dem Auszug des Helden. Ich bin aber schon vor fünf Jahren von zu Hause ausgezogen.

Das war direkt nach dem Abitur. Ich hatte keine Ahnung, wie man als Studentin am besten wohnt und riss mir einfach alle Zettel ab, die ich am schwarzen Brett finden konnte. Egal, ob es sich um ein Ein-Zimmer-Apartment in der Innenstadt oder um ein ehemaliges Kinderzimmer bei einer älteren Dame im letzten Vorort handelte.

So kam ich schließlich zu immerhin 20Quadratmetern in einer 4ZKB-Wohngemeinschaft, die ich ab sofort mein neues Zuhause nennen durfte. Bei dieser ersten WG meines Lebens, als ich in die große weite Welt hinausgezogen war, hatte ich es direkt richtig getroffen: Es handelte sich um allerfeinsten Nährboden für eine erstklassige Initiation, wie ich jetzt weiß. Ich war direkt in die Unterwelt geplumpst.

Das Doofe an der Unterwelt ist, dass man sich nicht über sie freut. Man denkt nicht: „Hey, wie cool, jetzt bin ich aber echt auf Abwegen, das ist prima, hier kann ich mal richtig schön leiden.“ Stattdessen denkt man: „Scheiße, wo bin ich denn gelandet? Hier kann sicherlich nichts Gutes passieren, hier muss ich schnell wieder weg.“ Zumindest ging es mir damals so. Nie hätte ich mir träumen lassen, dass dieser Gedanke irgendwann zu einer schwerwiegenden Charakterschwäche und einer daraus resultierenden Arbeitslosigkeit führen würde.

In meiner WG wohnten außer mir noch fünf Jungs: Drei von ihnen waren Ausbilder bei der Bundeswehr, zwei waren Studenten aus Marokko. Die Bundeswehr-Jungs hatten in ihren Zimmern außerdem zwei Dauergäste untergebracht, die, soweit ich das überblicken konnte, arbeitslos waren. Die sieben Männer und ich teilten uns ein einziges Bad, das entsprechend aussah. Toilettenpapier gab es nicht, ich hielt mir also einen Vorrat im eigenen Zimmer und musste immer daran denken, eine Rolle mitzunehmen, wenn ich mal auf Toilette ging. Aber das Bad ging eigentlich noch – schlimmer war die Küche. Im Kühlschrank wuchs etwas Grünes und einmal entdeckte ich an der Decke, direkt über meinem Kochtopf, eine Made, die langsam vor sich hin robbte.