Weiblichkeit im Aufbruch - Nora Amin - E-Book

Weiblichkeit im Aufbruch E-Book

Nora Amin

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Beschreibung

Bei einem ihrer Spaziergänge durch Kairo wird sich Nora Amin unvermittelt bewusst, was es bedeutet, sich als Frau im öffentlichen Raum zu bewegen. Sie versteht plötzlich, was sie mit ihrem Körper repräsentiert, sie begreift die ewige Faszination durch den weiblichen Körper, und wie er von je durch Gewalt und Dominanz sozial zugerichtet wird, wie er mit Vorurteilen, Verachtung und Angst belegt ist. Ihre Gedanken bündelt sie in diesem leidenschaftlichen politischen Essay, in dem sie über die Rolle der Frau in arabischen Gesellschaften hinaus über Privatheit, Intimität und Körperlichkeit reflektiert. Überraschende, teilweise erschreckende Erinnerungen an traumatische Ereignisse auf dem Tahrir-Platz durchziehen diesen originellen und intensiven Text ebenso wie Erinnerungen an die Kindheit bis hin zu ihren Erfahrungen als Frau in westlichen Gesellschaften.

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punctum 006

Nora AminWeiblichkeit imAufbruch

Aus dem Englischen vonMax Henninger

Inhalt

1. Öffentlich sein

2. Anpassung

3. Geschlecht / Raum / Bilder

4. Politik und Dynamik von Bewegung

5. Der Frauenkörper als Raum

1. Öffentlich sein

»Es gibt keine Regeln.« Diese Worte hallen wie ein Echo in mir wider, während ich durch die überfüllten Straßen meiner Heimatstadt Kairo gehe. Doch es gibt einen entscheidenden Unterschied: das Geschlecht. Ich begleite mein Geschlecht, und mein Geschlecht begleitet mich. Die Straße nimmt meine Weiblichkeit wahr und behandelt mich ihr entsprechend. Und während ich beständig herauszufinden versuche, wie ich mich gefahrlos bewegen kann, mache ich Fehler. Ich entdecke den öffentlichen Raum, und ich entdecke, zu wem ich darin werde, was mein Körper darstellt und worin diese ewige Faszination des Frauenkörpers besteht, dass er geschändet und über ihn geherrscht wird. Es ist Sommer 2015.

Es macht einen deutlichen Unterschied, ob ich im Haus oder außer Haus, drinnen oder draußen, allein oder mit anderen bin, ob ich mich in einem privaten Raum aufhalte oder einem öffentlichen (sei er drinnen oder draußen). Und es besteht ein deutlicher Unterschied zwischen öffentlichen Innen- und öffentlichen Außenräumen.

Der Körper passt sich an – seiner Umgebung und auch menschlichen Faktoren. Es liegt auf der Hand, dass unsere Körper von unserer Umgebung beeinflusst werden, davon, ob wir uns in einem kleinen oder großen Raum aufhalten, einem Raum mit niedriger oder hoher Decke, mit oder ohne Fenster, mit Holzoder Fliesenboden, einem leeren Raum oder einem voller Möbel. Die Größe des Raumes, seine Höhe, die Beschaffenheit der Wände, ob es einen Ausblick gibt – das alles beeinflusst unsere Anwesenheit im Raum. Wir können die von uns erlebte Wirkung allerdings kaum bewusst erkennen.

Die Wirkung dieser Faktoren kann von Gefühlen des Behagens, des Wohlbefindens und reiner Funktionalität bis hin zu solchen der Gereiztheit, Unruhe und Krankheit reichen. Dazu tragen außerdem die Temperatur der Umgebung bei, die Luftfeuchtigkeit, Geräusche und Lärm sowie Bildkompositionen, seien sie natürlichen oder menschlichen Ursprungs. Diese Elemente und Faktoren prägen zusammen unsere Seinserfahrung. So wie das Sein von Kommunikation, der Beziehung zur Welt und der Stellung in ihr beeinflusst ist, ist auch die Existenz in absoluter Einsamkeit davon geprägt. Doch wie kann man in Kairo allein sein, ist man dort doch umgeben von Geräuschen und Energien, die die dünnen Wände des eigenen Schlafzimmers durchdringen? Und wo verlaufen die Grenzen?

Keine menschliche Existenz ohne Umwelt. Das Selbst existiert in der Welt. Absolute Abgeschiedenheit gibt es nicht, wegen der Erinnerungen, der Vorstellungskraft und Visualisierung. Doch es gibt die Einsamkeit, in der das Sein des Menschen eine andere Gestalt annimmt als in Außenräumen oder als Teil eines Kollektivs. Eine Situation, in der ein Körper sich erkennt und das Selbst zum Körper wird, in dem der Körper weder mit anderen konfrontiert ist noch mit sich aufdrängenden äußeren Faktoren kommuniziert. Der Körper hört auf, Mittler der Existenz in einer Gemeinschaft zu sein oder andere Funktionen zu erfüllen. Er befindet sich in einem Zustand bloßen Seins, er und das Selbst bilden eine Einheit. Eine Situation, die Menschen meist in der Isolation erfahren, sei es freiwillig, sei es durch gesellschaftliche oder gesetzliche Verfügung.

In dieser Situation ist der Körper kein Gegenstand der Betrachtung. Eine ganze Welt ist aufgehoben: die des Körpers als Gegenstand, Bild oder Entität innerhalb eines kollektiven Bewusstseins. Die Erscheinung hat keinerlei Bedeutung mehr. Wir sind im Inneren. Das ist exakt die Situation, die Kairo uns vorzuenthalten scheint. Unsere Körper sind dort stets an vorderster Front, unser Sein wird ununterbrochen von außen, von der Umwelt bestimmt. Ich gehe immer wieder spazieren und merke, wie ich mein inneres Sein verliere und zum »gesellschaftlichen Körper« werde, nicht länger ich selbst bin. Ich verliere meine individuelle Weiblichkeit und erhalte – an ihrer statt – ein projiziertes Bild des »weiblichen Körpers«.

Sich mit anderen im gleichen Raum oder sogar im Freien, in der Öffentlichkeit zu bewegen, verändert unsere Einstellungen und sogar unsere Selbstwahrnehmung. Die anderen Menschen überschreiten durch ihre Energie unsere Grenzen. Diese Energie ist der Kern menschlicher Kommunikation und Verbundenheit. Sie ist – für sich allein – in der Lage, das Verhalten eines Individuums zu beeinflussen, selbst wenn sie nicht von Worten oder Körpersprache begleitet wird oder mit der sozialen Stellung innerhalb einer Gruppe einhergeht, mit sexuellen Dynamiken oder psychologischen Mechanismen und Projektionen. Die menschliche Energie wird stets die treibende Kraft sein.

Ich stehe auf der Bühne. Das ist mein Beruf. Ich spiele. Ich kommuniziere und projiziere. Mein Beruf besteht darin, mich zur Betrachtung anzubieten, mich auszudrücken. Mein Körper ist mein Werkzeug. Ich muss anwesend und durchlässig sein. Mein Spiel gilt einem Publikum. Ohne Publikum gibt es kein Spiel. Ich habe den Großteil meines Lebens mit den darstellenden Künsten zugebracht. Ich weiß, wie es sich anfühlt, einfach dazustehen und die Blicke und Aufmerksamkeit der anderen aufzunehmen. Ich kenne die Empfindung, die das auslöst, und ich weiß, wie sie sich auf meine Darbietung auswirkt. Ich weiß auch, wie sich meine Energie verändert entsprechend den Veränderungen im Publikum. Ich spüre es, wenn ein einzelner Zuschauer sich besonders auf mich konzentriert. Und ich weiß auch, wie ich die Zuschauer beeinflussen kann. Ich weiß, wie man Emotionen und Energien vermittelt, wie man eine Person »berührt« und dem Zuschauer »zuflüstert«.

Überfüllte öffentliche Räume bin ich nicht gewohnt, ich bekomme dort geradezu Platzangst. Der einzige öffentliche und überfüllte Raum, in den ich gehöre, ist das Theater. Es ist der Ort, an den ich gehe, um die Frau zu werden, die ich sein will, jenseits gesellschaftlicher und traditioneller Codes. Ich mache mich von ihnen frei und mache mir andere zu eigen: die Codes und Gesetze des Theaters.

Ich trete der Öffentlichkeit, dem Unbekannten, den Anderen nur auf der Bühne entgegen, im Rahmen meines Berufs und innerhalb der Grenzen des Bühnenraums. Dort kann ich mich bewegen und tanzen und schreien und mich verlieben, alles öffentlich. Ich kann ein Leben führen, über das ich draußen nicht verfüge.

Ich führe ein Doppelleben. Wenn ich als ich selbst auf der Straße gehe, bin ich als Frau stets bedroht von der potenziellen Aggression des Anderen. Ich muss meinen Körper »verschließen«. Meine Augen dürfen nichts projizieren, ich darf keinen Kontakt aufnehmen. Ich bekomme eine gesellschaftliche Weiblichkeit, die ich nie selbst gewählt habe, und mit ihr meine soziale Identität, vor der ich in vielen Bühnenrollen zu fliehen versucht habe. Ich kehre auf die Straße zurück und habe schon verloren, was ich eben erst erlangt hatte. Ich verliere meine eigene Körperlichkeit, und mein Beruf macht es nicht besser.

Ich gehe davon aus, dass sich der politische Aspekt des Körpers im Raum – als Ganzes – erst dann erfassen lässt, wenn wir den Körper gründlich und völlig losgelöst von allem erforscht und analysiert haben. Es ist viel einfacher, von dort aus zur gegenteiligen Situation überzugehen und Bezüge herzustellen, obgleich der Vorgang vielleicht zu komplex ist, als dass man ihn mit Worten ausdrücken und kommunizieren könnte. Möglicherweise muss Körperlichkeit körperlich ausgedrückt werden.

Der Körper ist ein bestimmtes, komplexes inneres Zusammenspiel aller in ihm miteinander verschmolzenen Bereiche: Die Hirntätigkeit ist verbunden mit dem Nervensystem, diese beiden wiederum mit dem kognitiven System, und das alles mit den Sinnen und der Psyche. Der Mensch ist offenbar auf derart raffinierte Weise beschaffen, dass alle diese Bereiche außerdem noch zur Außenwelt, zu Umweltfaktoren in Beziehung stehen, sind sie doch ursprünglich zur Anpassung an die Umwelt und zur Vermittlung des Selbst entstanden.

Der Körper befindet sich immerzu zwischen Innen und Außen, dem Selbst und dem Anderen, Einsamkeit und Zusammensein. Vielleicht täuschen wir uns in der Annahme, jenseits der vom Körper gesetzten Grenzen existiere kein Selbst. Es ist durchaus plausibel, dass das Selbst über den Körper hinausreicht, auch wenn dieser umgekehrt völlig unfähig sein mag, das Selbst hinter sich zu lassen. Wir können also nicht behaupten, der Körper sei das Selbst und das Selbst der Körper. Doch von welchem »Körper« spreche ich? Über meinen oder meine eigenen Körper? Oder über die Körper anderer?

Als Kind und Jugendliche glaubte ich mehrere Körper zu haben, da ich ständig wuchs, mich veränderte und verwandelte. Und so denke ich bis heute, obgleich ich »meine Körper« mittlerweile anders wahrnehme. Sie entstehen nicht mehr durch das Älterwerden und mit der Zeit, sondern durch fremde Blicke. Ich verändere mich, und mein Körper passt sich den Normen an, der kollektiven Herrschaft und Manipulation. Es handelt sich nicht länger nur um einen physischen Frauenkörper, sondern er ist zu einer Reihe von Bildern und »geistigen Körpern« geworden.

Der Körper hat die gesamte Geschichte hindurch zusätzlich zu seinen inhärenten physiologischen und biologischen Funktionen auch noch eine imaginäre gehabt: die der Erscheinung im Zusammenhang mit gesellschaftlichen Codes, Kleiderordnungen, Mode, Schönheitsidealen, kulturellen Setzungen, Wirtschaftsstrukturen. Es geht dabei um den Körper als Träger kultureller Erwartungen, individueller Geschmacksvorlieben und Interessen: Der Körper ist ein Instrument, das ein bestimmtes Selbstbild zum Ausdruck bringt, das der gewünschten Projektion des Selbst dient, eine Erscheinungsform des Selbst vermittelt, die ohne Stofflichkeit nicht existieren kann. Es geht auch um Versklavung, eine uferlose Geschichte der Versklavung von Körpern durch die Bilder und den Markt für Menschen, die zu Objekten gemacht worden sind. Ob sich der Körper dieser imaginären Funktion entziehen kann oder nicht, und ob das überhaupt nötig ist, ist eine Frage, die mit der Befreiung des Körpers und der Möglichkeit zusammenhängt, die Folgen einer solchen Projektion überwinden zu können. Es ist wichtig festzustellen, dass diese Folgen aufgrund der komplexen Funktionsweise des Gedächtnisses auch dann wirkmächtig bleiben, wenn der Körper mit sich allein ist.

Der Körper verfügt über eine unbegrenzte Fähigkeit zur Selbsterneuerung. Wir alle kennen seine unglaublichen Selbstheilungskräfte, ganz gleich, ob es um kleinere Gebrechen oder tödliche Krankheiten, um Verletzungen oder ein vererbtes Leiden geht. Emotionale Wunden hingegen verheilen sehr viel schwerer, und die Traumata des Selbst können durchaus dergestalt sein, dass man sich nie von ihnen erholt. In dieser Hinsicht können wir den Körper als Krieger des Selbst betrachten, der maßgeblich für dessen Würde verantwortlich ist. Das gilt insbesondere für jene Demütigung und jenen Verlust der Selbstachtung, die sich aus einer Verletzung der körperlichen Grenzen durch äußere Aggression ergeben. Eine Demütigung und eine Aggression die, so sie nicht abgewehrt werden, das Selbst brechen und dessen Auflösung herbeiführen. Wird der Krieger geschlagen, geht die Hoheit über das Territorium verloren.

Ich bin in einer Gesellschaft aufgewachsen, in der häusliche Gewalt zum Familienalltag gehörte. Sie war zwar nie Teil meines eigenen Familienlebens, doch ich war nichtsdestotrotz von ihr umgeben. Auf der Schule setzten die Lehrer systematisch Schläge zur Bestrafung und Terrorisierung der Schüler ein. Wir sollten uns ständig fürchten. Ich hatte mehr Angst davor, geschlagen zu werden, als alle anderen Kinder in meiner Klasse. Es kam nur zweimal in meinem Leben dazu und ich werde es nie vergessen. Ich hatte ein sehr friedliches Zuhause, daher schüchterten mich Gewalt und Aggression besonders ein. Unser Nachbar schlug ständig seine Frau. Vor den Kindern. Es waren vier Mädchen. Die Älteste war meine Freundin. Sie erzählte mir von den Schlägen, die sie erhielt. Es war eine Kultur nicht nur der Aggression und Gewalt, sondern des Terrors.

Der Machthaber – der Ehemann/Vater oder der Lehrer – war zur Misshandlung berechtigt. Es war ihm gestattet, Schmerz zuzufügen und die körperlichen Grenzen anderer zu überschreiten, um Autorität zu erlangen. Es wurde sogar von ihm erwartet. Unsere kleinen Körper verloren ihre Intimsphäre und Autonomie, indem sie durch Terror versklavt wurden. Ich wollte unbedingt, dass mein Körper/Schild niemals gebrochen wird, denn anderenfalls verlöre ich augenblicklich meine Würde. Das wusste ich schon als Kind.