Weichen stellen - Josef Epp - E-Book

Weichen stellen E-Book

Josef Epp

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Beschreibung

Unsere erfreulich hohe Lebenserwartung stellt auch vor neue Herausforderungen. Mehr denn je sind wir aufgefordert, uns verantwortlich mit dem eigenen Älterwerden auseinanderzusetzen. Dadurch gewinnen wir viele Möglichkeiten, frühzeitig Weichen zu stellen und Befürchtungen zu überwinden. Dieses Buch ermutigt, wichtige Fragen des Alterns bewusst aufzugreifen und hilfreiche Schritte zu gehen. Und es will die Hoffnungsbotschaft verdeutlichen, dass der Lebensweg der Menschen auf Erfüllung ausgerichtet ist.

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Buch lesen

Cover

Haupttitel

Inhalt

Textnachweis

Bildnachweis

Über den Autor

Über das Buch

Impressum

Hinweise des Verlags

Josef Epp

Weichen stellen

Inspirationen für eine selbstbestimmte dritte Lebenshälfte

Patmos Verlag

Inhalt

Vorwort und Dank

Leben ist Entwicklung

Der Wandel als das Beständige

Wandel als Krise und Chance

Loslassen

Aufbrechen

Jahresring um Jahresring

Zeit des Reifens – spannende Fragen

Veränderte Fragen

Die nüchterne Sicht der Bibel

Die Zukunft beginnt heute

Erfüllung finden

Viele Wege gegangen

Interview mit Sr. Pia und Sr. Clara im Kloster St. Johann in Müstair

Nicht zu verleugnen: Altern ist kein Kinderspiel

Grenzen unseres Körpers

Grenzen geistiger und seelischer Kräfte

Vielzahl der Verluste

Fundamentale Ängste

Spirituelle Neuorientierungen

Schwere Last

Interview mit Prof. Dr. Cornel Sieber

Älterwerden – Früchte werden reif

Der Schatz der Erfahrung

Gebraucht werden

Freiheiten gewinnen

Weisheit entfalten

Bewusste Lebensfreude

Offen für das Geheimnis

Aufgaben bewältigen

Die Wahrheit über sich selbst

Beziehungen in Nähe und Distanz

Über das „Ende“ nachdenken und sprechen

Vorsorge treffen

Den Nachlass regeln

Kein unbeschriebenes Blatt

Interview mit Konstantin Wecker

Mut zum ganzen Weg

Schwierige Themen nicht ignorieren

Selbstbestimmung in Möglichkeiten und Grenzen sehen

Fürsorge annehmen können

Dem Unausweichlichen nicht ausweichen

Auf gute Begleitung vertrauen

Gehalten sein

Voller Hoffnung dem Ziel entgegen

Alter ist anspruchsvoll und nicht gespenstisch

Der Verheißung trauen

Voll Vertrauen handeln

Der Lebensfreude Raum und Zeit geben

Einem Ziel entgegen

Harte Schalen – zum Kern kommen

Verzeichnis der besprochenen Literatur

Verzeichnis der Abbildungen

Über den Autor

Über das Buch

Impressum

Hinweise des Verlags

Vorwort und Dank

In meiner Umgebung erntete ich manch fast mitleidiges ­Lächeln, wenn ich erzählte, an welcher Thematik ich für dieses Buch schreibe. „Ist es bei dir soweit?“, wurde ich gefragt, und es fielen erheiterte und ironische Kommentare.

„Ist es soweit?“, fragte ich mich selbst. „Wirst du langsam alt?“

Mein Blick fiel auf mein berufliches Tun. Seit über 30 Jahren bin ich im Schuldienst, immer noch gern, doch während die Kinder stets im gleichen Alter blieben, entfernte ich mich an Jahren immer mehr. Da ist nicht nur die Aufmerksamkeit für die Lebenswelt der Schülerinnen und Schüler gefordert, sondern auch der wachsame Blick für sich selbst. Es ist eine Gratwanderung, sich nicht unnötig alt und lebensklug zu geben, aber auch keine peinliche Jugendlichkeit an den Tag zu legen.

Die Arbeit in der Klinikseelsorge konfrontiert mich täglich mit dem, was nüchtern als demographischer Wandel deklariert wird. Viele ältere Menschen erzählen von ihren Erfahrungen, ihren Ängsten und einer bewegten Lebensgeschichte. Unvermeidlich fällt dabei der Blick auch auf die eigene Geschichte und die möglichen Entwicklungen, die bevorstehen. Wie wird es mir ergehen?

Doch dann kam mit dem Tod meiner Tochter Johanna der ganz entscheidende private Einschnitt. Auf einmal war alles anders, hatte das Leben seine ganze Unwägbarkeit an den Tag gebracht, wurden die Prioritäten meiner Alltagsgestaltung und meiner Lebensthemen durcheinandergeworfen. Und auf einmal wusste ich: Es gibt keinen planbaren Zeitpunkt, an dem wir langsam anfangen können, die Fragen des Älterwerdens und des Vergehens Schritt für Schritt in fester Ordnung abzuarbeiten. Und es ist wichtig, über eigene Erfahrungen nicht nur nachzudenken, sondern sie auch mitzuteilen. Nicht, um sich wichtig zu machen, sondern um Dialog zu ermöglichen und Verschweigen zu überwinden.

Ein Leben, das immer im Wandel ist, das stets von Unsicherheiten umgeben ist und mich in meinen Wertungen und Entscheidungen anfragt, fordert jetzt heraus. Soziale Strukturen sind im Umbruch, Lebenspläne ändern sich, Sicherungssysteme verändern sich radikal. Da ist es nicht verantwortungsvoll, abzuwarten, da ist es an der Zeit, den Blick auf den Fortgang des Lebens zu richten.

In diesem Buch geht es nicht um ein Kompendium für das Älterwerden, sondern um Einblicke in ganz verschiedene Facetten des Themas. Es geht um keine Rezeptsammlung und nachvollziehbare Handlungsanleitung, sondern um die Ermutigung, sich verschiedenen Aspekten zu stellen, sich auf Fragen unterschiedlicher Dichte und Tiefe einzulassen und selbstbestimmte Schritte ins Auge zu fassen, eben Weichen zu stellen. Es handelt sich nicht um ein geriatrisches und seniorenpolitisches Fachbuch, sondern um Erfahrungsbereiche. Und das Wesen der Erfahrungen besteht darin, dass sie nicht nach richtig und falsch eingestuft werden, sondern immer auch anders sein können. Doch gerade das lädt zur Auseinandersetzung ein, und von deren Notwendigkeit bin ich überzeugt und ließ ich mich leiten.

Dies lässt nicht zu, beschönigend und harmonisierend über bestehende Probleme hinwegzureden. „Altern ist nichts für Feiglinge“, schrieb Hans-Joachim Fuchsberger kurz vor seinem Tod, und diese Einsicht ist ernst zu nehmen.

Doch es gibt sehr viele Anknüpfungspunkte, die uns auch zeigen, dass Altern nicht einseitig angstbesetzt sein muss und unser Weg zwar einem Ende, aber auch einer Reifung und einer Erfüllung entgegen gehen kann. So liegt mir vor allem daran, Mut zu machen, Hoffnung zu wecken und zu selbstbestimmten Grundhaltungen zu motivieren.

Die Impulse für das Buch verdanke ich vielen Begegnungen, eindrucksvollen Lebensbeispielen und Menschen, deren Lebenszeugnis mich immer wieder fasziniert. All denen gegenüber empfinde ich große Dankbarkeit. Darunter sind Frauen und Männer, die mich vor allem durch ihre Haltung im Sterben reich beschenkt haben, aber auch viele, an deren Lebensfreude und hoffnungsvoller Grundhaltung ich immer wieder Orientierung finden durfte.

Besonders danken möchte ich Sr. Pia und Sr. Clara vom Konvent der Benediktinerinnen des Klosters St. Johann in Müstair, Graubünden. Nach schwierigen Monaten fand ich dort im Sommer 2014 Ruhe und Neuorientierung. Dass die beiden ältesten Schwestern des Klosters im Interview Einblick in ihren Erfahrungsreichtum geben, ist mir ein großes Geschenk.

Herzlich danke ich auch Prof. Dr. Cornel Sieber, der als Direktor des Instituts für Biomedizin des Alterns an der Universität Erlangen-Nürnberg und als Chefarzt am Krankenhaus der Barmherzigen Brüder in Regensburg die Sicht des Fachmanns und den Erfahrungsschatz in der täglichen Begegnung mit den medizinischen Fragen des Alters mitteilt.

Eine besondere Freude ist es mir, dass sich mit Konstantin Wecker ein namhafter Künstler spontan dem Interview und den Fragen des Buches gestellt hat. Dies bereichert die Perspektiven der Betrachtungsweise und schlägt eine Brücke zu Kultur, Poesie und Musik.

Dank auch an meinen Freund Dr. Wolfgang Pflederer für viele reflektierende Gespräche und die Zusammenstellung zu Grundfragen der medizinischen Vorsorge.

Der Verlagsgruppe Patmos danke ich für die Begleitung beim Entstehen des Buches, namentlich Frau Claudia Lueg möchte ich für die wohlwollende Unterstützung und die inspirierenden Rückmeldungen danken.

Am Ende steht der persönliche Dank an meine treue Weggefährtin Sigrid Losert und meine „Kinder“ Rebekka und Clemens. Neben der durchaus strapazierten Geduld, den oft bis in die späte Nacht gehenden Gesprächen und ihrer je eigenen Betrachtungsweise schenken sie mir das, was mehr inspirieren kann als alles andere: ihre Liebe.

Bad Grönenbach, im Februar 2016

Josef Epp

Leben ist Entwicklung

Wie die Zeit doch vergeht, so resümieren wir oft. Nichts bleibt, wir unterliegen ständigen Veränderungen. Dies fordert uns heraus, beinhaltet Abschiedsängste und Erwartungen, den ganzen Lebensweg entlang. Es ist ­hilfreich, sich die verschiedenen Seiten eines Lebens in ständiger Veränderung bewusst zu machen. Stärkt es doch unsere Möglichkeiten, unser Leben selbstbestimmt zu gestalten.

Der Wandel als das Beständige

Ich lebe mein Leben in wachsenden Ringen,

die sich über die Dinge ziehn.

Ich werde den letzten vielleicht nicht vollbringen,

aber versuchen will ich ihn.

Rainer Maria Rilke

Rilkes berühmte Gedichtzeilen greifen in poetischer Weise eine Grunderfahrung von Leben auf und interpretieren sie aus einem bestimmten Augenblick heraus. Er spricht davon, dass unser Leben einer Vorwärtsbewegung unterliegt, wir aber immer von einer ganz bestimmten Stelle aus auf unsere Lebensgeschichte und das, was vor uns liegt, blicken. Erfahrung auf der einen Seite und Ungewissheit auf der anderen – das macht den Spannungsbogen des Lebens aus.

Leben gleicht dem Wachstum der Bäume, das in unseren Breiten an den Jahresringen abzulesen ist. Leben schreitet voran und ist keinen Tag dasselbe. Wir suchen auf unserem Weg das Beständige, versuchen festzuhalten und zu konservieren und müssen uns doch dem Gesetz des Wandels beugen. Vom ersten Lebenstag verändern wir uns jeden Augenblick, und das bleibt so bis zum Tod. Schon die griechischen Philosophen (Heraklit) wussten, dass wir niemals zweimal in den gleichen Fluss steigen können, weil alles in Bewegung ist.

Körper, Geist und Seele sind diesem Wandel unterworfen. Wachsen und Absterben von Zellen, Aufbau und Nachlassen von Kräften, Reifungsprozesse, die in höchst komplexer Weise organisiert sind, bestimmen uns ein Leben lang. Sinnliche Erfahrungen in jedem wachen Augenblick, Begegnungen und Gefühle in den unterschiedlichsten Lebens­prozessen begleiten uns fortwährend. Rund hundert Milliarden Nervenzellen unseres Gehirns, untereinander verbunden durch viele Billionen Synapsen, schaffen unentwegt eine veränderte Sichtweise, dynamische und oftmals unbewusste Lernprozesse, Zugänge zu unserer Welt auf gänzlich unterschiedlichen Kanälen.

Mit jedem abendlichen Einschlafen beschließen wir unwiderruflich einen Tag unseres Lebens, mit jedem Erwachen öffnen wir die Augen für einen neuen, der noch im Ungewissen liegt und sich uns als Herausforderung stellt. Niemand kann vorhersagen, wie das Reifen des neuen Tages, des neuen Lebensabschnittes verläuft, was es von uns fordert und mit welchen Erfahrungen wir aus diesem Zeit­abschnitt gehen. Aber jeder weiß, auch am Ende dieses neuen Tages bin ich ein anderer als vorher.

Doch der Wandel ist kein zyklisches Geschehen ewiger Wiederholungen. Die Veränderungen des Lebens sind ein Fortschreiten hin auf ein Ende. Die unentwegten Veränderungsprozesse weisen uns immer wieder darauf hin, dass wir altern und dass wir sterblich sind. Älter werden wir nicht erst ab einer gewissen Anzahl von Jahren, älter werden wir schon in der Wiege. Altern ist ein Grundgesetz des Daseins, zu jeder Zeit.

Dabei wird dieses allgemein gültige Gesetz sehr wohl unterschiedlich und spezifisch erfahren. Kinder und Jugendliche können es kaum erwarten, älter zu werden, sehnen sich nach zunehmender Selbstständigkeit und erweiterten Rechten. Mir begegnete noch kein Jugendlicher, der entsetzt darüber war, dass er bald volljährig wird.

Wohl aber berichten manche Erwachsene, mit welch gemischten Gefühlen sie auf einen „runden“ Geburtstag zugehen. Auch scheinbar gleichförmige und von regelmäßigen Abläufen geprägte Lebenswege werden mit Ereignissen konfrontiert, an denen das Voranschreiten im Leben vermehrt bewusst wird: der Schulabschluss von Kindern, ihr Auszug aus dem Elternhaus und ihre eigenen familiären Bindungen, das Altern, die Hilfsbedürftigkeit und der Tod der eigenen Eltern, die Erfahrung, Großvater und -mutter zu werden, das Herannahen des Rentenalters und der Tag, an dem der Ruhestand beginnt.

Bestimmte Erfahrungen verdeutlichen, dass ein Großteil des Lebens gelebt ist, dass auch im günstigsten Fall nicht mehr von Halbzeit gesprochen werden kann. Besonders heraus­fordernd ist es, dass wir dieses Altern nicht nur als Ablauf von Ereignissen erleben, sondern oft genug verbunden mit Verlusten, nachlassenden Kräften, Krisen und Krankheiten.

Allen Erfahrungen gemeinsam ist der ungewisse Blick auf das Kommende. Der nächste Jahresring, was ist mit ihm verbunden? Und Rilke spricht ganz bewusst vom letzten Ring der Lebensgeschichte, der Unsicherheit, ob er vollbracht werden kann, aber auch der Entschlossenheit, ihn zu versuchen.

Die ungewisse Zukunft verleiht den Veränderungen des Lebens eine ganz besondere Dynamik, erfüllt sie aber auch oft genug mit Sorge und Angst. Die Erfahrung, dass wir nichts festhalten können, macht uns nicht nur frei, sondern bedrückt uns, lässt uns zuweilen hilflos auf unsere leeren Hände blicken, auf die schwierige Erfahrung, dass wir ohnmächtig vor vielen Entwicklungen stehen. Wer kann wissen, was die Jahre des Alterns mit sich bringen? Wer sieht voraus, ob eine robuste Gesundheit oder chronische Erkrankungen die zweite Lebenshälfte begleiten?

Jeden Augenblick stehen wir an einer Nahtstelle des Lebens. Wir blicken auf das gewachsene Leben und die Dinge, die sich ergeben und entwickelt haben. Wir denken darüber nach, lernen daraus, ziehen Konsequenzen und sind dankbar. Zugleich erwartet uns etwas, das noch im Dunkeln liegt, das seinen Reiz, aber auch seine Bedrohlichkeit hat. Rilke hat für dieses Dasein an unentwegten Übergängen eine klare Option: Er will es versuchen, aktiv angehen, sich dem Reifen des eigenen Lebens stellen.

Jeder Lebensabschnitt stellt eine Aufgabe dar, fordert unser Mitwirken und unsere Kräfte. Es gibt keine Garantie für das Ergebnis, doch eines können wir aufbringen: die Bereitschaft, es zu versuchen.

Wandel als Krise und Chance

Die Grunderfahrung des Wandels und der Veränderung löst oft genug ein zwiespältiges Gefühl aus. Auf der einen Seite die Spannung auf neue Lebenserfahrungen, Vorfreude und Entschlossenheit, den eigenen Weg anzupacken. Auf der anderen Seite aber auch Wehmut über das Ende einer Phase, trauriger Rückblick und große Unsicherheit über das, was uns bevorsteht.

Nicht erst im fortgeschrittenen Lebensalter zeigt sich Wandel mit verschiedenen Gesichtern. Wenn ein Säugling abgestillt wird, bereitet ihn das auf eine selbstständige Ernährung vor, schafft zunehmende zeitliche und räumliche Unabhängigkeit. Doch die Umstellung auf andere Lebensmittel bereitet oft Verdauungsprobleme, Allergien und Unverträglichkeiten tauchen auf, und zugleich droht die intime Nähe zur Mutter während der Nahrungsaufnahme verloren zu gehen. Das Kleinkind ist voller Tatendrang und Neugierde, es will auf eigenen Füßen stehen, zieht sich an Stühlen und Tischen hoch und wagt die ersten Schritte. Doch die sind in der Regel mit Stürzen verbunden, zuweilen sogar so schmerzhaft, dass das Kind für einige Zeit die Gehversuche einstellt.

Nicht nur einmal habe ich erlebt, wie Schüler der Abschlussklassen, die noch vor kurzer Zeit kaum erwarten konnten, die Schule zu verlassen, sich mit Wehmut und Tränen bei der Entlassungsfeier verabschiedeten und schon nach wenigen Wochen einen Besuch an der einst so ungeliebten Schule abstatteten. Dies war oft verbunden mit einer gewissen Sehnsucht nach der „guten, alten Zeit“, die auch von Jugendlichen schon manchmal verklärt wird.

Diese ambivalenten Erfahrungen ließen sich entlang der Lebensgeschichte fortsetzen. Welche Verliebtheit voller neuer Gefühle und Entfaltungen ist nicht verbunden mit der Verunsicherung über die eigene Person und den Schmerz des Liebeskummers? Die Freude über den Nachwuchs kann durchaus auch getrübt werden von Anpassungsschwierigkeiten an die neuen Lebensumstände, und erschöpft erinnert man sich gern an die Zeiten, in denen man ungestört durchschlafen konnte und in der Freizeitgestaltung unabhängig war.

Die Dankbarkeit darüber, dass Kinder den Schulabschluss meistern, wird doch oft genug begleitet von dem Stich im Herzen, dass nun ein Auszug aus dem Elternhaus bevorsteht, und mit den Befürchtungen, ob der Einstieg in das Berufsleben gut verläuft. Neue Arbeitsplätze, Veränderungen in der Arbeitswelt, neue Vorgesetzte werden einerseits offen und gespannt aufgenommen, andererseits auch verglichen mit früheren Situationen.

Insbesondere beim Erreichen der beruflichen Altersgrenze zeigen sich oft deutlich diese ambivalenten Gefühle. Da ist die Vorfreude auf eine Zeit ohne Verpflichtungen, entlastet von den Anstrengungen des beruflichen Alltags und frei für neue Unternehmungen und Freiräume. Da ist aber auch der Abschiedsschmerz, das „weinende Auge“ für den Kreis der Kollegen, die vertraute Umgebung der Arbeitswelt und das Wissen, dass eine Zäsur bevorsteht, die durch das Alter bedingt ist.

Veränderungen, die im Grunde überaus erfreulich sind und positive Erwartungen wecken, sind nicht frei von Unsicherheiten und melancholischen Rückblicken. Einschnitte, die schmerzhaft und nachhaltig sind, können offen sein für neue Erfahrungen, die als Freiheit empfunden werden. Ich habe 26 Jahre für meine schwerbehinderte Tochter gesorgt, und zwischen uns bestand eine tiefe und emotionale Beziehung. Ihr überraschender Tod war schmerzlich und stürzte mich in tiefe Trauer. Doch als ich bei Auswärtsterminen nicht mehr auf die Uhr schaute, nicht mehr zwischendurch telefonisch nachfragen musste, ob alles in Ordnung ist, spürte ich, dass der Verlust mir auch neue Freiheiten und Möglichkeiten eröffnet hatte. Ich lernte, den schmerzlichen Wandel in meinem Leben auch als Chance zu begreifen. Und trotzdem holen mich immer wieder Trauer und Sehnsucht ein. Krise und Chance sind nicht Alternativen, sondern verschwisterte Perspektiven.

Loslassen

Abschiedssituationen im Sterbezimmer gehören in der Klinikseelsorge zu den dichtesten Erfahrungen. Man greift auf vertraute Rituale zurück, versucht eine Professionalität an den Tag zu legen, die sich auf viele Erfahrungen stützt, und spürt doch, dass jede Situation anders ist. Diese Einzigartigkeit bezieht sich auf die Lebensgeschichte jedes Menschen, die immer eine andere ist, sie bezieht sich aber auch auf die Reaktionen der Angehörigen, die unglaublich vielschichtig sein können.

In sehr vielen Situationen wird deutlich, wie schwer es ist, einen Menschen loszu-lassen, und wie entscheidend es doch ist, dafür eine entsprechende Form zu finden. Immer wieder umarmen Hinterbliebene den Verstorbenen, halten sie seine Hand, suchen sie die Berührung. Sie brauchen Zeit in der Gegenwart des Toten, oft sogar viele Stunden. Doch immer wieder sind Angehörige auch dafür dankbar, wenn ein Ritual zum Abschluss gefunden wird und anschließend alle den Raum verlassen können. Manchmal lade ich Angehörige, die sich besonders schwer tun, dazu ein, mit mir noch in die Kapelle zu gehen, um dort an den Verstorbenen zu denken und dies bereits mit einem gewissen Abstand zu tun.

Die Erfahrung der Trauer verdichtet am tiefsten, was uns in so vielen Lebenssituationen abverlangt wird. So sehr unser Lebensanfang vom Greifreflex mitbestimmt wird und wir schon als Kleinkind nach allem greifen, um zu be-greifen, so sehr wir zupacken und viele Gelegenheiten, die das Leben uns bietet, im Laufe der Jahre er-greifen, so sehr müssen wir von Anfang an lernen, dass wir nichts auf Dauer festhalten können.

Bei Kleinkindern löst es manchmal Schreianfälle aus, wenn wir ihnen Gegenstände aus den Händen nehmen müssen und dies manchmal ohne sanfte Gewalt fast nicht möglich ist. Loslassen fällt schwer und löst Widerstände aus. Doch es eröffnet auch neue Wege. Wenn das Kleinkind die Hand des Erwachsenen oder den festen Halt loslässt, ­gewinnt es neue Freiheit und Selbstständigkeit.

An bedeutsamen Nahtstellen der Biografie eines Menschen wird uns besonders klar, wie wichtig Phasen des Loslassens sind und wie einschränkend es sein kann, wenn sie nicht stattfinden.

Überbesorgte Eltern sind heute für viele LehrerInnen ein echtes Problem. Sie bringen ihre Kleinen bis vor die Klassenzimmertüre, packen ihnen noch die Schulsachen aus, ordnen die Kleider an der Garderobe. Sie warten bei Unterrichtsende auf dem Flur und rufen gegebenenfalls auch eine Stunde später bereits bei den LehrerInnen an, wenn irgendetwas bei der Hausaufgabe unklar ist.

Nicht selten leiden diese Kinder unter großer Unselbstständigkeit, sind auch bei kleinen Entscheidungen verunsichert und entwickeln wenig Selbstbewusstsein. Weil Eltern ihre Kinder nicht loslassen, oft innerlich nicht akzeptieren können, dass sich das Kind aus ihrer unmittelbaren Fürsorge mehr und mehr entfernt, hemmen sie nicht selten die individuelle Reifung ihres Kindes.

Dieses Problem verschärft sich dann, wenn Kinder erwachsen werden und ihre eigene Wege gehen. Ein wichtiger Lebensinhalt geht nun auf räumliche Distanz. Dies fällt oft sehr schwer. Wenn Eltern dann permanenten Kontakt pflegen, häufig zu Besuch da sind und durchaus auch einen Gewissensdruck aufbauen, wie oft sich das „Kind“ zu Hause sehen lassen sollte, bewirkt dies mitunter auch das Gegenteil. Junge Menschen vollziehen dann eine deutliche Abgrenzung, weil sie sich in der freien Gestaltung ihres Lebens eingeengt fühlen.

Als Klinikseelsorger arbeite ich in einem Umfeld, das teilweise noch stark von landwirtschaftlichen Arbeits- und Lebensformen geprägt ist. In vielen Betrieben ist ein enges Zusammenleben der Generationen gegeben, teilweise überaus hilfreich, um sich den gewandelten Bedingungen stellen zu können. Der Zusammenhalt der Generationen ist für manchen Landwirtschaftsbetrieb unverzichtbar, doch zeigt sich immer wieder, dass Zusammenhalt nur gelingt, wenn auch klar auseinander gehalten wird.

Wenn die ältere Generation sich immer noch Entscheidungsbefugnisse vorbehält und nicht klare Abgrenzungen vornimmt, wenn die Großeltern ihre Bereitschaft zur Kinderbetreuung immer wieder verbinden mit Eingriffen in die Erziehungszuständigkeit der Eltern, entstehen Konflikte. Wenn die jüngere Generation in der Betreuung hilfsbedürftiger Älterer deren Eigenständigkeit immer mehr einschränkt und zur Bevormundung neigt, wird der Zusammenhalt ernsthaft gefährdet. Loslassen und Abgrenzen ist eine entscheidende Voraussetzung für gelingendes Miteinander.

Zwischen dem Erwachsenwerden der Kinder und der beruflichen Altersgrenze liegt im Schnitt meist noch ein gutes Lebensjahrzehnt. Bis zur Erfahrung altersbedingter Gebrechen und wachsender Hilfsbedürftigkeit sind es glücklicherweise noch etliche Jahre mehr. Doch auch diese Veränderungen fordern die Bereitschaft, sicheres Terrain zu verlassen, vertraute und stabile Situationen loszulassen.

Der Eintritt ins Rentenalter ist bei vielen von Vorfreude und Erleichterung geprägt, führt dann aber durchaus auch in eine gesundheitlich wie psychisch kritische Phase. Die körperlichen Anforderungen und die Ernährungsgewohnheiten verändern sich. Die sozialen Kontakte am Arbeitsplatz reduzieren sich, der Tagesablauf ist im Umbruch, ein zeitlicher Rhythmus muss neu gefunden werden. Die eigene Bedeutung wandelt sich, schwindet zum Teil in gut eingespielten Bereichen. Manche schaffen dies mit Leichtigkeit und Kreativität, andere tun sich schwer und fallen in ein Loch.