Weihnachtsbaum und Todestraum - Karin Kehrer - E-Book

Weihnachtsbaum und Todestraum E-Book

Karin Kehrer

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Beschreibung

Mord, Intrigen und Weihnachtslieder – Bee Merryweathers sechster Fall Als Bee und ihr Ensemble im Krankenhaus Weihnachtslieder singen, warnt eine verstörte Frau sie vor einem Mann namens Lambert. Wenig später wird er tot aufgefunden – ermordet mit einem seltenen Gift. Bee gerät in ein Netz aus Lügen, verschwundenen Erben und dunklen Familiengeheimnissen. Als sie und eine Freundin in einem alten Gutshaus eine weitere Leiche entdecken, spitzt sich die Lage zu. Im dichten Nebel des Moors beginnt ein tödliches Spiel, bei dem Bee um ihr Leben kämpfen muss. Doch wer kann in dieser Familie überhaupt noch die Wahrheit sagen? Lust auf mehr Krimis mit englischem Charme von Karin Kehrer?  - Band 1: Todesklang und Chorgesang - Band 2: Leichenschmaus im Herrenhaus  - Band 3: Mordversuch und Häkeltuch - Band 4: Todesschrecken hinter Gartenhecken - Band 5: Rosenduft und Todesgruft - Band 6: Weihnachtsbaum und Todestraum

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Veröffentlichungsjahr: 2025

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Weihnachtsbaum und Todestraum

KARIN KEHRER lässt sich für ihre Romane von ihrer Heimat und ihren unzähligen Reisen auf die Britischen Inseln inspirieren. Die gebürtige Österreicherin liebt das Lesen und Schreiben und verbringt als Ausgleich zum Schreibtisch viel Zeit in der Natur. 

Mord, Intrigen und Weihnachtslieder – Bee Merryweathers sechster Fall

Als Bee und ihr Ensemble im Krankenhaus Weihnachtslieder singen, warnt eine verstörte Frau sie vor einem Mann namens Lambert. Wenig später wird er tot aufgefunden – ermordet mit einem seltenen Gift. Bee gerät in ein Netz aus Lügen, verschwundenen Erben und dunklen Familiengeheimnissen. Als sie und eine Freundin in einem alten Anwesen eine weitere Leiche entdecken, spitzt sich die Lage zu. Im dichten Nebel des Moors beginnt ein tödliches Spiel, bei dem Bee um ihr Leben kämpfen muss. Doch wer kann in dieser Familie überhaupt noch die Wahrheit sagen?

Karin Kehrer

Weihnachtsbaum und Todestraum

Ein Cornwall-Krimi

Ullstein

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Originalausgabe bei Ullstein E-BooksUllstein E-Books ist ein Verlag der Ullstein Buchverlage GmbH Berlin © Ullstein Buchverlage GmbH, Friedrichstraße 126, 10117 Berlin Dezember 2025Wir behalten uns die Nutzung unserer Inhalte für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG ausdrücklich vor.Covergestaltung: zero-media.net, München Titelabbildung: © Midjourney (Katze)Autorinnenfoto: © privatE-Book powered by pepyrus

Alle Rechte vorbehalten. ISBN 978-3-8437-3631-2

Emojis werden bereitgestellt von openmoji.org unter der Lizenz CC BY-SA 4.0.

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Inhalt

Das Buch

Titelseite

Impressum

Playlist

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

DANKSAGUNG

Leseprobe: Dänische Weihnacht

Social Media

Vorablesen.de

Cover

Titelseite

Inhalt

Playlist

Playlist

Angels’ Carol – The Cambridge Singers

Away in a Manger – The King’s Singers

Carol of the Bells – Cathedral Choir

Coventry Carol – The Ilford Songsters

Deck the Halls – The Singalings

God Rest Ye Merry, Gentlemen – The Singalings

Shepherds in the Field Abiding – The Cambridge Singers

»The past is a ghost that haunts the present.«Daphne du Maurier – Jamaica Inn

Kapitel 1

Er sah kurz nach rechts und dann nach links, bevor er die A389 überquerte, die Hauptverkehrsader von Bodmin. Es herrschte ziemlich reger Verkehr an diesem frühen Nachmittag, sodass er länger als gedacht brauchte, um in die Fore Street zu gelangen und die Bushaltestelle zu erreichen. Nun blieb er stehen und starrte auf die gegenüberliegende Straßenseite. Das Büro eines Immobilienmaklers, ein Restaurant und ein Café. Die Schaufenster waren mit Girlanden aus Stechpalmen und roten Schleifen geschmückt, um auf die nahenden Weihnachtsfeiertage hinzuweisen. Auf Tellern waren Christmas Puddings in verschiedenen Größen arrangiert, bedeckt mit dicker, weißer Zuckerglasur und Cranberrys. Er fragte sich, ob die Kuchen echt waren, es hätten auch Attrappen sein können, so perfekt, wie sie aussahen. An der Mauer in Höhe des ersten Stocks hing ein Schild, auf dem »Zu vermieten« stand. Solchen Schildern begegnete man in Bodmin häufiger. Ein Zeichen für die schlechte wirtschaftliche Lage.

Hinter ihm befand sich der Mount Folly Square, der über ein paar Stufen zu erreichen und von einem eisernen Gitter umgeben war. Dort erhob sich auch die Shire Hall, das ehemals wichtigste Gerichtsgebäude in Cornwall. Ein imposanter Block aus grauem Stein mit hohen Fenstern und drei riesigen Torbögen. Die Informationstafel bot nur wenige Anhaltspunkte, wofür das Gebäude nun genutzt wurde. Dennoch stand es wohl seit 1988 nicht mehr im Dienste der Gerechtigkeit.

Er fröstelte, als ein leichter Wind aufkam. In dieser Gegend gab es keinen richtigen Winter und es war somit nicht wirklich kalt, dennoch war er nicht mehr an diese Temperaturen gewöhnt. Wie gern hätte er jetzt einen Sundowner auf der Terrasse des Enkasiti Resorts mit Mohamed getrunken! Der große, bullige Mann hätte ihm eine der Geschichten seiner Großmutter erzählt, die stets mit einer Weisheit endeten. Dann hätte er mit einem breiten Grinsen mit ihm angestoßen. Das sanfte Licht der untergehenden Sonne und die weichende Hitze des Tages hätten ihn eingehüllt und das Zirpen der Zikaden seine Ohren erfüllt. War er wirklich erst vor vier Tagen von Nairobi nach London geflogen? Es kam ihm vor, als hätte er bereits eine Ewigkeit in dem grauen, ungastlichen England verbracht.

Der Bus, der ihn zurück nach South Pendrick bringen sollte, bog um die Ecke. Pünktlich, wie es schien. Er war nicht mehr daran gewöhnt. In Kenia lief alles entspannter. Zeitangaben galten nur ungefähr, waren nicht festgeschrieben.

Er stieg in den Bus, zog einen Zehn-Pfund-Schein aus der Tasche seines Trenchcoats und bezahlte die Fahrkarte. Zusammen mit dem Wechselgeld steckte er sie ein. Dann nahm er in der letzten Sitzreihe Platz und versank in seinen Gedanken.

Er verstand nicht, was an diesem Tag geschehen war. Aber musste er das überhaupt? Viel wichtiger war doch, wie er sein Wissen nutzen konnte. Seine Finger tasteten nach dem Geldbündel in der Manteltasche. Eintausendfünfhundert Pfund. Immerhin ein Anfang, aber längst nicht genug, um ihm einen Neustart zu ermöglichen. Es musste mehr geben, ganz bestimmt. Sehr viel mehr. Das, was er bekommen hatte, waren nur lächerliche Almosen.

Zwei Kinder stiegen in den Bus. Teenies. Ein Junge und ein Mädchen. Sie steuerten auf den hinteren Teil des Fahrzeugs zu, blieben stehen, warfen ihm einen irritierten Blick zu, als sie ihn entdeckten, und setzten sich dann drei Reihen vor ihn. Das Mädchen kam ihm vage bekannt vor. Pinkfarbenes, auf einer Seite kurz geschorenes Haar, auf der anderen hing es in Strähnen hinunter und bedeckte ihr Ohr. Sie hatte eine robuste Figur und war ganz in Schwarz gekleidet. Ihre Stimme klang schrill, als sie jetzt auf den Jungen einredete. Ein schmächtiger Bursche, der ziemlich ungepflegt aussah. Er kommentierte ihre Tirade mit mehrmaligem Nicken, sagte aber nichts. Danach verstummte das Mädchen und senkte den Kopf. Wahrscheinlich widmete es sich seinem Handy. Alle besaßen ein solches Smartphone, das die direkte zwischenmenschliche Kommunikation auf ein Mindestmaß reduzierte. Er hatte sich nie dazu durchringen können, sich eines anzuschaffen. Wer etwas von ihm wollte, wusste ohnehin, wie er zu erreichen war. Gut, es hätte nichts geschadet, wenn er den Brief früher bekommen hätte, der ihn nach England geführt hatte. Er lehnte sich im Sitz zurück und schloss die Augen. Der Bus fuhr mit einem Ruck an. Niemand sonst war zugestiegen. Sein Ziel South Pendrick war nicht unbedingt ein sehr frequentierter Ort.

Aber er lag genau richtig für ihn und die Nachforschungen, die er machen wollte. Und sie hatten bereits Früchte getragen. Allerdings welche, mit denen er keineswegs gerechnet hatte. Irgendetwas stimmte hier ganz und gar nicht, und er würde herausfinden, was das zu bedeuten hatte. Er musste es. Seine Zukunft stand auf dem Spiel und er brauchte Geld. Er hatte alles, was er besaß, in den Flug und die Unterkunft in South Pendrick gesteckt. Und es stand ihm zu, auch wenn dieser schnöselige Anwalt etwas anderes sagte. Allerdings wollte er bestimmt nicht hierbleiben. Er würde zurück nach Kenia gehen und sich dort zur Ruhe setzen. Nicht mehr Reiseführer für arrogante Touristen spielen, keine Gelegenheitsjobs in Bars und fragwürdigen Lokalen. Eine kleine Lodge mit ein paar Häusern, nur für besondere Gäste. Mohamed und seine Familie würden ihn bestimmt unterstützen …

Er fuhr mit einem Ruck hoch, als der Bus eine scharfe Kurve nahm. Er erhaschte einen Blick auf eine Hügelflanke mit grauen Häuserreihen, ähnlich denen, die er schon im Zentrum gesehen hatte. Auch der Himmel war noch immer grau und unterstrich den trostlosen Eindruck noch. Das alte Gefängnis, die Hauptattraktion der Stadt Bodmin, konnte er nicht mehr erspähen. Er unterdrückte ein Schaudern. Was sollte man von diesem Mahnmal der unbarmherzigen Gerechtigkeit halten? Der Komplex wurde nun als Hotel für Touristen betrieben, die dieses besondere Flair ansprach. Er würde niemals einen Fuß dort hineinsetzen. Niemand konnte sich vorstellen, wie es war, in einem Gefängnis inhaftiert zu sein, wenn man es nicht selbst erlebt hatte.

Die Häuser verschwanden aus seinem Blickfeld, machten Feldern und Wiesen Platz. Er lehnte sich zurück und schloss wieder die Augen.

Ein neuerlicher Ruck ließ ihn hochfahren. Verwirrt zwinkerte er. South Pendrick, Main Street. Ein merkwürdiges Brennen breitete sich plötzlich in seinem Mund aus, als hätte er gerade scharfe Chilis gegessen. Er sammelte Speichel, schluckte, aber das Brennen verging nicht.

Die beiden Kinder stiegen aus und er tat es ihnen gleich. Sie schlugen den Weg zum Pub ein, aber er beachtete sie nicht weiter. Mit einer automatischen Bewegung holte er den Fahrschein aus der Manteltasche, riss ihn in kleine Fetzen und entsorgte sie im Abfallkorb bei der Haltestelle. Er hatte gelernt, darauf zu achten, seine Spuren zu verwischen.

Kurz hielt er inne, unschlüssig, was er jetzt machen sollte. Er hatte keine Lust, in sein Zimmer im Pub zurückzukehren, dort kam er sich wie eingesperrt vor, und sein Kopf war noch immer voller verwirrender Gedanken.

Auch hier lagerte das Grau des Himmels über dem Dorf und bildete eine triste Einheit mit den Cottages aus Schiefersteinen, die links und rechts der Main Street standen. Immerhin milderte die Weihnachtsbeleuchtung in Form von Lichterketten, die über die Straße gespannt waren, den Eindruck von Trostlosigkeit. Das Pub, das sich ebenfalls in der Main Street befand, war bereits mit einer bunten Girlande und einem Türkranz mit roter Schleife geschmückt. Er drehte sich um. Auch das Schaufenster des Ladens gegenüber, ausstaffiert mit allem möglichen esoterischen Krimskrams, versuchte, Weihnachtsstimmung mit Glitzergirlanden und bunten Kugeln zu verbreiten. In einem Körbchen lag eine schwarze Katze. Sie hob ihren Kopf, als hätte sie gemerkt, dass er sie anstarrte, gähnte und rollte sich zusammen. Irgendwie sah der ganze Laden wie eine merkwürdige Inszenierung aus, eine Art Kulisse für einen kitschigen Weihnachtsfilm. Ein kaum erklärbares Gefühl nahm ihn plötzlich ein. Er erwartete beinahe, eine Elfe in geringelten Strumpfhosen und grünem Rock um die Ecke hüpfen zu sehen.

Er schluckte, sein Mund brannte noch immer und war wie ausgetrocknet. Er hätte von der Main Street in den Vicars Close einbiegen und in den kleinen Laden gehen können, um sich etwas zu trinken zu besorgen, aber er hatte keine Lust, sich den bohrenden Blicken der Ladeninhaberin auszusetzen. Sie hatte ihn schon beim ersten Mal, als er sich nur ein paar Kleinigkeiten kaufen wollte, angesehen, als wäre er ein Verbrecher.

Ein Grinsen entschlüpfte ihm. Naja, so etwas in der Art war er durchaus.

Er spähte die leicht abfallende Main Street hinunter. Es gab noch jemanden, den er mit seinem Besuch schockieren konnte, so wie er das zu Mittag getan hatte. Aber wenn er an die kühle, distanzierte Höflichkeit dachte, mit der er empfangen worden war, reichte es ihm für heute. Er war nicht mehr daran gewöhnt, hatte die offene Herzlichkeit und Fröhlichkeit der Afrikaner lieben gelernt. Er musste nachdenken und das funktionierte für ihn am besten, wenn er sich bewegte. Außerdem half es vielleicht gegen die Kälte, die ihm tief in die Knochen drang. Eine leichte Übelkeit wehte durch ihn. Wahrscheinlich das ungewohnte Essen. Sein Lunch hatte zwar nur aus einem Salat und etwas gebuttertem Toast bestanden, aber gestern Abend hatte er sich nicht beherrschen können und eine Riesenportion des Steak and Ale Pie verspeist, der als Tagesgericht angeboten wurde. Vielleicht sollte er sich heute Abend zurückhalten und früh zu Bett gehen. Er marschierte die Main Street hinunter, die in Richtung des Kreisverkehrs leicht abfiel, den der Bus zuvor befahren hatte, und versuchte, die heimlichen Blicke zu ignorieren, die ihm immer wieder zugeworfen wurden. Ein Fremder fiel in so einer überschaubaren Ansiedlung natürlich auf, gerade jetzt um diese Zeit, wo keine Touristen mehr unterwegs waren. Der Wirt hatte ihm erzählt, dass South Pendrick durch all die seltsamen Todesfälle in den letzten Jahren eine gewisse Bekanntheit erlangt hatte und sich nun sogar vermehrt Touristen einfanden. Seiner Meinung nach war dies ein äußerst merkwürdiger Grund für eine Besichtigung. Aber das war ja nichts Neues für die Sensationslust der Menschen.

Er bog von der Main Street in den Kreisverkehr ein und konnte das Herrenhaus zwischen den Bäumen erkennen, das auf einer leichten Anhöhe thronte. Ein grauer, nichtssagender Komplex, auf den die Bewohner des Dorfes aber anscheinend stolz waren. Genau wie auf die Kirche, die sich hinter seinem Rücken befand, ein ebenso graues Gebäude mit einem viel zu großen Turm. Als er in die North Road ging, die vom Kreisverkehr wegführte, begegnete ihm eine ältere, rundliche Frau auf einem Fahrrad. Sie warf ihm einen durchdringenden Blick aus blauen Augen zu und grüßte ihn mit einem freundlichen Lächeln. Er erwiderte den Gruß nicht, senkte nur den Kopf und ging weiter. Schließlich kannte er sie nicht und es interessierte ihn auch nicht, wer sie war. Er hatte keineswegs vor, hier irgendwelche Freundschaften zu schließen. Er musste nur seine Angelegenheiten klären und dann sah ihn dieses Kaff nie wieder.

Er marschierte die North Road hoch. Die vereinzelten Häuser, die hier standen, wichen bald abgeernteten Feldern und Wiesen mit vertrockneten Gräsern. Leichter Dunst lagerte über ihnen und eine feuchte Brise kam auf. Er schauderte, überlegte kurz, ob er nicht doch umkehren und in die Wärme des Pubs flüchten sollte, entschied sich aber dann dagegen. Dazu war auch später noch Zeit. Doch das Brennen in seinem Mund war wieder da, dazu Übelkeit und ein unangenehmes Ziehen im Bauch, ein leichter Schwindel befiel ihn. Das fehlte noch! Krank zu werden.

Er ignorierte seine körperlichen Symptome und ging weiter, folgte der schmalen, asphaltierten Straße, die leicht bergauf führte. Auch wenn er nicht wusste, wohin er eigentlich wollte. Er machte das auch in Kenia immer: laufen, bis die Gedanken sich verflüchtigten. In der endlosen Steppe, auf den Horizont zu. Die Hitze auf der Haut spüren, die alles auslöschte. Er kam sich immer so klein und unbedeutend dabei vor und doch eins mit der Umgebung.

Wie er feststellen musste, funktionierte das hier jedoch nicht. Keine Weite, die das Gefühl von Freiheit vermittelte, nur nebelverhangene Hügel, die die Sicht versperrten. Auch die Bewegung konnte ihn nicht wärmen. Die Übelkeit war noch immer da und verstärkte sich bei jeder Bewegung. Wieder zog eine leise Welle von Schmerz durch seinen Bauch. Er begann trotz der Kälte zu schwitzen. Etwas stimmte eindeutig nicht mit ihm. Er blieb stehen. Erst jetzt fiel ihm auf, dass es dunkler geworden war. Der Himmel hatte sich an manchen Stellen in ein Bleigrau verwandelt, der Wind wurde stärker. Erste Tropfen fielen auf seinen Kopf. Bis er ins Dorf zurückkam, würde er völlig durchnässt sein! Er würde einen Unterstand brauchen, um das Schlimmste auszusitzen.

Er sah sich um, entdeckte einen Feldweg, der zu einer einsamen Scheune führte. Genau richtig. Er verließ die Straße, bog auf den Weg ein. Ein paar Schritte noch, und er befand sich im Trockenen.

Glücklicherweise war die Scheune nicht versperrt, die Tür nur angelehnt. Drinnen roch es nach Staub und trockenem Gras. Er blinzelte in das Dämmerlicht. Der Boden bestand aus fest gestampfter Erde, im hinteren Teil war Heu gelagert. Eine Leiter führte hoch, wo sich ein weiterer Raum unter dem Dach befinden musste. Er krümmte sich zusammen, als ein plötzlicher, schneidender Schmerz durch seine Eingeweide wühlte. Er keuchte, schwankte und hielt sich den Bauch. Taumelte auf das Heu zu. Eine weitere Attacke ließ ihn in die Knie gehen, dann würgte er, erbrach sich. Er blieb erschöpft sitzen, den Gestank des Erbrochenen in der Nase. Mit fahrigen Bewegungen versuchte er, es mit Heu zu bedecken. Stöhnte auf, als eine neue Schmerzwelle durch seinen Körper fuhr, und krümmte sich wieder zusammen. Eine rasende Welle von Pein fuhr durch seinen Bauch, sein Darm entleerte sich. Seine Gedanken verwirrten sich, nur einer blieb mit erschreckender Gewissheit: Er würde hier und jetzt sterben.

Kapitel 2

»Deck the halls with boughs of holly. Falalalala, lalalala!« Bee Merryweather sang halblaut vor sich hin, während sie das Tannenbäumchen, das auf einem kleinen Tisch in der Ecke des Wohnzimmers stand, mit Weihnachtskugeln dekorierte. Eine rote, selbst gehäkelte Decke schmückte das Tischchen. Auch der Schmuck für den Baum war zur Gänze in traditionellem Rot gehalten, bis auf ein paar Schleifen und den Engel auf der Spitze in Weiß und Gold. Eine halbe Stunde zuvor war sie von der Ensembleprobe nach Hause gekommen. Heuer würde sie wieder als Carol Singer, beim nächsten Termin zusammen mit Petula Flowers, der Inhaberin des Cats & Cards, deren Partner Jasper Miller, dem Experten für Übernatürliches, und Bernard Trotter, dem Inhaber des Gemischtwarenladens, unterwegs sein. Die Zusammensetzung des Quartetts änderte sich von Mal zu Mal, je nachdem, wer Zeit hatte. Manchmal begleiteten sie auch Vicar Emmanuel Hawthorne und seine Frau Jennifer. Meist waren sie mehrere Tage unterwegs, um South Pendrick und das Gebiet im Umkreis abzuklappern und so die Zuhörer mit Weihnachtsliedern zu erfreuen. Natürlich gegen entsprechende Spenden, die einem wohltätigen Zweck zugutekommen sollten. Ihr erster Termin in der Vorweihnachtszeit fand morgen Nachmittag im Krankenhaus von Bodmin statt. Bee freute sich schon sehr, den Patienten mit ein paar Liedern wieder etwas Glanz in die Augen zaubern zu können.

Bee steckte den Engel auf die Spitze, schlang die bunte Lichterkette um das Bäumchen und drückte auf den Schalter. Sie trat einen Schritt zurück und begutachtete ihr Werk. Ja, so sah das schön festlich aus! Zufrieden summte sie weiter das Lied, das sie zuletzt geprobt hatten und das sie weiter im Ohr begleitete.

Sie ging in die Küche, um Tee aufzusetzen. Den hatte sie sich verdient! Dazu ein Stück von dem fantastischen Früchtekuchen, den ihr Lebensgefährte Dr. Marcus Strong gestern gebacken hatte. Nach dem Tee würde sie weiter an dem Pullover stricken, den Marcus zu Weihnachten bekommen sollte. Marcus kam heute erst gegen acht Uhr abends. Er hatte Dienst in seiner Ordination in Bodmin. Zum Dinner für sie beide würde sie die Reste des Shepherd’s Pie aufwärmen.

Das Läuten der Türklingel unterbrach ihre Gedanken und sie fragte sich, wer das wohl sein mochte. Sie erwartete keinen Besuch. Dennoch ging sie zur Tür und öffnete.

»Oh, hallo Zoe!«

»Hallo Bee.« Das Mädchen lächelte sie schüchtern an. Ihr Anblick versetzte Bee wie so oft einen leichten Stich. Zoe glich ihrer Mutter in so vielem und erinnerte sie an die tragischen Ereignisse vor zwei Monaten. Die Wunden waren längst nicht verheilt.

»Komm rein.«

Zoe folgte ihr in den Flur, schälte sich aus dem Daunenmantel, legte die rosa Wollmütze ab und schlüpfte aus den Stiefeln. Sie war elf, aber klein und zierlich für ihr Alter, mit großen braunen Augen und dunkelbraunen, langen Locken. Schon jetzt konnte man ahnen, dass sie einmal eine attraktive Frau werden würde.

»Ist Noah heute da?« Das Mädchen wandte ihr das von der frischen Luft gerötete Gesicht zu.

»Nein, leider nicht«, meinte Bee bedauernd.

»Aber … heute ist doch Dienstag«, sagte das Mädchen enttäuscht. Dann schlug sie sich mit der Hand an die Stirn. »Blödsinn! Mittwoch. Ich hab’s verwechselt.«

Bee schmunzelte. »Kein Problem. Und Noah war auch gestern nicht bei mir. Mrs Longford, Dorothys Mum, ist angekommen. Seine andere, richtige Granny. Sie passt auf ihn auf.«

»Oh, schade.«

Bee tat die Kleine leid. »Möchtest du trotzdem dableiben? Dessy freut sich bestimmt. Ich habe Früchtekuchen und du könntest auch am Pullover für Kylie weiterarbeiten.«

Jetzt lächelte das Mädchen wieder. »Ja, klar!« Sie runzelte die Stirn. »Ich muss noch ganz viel machen. Hoffentlich wird er bis Weihnachten fertig.«

»Aber sicher, das wird schon.«

Bee ging voraus in die Küche, schnitt zwei Stück von dem Kuchen ab und legte sie auf die Teller. Für sich goss sie Tee in eine Tasse und für Zoe Orangensaft in ein Glas.

Das Mädchen huschte hinter ihr herein und setzte sich an den Tisch. Es war ein eingespieltes Ritual. Zuerst Süßigkeit und Saft, dann die Arbeit.

»Wie geht’s Kylie?«, fragte Bee beiläufig, während Zoe mit sichtlichem Genuss den Kuchen verspeiste. Das Mädchen zuckte mit den Schultern. »Gut, glaub ich. Sie ist viel unterwegs.«

»Wirklich?«

»Ja. Ich weiß aber nicht, wo. Sie hat ziemlich viele Geheimnisse.« Zoe sah sie ernst an. »Sie hasst alles. Tante Mary und Onkel John. Das Dorf. Die Schule. Dass wir in einem gemeinsamen Zimmer schlafen müssen. Einfach alles.«

»Oje. Und du?«

»Ich … ich weiß nicht recht. Ich mag die Lehrerin. Miss Longford. Sie ist sehr nett. Und Carol Hargrave. Ihre Brüder mag ich auch. Und dich.«

»Oh! Das … das freut mich.« Bee war gerührt. »Das freut mich sogar sehr.«

Das Mädchen rutschte vom Stuhl. »Darf ich jetzt zu Dessy?«

»Aber klar. Sie freut sich bestimmt auch.«

Während Bee das Geschirr abräumte, lief das Mädchen ins Wohnzimmer. »Oh, was für ein niedlicher Weihnachtsbaum!«

Als Bee folgte, genoss Dessy, weiße Langhaarkatze, bereits die ausgiebigen Streicheleinheiten. Bee hatte insgesamt fünf Katzen. Der schwarze Kater Othello war der einzige Freigänger und Jäger. Aber auch er verschlief im Winter gerne den Nachmittag in der warmen Stube. Er hatte es sich ebenfalls auf der Couch gemütlich gemacht. Der grau getigerte Jago hielt sich am liebsten in Bees Bett auf und die beiden Kartäuser Bella und Blue, die eigentlich Marcus gehörten, besetzten meistens seine Hälfte des Doppelbetts, obwohl sie im Schlafzimmer ein eigenes Körbchen bekommen hatten.

Das laute Schnurren Dessys erfüllte den kleinen Raum. »So, jetzt ist es aber genug«, meinte Zoe nach einer Weile und schob die Katze zur Seite. »Ich muss arbeiten.«

Bee holte den Korb mit der Handarbeit aus der Ecke im Wohnzimmer, in der sie ihre Woll- und Garnvorräte aufbewahrte. Zoe nahm den Pullover, an dem sie häkelte, nicht mit nach Hause, weil sie fürchtete, ihre Schwester könnte ihn finden. Bis der alte Pferdestall des Pubs umgebaut war und sie mehr Platz bekamen, mussten sich die beiden Mädchen ein Zimmer teilen.

Der Pullover war schwarz, Kylies Lieblingsfarbe. Das Muster bestand fast nur aus Luftmaschen und Stäbchen aus dicker Wolle. Für Geübte eine Arbeit von vielleicht zwei Tagen, für Zoe, die das Häkeln erst gelernt hatte, aber einiges an Mühe. Immerhin hatte sie bereits das Rückenteil fertig und begann jetzt mit dem Vorderteil.

Diese Beschäftigung half der Kleinen immerhin ein wenig über ihren Verlust und die radikale Veränderung in ihrem Leben hinweg. Sie hatte mit ihrer Schwester und ihrem Vater in London gelebt, bevor er unter tragischen Umständen ums Leben kam. Ihre Mutter Evelyn hatte Zoe nie wirklich gekannt. Mary Tremayne, die Schwester ihrer Mutter, und deren Mann John, die Inhaber des Tin Bell, hatten die beiden Mädchen aufgenommen, da es keine weitere Verwandtschaft gab. Auch sie hatten sich vorher nie gesehen. Natürlich vermissten die beiden Mädchen London und ihre Freundinnen aus der Schule, es musste sehr hart für sie sein.

Schweigen senkte sich auf das kleine Wohnzimmer, während Zoe konzentriert häkelte. Bee widmete sich der Bestandsaufnahme der restlichen Eierwärmer, die sie noch aufbewahrte. Früher hatte sie Unmengen davon gefertigt und sogar über eine eigene Website verkauft. Aber irgendwann hatte es ihr keinen Spaß mehr gemacht. Sie würde die übrig gebliebenen auf dem Kirchenbasar anbieten. Es waren noch dreißig Stück in den verschiedensten Designs. Sie hielt kurz inne, als sie vier in Cremeweiß mit winzigen aufgestickten Noten entdeckte. Die hatte sie damals angefertigt, als der Chorleiter Peter Bartholomew gestorben war. Sie seufzte heimlich. Da hatte alles angefangen. Seitdem war sie bereits in einige Todesfälle verwickelt worden, manchmal sogar unter Lebensgefahr. Das letzte Ereignis war erst zwei Monate her und sie hoffte inständig, dass zumindest bis Weihnachten nichts mehr geschah. Sie warf einen Seitenblick auf die eifrig mit ihrer Handarbeit beschäftigte Zoe. Es war wirklich genug. Sie alle hatten sich ein friedliches Fest mehr als verdient.

Bee packte die Eierwärmer in eine Tasche. Wenn sie Zoe zurück nach Hause begleitete, würde sie sie gleich mitnehmen und im Pfarrhaus deponieren. In ein paar Tagen sollte mit den Vorbereitungen zum Kirchenbasar begonnen werden. Bernard Trotter und Richard Hargrave zimmerten gerade die Stände für die Waren.

Dann widmete sie sich ihrer eigenen Handarbeit, dem Weihnachtsgeschenk für Marcus. Der hellgraue Pullover mit dem Rautenmuster in Weiß und Dunkelgrau auf dem Vorderteil würde ihm hervorragend stehen.

»Der ist so schön«, sagte Zoe bewundernd und strich vorsichtig mit der Hand über den flauschigen Mohair. »Das möchte ich auch können.«

»Das wirst du, ganz bestimmt. Es ist nur Übungssache«, meinte Bee. »Ich bin mir sicher, Kylie wird sich über den Pullover freuen. Er sieht wirklich cool aus.«

»Wirklich?« Zoes Lächeln vertrieb für einen Moment den traurigen Ausdruck in ihrem Gesicht.

»Ganz bestimmt.« Bee hätte ihr gerne tröstend über das Haar gestrichen, ließ es aber dann. Zoe war mit ihren elf schon fast ein Teenager, auch wenn sie jünger wirkte. Es wäre ihr nur peinlich gewesen.

Sie arbeiteten in einträchtigem Schweigen weiter, bis die Uhr sechs schlug.

Zoe legte die Handarbeit zur Seite. »Ich muss gehen«, sagte sie bedauernd.

»Ja, natürlich.« Bee stand auf. Es hatte sich eingebürgert, dass Bee das Mädchen heimbegleitete. Zoe hatte Angst in der Dunkelheit. Das war schon immer so, wie ihr die Kleine ernsthaft erklärt hatte. Um sieben gab es bei den Tremaynes Abendessen, also wäre sie rechtzeitig daheim.

Wenig später verließen sie das Haus. Bee sperrte ab und steckte den Schlüssel ein. Eine neue Angewohnheit nach den Ereignissen im Herbst. Damals hatten das Verschwinden von Evelyn Chambers, der Mutter von Kylie und Zoe, und der Tod ihres Vaters für großen Aufruhr gesorgt.

Gemeinsam gingen sie die Zufahrt hinunter. Es war bereits finster, Bee schauderte ein wenig in der frischen Luft.

»Wird es Schnee zu Weihnachten geben?« meinte Zoe.

»Ich fürchte nicht. In Cornwall schneit es eigentlich nie. Es ist zu warm.«

»Schade. In London hat es manchmal geschneit. Aber meistens nur ein bisschen. Nur einmal war es mehr. Da haben wir vor dem Haus einen Schneemann gebaut. Am nächsten Tag war er schon wieder geschmolzen.«

Bee musste schlucken, als sie das Bedauern in der Stimme des Mädchens hörte.

Sie öffnete die Gartenpforte, betrat die Straße.

»Gibt es hier eigentlich auch einen Weihnachtsmarkt? Ich habe gehört, es gibt einen Kirchenbasar, aber das ist nicht dasselbe, oder?«

Bee schüttelte den Kopf. »Nein, ich fürchte, das ist nicht dasselbe. South Pendrick ist nicht sehr groß, wir haben nur die Lichterketten über der Straße. Wenn die aufgehängt werden, ist das immer ein nettes Fest. Aber das hast du ja erlebt. Dann natürlich die Weihnachtsdekorationen in den Läden und im Pub. Zwar wird es auf dem Basar einige Stände mit Handarbeiten, auch Süßigkeiten und Glühwein geben, aber längst nicht so tolle Sachen wie in London.«

»Wir waren mit Dad mal im Hyde Park. Da kann man Eislaufen. Und in der Oxford Street. Das war toll. Und bei Fortnum & Mason. Aber da waren so viele Leute, wir mussten Schlange stehen, damit wir in das Geschäft konnten.«

»Ja, das kann ich mir vorstellen. Ich war vor vielen Jahren mal vor Weihnachten in London. Ich war froh, als ich es hinter mir hatte.« Bee lachte.

»Hier ist es gemütlicher«, sagte Zoe sachlich. »Sieh mal! Petula und Jasper haben auch schon Weihnachtsschmuck!« Sie zeigte auf das Witwenhaus, an dem sie gerade vorbeigingen. In den Fenstern auf der Seite des Fußwegs schimmerten beleuchtete Sterne und große Schneeflocken aus Glas. Das Licht warf gelbe Flecken auf den Boden. Irgendwie fand Bee den Anblick tröstlich. Auch den des Kranzes aus Stechpalmen- und Tannenzweigen, der an der Tür hing. Er war mit einer großen roten Schleife verziert.

Sie überquerten die North Road und betraten den Fußweg, der an der Rückseite des Pubs vorbeiführte. Die Baustelle war zu dieser Tageszeit verwaist, Bee erahnte die Umrisse des alten Pferdestalls mehr, als sie sie sah. Sie betraten durch die Hintertür das Pub. Dort empfing sie Wärme, der Geruch nach Essen und Bier. John stand hinter dem Tresen und zapfte gerade Getränke für die Bauarbeiter, die nach Feierabend dort verköstigt wurden. Derzeit waren es Zimmerleute, die den Dachstuhl fertigten. Er winkte ihnen zu. »Hallo, Ladies! Alles klar?«

»Ja, sicher, alles bestens«, sagte Bee.

»Danke, dass du Zoe heimgebracht hast. Willst du auf einen Tee bleiben? Oder darf’s ein Halfpint sein?«

»Nein, vielen Dank. Ich muss noch ins Pfarrhaus.« Sie hob die Tasche, die sie in der Hand trug.

»Verstehe.« Er lächelte sie an und wandte sich wieder seinen Gästen zu.

»Ich geh mal in die Küche«, meinte Zoe. »Tante Mary ist bestimmt dort. Danke fürs Nachhausebringen«, sagte sie zu Bee.

Nach Hause. Das berührte Bee seltsam. Es hörte sich nach einem Neubeginn an. Etwas, das sie den beiden Waisen von Herzen wünschte. Niemand verdiente ein solches Schicksal. Zumindest durften Kylie und Zoe nun in einer liebevollen Umgebung bei ihrer Tante Mary Tremayne, der Schwester ihrer Mutter, und deren Mann John aufwachsen. Die Tremaynes betrieben das einzige Pub in South Pendrick und hatten selbst keine Kinder. Die Erinnerungen an London und ihren Vater würden die beiden Mädchen aber vermutlich immer verfolgen und vielleicht auch traurig machen.

Bee seufzte. Sie hätte gerne an Fröhlicheres gedacht, schließlich war Weihnachten nicht mehr fern. Nur mehr vier Wochen. Was sie daran erinnerte, dass sie ihre Spende noch abliefern musste. Sie verabschiedete sich von Zoe und verließ das Pub.

Der Anblick der geschmückten Häuser versöhnte sie wieder ein wenig und als sie gleich darauf den riesigen Weihnachtsmann entdeckte, der aussah, als würde er über die Fassade der Schule klettern, musste sie grinsen. Es würde bestimmt keine merkwürdigen Todesfälle oder sonstige unliebsamen Ereignisse vor Weihnachten mehr geben, oder?

Kapitel 3

Weihnachten 1969

Liebes Tagebuch!

Das ist mein erster Eintrag. Ich habe dich – nein, das klingt dumm! Ich glaube nicht, dass ich es schaffe, dieses Buch wie eine Freundin zu sehen, mit der ich alles besprechen kann, wie Mutter meinte. Obwohl ich nicht wirklich viele Freundinnen habe. Die meisten Mädchen in meinem Alter finde ich einfach nur kindisch. Sie interessieren sich für Puppen, Kleider und Märchen von Prinzen und Prinzessinnen. Ich nicht. Ich interessiere mich für Mathematik und Physik. Mein Vater sagt, dass ich klug für meine zehn Jahre sei. Das ist, glaube ich, das Einzige, was er an mir gut findet. Am meisten stört ihn, dass ich ein Mädchen und kein Junge geworden bin. Das hat meine Mutter einmal gesagt, als sie geglaubt hat, ich könnte es nicht hören. Aber mir fällt mehr auf, als sie denken.

Dieses Weihnachtsfest war zuerst eigentlich nicht anders als sonst auch. Wir haben am Abend die Tischdekoration vorbereitet und die Socken an den Kamin gehängt. Danach haben wir den Gottesdienst in der St. Giles Church besucht.

Am Weihnachtstag bin ich schon um halb sieben aufgewacht. Ich konnte nicht mehr einschlafen, aber ich musste bis halb acht in meinem Zimmer bleiben. Die Bescherung findet immer um diese Zeit statt und vorher dürfen wir Vater und Mutter nicht stören. Obwohl ich schon lange nicht mehr an den Weihnachtsmann glaube, war ich doch ein wenig aufgeregt. Die Feiertage sind schon etwas Besonderes. Es gibt viel Gutes zu essen und alles ist schön geschmückt. Vater ist dann auch nicht ganz so streng wie sonst und Mutter hat viel bessere Laune.

Die Zwillinge haben Spielsachen bekommen und ich Bücher und ein Puzzle mit fünfhundert Teilen. Es zeigt ein Bild von Venedig und wird bestimmt schwierig wegen der vielen Weiß- und Blautöne. Am liebsten wollte ich gleich damit anfangen.

Wir haben auch neue Kleider bekommen. Die Zwillinge haben sich darüber gefreut, sie mögen Rüschen und Blümchen. Das von Penelope ist rosa und das von Helena blau. Sie sehen allerliebst darin aus, meinte Mutter. Wie Puppen. Mit großen blauen Augen und langen blonden Locken. Sie sind sieben, also drei Jahre jünger als ich.

Mein Kleid ist grün und es sieht auch so aus wie das von Penelope und Helena. Ich mag Grün zwar, aber keine Rüschen und Blumen. Und zu mir sagt niemand, dass ich allerliebst aussehe. Ich bin anders. Ich habe braunes, glattes Haar und graue Augen. Angeblich sehe ich meinem Vater ähnlich und das ist eigentlich nicht so toll. Mein Vater ist groß und dünn, er trägt eine Brille und wirkt immer streng. Er lacht so gut wie nie.

Meine beiden kleinen Schwestern sehen aus wie meine Mutter. Sie ist zart und empfindlich, deshalb ist sie oft krank. Auch heute hat sie sich nach dem Mittagessen ausruhen müssen. Manchmal denke ich, dass mein Vater sie krank macht. Ich weiß, das sollte ich nicht so sagen, aber in dieses Buch soll ich die Wahrheit schreiben. Auch das hat meine Mutter mir aufgetragen. Schreib die Wahrheit, Ariadne!

Komisch. Ich weiß nicht genau, was sie gemeint hat.

Aber eigentlich wollte ich erzählen, welche Weisheit uns mein Vater heute gesagt hat. Ich habe mir alles genau gemerkt.

Er sagte, dass es drei Arten von Menschen gibt. Solche, die innen schön sind. Dabei hat er mich angesehen. Ich habe mir gedacht, das ist, weil ich klug, aber hässlich bin.

Dann gibt es solche, die außen schön sind. Damit hat er bestimmt Penelope gemeint. Sie ist hübsch, aber ziemlich dumm.

Und dann die, die außen und innen schön sind. Damit meint er Helena. Sie ist sein Liebling, weil sie klug und hübsch ist. Sie kann schon fließend lesen, sehr gut rechnen und lernt seit dem Herbst Latein. Er hat Helena auf den Schoß genommen und ihr einen Kuss gegeben.

Obwohl mein Vater sehr gescheit ist und vielleicht recht hat, war es nicht nett, was er gesagt hat. Das glaube ich zumindest.

So, für heute habe ich genug geschrieben! Morgen werde ich dann erzählen, wie es weitergegangen ist.

25. Dezember 1969

Ich muss unbedingt etwas über Ari schreiben! Das ist nämlich jetzt unser Hund! Er war in einer großen Schachtel, die mit einer roten Schleife zugebunden war. Helena durfte die Schachtel aufmachen. Er ist weiß, klein und sehr kuschelig. Vater sagt, es ist ein Malteser. Er heißt Aristoteles, aber das ist viel zu lang. Deshalb nennen wir ihn Ari. Am meisten freute sich Penelope, aber es war gleich klar, dass er für Helena war. Sie hat ihn mit auf ihr Zimmer genommen und Penelope hat geheult.

Ich werde jetzt noch kurz erzählen, wie ich dieses Tagebuch bekommen habe. Das war nämlich etwas Besonderes. Es war nach dem Mittagessen. Da müssen wir immer auf unser Zimmer gehen. Plötzlich hat es an der Tür geklopft. Ich war ganz überrascht, dass es Mutter war, weil sie sich nach dem Essen meistens ausruht. Und da hat sie mir das Tagebuch gegeben. Es ist wunderschön. Der Einband ist aus dunkelgrünem Samt, darauf steht »Mein Tagebuch« in goldener Schrift. Ein kleines goldenes Schloss mit einem winzigen Schlüssel ist daran.

Ich war so überrascht, dass ich beinahe vergessen hätte, mich zu bedanken. »Das ist nur für dich«, hat sie gesagt und mich dabei ganz merkwürdig angesehen. »Schreib die Wahrheit auf. Ich weiß, dass du sie erkennen wirst. Und zeige es niemandem, nicht deinem Vater und nicht deinen Schwestern. Es soll ein Geheimnis bleiben.«

So ganz verstehe ich nicht, was sie gemeint hat, aber ich werde ihren Rat befolgen. Ich werde alles aufschreiben und das Buch gut verstecken, damit niemand es findet. Das ist mein besonderes Weihnachtsgeschenk und es ist mir lieber als ein Hund.

Ariadne Prescott schloss das Buch mit dem grünen Samteinband und legte es zur Seite. Warum war ihr das ausgerechnet jetzt in die Hände gefallen? Welcher Teufel hatte sie geritten, es aufzuschlagen und darin zu lesen? Minutenlang starrte sie nur vor sich hin, überwältigt von einer wirren Gedankenflut. Sie hatte das Tagebuch vergessen, sie musste es zusammen mit anderen Kindheitserinnerungen bei ihrem Umzug nach South Pendrick mitgenommen haben.

Eigentlich hatte sie nach der Schachtel mit dem Weihnachtsschmuck gesucht. Dabei hatte sie es gefunden, eingeklemmt an der Regalrückwand.

Sie öffnete die Schachtel und tastete geistesabwesend darin herum. Den größten Teil des Schmucks hatte sie verschenkt, nur ein paar lieb gewordene Stücke hatte sie behalten. Den goldenen Stern für die Spitze, der jetzt viel zu groß für den winzigen Baum war. Den roten Doppeldeckerbus, bestäubt mit Glitzer, den Hugh zu ihrem ersten gemeinsamen Weihnachtsfest gekauft hatte. Oder die goldene Kugel mit den Schneeflocken zur Geburt ihrer ältesten Tochter Lilian. Dann gab es noch den Weihnachtsbaum in Grün-Gold, den bunten Nussknacker und etliche Stücke mehr, von denen sie sich nicht hatte trennen können, weil sie sie ebenfalls an besondere Ereignisse erinnerten. Sehr viel mehr brauchte sie auch nicht für den etwa zwanzig Inch hohen Baum, der gerade auf einem Tisch im Wohnzimmer des Cottage Platz fand.

Weihnachten machte sie immer wehmütig. Sie sehnte sich nach der Zeit zurück, als noch die ganze Familie versammelt war. Hugh, ihr Mann, und die beiden Mädchen. Jetzt war sie allein. Zum Glück durfte sie die Feiertage bei Lilian und ihrer Familie verbringen. Ein Lichtblick.

Sie seufzte und starrte wieder auf das Buch, ein Relikt ihrer unglücklichen Kindheit und Jugend. Die Wahrheit. Wenn sie damals geahnt hätte, wie schmerzlich das alles werden würde, hätte sie nie …

Der Brief fiel ihr ein. Natürlich, das fehlte jetzt noch! Er musste irgendwo sein, auch wenn sie geglaubt hatte, ihn ignorieren zu können.

Aber so leicht war das nicht. Die Vergangenheit konnte man nicht vergessen oder beiseiteschieben. Sie rächte sich immer wieder, drängte sich in die Gegenwart hinein, forderte Aufmerksamkeit. Das hatte ihr gerade der Fund des Tagebuchs wieder gezeigt. Nun denn, wenn sie schon dabei war, alles wieder hervorzukramen, konnte sie diesen Brief genauso gut endlich lesen.

Sie durchsuchte den Stapel Papier auf dem Schreibtisch im Wohnzimmer und sortierte dabei die alten Zeitschriften und Zeitungen aus. Es war ohnehin an der Zeit, aufzuräumen. Sie fand das Kuvert zwischen einer Broschüre für Gartenmöbel und einem Blumensamenkatalog, nahm es und drehte es unschlüssig in den Händen. Der Poststempel war vom siebzehnten Juni dieses Jahres, die Adresse in der runden, zierlichen Schrift ihrer Schwester Penelope. Sie hatte sie sofort erkannt, obwohl sie Penelope seit Jahren nicht mehr gesehen hatte. Eine Welle von Zorn und Ablehnung hatte sie damals erfüllt und sie veranlasst, das Ding einfach wegzulegen. Auch jetzt zögerte sie. Dann gab sie sich einen Ruck, schlitzte das Kuvert mit dem Brieföffner auf und entfaltete den Bogen. Cremeweißes Papier, ein eleganter Briefkopf mit dem Wappen der Hamiltons. Ariadne stieß ein zugleich schmerzliches und zorniges Schnauben aus. Am liebsten hätte sie das Papier zerknüllt. Aber dann las sie doch.

Liebe Ariadne, liebste Schwester,

ich hoffe, ich darf Dich immer noch so nennen, obwohl das Zerwürfnis zwischen uns so tief ist. Du wirst Dich wundern, dass ich Dir nach so vielen Jahren schreibe.

»Tja, da hast du recht«, konnte Ariadne sich nicht verkneifen, zu murmeln.

Es hat eine Weile gedauert, bis ich deine aktuelle Adresse herausgefunden habe, und war überrascht, dass du jetzt gar nicht so weit entfernt wohnst. Hat es dich unbewusst in meine Nähe gezogen? Aber diese Frage wirst du mir wahrscheinlich nicht beantworten.

Ich wende mich an dich, weil ich ein Problem befürchte. Es hängt mit unserer Familie zusammen. Ich möchte hier nicht näher darauf eingehen, aber ich würde mich freuen, wenn du mich einmal besuchen kommen würdest, damit wir darüber sprechen können.

Im Briefkopf findest du auch meine Telefonnummer. Bitte melde dich. Es wäre schön, wenn wir unsere Feindschaft beenden könnten.

In Liebe

Penelope

»Drama Queen«, fauchte Ariadne verächtlich. »Darauf kannst du lange warten.«

Sie bereute, den Brief doch noch geöffnet zu haben. Er sagte gar nichts aus, war nur ein Betteln um Aufmerksamkeit. Typisch Penelope. Es war gut, dass sie sich nicht bei ihr gemeldet hatte.

Sie knüllte das Papier mit einer heftigen Bewegung zusammen und warf es in den Abfallkorb. Um nichts in der Welt würde sie jemals wieder mit dieser Frau sprechen wollen!