Weihnachtswundernacht 3 -  - E-Book

Weihnachtswundernacht 3 E-Book

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Beschreibung

24 lustige, nachdenkliche und spannende Geschichten laden dazu ein, die Vorweihnachtszeit mit ihrem Charme und ihren Verheißungen zu erleben. Bestens geeignet, um bei einer Tasse Tee und Kerzenschein zu entschleunigen und sich auf das Wunder der Weihnachtszeit zu besinnen.

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Thomas Klappstein (Hrsg.)

24 Erzählungen für die schönste Zeit des Jahres

Mit dabei sind:

Albrecht Gralle, Fabian Vogt, Clemens Bittlinger,

Frank Bonkowski, Karissa Metcalfe, Jakob Friedrichs,

Jürgen Werth, Annekatrin Warnke, Hans Steinacker,

Joachim „Jojo“ Zwingelberg, Carsten „Storch“ Schmelzer,

Martin Schultheiß, Fritz Pawelzik, Samuel Diekmann,

Christian Döring, Christina Brudereck, Klaus-Günther Pache,

Christiane Ratz, Andreas Malessa, Petra Piater, Jan Hanser,

Rebekka Gohla, Mickey Wiese

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

ISBN 978-3-86506-951-1

© 2014 by Joh. Brendow & Sohn Verlag GmbH, Moers

Text vom 20. Dezember aus „WeihnachtsSchmuckGeschichten“,

Petra Lütjen-Hahn (Hrsg.), © 2012 Brunnen Verlag Gießen

Einbandgestaltung: Brendow Verlag, Moers

Titelgrafik: fotolia

Satz: Brendow Web & Print, Moers

E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH 2016

www.brendow-verlag.de

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Vorwort des Herausgebers

1. Ruhe!

ALBRECHT GRALLE

2. Der Tag, an dem Weihnachten verschwand

FABIAN VOGT

3. Die Weihnachtswundernacht und ihre Personen – Betrachtungen

CLEMENS BITTLINGER

4. Der Tyrann

FRANK BONKOWSKI

5. Maria sagte Ja

KARISSA METCALFE

6. Wie viele Weihnachtsgeschichten gibt es?

JAKOB FRIEDRICHS

7. Die Stadt, die Weihnachten vergessen hatte

JÜRGEN WERTH

8. Hinterm Horizont

ANNEKATRIN WARNKE

9. Ein Lied geht um die Welt: „O du fröhliche, o du selige“

HANS STEINACKER

10. Familienstreit – ein weihnachtliches Prinzip

JOACHIM „JOJO“ ZWINGELBERG

11. Erlösung

CARSTEN „STORCH“ SCHMELZER

12. Die Überraschung

MARTIN SCHULTHEISS

13. Am 1. Advent auf dem Kilimandscharo – mit Halleluja und hohem Strahl

FRITZ PAWELZIK

14. Interview mit einem Engel

SAMUEL DIEKMANN

15. Wikingerweihnacht

THOMAS KLAPPSTEIN

16. Wenn Geschichten Kreise ziehen, ist Weihnachten nah

CHRISTIAN DÖRING

17. Weihnukka

CHRISTINA BRUDERECK

18. Termingerecht

KLAUS-GÜNTER PACHE

19. Bleibend ist deine Treu

CHRISTIANE RATZ

20. Celestine

ANDREAS MALESSA

21. Wehe, wenn am 24. die Wehen kommen

PETRA PIATER

22. 3 Badgets

JAN HANSER

23. Das entspannt-friedliche Weihnachtschaos

REBEKKA GOHLA

24. Das fünfte Lichtlein – der Gott der zweiten Chance

MICKEY WIESE

Die Autorinnen und Autoren

Der Tag, an dem Weihnachten und Ostern für mich auf einen Tag fallen, istder Tag, an dem ich dieses Vorwort schreibe. Die ersten Textmanuskripte für ein Buch mit adventlich-weihnachtlichem Inhalt werden in der Regel am Beginn eines Jahres geschrieben, und die letzten Texte trudeln dann um die Osterzeit herum beim Herausgeber ein. So sitze ich nun an diesem Osterfest des Jahres 2014 und formuliere ein Vorwort für ein Buch, das die Zeit um Weihnachten herum zum Inhalt hat. Und die Osterkerze, das Osterlicht, das in der Nacht von Ostersonnabend auf Ostersonntag vielerorts entzündet und in die Kirchen getragen wird und dadurch Licht bringt in die Finsternis, erinnert an die vielen Kerzen, die in den Advents- und Weihnachtstagen entzündet werden und für Licht und Gemütlichkeit in dunkler Jahreszeit sorgen. Damit schließt sich dann auch ein Kreis. Denn ohne Weihnachten kein Ostern. Ohne die Geburt des Gottessohnes kein Tod und keine Auferstehung von Jesus Christus. Jedes Jahr neu wird dieser theologische Zyklus bedacht.

Und nun liegen wieder 24 Texte von tollen Autorinnen und Autoren vor mir, die sich Gedanken darüber gemacht haben, inspirieren ließen und in ihren Texten aufgeschrieben haben, was in und durch so eine Weihnachtswundernacht alles passieren kann, was auf einmal möglich wird. Fiktive Geschichten, auch einige persönlich erlebte Storys oder Impulstexte. Zum dritten Mal. In vielen unterschiedlichen Facetten und Stilen.

Ist Ihnen das Kaleidoskop noch ein Begriff, liebe Leserin, lieber Leser? Dieses optische Gerät, das häufig als Kinderspielzeug verwendet wird und in viel früheren Jahren wohl auch des Öfteren als Geschenk unterm Weihnachtsbaum lag? Ein ausgefeiltes Guckrohr, in dem sich die Gegenstände mehrfach spiegeln, sodass ein schönes symmetrisches farbiges Muster sichtbar wird. Und jedes Mal, wenn man so ein Kaleidoskop nur ein wenig weiterdreht, entsteht ein neues, wunderbares Muster. Obwohl sich der Inhalt nicht verändert hat, nichts hinzugetan wurde, nichts weggenommen wurde. Aber die Bewegung, der neue Blick ergibt etwas Neues. Kaleidoskopmäßig.

Die Texte in diesem Buch sind für mich manchmal so wie mit einem Kaleidoskop. Jedes Mal, wenn ich hineinschaue, wird ein kleines Stück vom Weihnachtswunder sichtbar, das vor ungefähr 2000 Jahren seinen Anfang nahm. Und wenn ich dann daran drehe, also die Seiten umblättere oder an einer anderen Stelle erneut hineinschaue, zeigt sich manchmal ein völlig anderes Teil, ein anderer Aspekt dieser Wundernacht. Mal ist es einfach eine schöne Geschichte, die unterhält, mal fordert der Text einen persönlich heraus.

Alle Autorinnen und Autoren dieses Buches eint die Hoffnung und Sehnsucht, einen besonderen, einen speziellen Advent zu erleben und eine Weihnachtszeit, die voller Wunder steckt, die es zu entdecken gilt. An dieser Stelle möchte ich mich bei allen bedanken, die mitgemacht haben und die sich jetzt zwischen zwei Buchdeckeln auf literarischem Wege begegnen. Ihnen als Leserin und als Leser wünsche ich wieder anregende Momente während unseres gemeinsamen literarischen Weges durch die Advents- und Weihnachtszeit. Gesegnete Adventstage und -wochen, eine frohe Weihnachtszeit und zumindest ein echtes Weihnachtswunder.

THOMAS KLAPPSTEIN Duisburg / Hamburg, Ostern 2014

Es schneite mit großen, nassen Flocken, die im Scheinwerferlicht durch die Nacht taumelten, auf den Straßen schmolzen und einen schmierigen Belag hinterließen.

Philipp schaltete die Scheibenwischer an und sah auf die beleuchtete Uhr vor sich. Dann drückte er das Gaspedal stärker durch. Er wollte nicht zu spät kommen. Aber die Reifen seines Autos hatten etwas gegen die neue Geschwindigkeit und ließen das Auto schlingern.

Philipp erschrak, lenkte dagegen und fuhr langsamer weiter. Als er das Radio anstellte, hörte er einen Kinderchor irgendetwas Weihnachtliches singen.

Na ja, dachte er, die Welt wird nicht untergehen, wenn ich nicht ganz pünktlich bin. Aber es war ärgerlich, Tante Berta warten zu lassen, die seine Frau und ihn zum Abendessen erwartete. Und vorher musste er ja auch noch seine Frau abholen.

Jedes Mal machte Tante Berta ein Theater, wenn man nicht pünktlich erschien. Entschuldigungen galten bei ihr nicht. „Du musst immer ein Zeitpolster einbauen“, pflegte sie zu sagen, „dann kommst du nie zu spät.“

„Zeitpolster!“, murmelte er ärgerlich. Er hasste dieses Wort und sah eine Uhr vor sich, die in ein flauschiges, abgewetztes hässliches Polster eingenäht war. Er fand es viel reizvoller, sich vorzustellen, dass seine Uhr mit allen Uhren auf der Welt verbunden wäre. Und wenn er dann bei seiner Uhr die Zeit zurückstellte, würden alle anderen Uhren auch zurückgehen. Geradezu genial wäre das. Und wenn er dann …

Sein Handy klingelte. Sollte er für das Gespräch anhalten? Aber dann käme er noch später an. Er drückte auf den grünen Knopf.

„Ja?“

„Sind Sie das, Herr Mangold?“

„Ja.“

„Gut, dass ich Sie erreiche, dann kann ich meine Beschwerden direkt bei Ihnen loswerden …“

Philipp seufzte unhörbar und hörte sich den Redeschwall eines Kunden an, der mit dem Einbau der Küche nicht zufrieden war. Eine Schublade wurde von dem „Softeinzug“ nicht mitgenommen, und an einer Stelle sah das Design nicht so aus, wie es aussehen sollte. Das Muster wirkte, als ob es leicht verschoben sei.

Philipp wollte schon fragen, ob er eine Lupe mitbringen sollte, aber er beherrschte sich und sagte, dass er so bald wie möglich …

„Sie müssen morgen kommen. Herr Mangold! Morgen! Verstehen Sie? Ich habe einen großen Bekanntenkreis, und es würde Ihrer Firma sicher schaden, wenn ich denen erzähle, dass …“

Philipp hätte am liebsten die Augen geschlossen, aber das ging nun mal nicht beim Autofahren.

Er sehnte sich nach einem ruhigen Ort, wo die Uhren alle falsch gingen und die Telefone aus Marzipan waren. Dann würde er bei einem unangenehmen Gespräch einfach das Telefon aufessen.

Sie kamen wie erwartet zu spät, und natürlich fiel in den ersten Minuten auf dem Flur das Wort „Zeitpolster“. Das Abendessen zog sich mit einer quälenden Langsamkeit in die Länge, und seine Frau und er kamen müde zu Hause an. Eine Müdigkeit, die wie Blei in den Knochen lag. Die einzige positive Überraschung an diesem Abend bot ihnen der Schnee. Es war abends kälter geworden, die Flocken waren inzwischen liegen geblieben, und eine dicke, weiße Schicht hüllte jetzt alles ein.

Als Philipp später vom dunklen Wohnzimmer nach draußen blickte, kam es ihm so vor, als ob die Ruhe wie ein weißes Tuch über den Häusern der Stadt lag, denn der Neuschnee sah aus wie eine Bettdecke, die die Stadt zum Schlafen einlud.

Noch waren die Räumfahrzeuge nicht durch die Stadt gefahren, sodass die Straßen unberührt dalagen und ebenfalls auszuruhen schienen. Und noch war der Schnee auf den Dächern nicht ins Rutschen gekommen, sodass die Häuser weiße Schlafmützen trugen, aus denen die Schornsteine wie kleine Verzierungen herausragten.

Der Eindruck der völligen Ruhe war so stark, dass es Philipp vorkam, als lägen die Häuser im Tiefschlaf und atmeten langsam ein und aus.

Er sah auf seine Uhr: halb zwölf. Zeit, ins Bett zu gehen. Seine Frau war schon schlafen gegangen. Aber er konnte sich plötzlich von dieser gewaltigen Schneeruhe nicht losreißen. Und so öffnete er die Glastür, die zur Terrasse führte, und trat einen Schritt nach draußen.

Kalte, feuchte Luft umfing ihn. Es tat gut, den Schneegeruch einzuatmen, der nach frischer Wäsche roch, nach längst vergangenen Schneeballschlachten aus Eis und Schweiß und nach etwas, das man nicht erklären konnte. Vielleicht nach Polarluft?

Die Scheinwerfer eines Autos zuckten kurz über die Häuserwände, und das Brummen eines Motors war zu hören. Aber es klang seltsam gedämpft und nahe, als sei die ganze Stadt in ein großes Wohnzimmer mit weichen Teppichen verwandelt worden und als säßen die Leute in der Straße dicht gedrängt auf einer riesigen Couch.

Irgendwo weit weg rauschte ein Zug vorbei. Und diesmal hörte sich sein Rattern sogar lauter an als sonst. Der Schnee hatte die gewohnten Geräusche und Entfernungen durcheinandergebracht und eine neuartige, lebendige Stille geschaffen.

Philipp spürte, wie die Kälte seine Schultern erfasste. Aber anstatt nach drinnen zu gehen, die Tür zu schließen und sich aufzuwärmen, zog er sich den Mantel an und trat wieder auf die verschneite Terrasse, sogar noch einen Schritt weiter hinaus und blieb wie verzaubert stehen. Im Lichtkegel einer Straßenlaterne sah er die Flocken wie Mehl durch die Luft wirbeln, und auf seinen Händen spürte er die kühlen, leichten Berührungen des Winters.

Und langsam, als gäbe es einen inneren Zusammenhang zwischen Schnee und Seele, fielen mit den kalten Flocken die Dinge der täglichen Routine von ihm ab. Es kam ihm vor, als rutschten sie von seinen Schultern und plumpsten in den Schnee: der Zeitdruck, der immer noch auf ihm gelastet hatte, obwohl das Abendessen längst vorbei war, das unangenehme Telefongespräch, das ihn nicht losließ, die Aufgaben, die er heute nicht geschafft hatte, und der unerfüllte Wunsch nach einem Leben ohne Uhren.

Fast sah er die Alltagslasten vor sich, wie sie im Schnee versanken und von den wirbelnden Flocken zugedeckt wurden: eine Uhr, einen Telefonhörer, den Terminkalender und sein unzufriedenes Herz. Alles vom Winter verweht. Seine Schultern strafften sich.

Er blickte nach oben. Über ihm waren die Schneewolken aufgerissen, und dahinter zeigte sich ein schwarzer Himmel, der übersät war mit wunderbar funkelnden Lichtern. Schweigend sahen sie auf Philipp herab, und er stellte sich vor: Wenn nur jeder Planet und jede Sonne einen kleinen, winzigen Ton von sich geben könnte, dann würde über seinem Kopf ein gewaltiger Akkord durch die Nacht brausen.

Und wer weiß? Vielleicht gab es das ja auch. Hatte er nicht erst neulich gelesen, dass die Erde sich unmerklich rhythmisch zusammenziehen und ausdehnen würde und einen tiefen Summton abgab, der aber für menschliche Ohren nicht wahrnehmbar war?

Vielleicht hatten ja tatsächlich jeder Planet und jede Sonne einen eigenen Ton, und niemand hatte diese Musik bisher gehört?

Nur einmal war ein himmlischer Gesang durch die Nacht geweht, als statt der Schneeflocken Engel die Luft erfüllten und ihre Musik die Nacht berauschte.

Und selbst dann hatten es nicht alle Menschen mitbekommen, nur ein paar einfache Hirten mit ihren Schafen.

Was für eine Nacht musste das gewesen sein, dachte Philipp und beobachtete seinen Atem, der als weiße Fahne in den Himmel stieg.

Der Gott des Himmels und der Erde, den sonst niemand sehen durfte, ohne zu sterben, wurde zu einem Säugling, zeigte sein Gesicht und gab sich hilflos in die Hände der Menschen. Alle Vorstellungen über Gott zerbrachen wimmernd in diesem Stall. Und zwischen den Scherben lag das Kind.

Eine seltene Feierlichkeit legte sich über Philipps sorgenfreien Nacken wie ein kostbarer, wärmender Schal, und er ahnte, dass alles seitdem einen tieferen Sinn hatte, auch die scheinbar nebensächlichsten Dinge: das Schreien eines Kindes, das Schnauben eines Esels, die abgearbeiteten Hände eines Hirten und die geheimen Gedanken einer Frau.

Was wäre aber, überlegte Philipp weiter, wenn auch seine eigenen, kleinen Alltagsdinge in tiefere Zusammenhänge eingebettet waren, tiefer, als er dachte?

Hatte nicht dieses Kind später einmal gesagt, als es erwachsen war, dass selbst die Haare auf unserem Kopf gezählt sind und dass also ein herabfallendes Haar beim Kämmen von der göttlichen Vorsehung wahrgenommen wurde?

Was für eine gewaltige Vorstellung!

Das würde ja bedeuten, dass auch jetzt, während er hier stand und auf die verschneite Straße sah, der Himmel an diesem Augenblick Anteil nahm. Gab es dann überhaupt Einsamkeit?

Während Philipp ein- und ausatmete, schien es ihm, als öffnete sich in ihm eine Tür, ungefähr dort, wo sein Herz schlug, und ein Strom aus purer Freude schwebte heraus. Freude darüber, dass er mit seiner ganzen Existenz wahrgenommen und geliebt wurde von diesem fernen und zugleich nahen Gott.

Und es war jetzt für Philipp vollkommen naheliegend, fast logisch, dass er seine Arme ausbreitete und in die Nacht dreimal ein lautes „Halleluja“ hinausschrie.

Ein paar Sekunden blieb es still, dann öffnete sich im Nachbarhaus quietschend ein Fenster. Jemand beugte sich heraus und rief: „Ruhe!“

ALBRECHT GRALLE

Pfarrer Noel schwieg einen Moment am Ende der Leitung. Dann sagte er ruhig und mit einem leicht seelsorgerlichen Tonfall: „Ich glaube, ich habe Sie nicht verstanden. Was möchten Sie?“

Joachim unterdrückte eine flapsige Bemerkung und presste den Hörer noch fester ans Ohr. „Ich will wissen, warum Sie heute keinen Gottesdienst feiern. Sehen Sie, Herr Noel, meine Tochter Charlotte freut sich schon seit Tagen aufs Krippenspiel – doch als wir eben an Ihre Kirche kamen, war alles dunkel. Stockdunkel.“

Wieder schwieg der Theologe. Dann murmelte er: „Krippenspiel? Was soll denn das sein?“

Joachim brauste auf: „Na, hören Sie mal, Sie werden ja wohl wissen, was ein Krippenspiel ist. Sie haben doch Theologie studiert.“

Offensichtlich war der Pfarrer mehr amüsiert als beleidigt, denn er sagte: „Nein, tut mir leid, ich habe keine Ahnung. Aber vielleicht erklären Sie es mir – also: Was soll das sein … ein Krippenspiel?“

Langsam wurde der Familienvater richtig sauer. „Sie verarschen mich. Oder? Ist das hier so ein blöder Scherzanruf vom Radio?“

Pfarrer Noel lachte. „Bestimmt nicht. Außerdem haben Sie ja mich angerufen.“

Joachim grummelte. „Stimmt. Aber ich komme mir trotzdem ziemlich bescheuert vor, wenn ich Ihnen, einem promovierten Geistlichen, jetzt erkläre, was ein Krippenspiel ist. Soll ich das wirklich? Meinen Sie das ganz ernst?“

„Ich bitte darum.“

„Wirklich! Ich fass es nicht. Na gut … also: Ein ‚Krippenspiel‘ ist so eine Art kleines Theaterstück, in dem die Geburt Jesu beschrieben wird. … Wie Maria und Josef nach Bethlehem kamen … wie kein Platz mehr in den Herbergen war … und wie die hochschwangere Maria in einen Stall ausweichen musste … und da bekam sie dann ihr Kind Jesus und legte es in eine Krippe … eine Futterkrippe für Tiere … deshalb der Name ‚Krippenspiel‘. Und für meine kleine Tochter ist dieses Krippenspiel jedes Jahr der Höhepunkt von Weihnachten …

Also, mal ehrlich … Sie machen sich doch gerade lustig über mich. Aber da kann ich nur sagen: Besonders christlich finde ich das nicht.“

Pfarrer Noel räusperte sich. Dann sagte er: „Ich versichere Ihnen, dass meine Fragen ganz ernst gemeint sind. Ich kannte diese kleine Geschichte tatsächlich noch nicht. Und auch nicht dieses … wie haben Sie das genannt? ‚Weihenachten‘?“

Joachim verschlug es kurz die Sprache. Dann blökte er los: „Jetzt reicht’s aber. Es heißt ‚Weihnachten‘. Und Sie werden ja wohl wissen, was Weihnachten ist. Falls nicht, sollte ich vielleicht mal mit Ihrem Bischof reden. Dann haben Sie nämlich ein gewaltiges Problem.“

Der Theologe versuchte zu beschwichtigen. „Das Ganze ist sicher nur ein Missverständnis. Vielleicht können wir ja gemeinsam Licht ins Dunkel bringen. Noch mal von vorne: Wenn ich Sie richtig verstehe, dann hätten Sie gerne, dass unsere Gemeinde anlässlich dieses ‚Weihnachten‘, wie Sie es nannten, eine Geburtsgeschichte Jesu nachspielt …“

Joachim unterbrach ihn rüde: „Sind Sie völlig behämmert? Was reden Sie da eigentlich? Weihnachten ist das große Fest der Kirche. Der Höhepunkt des Winters. Das zentrale Ereignis im Kirchenjahr. Und Sie machen hier einen auf Totalamnesie. Wissen Sie, was ich glaube: Sie sollten mal einen Arzt aufsuchen. Einen Experten für Gedächtnislücken. Und zwar dringend. Ganz dringend! Kleine Frage am Rand: Sie wissen aber schon, wer Jesus ist. Oder soll ich Ihnen das auch erklären?“

Pfarrer Noel klang jetzt irritiert. „Natürlich weiß ich, wer Jesus ist. Und ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie etwas entspannter mit mir reden würden, weil …“

„Entspannt? Mit einem Pfaffen, der nicht mal Weihnachten kennt. Sie haben Ihr Examen ja wohl im Lotto gewonnen. Und das mit Ihrer Promotion wird mir auch immer suspekter … weiß der Kerl nicht, was ein Krippenspiel ist. Tja … Übrigens: Nebenan im Kinderzimmer weint sich meine Tochter gerade die Seele aus dem Leib, weil unsere Gemeinde nicht in der Lage ist, das ‚Fest der Feste‘ angemessen zu gestalten.“

Diesmal unterbrach der Theologe den erbosten Anrufer, freundlich, aber bestimmt: „Mal ganz langsam. Woher haben Sie denn diese Geschichte mit der Geburt in einem Stall?“

„Hallo? Ich habe das Gefühl, ich bin im falschen Film. Die Bibel! … Das Lukasevangelium. Sagt Ihnen das was? Ich glaube, das steht alles im zweiten Kapitel.“ Seine Stimme überschlug sich: „Soll ich es Ihnen vorlesen? Im Studium haben Sie den Part ja offensichtlich verschlafen.“

Der Pfarrer brummte: „Seien Sie doch so freundlich!“

Aufgeregt knallte Joachim den Hörer auf den schon fertig gedeckten Tisch, lief zum Regal, um die Familienbibel zu holen, die für Weihnachten bereitlag, und blätterte mit fahrigen Bewegungen, bis er das Lukasevangelium gefunden hatte.

Da!

Zweites Kapitel.

Er nahm den Hörer wieder auf und begann vorzulesen, schnell und energisch: „Es begab sich aber zu der Zeit, dass ein Gebot von dem Kaiser Augustus ausging, dass alle Welt geschätzt würde. Und diese Schätzung war die allererste und geschah zur Zeit, da Quirinius Statthalter in Syrien war. Und jedermann ging, dass er sich schätzen ließe, ein jeder in seine Stadt. Da machte sich auf auch Josef aus Galiläa, aus der Stadt Nazareth, in das jüdische Land zur Stadt Davids, die da heißt Bethlehem, weil er aus dem Hause und Geschlechte Davids war, damit er sich schätzen ließe mit Maria, seinem vertrauten Weibe; die war schwanger. Und als sie dort waren, kam die Zeit, dass sie gebären sollte. Und sie gebar ihren ersten Sohn. Und als acht Tage um waren und man das Kind beschneiden musste, gab man ihm den Namen Jesus, wie er genannt war von dem Engel, ehe er im Mutterleib empfangen war. Und als die Tage ihrer Reinigung nach dem Gesetz des Mose um waren, brachten sie ihn nach Jerusalem …“

Joachim stutzte.

Pfarrer Noel aber sagte in die Pause hinein: „Ja, richtig. Genau so kenne ich den Text auch.“

Der junge Mann musste schlucken. Dann stotterte er: „Ja … aber … aber … Das verstehe ich nicht. Wo ist denn das alles hin … das mit dem Stall … und den Hirten … und den Engeln auf dem Feld? Dieser wunderbare Ruf ‚Fürchtet euch nicht!‘? Und … die überfüllten Gasthäuser …?“

Völlig verwirrt blätterte er ein paarmal die Seiten vor und zurück. Fand aber nicht, was er suchte. „Jetzt begreife ich überhaupt nichts mehr.“

Erleichtert sagte der Theologe: „Sehen Sie, die Geburtsgeschichte Jesu hat in der Kirchengeschichte nie eine besondere Rolle gespielt. Deshalb hat sich dazu auch kein Brauchtum entwickelt. Wahrscheinlich, weil die kurze Beschreibung bei Lukas so unspektakulär war. Und die anderen Evangelien erzählen ja überhaupt keine Geburtsgeschichte. Entscheidend ist doch, wie Jesus gelebt hat – und dass er am Kreuz für uns gestorben ist.“

„Das gibt es nicht! Ich begreife das … nicht.“

Der Pfarrer war jetzt ganz verbindlich: „Wenn Sie möchten, komme ich gerne morgen mal vorbei und rede mit Ihrer Tochter über diese schönen Kindheitslegenden Jesu, die Sie mir da vorhin erzählt haben …“

„Das sind keine Legenden! Das ist Weihnachten!“ Joachim musste sich am Tisch festhalten.

„Entschuldigen Sie, wenn ich da noch mal nachhake. Warum ist Ihnen das denn so wichtig?“

Mit letzter Kraft ließ sich Joachim auf einem Stuhl nieder. Gedankenverloren sagte er: „Warum? Ja, warum? Vielleicht … Weil es etwas ganz Besonderes ist, dass Jesus nicht in einem Haus, sondern in einem Stall zur Welt kam … Weil es vor Augen führt, wie klein sich Gott gemacht hat, um uns Menschen nah zu sein … Und weil mich dieser Ausruf des Verkündigungsengels ‚Fürchtet euch nicht!‘ jedes Jahr neu stärkt und ermutigt. Darauf will ich nicht verzichten …“

Pfarrer Noel sagte sanft: „Was denken Sie, soll ich morgen mal vorbeikommen?“

„Morgen ist Feiertag!“

Der Theologe lachte. „Warum sollte morgen Feiertag sein?“

„Weil Weihnachten ist.“

Wütend knallte Joachim den Hörer auf die Gabel.

Dann ging er zum Fenster und zog mit einem Ruck die Gardine zur Seite.

Nichts!

Kein geschmücktes Haus.

Keine Lichterketten.

Kein blinkender Weihnachtsstern in den Fenstern.

„Was ist denn bloß los?“

Joachim fühlte sich, als hätte er zu viel getrunken.

Dann aber raffte er sich auf, stürmte ins Treppenhaus und dann die Stufen hoch ins Dachgeschoss.

Andrea öffnete ihm auf sein stürmisches Klingeln hin mit einem etwas genervten Gesichtsausdruck. Doch als sie den Besucher sah, zog sie erstaunt die Augenbrauen zusammen: „Joachim. Was ist denn los? Du bist ja ganz blass. Geht es dir nicht gut? Ist was mit Charlotte oder Annette? Komm doch erst mal rein.“

Er stolperte in die Wohnung und fragte: „Wo ist euer Weihnachtsbaum?“

Andrea machte die Tür hinter ihm zu. „Unser was?“

„Euer Weihnachtsbaum. Ihr habt doch sonst immer so eine tolle Nordmanntanne mit viel Lametta und so.“

Die Nachbarin grinste: „Jojo, mein lieber Schwan. Ich habe keine Ahnung, wovon du redest, aber eines ist offensichtlich: Du hast ganz schön einen gebechert. Und das mitten in der Woche am helllichten Tag. Sag mal: Wieso bist du eigentlich zu Hause? Hast du heute frei?“

Mit einem lauten Stöhnen ließ sich Joachim in die Couch-Garnitur fallen. Verzweifelt. Einige Minuten lang sagte er gar nichts.

Dann lief plötzlich ein Lächeln über sein Gesicht. „Sag mal, habt ihr – also: du, Michael und die Kinder – heute Abend schon was vor? Nein? Das ist ja klasse. Weißt du: Ich würde euch nämlich gerne einladen. Zu einem Fest. Einem ganz besonderen Fest. Und ich würde euch dabei eine Geschichte erzählen, von der ich glaube, dass ihr sie kennen solltet. Weil sie einfach wunderschön ist.

Und glaub mir: Ich bin nicht betrunken. Kein bisschen. Nur ein wenig erstaunt …“

FABIAN VOGT

Maria