Weil da war etwas im Wasser - Luca Kieser - E-Book

Weil da war etwas im Wasser E-Book

Luca Kieser

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Beschreibung

Alles dreht sich um einen monströsen Tintenfisch. Einen Riesenkalmar. Als dieser ein Tiefseekabel berührt, beginnen seine Arme und Tentakel zu erzählen. Davon, wie es ist, in ständiger Dunkelheit zu leben, wie es ist, für den Menschen ein Ungeheuer zu sein. Sie erzählen von Sanja, die ein Praktikum auf einem Frosttrawler absolviert und sich um einen gefangenen Kalmar kümmert. Sie erzählen von Dagmar, die für einen Geheimdienst in der Antarktis stationiert ist und diesen Kalmar unbemerkt nach Deutschland schaffen soll. Sie erzählen von einer Kindheit als Schäferstochter. Sie erzählen von einer Familie, deren Urahn schon mit einem Kalmar gekämpft hat. Sie erzählen von dem jungen Jules Verne, der von diesem Kampf hört und darüber zu schreiben beginnt. Am Ende erzählen sie davon, wie schwierig es für Menschen ist, von Tieren zu erzählen, und warum sie es dennoch tun.

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Seitenzahl: 419

Veröffentlichungsjahr: 2023

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Die Arbeit an diesem Roman wurde vom BMKÖS durch ein Staatsstipendium für Literatur gefördert.

Copyright © 2023 Picus Verlag Ges.m.b.H., Wien

Alle Rechte vorbehalten

Grafische Gestaltung: Dorothea Löcker, Wien

Umschlagabbildung: © Анна Удод/Adobe Stock

ISBN 978-3-7117-2137-2

eISBN 978-3-7117-5492-9

Informationen über das aktuelle Programm des Picus Verlags und Veranstaltungen unterwww.picus.at

luca kieser

Weil da war etwas im Wasser

roman

picus verlag wien

inhalt

Der eine Tentakel

Chemie

Nervengift

50 Jahre Blue Marble

Mei Hoimad

Der andere Tentakel

Krähennest & Der Name

Der spanische Kragen

Die Vorhaut

Sanjas Tagebuch

Whatever happens, please remember this – they are beautiful, wonderful creatures.

Try to come to terms with them if you can.

Arthur C. Clarke,

The Shining Ones

Pouvait-on sérieusement imaginer que la production d’encre, chez le poulpe, aurait été sélectionnée au cours de l’évolution pour lui permettre d’écrire?

Vinciane Despret,

Autobiographie d’un poulpe

Wie das tiefschwarze Gefieder eines Hahns vor dem Schrei dehnt sich das All – und die Erde, unsere Heimat, ist darin nicht mehr als das Blitzen einer Federspitze. Tief muss man eintauchen in dieses Federkleid und erst aus unmittelbarer Nähe erscheint die Erde dann so, wie wir sie kennen, als jene Blue Marble: umhüllt von Flaum und voller milchiger Schlieren. Mit einer Hälfte, die der Sonne entgegenstrahlt, und einer anderen, die in sattem Blau versinkt.

Es ist noch gar nicht lange her, dass es dort, auf der sonnenabgewandten Seite, finster wurde. Doch ist es der Erde in letzter Zeit gelungen, aus eigener Kraft zu leuchten. Heute ist ihre Nacht durchzogen von gleißenden Linien. Korallen gleich verzweigen sie sich und finden erneut zusammen in den Metropolen der Menschen. Glutnester, in die der wundersame Rhythmus von Sonnenumkreisung und Eigenrotation bläst. Darüber hängen Wolken in jenem rötlichen Schein, der mit der Dämmerung kommt, nie mehr aber alles verschluckt wie einst. Nur inmitten der Meere, jener ins All gleißenden Ozeane, gibt es noch lichtlose Orte. Die Temperaturen liegen hier unten nur knapp über dem Gefrierpunkt. Wenn oben Orkane toben, bleibt es still. Und alles ist schwarz.

Dann aber glimmt etwas auf. Flackert etwas. Blinkt. Und auf einmal schimmern die Felsen. Regenbögen aus Bakterien steigen auf. Aus dem Schlamm wachsen Skulpturen, überzogen von lumineszierendem Schleim. Muscheln hocken darin, öffnen sich und stoßen neongrüne Blasen aus. Etwas Unförmiges macht sich los, leuchtet violett auf und schwebt davon. Anglerfische entzünden ihre Laternen. Ein stacheliges Band schlängelt sich vorbei und pulsiert gelb. Aus Spalten und Ritzen linst man ihm hinterher. Und dann blitzen die Blicke von überall. Bleiche Pupillen, lidlose Augen. Von Drachenfischen und Aalen. Riesenasseln und Würmern, von Schnecken, Igeln, Krabben – und schlagartig ist alles wieder schwarz.

Weil da ist etwas im Wasser.

Ein Wesen, das immerzu in Finsternis lebt. Das mit jedem Atemzug die Schwärze einsaugt und wieder aus sich herausdrückt. Das sie auf diese Weise überwindet. Sie durchdringt – stellen wir uns ein Leben vor, das aus nichts besteht als alter Nacht.

Sein Körper ähnelt einer Lampionblüte. Doch ist er hundertfach größer als die größte aller Blumen, ist flüssig wie das Wasser selbst und besitzt dort, wo bei einer Blume die Knospe am Stängel hängt, einen Schnabel. Statt Blättern sind ihm zwei Tentakel gewachsen. Und wie Beeren sitzen um seinen Schlund mit Saugnäpfen übersäte Arme, wir.

Acht sind wir, acht Arme eines Riesenkalmars, und – das können sich die Menschen wohl kaum vorstellen – wer so viele und so lange Glieder besitzt, braucht schnelles Blut. Er braucht dünnes Blut. Braucht mehr als nur ein Herz. Und fühlt doch bei allem Gepumpe in seinem Innern eine immerwährende Atemnot – die unserem Kalmar allerdings zu jenem Zeitpunkt, da wir zu erzählen beginnen, schon lange nicht mehr als ein Leiden erschien, auch nicht die daraus resultierende Melancholie. Längst hatte er sich daran gewöhnt, dass es schwer war, zu existieren.

Als könnte er sprengen, was ihm auf den Kiemen saß, sog unser Kalmar das Wasser in sich hinein und presste es dann durch seinen Sipho wieder ins Wasser zurück. Der Rückstoß schob ihn knapp über dem schlammigen Grund dahin, noch bevor er merklich langsamer wurde, wiederholte er das Ganze. Sein Blick ging dabei zurück, dorthin, wo er herkam. Silbrige Linien wanderten über seinen Körper und ließen ihn aussehen, als wäre er ein Teil vom Ende der Wasser. Wir wallten hinter ihm her. Und da alles Leben, sobald er in die Nähe kam, so tat, als wäre es Teil des Schlamms, wähnten wir uns allein und rechneten nicht damit, dass in dem Schlamm etwas lauern könnte.

Unser Kalmar war bereits darüber hinweg und hätte es nie bemerkt, wenn nicht unser Süßer Arm – wir wissen alle nicht, weshalb wir ihn so nennen, süß ist er jedenfalls nicht, aber so ist das mit Namen, man kann sie sich nicht aussuchen, und wenn man sie bekommt, weiß noch niemand, ob sie passen, wenn man sich dagegen wehrt, ist das nur vertane Kraft … Unser Süßer Arm strich jedenfalls schon eine ganze Weile durch den Schlamm. Es wirbelten Wolken auf. Und plötzlich war da etwas, was er noch nie berührt hatte. Er zuckte – einen Hauch später zuckten wir alle. Die Tentakel warfen sich herum. Das große Herz setzte aus, die beiden Herzen an den Kiemen fielen in ein Hämmern. Unser Kalmar erlosch, gleichzeitig schoss alle Tinte aus dem Sipho und mit zwei schnellen Bewegungen modellierte unser Eingebildeter Arm daraus eine Furcht einflößende Gestalt. Die andern warfen sich herum, unser Kalmar drückte das letzte Wasser aus sich und trieb zusammengezogen zu einem Knäuel davon. Nichts aber tauchte aus dem Ungeheuer aus Tinte auf, nichts versuchte zu verschlingen.

Während sich der Schlamm und die Tinte legten, beruhigten sich die Kiemenherzen. Gleichzeitig kam in unserem Kalmar dumpfer Schmerz auf. Seinen Tintenbeutel umgaben Muskeln, die wochen-, manchmal monatelang unmerklich vor sich hin pulsierten, sich aber eben urplötzlich zusammengezogen hatten. Jetzt brannten sie. Unser Kalmar musste alle Willenskraft aufbringen, um uns daran zu hindern, über den leeren Beutel zu streicheln.

Hätten nur die Felsen wieder zu leuchten begonnen: Unser Kalmar wäre zu sehen gewesen, wie er vom unter unserer Haut wallenden Blut bläulich schimmernd einige Armlängen von etwas entfernt im Wasser schwebte, was wie eine gigantische Schlange aussah und seine Glieder, uns, über sich hielt. Doch keines der Tiere wagte etwas von sich zu geben. Ein jedes blieb mit der Landschaft verschmolzen und beobachtete, wie er die Hörner herabnahm und dann zuerst der eine Tentakel, dann der andere und nach und nach wir alle loskrochen. Wie dann mit unserer Haut etwas geschah, sich manche Zellen aufplusterten und andere unter sich zogen. Zunächst huschten gelbe Punkte und Streifen über uns, dann loderten an unseren Armspitzen dunkelrote Flecken auf und schließlich lief etwas über den ganzen Leib unseres Kalmars, das aussah wie ein Feuer.

Er löste sich. Mit langsamen Zügen schwamm er uns hinterher. Wir tasteten uns Armlänge für Armlänge durch den Schlamm. Und als die mutigsten von uns – der Hehre und der Blendende Arm – das wiederfanden, was der Süße gestreift hatte, war es eine echte Berührung: eine, die fühlte und schmeckte. Eine, die fragte. Und eine, die feststellte, dass es kein Maul war, was da im Schlamm lag, und auch kein Leib, sondern etwas, das sehr weit entfernt von seinem Maul sein musste, denn weder in die eine noch in die andere Richtung wurde es dicker oder dünner. Und obwohl wir immer fester zupackten, regte sich dieser fremde Tentakel nicht.

Der Geschmack des eigenen Sekrets ekelte uns und trotzdem begannen unser Müder und unser Halber Arm das Zeug wegzuwischen. Und während unser Bisschen-Schüchterner und unser Armer Arm den Tentakel in beide Richtungen erkundeten, wir übrigen an ihm zerrten und zogen, saugten und leckten, verrieben sie die Reste der Tinte. Partikel lösten sich und stiegen auf, schwarz in schwarz. Und darunter kam die glatteste Haut zum Vorschein, die uns je begegnet war. Kein Schleim, kein Geschmack. Keine Schuppen oder Ritzen, nicht einmal Poren. Nur ein Glühen. Ein Glühen, das durch die Glätte nach außen drang und das die Herzen unseres Kalmars kräftiger pumpen ließ. Auf seiner Haut flammten Punkte auf. Von den Felsen konnte man ihn in der Finsternis rosa schimmern sehen.

Halten wir hier für einen Moment inne. Es war zu jenem Zeitpunkt schon eine Weile her, dass unser Kalmar die eisigen Ströme unserer Heimat verlassen hatte. Und bevor wir verraten, zu wem der glühende Tentakel gehörte, bevor wir erzählen, wohin er uns führte, wollen wir einen Blick zurück werfen und uns erinnern, weshalb unser Kalmar überhaupt aufgebrochen war. Denn auch wenn unser Kalmar noch jung war, lebte er damals bereits schon lange, wie seinesgleichen seit Anbeginn der Zeit lebten. Immer war etwas im Wasser, vor dem man sich verbarg oder das man verschlang. Immer war man allein. Erinnern wir uns an jenen Moment, da sich das änderte: Unser Kalmar lag gerade inmitten eines Krill-Sturms auf der Lauer.

der eine tentakel

Es war Sommer in der Antarktis und der Krill hatte bereits gelaicht. Die Eier waren abgesunken und in zwei- oder dreitausend Metern Tiefe geschlüpft. Das Erste, was die Larven taten, war zu warten und zu treiben. Zu warten und zu treiben und zu wachsen. Bis ihre Schwimmbeinchen groß genug waren, dass sie aufsteigen konnten. Irgendwann fuhren sie zum ersten Mal aus ihrer Haut. Dann ging der Aufstieg weiter. Viele Tage lang. Sich häuten. Aufstieg. Und die ganze Zeit wuchs dabei der Hunger. Erst nach vier Wochen hatten sich an ihren Schwimmbeinchen genügend Borsten gebildet, dass sie fressen konnten. Und jetzt stießen sie auch endlich zu ihrem Schwarm. Hier war alles erfüllt von einem Sirren und dem blauen Funkeln, mit dem die winzigen Krebse sich in etwas verwandelten, was aus der Ferne wie eine Gewitterwolke aussah. Der Schwarm wallte bis in die lichten Wasserschichten hinauf, in denen das Grün förmlich explodierte. Hier weidete er. Der größere Teil aber hing in die Tiefe und begnügte sich mit dem, was von der Wasseroberfläche herabschneite. Da es nämlich in der hellen Jahreszeit kein Packeis gab, in dessen Spalten und Höhlen man sich verkriechen konnte, war die Dunkelheit der Tiefe das einzige Versteck und kein Ort sicherer als das Innere des Schwarms.* Bis hierhin vorzudringen war unserem Kalmar gelungen, an einen Ort, an dem sich allein in seiner Reichweite Zehntausende der Tierchen zusammendrängten. Womöglich konnten sie spüren, dass es ihm – anders als ihnen – zu mühsam war, den Staub aus dem Wasser zu fischen. Womöglich hatten sie ihn aber auch inzwischen vergessen, denn seit einer Weile funkelte er bläulich wie sie und bewegte sich nicht mehr. Wir Arme genossen es, wie es kitzelte, der eine hierhin geschoben wurde, der andere dorthin. Es war nur eine Frage der Zeit, bis ein Knochenfisch oder vielleicht sogar ein Hai in den Schwarm schießen würde. Doch dann war auf einmal etwas im Wasser.

Ein Geschmack umhüllte unseren Kalmar, legte sich auf unsere Haut und ließ es an unseren Armspitzen prickeln. Unser Armer Arm wollte schon los, in die Richtung, aus der er den Geschmack herangetragen glaubte. Und auch unser Kalmar selbst sog bereits das Wasser tiefer als sonst in sich ein, ihm wurde leicht – da schreckten der Bisschen-Schüchterne und der Süße zusammen und eine seit Generationen eingeschriebene Furcht vor Walen flutete uns aus ihnen entgegen.

Während unser Kalmar alles Wasser auf einmal aus sich hinauspresste und wir uns am Krill abzustoßen versuchten, durch diesen aber hindurchglitten, erwarteten wir die Geräuschsalve. So nämlich jagen Wale: Mit offen stehendem Maul und sich um die Längsachse drehend schrauben sie sich in die Tiefe. Und wenn ein Kalmar, der regungslos im Wasser steht, auch unsichtbar sein mag, dem Echolot eines Wals entgeht er nicht. Anfangs sind es so leise Töne, dass nur der Jäger selbst sie hört. Eine heimlich gesummte Melodie. Doch sobald er nah genug ist, schlägt es donnernd zu.

Anmerkung

*

Dem Zusammenspiel von Packeis, Algen und Krill widme ich mich, ruft unser Hehrer Arm, in meiner Geschichte. Ehrlich gesagt ist es eher eine Rede, wirft der Halbe ein. 50

Jahre

Blue Marble

beginnt auf

Seite 64

.

chemie

Die Geschichte unseres Blendenden Arms

blendend

Während du dann wieder zu dir kommst, wirst du in die Höhe geschleift. Bald seid ihr so hoch, dass dünnes Licht ins Wasser dringt, doch alles, was du sehen kannst, ist der endlose Körper. Du erkennst etwas an seinem Rücken und versuchst es zu erreichen, doch deine Arme rutschen ab. Der Druck des Kiefers, das immer wärmer werdende Wasser, es schnürt dir die Kiemen zu. Dein linker Tentakel findet eine Stelle, an der er sich festkrallen kann, und reißt mit letzter Kraft. Schwarze Hautfetzen und weißes, fasriges Gewebe wirbeln um dich. Dann klappt die Welt zusammen, die kühle Walzunge, ein unendlicher Gaumen, ein Muskel, ein Sog.

Nicht alles von dir zersetzt sich. Dein Schnabel ist unverdaubar; und so stichst du in den Pylorus, kämpfst dich in den Darm, bohrst dich dort in die Flora und gerade, als du an Rache zu glauben beginnst, bildet sich um dich eine Substanz, die dich einbalsamiert. Alles klebt an dir. Du verklumpst.

Tage, Wochen, Monate verstreichen, während denen du zu einem immer größeren Brocken anwächst, dann würgt der Wal dich hervor; und es folgt eine zweite Ewigkeit, die du in einem Film aus Erbrochenem an der Wasseroberfläche durch die Weltmeere treibst – und es lässt sich gut vorstellen, what an unsavory odor such a mass must exhale; worse than an Assyrian city in the plague, when the living are incompetent to bury the departed.

Apropos Moby-Dick: An dem Wal hast du Spuren hinterlassen. Rings ums Maul. Abdrücke deiner Saugnäpfe. Sie werden vernarben und nur die werden sie zu Gesicht bekommen, die Wale trotz der Verbote jagen und harpunieren, mit dem Kopf achtern und auf den Rücken drehen, aufschlitzen und abflensen, köpfen und abschöpfen. Geschichten werden sie sich ausdenken von einem Seeungeheuer. Die werden sich eine Weile halten und du wirst dabei immer böser werden – Seeungeheuer wachsen beim Erzählen –, doch schließlich werden sie nichts mehr mit dir zu tun haben. Und dann, spätestens dann, wirst du nur noch in jenem Erbrochenen sein, das mit der Zeit auslüften, im Salzwasser hart, im Sonnenlicht hell und schließlich an Land gespült werden wird.

***

Endlich durchbrach unser Kalmar den Rand des Schwarms. Im offenen Wasser hatte er eine Chance. Er beschleunigte und wandte sich gleichzeitig in Richtung Tiefe. Er wollte in Gegenden, in denen einem Wal der Druck zu groß werden würde. Da lenkte etwas seinen Blick ab. Ungefähr dort, wo er sich eben selbst noch befunden hatte, war in der flimmernden Krill-Wolke der Schatten einer Gestalt zu sehen. Im selben Augenblick lief eine Welle durch die Krill-Wolke. Der Schatten erzitterte und zeichnete sich dann noch deutlicher ab. Es war die gleiche Gestalt, die auch unser Kalmar abgab. Es war, als hätten wir einen Abdruck im Krill hinterlassen.

Unser Armer Arm scherte erneut aus, schwamm zurück und war noch nicht weit, da lief eine zweite Welle durch die Wolke. Diesmal erlosch das Blau und damit war auch der Schatten fort. Kurz herrschte Stille. Dann wurde ein Teil des Krills zur Seite gedrückt und der Rest von einer Wucht weggefegt, die kein Walbulle, auch kein Rudel, aufbringen konnte. Sie kam schnell, kannte aber kein Ende.

Auch jener Kalmar, den wir geschmeckt hatten, wurde fortgerissen. Ein Strudel aus Wasser und Krill erfasste seinen Leib. Seine Arme und Tentakel schossen in alle Richtungen und krachten in ein Innennetz. Um ihn flutschten die kleineren der Krebse einfach durch die Maschen, er aber wurde von den Krillmassen immer fester hineingedrückt. Er fühlte das Garn sich in seine Haut einschneiden. Dann schafften zwei seiner Arme, sich in dieselbe Masche zu zwängen, und während der Krill immer heftiger prasselte, spannten sie an.

Als das Garn riss, gab es Platz. Dann schlugen Tonnen aus Krill zu und fegten den Kalmar in Richtung des Steerts. Hier, am Ende des Schleppnetzes, wurde der Krill abgepumpt. Obwohl sich der Druck erhöhte, je näher er der Pumpe kam, gelang es einem Tentakel des Kalmars, sich bis zum Netzrand durchzugraben. Er fand eine Masche – da wurde einer seiner Arme in den Schlauch gesaugt und mit einem Ruck, der durchs ganze Netz zu laufen schien, wurde alles noch einmal dichter. Auf einmal ging nichts mehr, nicht mehr vor, nicht zurück, und dann begann es überall zu schmatzen und zu knirschen.

Unser Kalmar erreichte im gleichen Augenblick das Netzende. Ausgerechnet unser Bisschen-Schüchterner Arm wagte als Erster, den aus dem Netz ragenden Tentakel zu berühren. Der Blendende und der Halbe folgten. Und schmeckten eine Flut an Geschichten.

Wir anderen suchten das Netz ab, tasteten in alle Richtungen. Doch nirgends fanden wir eine Stelle, wo man unter das Garn gekommen wäre. Der Krill, der noch immer mehr wurde, drückte zu sehr von innen gegen das Netz und machte es zu einem riesigen, fugenlosen Sack. Als der sich dann zu heben begann, gaben wir auf und schlangen uns stattdessen um die Tentakelspitze. Saugnäpfe sogen sich aneinander fest, Krallen verhakten sich. Und dann stieß unser Kalmar mit seinem freien Tentakel in die Tiefe, so weit er kam, schwamm – und wurde doch nur in die Höhe gezogen.

Kalmare begegnen einander nur selten. Manchmal verbringen sie ihr ganzes Leben allein. Die Meere sind weit und die meisten werden von Walen gefressen, lange bevor sie groß genug wären, um sich auf die Suche nach einander zu machen. Für den gefangenen Kalmar war es das zweite Mal, dass er berührte und berührt wurde. Auf die gleiche Art unvertraut mit dem Geschmack von Lust, wie es unser Kalmar noch immer war, hatte er den alten Kalmar zunächst abzuwehren versucht. Mit beiden Tentakeln hielt er ihn auf Abstand. Und schmeckte dabei den Druck in dessen Lust und die Gier in seinem Alter und auch, dass er das nicht zum ersten Mal tat.

Eine Weile rangen sie. Dann rutschten ihre Tentakel aneinander ab. Der Alte riss ihn heran und schon schob sich ein Arm in seine Mundöffnung, rieb an seiner zahnbesetzten Zunge, schon tatschte ein anderer an seinen Bauch. Schon suchte ein dritter, aus dem bereits eine Spermakapsel hing, nach dem Sipho – und begann zu zittern, als er ihn gefunden hatte.*

Der Junge schaffte es gerade noch, die Öffnung einzuziehen und mit einem Schwall Wasser die Kapsel zum Platzen zu bringen. Während sie von einer Wolke aus Samen eingehüllt wurden und plötzlich das ganze Meer nach den Fantasien des Alten schmeckte, spürte der Junge, wie ein Arm schon wieder nach seinem Sipho stocherte. Auch wenn es in den Kiemen ätzte, sog er so viel des sämigen Wassers ein, wie nur in ihn passte, und richtete den Strahl diesmal auf das Auge des Alten – und zwar auf das für den Blick in die Tiefe – und spritzte mitten hinein, fein und hart.

Der Alte ließ los. Bevor der Junge aber davonschnellen konnte, musste er sich erst wieder vollsaugen, und dieser Augenblick genügte dem Alten. Alle zehn Glieder schnappten nach dem Jungen, erwischten einen seiner Tentakel – und dann spürte der Junge einen seltsamen Druck, dann einen spitzen, stechenden Schmerz und schließlich wallte eine Hitze von der Tentakelspitze hinauf und durch ihn hindurch.

Während er dann flüchtete, überließ der Alte sich dem Meer, der großen Mutter aller hier, trieb in Richtung der Südlichen Sandwichinseln, verlor dabei die Farbe, wurde weißer und weißer, als hätte er vor zu verblassen. Als er schließlich mit der Flut an Land der Morell-Inseln gespült wurde, war seine Haut wie die von gesprungenem Porzellan von feinen Rissen durchzogen. Über ihm strahlte ziegelsteinrot der Container des argentinischen Außenpostens, der einen Steinwurf weit entfernt im Schnee vor sich hin rostete. Seit Ende des Falklandkriegs bevölkerten nur noch Vögel und Krabben die Insel. Diese stürzten sich auf ihn. Und während sie hackten und pickten, immer mehr zu werden schienen und mit schrillen Lauten höhnten, schnappte der Alte nach dem Wasser, mit dem die Wellen ihn umspülten.

Inzwischen hatte das Netz eine Höhe erreicht, in die Licht drang. Vor Algen schimmerte das Wasser grün. Und mit jeder Armlänge wurde es wärmer und dickflüssiger.

Vielleicht war es eine Einbildung unseres Müden Arms, eine der Lügen, mit denen er die anderen Arme von Zeit zu Zeit in die Irre führte. Vielleicht war es wirklich ein Abschiedsgruß. Jedenfalls spürte der Müde, wie der aus dem Netz ragende Tentakel zudrückte und darum bat, ihn zu lassen. Er flüsterte etwas davon, wie er mit uns schwimmen würde. Wie gern er das mit uns wollte. Wie er mit uns an den tiefsten Punkt der Welt tauchen würde. Und ans Ende der Wasser. Sich allen zeigen. Wieder abtauchen. Er wollte sich mit uns in einem Korallenriff verkriechen und winzige Fische aufscheuchen. Sich mit uns verknoten. Uns umarmen.

Der Müde ließ los. Der Süße und der Halbe folgten. Dann lösten sich auch der Eingebildete, der Hehre und der Bisschen-Schüchterne. Als sich der Arme losmachte, gab auch der Blendende auf. Zuletzt hing nur noch der eine Tentakel unseres Kalmars an der Tentakelspitze, und als sich diese aus seiner Verhakung herauszog, scheuerten seine Krallen die Haut auf. Samen, der an der Unterseite geschlummert hatte, quoll hervor. Schwaden und Schlieren ergossen sich in das grüne Meer und wurden von dünnem Licht in ein Camouflage verwandelt. Was wir zuletzt vernommen hatten, zog unseren Kalmar in die Tiefe. Es würde alles bleiben, der Vorgeschmack einer Geschichte. Immer rascher zog es ihn. Ein Vorgeschmack, gleichzeitig der Nachgeschmack. Hinab, unter die Meere.

Würde man einem Menschen die Substanz verabreichen, die sich währenddessen in unserem Kalmar zu bilden begann, würde in etwa das geschehen, was vor einigen Tagen der südafrikanischen Amapiano-Legende Wraak geschehen war, nachdem er von vier Uhr dreißig bis sechs Uhr dreißig aufgelegt und sich im Hotel noch einige Stunden hingelegt hatte. Er stieg in seine Unterhose (er hätte schwören können, dass sie noch auf links gedreht gewesen war, als er sie in den Koffer geworfen hatte), und während er dann sein Zimmer verließ, stellte er fest, dass er sich um eine Stunde vertan hatte. Das Taxi, das ihn abholen und zum Wiener Flughafen bringen sollte, würde um fünfzehn Uhr kommen, es war kurz vor zwei. Er kehrte um, ließ sich im Zimmer auf die Couch fallen und klickte einige Minuten lang durch Instagram. Dann stellte er ein flaues Gefühl im Magen fest. Er hatte keinen wirklichen Hunger (in die Backstage hatte er sich letzte Nacht einen Eimer Chicken Popcorn von KFC bringen lassen), dachte sich aber, dass es nicht das verkehrteste sein würde, noch etwas in den Bauch zu kriegen. Als er diesmal auf den Flur trat, gestand er sich ein, dass es weniger sein leerer Magen war, der rumorte, als sein Darm. Hier wunderte er sich das erste Mal. Er hatte die vergangenen drei Nächte nichts genommen, noch nicht einmal geraucht. Inzwischen war ihm aber schlecht, wie er es nur von billigem Alkohol kannte. Er machte erneut kehrt und nahm für eine Viertelstunde auf dem Klo Platz. Als er dann zum dritten Mal auf den Flur trat, fühlte er sich leicht und wohlig. In seinem Nacken trocknete ein Film aus kaltem Schweiß. Am Lift wurde ihm ein erstes Mal schwindelig. Er rief den Aufzug und ließ seine Hand an der Wand, um sich abzustützen. Ihm wurde plötzlich schwer auf der Brust und er versuchte durchzuatmen. Irgendwie gelangte er in den Aufzug. Seine Hand rutschte ab. Und dann öffnete sich einige Sekunden später der Aufzug zunächst im zweiten Stock, dann im ersten Stock und schließlich im Erdgeschoss und zeigte stets dasselbe Bild eines zusammengesunkenen Hotelgastes.*

Unser Kalmar hingegen versank in Schlaf. Seine Herzen verlangsamten sich, genauso die Atmung. Wir wurden träge. Und über unsere Haut strömten die unterschiedlichsten Farben. Es war wie ein Gemurmel. Frei trieben wir im Wasser. Und während wir träumten, schüttete unser Kalmar bereits die nächste Substanz aus – eine, die nebenbei bemerkt auch der Grund sein sollte, weshalb in einigen Stunden der Kapitän der Greta-Dora nach zwei Telefonaten mit der Reederei und einem Unbekannten die Anweisung bekommen würde, den Tintenfisch, der zwischen all dem Krill zum Vorschein gekommen war, um jeden Preis solange am Leben zu halten, bis ihn jemand von der Neumayer-Station untersucht hätte.

Zu diesem Zeitpunkt würde unser Kalmar allmählich wieder zu sich kommen. Währenddessen würde sein wie Bernstein klarer Schnabel erste dunkle Flecken aufweisen. Etwas würde in ihm begonnen haben, von dem er nichts ahnte. Er würde voller Zorn sein.

Voller Zorn und voller Hilflosigkeit über diesen Zorn.

Und dann würde er etwas spüren, eine feine Irritation im Wasser, unmittelbar vor sich und ohne es sich genauer anzusehen, würde er seine Tentakel hervorschnellen lassen, mit ganzer Kraft zubeißen. In seinem Schnabel würde etwas zerkrachen. Und im Wasser würde ein bitterer Geschmack sein.

Anmerkung

*

Spermakapsel, weiß unser Bisschen-Schüchterner Arm, ist nicht ganz richtig, man spricht eigentlich von Spermatophore. Und das gefällt mir, fügt er hinzu, weil man an Amphore oder an Pheromone denkt und vielleicht ein bisschen versteht, was das

phérein

im Wort macht. Wer von einer Amphore lesen will, darf sich auf meine Geschichte freuen.

Der spanische Kragen

beginnt auf

Seite 233

.

*

Wie es mit

Wraak

weiterging, ruft schon wieder unser Bisschen-Schüchterner Arm dazwischen, kann man sich ja denken. Was sein Tod alles auslöst, erzähle ich in meiner Geschichte.

Der spanische Kragen

beginnt auf

Seite 233

.

nervengift

Die Geschichte unseres Süssen Arms

süss

Es war der Tag nach den Weihnachtsfeiertagen und einige Minuten nördlich des sechsundsiebzigsten Breitengrads stampfte die Greta-Dora, ein unter deutscher Flagge fahrender Frosttrawler, mit zwei Knoten durchs Weddellmeer. Seit einigen Wochen ging die Sonne nicht mehr unter und damit war der Frühling in die Antarktis eingezogen: Am Horizont strahlte die Schelfeiskante, das Wasser leuchtete aus der Tiefe grün und pastellrote Schlieren wallten darin umher. Ein Krill-Schwarm weidete. Seine Abermillionen Angehörigen umflossen die blühenden Algen, durchdrangen sie, hielten niemals an und ahnten nichts von dem sechshundert Meter langen Mitteltiefnetz, das die Greta-Dora hinter sich herschleppte. In dem Augenblick nun, in dem in einem halben Kilometer Tiefe ein Tintenfisch der Gattung Architeuthis in die Pumpe des Netzes geriet, trat auf der Greta-Dora eine junge Frau ins Freie.

Sie war Anfang Januar 2000 zur Welt gekommen. Und so handelte es sich bei ihr um eines der ersten jener Kinder des neuen Jahrtausends, auf die das Jahrzehnt, das sie nur um wenige Tage verpasst hatten, eine gewaltige Anziehungskraft ausübte. Sanja, wie ihr Name war, ging fürs Leben gern in Vintage-Läden und hatte deshalb, als sie für die Antarktis packte, auf einen großen Fundus zurückgreifen können. Der orangefarbene Schneeanzug, in dem sie gerade steckte, war von einem Flohmarkt (zwar eine Nummer zu groß, dafür von einer der ersten deutschen Krill-Expeditionen in den Siebzigern), genauso ihr Wollpullover und auch die Wanderstiefel – bis auf die Unterhosen und die Isoliereinlagen eigentlich alles.

Wie Sanja nun aufs Oberdeck trat, hingen an ihrer Unterlippe Fettstückchen eines Sonnenschutzmittels und aus der linken Brusttasche ihres Schneeanzugs ragte der mit einem Klecks Zahnpasta versehene Kopf einer Zahnbürste. Während sie die Lippen übereinander rieb, zog sie aus der anderen Brusttasche Zigaretten, Sonnenbrille und eine Sturmhaube, stülpte sich diese wie eine Mütze auf und schob dann die Sonnenbrille auf die Nase.

Minus fünf Grad und scharfer ablandiger Wind, das war der Hochsommer in der Antarktis. Nicht nur viel zu kalt, auch viel zu hell. Das Packeis oder das Ufer – kein Mensch konnte das hier auseinanderhalten –, jedenfalls das viele Weiß am Horizont blendete auch mit Sonnenbrille. Sanja trat in den Schatten, den die Brücke über ihr warf.

Vor allem aber war es viel zu hell für diese Uhrzeit. Seit sie die Fanggebiete erreicht hatten, stand Sanja noch früher auf als zu jenen Zeiten, in denen sie vor der Schule mit ihrer Mutter gefrühstückt hatte. Das war um kurz nach sechs gewesen. An Bord begannen die Frühschichten aber um fünf. Und das war einfach keine Uhrzeit, zu der es schummrig sein durfte, als wäre es irgendwann frühnachmittags in den Weihnachtsferien.

Während Sanja gähnte und dabei die Augen schloss, tastete sie nach der Zahnbürste und prüfte mit dem Daumen, ob die Zahnpasta auf den Borsten halbwegs angefroren war. Sie ließ die Augen geschlossen, zog ein Sturmfeuerzeug hervor und schob sich eine Zigarette zwischen die Lippen.

Eigentlich hasste sie Industrie-Zigaretten, seit ein paar Tagen aber war sie froh, dass sie dem Typen vom Kiosk geglaubt und kein Drehzeug mitgenommen hatte. Dieser war ein bisschen neugierig geworden, als sie fünf Boxen Drehtabak hatte kaufen wollen. Also erzählte sie ihm von ihrem Praktikum. Sie gerieten in eine Diskussion. Nun verdankte sie seiner Besserwisserei ein Sturmfeuerzeug und den Luxus, nicht andauernd mit tauben Fingern gegen Zigarettenpapier, Filter und Tabak kämpfen zu müssen.

Auch für ihren ersten Zug ließ Sanja die Augen noch geschlossen und genoss, wie sich der Rauch über den schalen Geschmack in ihrem Mund legte. Dann inhalierte sie so tief, dass er und die kalte Luft in ihrer Lunge stachen. Feuchtigkeit sammelte sich unter ihren Lidern. Sie kniff die Augen zusammen und spürte, wie jeweils eine Träne in die Augenwinkel trat, gleichzeitig spürte sie etwas in den Gummisohlen ihrer Stiefel.

In das stetige Schwanken des Schiffes und in das tiefe Brummen, das von den Schiffsmotoren ausging, hatte sich etwas anderes gemischt, ein höheres, viel feineres Vibrieren. Sanja schlug die Augen auf und blickte Richtung Heck. Von dort, wo sie stand, konnte sie nur ein Stück vom Oberdeck und die Motorwinden auf dem Zwischendeck sehen. Die Rückseite der Trommeln, von denen das Netz abgewickelt wurde, versperrten die Sicht. Darüber ragte der Arm eines Schwenkkrans, einige Masten mit Flutlichtern und Kameras, die allesamt aufs Fangdeck gerichtet waren, und sonst waren da außer dem Himmel nur noch ein paar Albatrosse, die hinterm Schiff immer wieder ins Wasser stießen.

Um besser sehen zu können, nahm Sanja die Sonnenbrille ab, wischte sich die Tränen weg und kniff die Augen zusammen. Obwohl das Oberdeck vor gefrorenen Stellen glitzerte und die Winden selbst im Schatten lagen, glaubte sie zu erkennen, wie sie sich drehten, und das bestätigte ihre Annahme, woher das Vibrieren stammte. Da hatte offenbar der Krill-Schwarm versucht auszuweichen und jetzt wurde die Netzhöhe neu eingestellt. Die Winden drehten sich, die Kurrleinen wurden aufgewickelt.

Inzwischen war an der Zigarettenspitze ein ordentliches Stück Asche entstanden. Bevor das abfallen oder vom Wind weggerissen werden konnte, griff Sanja ein weiteres Mal in die Brusttasche und holte einen Aschenbecher hervor, der ein wenig an eine Taschenuhr erinnerte. Um ihn zu öffnen, ging sie in die Hocke, lehnte sich an die Wand und legte ihn dann neben sich. Auch nachdem sie die Asche abgestreift hatte, blieb sie in dieser Position.

Den Stolz, das Vibrieren bemerkt zu haben, begleitete die Enttäuschung, dass sich damit schon wieder eine Sache entzaubert hatte. Das ging so, seit sie das Schiff mit klopfendem Herzen und dem großen Gedanken betreten hatte, zu jenem weißen unförmigen Streifen am unteren Rand jeder Weltkarte aufzubrechen.

Auf der Gangwaybrücke war sie vom Schiffsarzt, einem hageren Mann mit Ziegenbart, in Empfang genommen worden. Nachdem er ihr die Kabine gezeigt hatte, drückte er ihr eine Brille in die Hand, die ein wenig aussah, als wäre sie für den Karneval gemacht. Sie hatte keine Gläser, aber dafür einen dicken, durchsichtigen Rand, in dem sich Tinte befand. Damit war die erste Erwartung geweckt. Doch Nordsee und Ärmelkanal flogen vorbei, Sanja wurde nicht seekrank. Irgendwann setzte sie die Brille einfach so auf und konzentrierte sich einfach so auf die Tinte in ihren Augenwinkeln. Stand einfach so am Bug und nagelte den Blick einfach so auf die Linie zwischen Himmel und Meer, deren Anblick allerdings jedes Mal nach ein paar Minuten so richtig langweilig wurde. Und am Ende lag Sanja dann immer öfter einfach so in ihrer Koje und ließ sich von der pendelnden Gardine vor dem Bullauge einschläfern.

Die Koje war auf drei Seiten von Wand umgeben, auf der vierten verhinderte ein zwanzig Zentimeter hohes Brett, dass man von der Matratze rollte. Von Zeit zu Zeit ächzte das Schiff. Und schon war Sanja fort. An der Tür hingen Klamotten und strichen hin und her. Im Bad klopfte der Kulturbeutel gegen den Spiegel. Die Frischluftzufuhr summte immer gleich. Und schon wieder war Sanja fort. Daran änderte sich auch nichts, als die Greta-Dora zum ersten Mal in rauere See geriet. Das Ziehen im Bauch, wenn das Schiff zwischen den Wogen ins Leere sackte, erinnerte sie daran, wie sie als Kind auf dem Spielplatz stundenlang hinaufgesaust war, immer wieder ins Blau: Sanja, fort.

Doch träumte sie nicht. Und das war die nächste Enttäuschung. Sie hatte sich vorgenommen, sich viel mit ihren Träumen zu beschäftigen und alles aufzuschreiben. Sie setzte alle Hoffnung auf den Atlantik, aber natürlich, auch hier geschah einfach nichts. Bemerkenswert war höchstens, dass sie beim Umziehen nicht mehr umkippte. Es stellte keine Herausforderung mehr dar, seit ihr die Sache mit der Slip erklärt worden war. Sie brauchte sich bloß vorzustellen, wie die Greta-Dora in eine gigantische Unterhose gezwängt wurde, und konnte sich die eigene Unterhose auf einem Bein frei stehend vom Fuß angeln. Es war nicht mehr spannend, wie man am Tisch sitzen musste, wenn das Schiff für einige Sekunden schräg stand. Wie das in der Kaffeetasse aussah. Sie schlug das kleine Buch auf, das sie zum Traumtagebuch hatte machen wollen, und schrieb als ersten Eintrag:

müde

Tagebuch zu führen macht auf einem Schiff keinen Sinn.

süss

Sie biss sich auf die Lippen, weil man das so nicht sagte. Man sagte: Sinn ergeben. Sie wollte aber nicht gleich auf der ersten Seite von dem hübschen Buch (für das sie ungefähr so viel Geld ausgegeben hatte wie für alle Zigaretten) etwas durchstreichen. Also schrieb sie weiter:

müde

Für ein richtiges Tagebuch passiert einfach zu wenig und ein Traumtagebuch geht auch nicht, ich träume hier nämlich nicht. Also ich schlafe schon gut, aber erinnere mich halt an nichts mehr. Heute bin ich aufgewacht, weil ich vor irgendwas Angst hatte. Diese pure Angst, die man im Traum haben kann. Ich habe versucht, ganz still zu sein und zu hören, ob jemand an der Tür ist, oder vielleicht schon in der Kabine und ich im Traum deshalb Angst bekommen habe. Aber das Einzige, was zu hören gewesen ist, war das Knarzen von den Wänden und draußen das Meer. Dann ist mir aufgefallen, dass ich immer noch schnell atme. Ich habe ein paarmal tief Luft geholt. Und als ich mich dann gefragt habe, was mich eben im Traum so erschreckt hat, ist es mir schon nicht mehr eingefallen. Wenn ich mich jetzt versuche zu erinnern, fällt mir nur ein, dass ich »irgendwo« war.

süss

Am nächsten Tag schrieb sie einige Sätze darüber, dass sie nicht seekrank wurde, und darüber, wie es sich anfühlte, rund um die Uhr auf einem schwankenden Schiff zu sein. Dann legte sie das Heft weg und begann in dem Buch zu lesen, das ihre Mutter ihr für die Zeit an Bord geschenkt hatte. Es begann damit, dass eine Frau am Strand Sex hatte und dann von einem Hai zerfetzt wurde. Ratlos darüber, was ihre Mutter ihr damit sagen wollte, legte sie das Buch weg und griff wieder nach dem Heft. Das Einzige, was sie hier hatte, war Zeit, Zeit genug, sich mit ihrem ganzen Leben zu beschäftigen. Sie schrieb weiter:

müde

Ich habe den Kapitän gefragt, ob ich was tun kann, aber er hat gesagt, meinen Praktikumsplatz zeigt er mir noch früh genug. Und deswegen habe ich beschlossen, das hier ernster zu nehmen, also das Schreiben, und zwar so Autobiografie-mäßig. Aber es ist irgendwie gar nicht so einfach, sich mit dem eigenen Leben zu beschäftigen. Ich weiß nicht, wo ich anfangen soll.*

süss

Am neunzehnten Tag klopfte Kilian. Sie würden Montevideo erreichen. Er lud sie auf die Brücke ein. Sanja lehnte ab. Die Panoramascheibe der Brücke, der Kommandostand mit den elektronischen Seekarten, dem Kompass und so weiter waren ihr schon in der Straße von Dover gezeigt worden. Statt einem Steuerrad gab es einen Joystick. Das war’s. Daran konnte auch kein urugayischer Hafen etwas ändern.

Kurz darauf klopfte es erneut. Er brauche ihren Pass.

Als sie in ihrer Sporttasche nach der Klarsichtfolie suchte, in die sie alle Papiere gestopft hatte, bekam sie auch ihr Smartphone zwischen die Finger und entdeckte, dass sie bereits Netz hatten. Innerhalb von zwei Stunden verballerte sie fünf der zwanzig Gigabyte mobiler Daten, verkniff sich aber das Staffelende von Temptation Island VIP.

Als Sanja aufwachte, lagen sie vor Anker. Und erst jetzt fiel ihr ein, was Montevideo noch bedeutete. In Bremerhaven waren nur die Schiffscrew, der Arzt und jene Ingenieurin an Bord gegangen, die Sanja ein bisschen komisch fand. Jetzt stieß die Fangcrew dazu, die für die Arbeit an den Netzen zuständig sein würde, und die Verarbeitungscrew, zu der streng genommen auch sie gehörte.

Eine Weile beobachtete sie vom Oberdeck aus das Treiben auf dem Kai. Sie war sich aber nicht sicher, wer neu auf der Greta-Dora und wer montevidenischer Arbeiter war. Irgendwann entschied sie, doch vom Schiff zu gehen. Auf der Gangway passte Kilian sie erneut ab und schlug vor, sie zu begleiten – sie ignorierte ihn. Dann lief sie den Kai hinunter, einen anderen zur Hälfte hinauf und rauchte dort drei oder vier Zigaretten.

Ich hätte in Montevideo mein Praktikum abbrechen sollen, dachte sie und drückte die Zigarette in den Taschenaschenbecher. Wäre aber wahrscheinlich wegen des ganzen Corona-Krams am Ende eh nicht gegangen.

Sie stand auf und warf noch einmal einen Blick Richtung Heck. Diesmal blieb er an den Kameras hängen und sie musste sich wieder einmal vorstellen, diese ganze Fahrt wäre nur Teil eines neuen Reality-Formats. Sie schüttelte die Vorstellung ab und zog die Zahnbürste aus der Brusttasche. Während sie sie sich in den Mund schob, roch sie einen Augenblick lang das Jod in der Luft.

Es knirschte, als Sanja auf der gefrorenen Zahnpaste zu kauen begann. Kurz schmeckte sie zwischen all dem Jod den Geruch des Packeises, dann schlug die Schärfe des Eukalyptus zu. Während sie sich die Zähne schrubbte, beugte sie sich über die Reling. Fünf, vielleicht sogar zehn Meter glatter minzgrüner Bordwand trennten sie von der Wasseroberfläche. Als ihr Zahnpasta in den Mundwinkel lief, riss sie den Kopf in den Nacken, schluckte alles hinunter und schleckte rasch die Tropfen ab, die sich am Stiel der Zahnbürste gebildet hatten. Sie atmete tief durch. Und fuhr fort, sich die Zähne zu putzen.

Ein paar Tage nach Montevideo hatte der Kapitän die gesamte Besatzung in der Schiffsmesse antreten lassen und verkündet, dass man soeben die Antarktische Konvergenz erreicht habe, die Grenze des Südlichen Atlantiks. Ab sofort fahre man in antarktischen Gewässern und hier, hier sei man Gast.

Er schwieg und ließ seine Worte in der Schiffsmesse wirken. Zum ersten Mal erkannte Sanja die Autorität des Mannes, der sonst eigentlich so gar nicht aussah wie ein Kapitän. Wie die meisten trug auch er einen dicken blauen Arbeitsoverall. Gefütterte Gummihandschuhe hingen aus der Brusttasche heraus. Am Gürtel steckten Funkgerät und Fischermesser.

Sanja hatte auf der Bank neben dem Arzt Platz genommen. Während der Kapitän nun von Walen zu erzählen begann, quetschte sich die Ingenieurin, die sich noch mit Knäckebrot versorgt hatte, zwischen sie. Sanja rückte Stück für Stück von ihr weg. Als sie bemerkte, dass sie so in die Sichtachse von Kilian geriet, schlug sie den Blick nieder und heftete ihn an die Spitzentischdecke.

Der Kapitän sprach währenddessen davon, dass es ohnehin zu viel Krill gebe, seit die Walbestände zurückgegangen seien. Dass Krill sich seit Jahrzehnten in einem Überlebenskampf untereinander befinde.* Dass es von daher nichts machen würde, wenn man etwas abgreife. Womöglich sogar helfe. Auf keinen Fall aber, und das sei ihm wichtig, den Lebensraum verändere.

Er legte wieder eine Pause ein. Das Meer war zu hören, das Ächzen des Schiffes und dazwischen Knirschen von Knäckebrot. Zumindest solange man nichts zurücklassen würde. Daher gelte es, und er mache da keine Kompromisse, das Schiff als geschlossenes System zu betrachten. Kurz, kein Abfall.

Seine Praktikantin nahm er nach dieser Ansprache zur Seite und erklärte ihr alles ein zweites Mal. Dazu begann er von Insekten zu erzählen. Sie möge doch nur einmal daran denken, wie vor einigen Sommern die ausländischen Marienkäfer aufgetaucht seien und die heimischen verdrängt hätten. So etwas könne geschehen, wenn sie dem Krill irgendeine Fliegenkrankheit aus Europa einschleppen würden.

Und wenn es den Menschen genau dafür braucht?

Der Kapitän sah sie überrascht an.

Sanja hatte über diese Frage in ihren letzten Schuljahren viel nachgedacht. Wenn ihre Mitschülerinnen und Mitschüler – allesamt welche, die das Deo noch nicht entdeckt hatten oder mit voller Absicht darauf verzichteten – loslegten mit ihren Reden darüber, wie die Erde sich endlich erholen dürfen werde, sobald der Mensch sich selbst vernichtet haben würde, kam Sanja die Galle hoch. Als hätten sie es auswendig gelernt, beteten die dann runter: Der Mensch ist auf die Erde angewiesen, die Erde braucht den Menschen aber nicht. Und dabei roch alles wie die eine Umkleidekabine, in der seit Wochen das Fenster kaputt war.

An einem Freitag, an dem ihr Klassenlehrer ihnen freigestellt hatte, entweder demonstrieren zu gehen oder in der Schule über Fragen des Klimaschutzes zu diskutieren, hatte Sanja sich getraut, diesen Gap in der Logik anzusprechen: Entweder hatte doch jedes Tier und jede Pflanze und auch der Mensch ein Recht, ganz so zu leben, wie es, wie sie oder wie er eben drauf war, oder aber jede Existenzberechtigung konnte infrage gestellt werden. Die des Menschen genauso wie die von irgendeinem Pinguin. Man konnte doch nicht nur dem Menschen etwas absprechen. Wer seien sie bitte – sie sah kurz zu den leeren Plätzen, dann wieder nach vorn zum Lehrer – wer seien sie bitte, das zu beurteilen?

Jetzt sagte sie: Ich meine, wenn es für den Menschen natürlich ist, dass er zum Beispiel überall Müll macht?

Die Augen des Kapitäns verengten sich: Der Mensch hat Köpfchen, das verpflichtet ihn dazu, nicht überall seinen Dreck zu hinterlassen.

Er machte eine Pause, dann sagte er: Und deshalb werde ich dich auch auf der Stelle über Bord gehen lassen, wenn du auch nur ins Wasser spuckst.

Sanja fiel nichts mehr ein.

Das kannst du dir für die Adria sparen, fügte er hinzu und drehte sich weg.

Am nächsten Tag waren die ersten Eisberge aufgetaucht. Sanja stand am Bug, verzog sich aber schon bald wieder auf ihre Kabine. Eisberge waren wie Wolken. Sie kamen in allen erdenklichen Formen vor, manche zerklüftet, andere mit perfekten Abbruchkanten. Irgendwie konnte man immer etwas in ihnen sehen. Meistens musste man an irgend so ein archaisches Zeug denken. Manche erinnerten an Bäume oder Tiere, manche an Gesichter oder an aus dem Wasser ragende Finger.

In diesem Augenblick verstummte das Vibrieren in Sanjas Schuhsohlen. Sie nahm die Zahnbürste aus dem Mund. Offenbar hatte man die richtige Netzhöhe gefunden. Sie wechselte die Zahnbürste von der Linken in die Rechte und wog sie, wie man es auf dem Pausenhof immer getan hatte, bevor man einen Schneeball warf. Es war eine weinrote Plastikzahnbürste, deren Borsten mittlerweile so aussahen, als würde Sanja weniger schrubben und kreisen als vielmehr auf ihnen herumkauen. Warum verwendete sie die überhaupt noch?

Sie schluckte das bisschen Zahnpasta, das sie noch im Mund hatte, hinunter und warf einen Blick in Richtung Heck. Das Oberdeck glitzerte, die Kameras waren noch immer aufs Fangdeck gerichtet, noch immer war niemand zu sehen. Nur eine Böe fegte in die Vögel und riss sie zur Seite. Als Sanja dann den Kopf über die Schulter drehte, um sich zu überzeugen, dass man sie von oben, von der Brücke aus, nicht sehen konnte, schlug das Gefühl zu, in dem sie jede Klassenarbeit der letzten zehn Jahre verfasst hatte.

Seit ihr Religionslehrer sie in der dritten Klasse aus ihren Gedanken gerissen hatte und mit so etwas wie Genugtuung in der Stimme feststellte, sie hätte auf das Papier ihrer Sitznachbarin geschaut, hockte sie über jedem Test und fürchtete, sie könnte aus Versehen den Anschein erwecken abzuschreiben. Das führte dazu, dass sie nicht ein einziges Mal abschrieb, immer aber verkrampft dasaß, nie nach rechts oder links schaute, sich aber auffällig oft vergewisserte, dass der Lehrer sie eh nicht beobachtete. Ihr seltsames Gebaren führte dazu, dass sie bald den Ruf einer notorischen Betrügerin besaß, einer, die bei Klassenarbeiten besonderer Aufsicht bedurfte. Sie wurde in die erste Reihe gesetzt, was wiederum ihre Nervosität verstärkte und den Eindruck der Lehrer, sie führe etwas im Schilde, bestätigte.

Während sie nun hinauf zur Brücke sah, war sie sich einen Moment lang sicher, in das Gesicht des Religionslehrers zu blicken. Sie schloss die Augen und in seinem Gesicht flammten die Züge des Kapitäns auf. Als sie die Augen wieder öffnete, war da allerdings nichts außer der Unterkante einer Panoramascheibe und darüber der Himmel. Also ließ sie die Zahnbürste fallen.

***

Die Zahnbürste drehte sich um hundertachtzig Grad, der Wind schleuderte sie gegen die Schiffswand und schon wurde sie von der schäumenden Bugwelle erfasst und unter Wasser gerissen. Zunächst wurde sie mal hierhin, dann dorthin gewirbelt, nach und nach aber stellte sich heraus, was ihr Weg war. Monatedicke Schichten von Zahnpasta weichten auf, zwischen den Borsten lösten sich winzige Speisereste. Die Zahnbürste wurde noch einmal ein Stück in die Höhe getrieben, dann richtete sie sich mit dem Stiel voran aus. Und sank, sank durch eine Ödnis, die das Schleppnetz hinterlassen hatte, bis sie, nach einer Sinkzeit von mehr als zwei Stunden, schließlich in Reichweite unseres Kalmars gelangte.

Was so bitter schmeckte, war Nikotin. Die Spuren, die sich nach Hunderten von ersten Zigaretten des Tages ins Plastik der Borsten eingefressen hatten, reichten, dass es in uns zu kribbeln begann. Außerdem war in die Zahnbürste Speichel eingekaut, nicht viel, kaum mehr als der Abdruck eines Menschen, doch genug, dass wir ihn schmeckten. Er rührte uns. Und unser Kalmar verstand dieses Gefühl der Rührung zwar nicht, ließ sich aber anstecken und verspürte mit einem Mal einen gewaltigen Mangel – und schon drehten wir uns in die Höhe und unser Kalmar eilte mit kräftigen Zügen hinterdrein.

Während wir davor ausschließlich damit beschäftigt gewesen waren, gegen den Zug des Netzes anzukämpfen, stellten sich nun, je höher wir kamen, Erinnerungen an das Ende der Wasser ein. Daran, wie unser Kalmar noch kaum größer als ein Reiskorn, aber voller Furcht vor den über ihn hinweghuschenden Schatten gewesen war, dem kreisenden Tod, räuberischen Albatrossen und ihrem meckernden Gekreische, das unter Wasser dumpf hallte und erst schrill wurde, kurz bevor sie hineinstießen. Daran, wie dieses Wasser geschmeckt hatte, voller penetranter Süße von geschmolzenem Eis. Daran, wie sehr er sich gewünscht hatte zu wachsen, sich in die Dunkelheit zurückziehen zu können und nie mehr wiederzukehren.

Zuletzt wurde alles zu einer dickflüssigen Algenpampe. Und dann durchbrach unser Kalmar die sauer schmeckende Gischt. Sie war von jenem teuflischen Gas bedeckt, das Wale statt Wasser atmeten und das in den Kiemen brannte. Und wiederum über diesem Gas hing ein graues Etwas, zu grell, als dass unser Kalmar seine Konturen hätte ausmachen können. Das musste einer der Himmel sein, jener anderen Welten, die ebenfalls mit Meeren bedeckt waren. Es sprühte Wasser aus ihm. Und diesem entgegen bäumte sich unser Kalmar auf, als wollte er die Gischt verlassen. Er hatte einen sahnig weißen Glanz angenommen. Und dann brach ein Klagelaut aus ihm hervor.

Obwohl es stach, sog unser Kalmar in sich ein, was durch die Kiemen in ihn geriet. Schäumend grüne Gischt und jenes Gas – einen Moment waren da nur der Nachhall seines Schreis und das Weiß in einem grün schäumenden Meer und zwischen dem Himmel und ihm ein Kampf – dann siegte die Helligkeit und er duckte sich unter Wasser.

Vielleicht war es im Plastik gewesen. Vielleicht hatte es zwischen den Borsten geklebt. Jedenfalls ließ sich unser Kalmar – nachdem er die Zahnbürste verschlungen hatte – zunächst vom Falklandstrom ein Stück nach Westen treiben und bog dann in das gemächlich aus dem Norden heranströmende Tiefenwasser ab.

Vor etwa tausend Jahren war es noch im Golfstrom gewesen und hatte den Raum vor Grönland und Norwegen erreicht, hatte dort seine Wärme Europa geschenkt, war abgesunken, um in einer Tiefe von über zweitausend Metern Richtung Süden zu fließen und jetzt in den Strom zu münden, der die Antarktis umspülte. Vielleicht war es das, was dieses Wasser über junge Menschen, über Mundhygiene und die Krillfang-Industrie wusste. Vielleicht war es auch etwas ganz anderes – irgendetwas ließ ihn unermüdlich nach Norden schwimmen. Über endlose Felder aus dunkel rauchenden Löchern hinweg. Durch Landschaften voller funkelnder Dünen, zusammengesetzt aus Abermillionen Körnern zerplatzter Meteoriten. Unter ihm wogten Wälder und Wiesen. Und dann kam wieder Schlamm, lieber Schlamm und kranker Schlamm, schwerer und geduldiger, schwacher und satter und schließlich jener, in dem das South Atlantic Express lag.

Wenn man nun noch weiß, dass in dessen Innern unter einer Polyesterfolie und hauchdünnem Mylar, mehrfach verdrillten Stahldrähten, Aluminium, Kupfer, Vaseline ein Strang aus sechs Paaren von Lichtwellenleitern verlief und man sich vor Augen führt, dass deren Glas exakt so dick war wie jene Nervenbahnen, die zwischen uns verliefen – dann lässt sich erahnen, wie sehr wir überwältigt waren.

Seit wir den glühenden Tentakel umschlungen hielten, floss etwas in uns, durchfloss uns und floss unaufhörlich. Unser Kalmar schwoll metallen an und verströmte immer hellere Chromtöne. In völliger Harmonie wandten wir uns um den glühenden Tentakel und erkundeten den Spalt zwischen Schlamm und seiner Haut. Der Müde schmiegte sich an den Blendenden und leckte sie mit diesem gemeinsam ab, bis sie nicht mehr weiterkamen, weil in die andere Richtung der Eingebildete und der Arme das Gleiche taten. Dann begannen wir immer ungestümer zu werden. Wir wollten nicht nur, was der glühende Tentakel im Schlaf von sich gab, wir wollten alles. Doch so heftig wir an ihm rieben, so sehr wir zudrückten, so sehr wir kratzten und kniffen, er regte sich einfach nicht.

Immer weiter entfernten wir uns dabei von der Stelle, wo unser Kalmar vorhin seine Tinte verspritzt hatte. Und während so seine in Chrom glänzende Gestalt langsam verblasste, tauchte an den Felsen wieder ein Tier nach dem anderen auf. Eine Qualle löste sich und begann violett zu leuchten. Sie trug einen Fisch in sich, der wieder zu zappeln anfing. Eine Muschel öffnete sich und entließ eine Wolke aus glitzernden Bakterien. Eine Mischung aus Krebs und Stein wühlte sich aus dem Schlamm. Einige Würmer funkelten. Und alle schienen sie aufgeregt darüber, was eben geschehen war.

***